19

Kurz vor 7 Uhr schrillte die Türglocke erneut.

Beim dritten Mal saß ich auf der Bettkante. Beim fünften Mal immer noch. Jetzt ging mein Gegner zum Dauer-läuten über. Ich öffnete die Tür.

»Morgen, Reiner«, begrüßte mich Gerhard und ein weiterer Kollege, »bist du schon auf?«

Nachdem ich meinen Kollegen gedanklich erwürgt hatte, grunzte ich ihn sauer an.

»War das heute Nacht doch nur ein dummer Scherz, oder? Habt ihr eure Kofferbombe noch gefunden?«

Gerhard schaute mich mit festem Blick an. »Ich glaube, du bist noch nicht richtig wach, Kollege. Geh mal schnell duschen, wir brauchen dich. Mit einer Bombe hat es allerdings nichts zu tun. Marek Dzierwa weilt nicht mehr unter den Lebenden!«

Ich brauchte einen Moment, um der Nachricht geistig zu folgen.

»Tot? So eine Scheiße. Wie ist das passiert? Fremdeinwirkung?«

»Ja klar, natürlich durch Fremdeinwirkung. Er wird sich wohl nicht selbst ins Nirwana geschossen haben. Komm, beeil dich, wir warten.«

Ohne weitere Fragen zu stellen, ging ich zurück ins Haus und stieg unter die Dusche. Meine beiden menschlichen Wecker hatte ich vorher selbstverständlich ins Wohnzimmer gebeten. In Rekordzeit war ich fertig. Für ein Frühstück blieb keine Zeit. Ich hätte sowieso nichts da gehabt.

»Komm Reiner, du kannst bei mir mitfahren, lass deinen Wagen stehen.«

Mit einem spitzbübischen Lächeln fügte er hinzu:

»Dann kannst du dich wenigstens heute nicht verfahren.«

Während der Kollege in den Fond stieg, ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. Gerhard legte einen Kavalierstart hin.

»Erzähl mal«, forderte ich ihn auf, »was genau ist passiert?«

»Viel zu erzählen gibt es nicht. Man hat Marek im Neuhofener Wildpark gefunden. Im Wildschweingehege. Wir waren selbst auch noch nicht dort. Lassen wir uns also überraschen.«

Im Gegensatz zu Gerhard wusste ich, dass der Wildpark zwar an die Ortsbebauung von Neuhofen anschloss, aber außerhalb der Gemarkung Neuhofens lag. Der über 40 Jahre alte Wildpark gehörte zum Ludwigshafener Ortsteil Rheingönheim. Schon als Kind war ich dort regelmäßig mit meinen Eltern zu Besuch. Inzwischen wurde zwar ein bescheidenes Eintrittsgeld fällig, ein Besuch dieses Parks lohnte meiner Meinung nach aber immer noch. Vorausgesetzt, es lagen dort keine Leichen herum.

Der Zufahrtsweg zum Wildpark, der von der Landstraße zwischen Neuhofen und Rheingönheim abbog, war komplett abgesperrt. Gegenüber dem Zufahrtsweg parkten wir auf einem großen Parkplatz, der im Moment von Einsatzwagen aller Art fast vollständig belegt war.

Ein Beamter, es war der gleiche, der bei Siegfried für die Absperrung zuständig war, ließ uns ohne Nachfrage das Gelände betreten.

Nach etwa 100 Metern befand sich im Eingangsbereich des 30 Hektar großen Parks eine metallene Drehtür. Um die Spurensuche zu erleichtern, hatte man das große Zufahrtstor, das ich bisher immer nur im geschlossenen Zustand kannte, geöffnet. Gerhard, der nun etwas unsicher wirkte, zögerte.

»Aha, der Gerhard war wohl noch nie hier. Na, dann werde ich mal den Führer spielen.«

Ohne eine Anmerkung zu der Zweideutigkeit des Wortes Führer zu machen, nahm ich den mittleren Weg. Am Ziegengehege hatte ich vor Jahrzehnten die eine oder andere Stunde verbracht und meine gelangweilten Eltern zur Verzweiflung getrieben. Heute nahm ich es nicht mal richtig zur Kenntnis. Auch die anderen 200 Tiere aus 30 meist europäischen Wildarten interessierten mich nicht. Nach einem kleinen Fußmarsch durch den mit Eschen, Eichen und Ahorn bewaldeten Park endete der Weg direkt vor dem Wildschweingehege. Ein kurzer Blick über den Zaun ließ uns erkennen, dass man wohl die ursprünglichen Bewohner des Geheges in eine Schutzhütte getrieben hatte. Die zahlreichen Menschen, die nun das Terrain erobert hatten, waren allerdings ihren tierischen Vorgängern nicht unähnlich. Zumindest dem Verschmutzungsgrad nach. Trotz der regenarmen Zeit wurde das Wildschweinparadies ständig feucht und moorig gehalten.

Inzwischen hatten wir den Zugang erreicht. Ein reichlich schlammfarben getarnter Beamter zeigte uns stumm mit einer Hand den Weg zum Tatort. Das Schicksal war gnadenlos. Keine zwei Meter weiter war es schon passiert. Ich knickte um und fiel mit einer vollen Breitseite in den Dreck.

Gerhard wollte gerade anfangen, darüber zu lachen, als er ebenfalls das Gleichgewicht verlor. Er hatte das Glück, sich noch mit seinen Händen abstützen zu können. So traf es ihn nur bis zum Knie und bis in Ellenbogennähe.

Ich ärgerte mich, dass ich gerade geduscht hatte. Ohne ein weiteres Mal die Bodenhaftung zu verlieren, erreichten wir die Fundstelle der Leiche. Eine danebenstehende batikbraune Person im wahrscheinlich ursprünglich weißen Schutzanzug drehte sich um und ließ mich zusammenzucken. Dr. Metzger in Aktion. Er lächelte mich süßsauer an.

»Der Polizeifunk, Herr Kommissar, Sie wissen schon«, zwinkerte er mir zu. Er deutete auf eine Trage, die auf Holzböcke gestellt war, dort lag der verhüllte Leichnam von Marek.

»Sie sollten sich den Toten lieber nicht ansehen, Herr Kommissar. Einer Ihrer Kollegen hat vorhin schon gekotzt.« Metzgers Mundwinkel vibrierte wie ein Kolibri. Hoffentlich fing er jetzt nicht an, Bananen zu essen.

»Was ist mit ihm passiert? Wie lange ist er schon tot?«, fragte ich ihn.

»Den Todeszeichen nach passierte es gestern Abend. Medikamentös konnte ich noch eine Pupillenreaktion auslösen. Wussten Sie, dass die Hornhäute der Augen bis zu 72 Stunden den Hirntod überleben können?«

Metzger rieb sich seine behandschuhten Hände. Mich wunderte, dass er überhaupt welche trug.

»Er wurde regelrecht von hinten hingerichtet. Die Kugel schlug aus nächster Nähe ins Scheitelbein ein und trat durch das Jochbein wieder aus. Von seinem Gesicht ist so gut wie nichts mehr zu erkennen. Er hat schätzungsweise die Hälfte seiner Hirnmasse verloren.«

Übelkeit machte sich in meinem nüchternen Magen breit.

»Klar ist aber«, fuhr der Doktor fort, »dass die Fund-stelle nicht dem Tatort entspricht. Er wurde hier lediglich abgeladen. Da er bereits die ganze Nacht hier gelegen hatte, gibt es auch Tierfraß an der Leiche. Nicht gerade appetitlich muss ich sagen.«

»Weiß man schon was über den Tatort?«, mischte sich Gerhard ein.

»Da müssen Sie Ihre Kollegen fragen. Ich weiß nur, dass man Schleifspuren gefunden hat. Von hier bis zum Zaun im Norden des Wildparks.«

»Die Identität des Toten steht aber fest?«

»So wie ich es vorhin verstanden habe, wurde er anhand seiner Kleidung vorläufig identifiziert, das Ergebnis des Fingerabdruckvergleichs soll bald zur Verfügung stehen. Er soll am gleichen Tag aus dem Knast entlassen worden sein, hat man mir berichtet. Na ja, das war für ihn ein kurzer Ausflug in die Freiheit.«

Metzger lachte schon wieder.

»Kannten Sie ihn aus Siegfrieds Containerdorf?«

Metzger schaute mich erstaunt an.

»Von Siegfried? Sagen Sie bloß nicht, dass das noch einer seiner Arbeiter ist!«

Ich schwieg.

»Natürlich wusste ich das nicht!«, brüllte er mich fast an. »Er hat ja kein Gesicht mehr!«

Wir ließen ihn stehen undbeobachteten noch ein wenig die Experten, die im Schlamm wateten und nach Spuren suchten. Dieses Erlebnis würden sie wohl so schnell nicht vergessen.

Gerhard hatte inzwischen einen von ihnen gezielt nach der Schleifspur gefragt. Wir verließen das schweinische Gelände und folgten der beschriebenen Richtung. Sie war nicht zu verfehlen, die Spur war beidseitig mit Absperr-band gekennzeichnet. Die Leiche wurde quer durch ein kleines Wäldchen gezogen und dann vermutlich über den Zaun des Wildschweingeheges geworfen. Damit nicht genug, hatte der Täter versucht, sein Opfer an einer tiefen Stelle im Morast zu versenken. Gerhard hatte während meiner Diskussion mit dem Frankensteinarzt erfahren, dass ein Tierpflegepraktikant die Leiche nur durch einen puren Zufall so früh gefunden hatte. Normalerweise hätte er keinen Anlass gehabt, diesen Bereich zu betreten.

Kurze Zeit darauf kamen wir zum äußeren Zaun, der den Wildpark abschloss. Am Ende der Schleifspur war der Maschendrahtzaun bis in etwa einen Meter Höhe aufgeschlitzt worden. Die Spurensicherung hatte ein paar Meter weiter zwei Holzleitern beiderseits des Zaunes aufgestellt, um die Spur außerhalb des Geländes weiterverfolgen zu können. Wir kletterten über diesen Zaun und erkannten, dass die Schleifspur aus dem Wald führte, der kurz darauf endete. Dort befand sich ein asphaltierter Landwirtschafts-weg. Auch hier waren die Spurensammler bei der Arbeit.

»Hallo Herr Palzki!«, begrüßte mich einer der Herren.

»Guten Tag, Herr Mayer«, erwiderte ich die Begrüßung. Ich kannte Mayer flüchtig von früher.

»Mit Ihnen möchte ich hier nicht tauschen, Herr Palzki«, schüttelte der Mann den Kopf.

»Solch einen brutalen Mord hat es hier in der Vorderpfalz das letzte Mal vermutlich im 30-jährigen Krieg gegeben. Einem einfach die Birne wegschießen, das ist grausam. Wenigstens dürfte er nichts mehr gemerkt haben.«

»Herr Mayer, danke für die Anteilnahme. Was können Sie mir über die Schleifspur sagen?«

»Ja, das ist hier ziemlich eindeutig. Da drüben«, er zeigte auf eine Kreidemarkierung auf dem Asphalt, »hat ein noch nicht identifizierter Pkw angehalten. Die Leiche lag vermutlich im Kofferraum. Den Fußspuren nach stieg nur eine Person aus. Ob in dem Wagen noch andere saßen, ist nicht feststellbar. Die Leiche wurde aus dem Kofferraum gezogen und fallen gelassen. Das können Sie an der verspritzten Hirnmasse in der Kreidemarkierung erkennen. Mit den Füßen voraus wurde die Leiche dann bis zum Maschendrahtzaun gezogen. Der Täter hat dann den Zaun mit einem Seitenschneider oder etwas Ähnlichem geöffnet und ist durchgekrochen. Dieses Stück Zaun ist übrigens unser hoffnungsvollster Spurenfundort. Wir werden ein Stück komplett heraustrennen und im Labor untersuchen. Mit ziemlicher Sicherheit werden wir dort genetische Spuren finden. Das wird allerdings seine Zeit brauchen. Der Täter schleppte dann die Leiche wie gehabt zum Wildschweingehege, warf sie über den niedrigen Zaun und stieg ebenfalls drüber. Dann zog er den Toten noch bis zum Fundort im Schlammbecken. Für den Rückweg nutzte er den gleichen Weg.«

Ich verzichtete darauf, mir die Kreidemarkierung im Detail anzuschauen.

»Wo führt denn dieser Landwirtschaftsweg hin?«

»Das ist kein Geheimnis, Herr Palzki. Hier nach Osten läuft er parallel zum Wildpark und führt bis zur Rheingönheimer Straße. Nach Westen hin überquert der Weg da vorne in Sichtweite die B 9 und mündet am östlichen Ortsende von Limburgerhof.«

Limburgerhof, das war mir schon fast klar. Nur seltsam, dass Siegfrieds Betrieb am nördlichen Ende des Ortes lag. Zufall oder ein Hinweis? War Marek überhaupt bei Siegfried beschäftigt oder wurde er direkt von Frau Weiß eingestellt?

Gerhard telefonierte im Hintergrund mit Jutta. Sie war im Büro und koordinierte die Einsätze.

»Ja, ja, wir sind bald da«, hörte ich ihn nach einiger Zeit das Gespräch beenden.

»Jutta sagt, dass es Neuigkeiten gibt. Wenn wir hier fertig sind, sollen wir kommen, der Rest der Mannschaft sitzt schon im Besprechungsraum.«

»Wir können doch so nicht dort auftauchen, mein lieber Gerhard. Schau dich mal an!«

»Okay, du hast recht. Ich habe ein paar Plastiksäcke im Kofferraum liegen, da können wir uns draufsetzen. Dann fahre ich dich zuerst heim, damit du endlich mal wieder duschen kannst, du Ferkel. Ich werde bei mir daheim das Gleiche machen. Und danach treffen wir uns bei Jutta und den anderen.«

»Genau so werden wir es machen, Gerhard. Los, fahren wir.«

Wir verabschiedeten uns von Mayer. Der Kollege, den Gerhard mitgebracht hatte, blieb ebenfalls hier. Er würde später mit den anderen nachkommen.

Es war erst kurz nach 9 Uhr morgens und ich duschte heute bereits zum zweiten Mal. Wieder ein Rekord. Ich überlegte, ob ich Stefanie noch schnell anrufen sollte, doch dazu hatte ich im Moment nicht die nötige Ruhe. Immer noch nüchtern, setzte ich mich frisch gesäubert in meinen Wagen und fuhr in den Waldspitzweg.

Diesmal war ich unüblicherweise nicht der Letzte, denn Gerhard war noch nicht da. Jutta begrüßte mich mit einem verschmitzten Lächeln.

»Gerhard hat mir vorhin am Telefon gesagt, dass ihr euch leicht verschmutzt habt. Ich habs schon immer gewusst: Männer sind Schweine!«

Zum Glück verstand ich die Anspielung auf das Lied der ›Ärzte‹ und nahm es deshalb mit Humor.

»Haben wir was zu trinken hier?«, fragte ich sie.

»Ich meine jetzt außer unserer amtseigenen und viel gelobten Diätsaftlinie.«

»Mit Gerhards Sekundentod kann ich dir heute nicht dienen, Reiner. Wenn du aber mit Juttas Boden-Seh-Kaffee vorlieb nehmen willst, hier steht eine ganze Kanne voll.«

Ich schüttete mir eine Magnumtasse voll und krönte das Gebräu mit einem gehäuften Schuss Milch. Und wie das physikalisch halt so ist mit gehäuften Flüssigkeiten, floss ein nicht unbeträchtlicher See über den Tassenrand auf den Tisch.

»Na, was ist denn mit deiner Feinmotorik los?«, zog mich ein Kollege auf, während ich die Misere mit Papiertaschentüchern aufzuwischen versuchte.

»Ach, lass ihn in Ruhe«, sprach ihn Gerhard an, der in diesem Moment unbemerkt zur Tür reinkam. »Was wir heute Morgen gesehen haben, steckt man nicht so einfach weg.«

Nachdem sich Gerhard eine Tasse Kaffee eingeschenkt und nach dem ersten Schluck missmutig das Gesicht verzogen hatte, begann Jutta mit ihren Ausführungen.

»Vor ein paar Minuten kam die Bestätigung, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Marek Dzierwa handelt. Die Fingerabdrücke sind eindeutig. Näheres zum Todeszeitpunkt und wo er sich gestern Abend aufgehalten hat, konnte bis jetzt noch nicht festgestellt werden. Im Wildpark wurden inzwischen mehrere Faserspuren sichergestellt. Ob welche vom Täter stammen, ist auch noch nicht geklärt. Das Reifenprofil wurde inzwischen aufgezeichnet, doch es handelt sich um einen weitverbreiteten Typ. Wenn wir das Fahrzeug gefunden haben, können wir die Spur zuordnen. Soviel erst mal zum Mordfall Dzierwa.«

Jutta nippte an ihrem Kaffee und verzog genussvoll ihre Mundwinkel.

»Welches harmonische Aroma im Gegensatz zu Gerhards Sekundentod.«

Sie lächelte Gerhard an und schnappte sich das nächste Blatt Papier.

»Vollbart müssen wir jetzt endgültig rehabilitieren. Sein Name ist Detlev Schönhauer und er ist der Großvater eines der Hausbesitzer. Das Haus gehört Marc und Elvira Schönhauer. Die beiden sind zurzeit auf Weltreise. Wir konnten sie per Funk auf irgendeiner Karibikinsel erreichen. Marc Schönhauer sagte uns, dass sein Großvater zwar Alkoholiker, ansonsten aber völlig harmlos sei. Sie lassen den Alten in ihrem Haus kostenlos wohnen, da sie die meiste Zeit unterwegs sind. Die beiden haben vor zwei Jahren einen größeren Lottogewinn gemacht und reisen seitdem fast ständig in der Weltgeschichte herum. Die Luxuskarossen, die in der Scheune stehen, gehören den beiden Glücklichen.«

»Okay«, schaltete ich mich ein, »ist somit auszuschließen, dass der Vollbart auf mich geschossen hat?«

»Sein Enkel hält das für unmöglich. Zum einen hätte sein Großvater noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, zum anderen würde er in seinem Dauerdelirium wohl kaum in der Lage sein, solche präzisen Schüsse über eine große Entfernung abzugeben.«

Das leuchtete mir ein.

»Okay, streichen wir den Alkoholix von unserer Liste. Was gibt es noch, Jutta?«

»Professor Müller müssen wir ebenfalls von der Verdächtigenliste streichen. Jedenfalls was den Fall Schablinski betrifft. Wir haben uns übrigens noch mal genauer im Neuhofener Café umgehört. Die Studenten sind am Freitag nicht früher gegangen als sonst auch. Sie sind nur etwas später gekommen, weil einer ihrer Kollegen verschlafen hatte und deshalb zu spät am Treffpunkt Mannheimer Hauptbahnhof war. Durch die kürzere Verweildauer im Café kam es der Verkäuferin wohl so vor, als wären sie früher wieder gegangen.«

»Machs nicht so spannend, Jutta! Was ist mit dem Prof?«

Jutta lächelte geheimnisvoll.

»Ich sagte vorhin bereits, dass Männer Schweine sind. Professor Müller scheint zu Hause bei seiner Frau sexuell nicht ganz ausgelastet zu sein. Unsere Überprüfung ergab, dass er sich zwei-bis dreimal wöchentlich morgens mit Mary trifft.«

»Wer ist jetzt diese Mary?«, fragten Gerhard und ich gleichzeitig.

»Ihren richtigen Namen kennen wir nicht. Es ist so etwas wie ihr Arbeitsname. Sie ist der Star im ›Schwarzen Fetisch‹, einem Mannheimer Edelbordell, das rund um die Uhr geöffnet hat.«

»Und am letzten Freitag war unser Professor todsicher bei ihr?«

»Eindeutig. Mary macht eine penible Buchführung. Sie zahlt übrigens Steuern und ist seit Jahren sozialversichert.«

»Hm«, dachte ich laut, »dann scheidet Müller als direkter Tatverdächtiger aus. Ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, dass da mehr dahintersteckt, als es den Anschein hat. Vielleicht hält er im Hintergrund die Fäden in der Hand?«

»Soweit sind wir noch nicht, Reiner. Im Moment haben wir einen verdeckten Fahnder auf ihn angesetzt. Die Ergebnisse sind bisher aber recht enttäuschend. Er scheint nur für Mary und seine Grabungsforschung zu leben. Ach, wenn wir gerade dabei sind, Verdächtige zu entlasten. Die Fensterputzer können wir auch vergessen. Es gibt keine Querverbindungen zu unserem Fall. Alle Mitarbeiter wurden gründlich überprüft. Tut mir leid, Reiner, da hast du dir was eingebildet.«

Ich nickte ergeben.

»Okay, was haben wir noch, Jutta?

»Das Rätsel um das Buch mit dem finnischen Text ist ebenfalls gelöst. Katarzyna Schablinski sagte aus, dass ihr Bruder eine finnische Brieffreundschaft gepflegt hatte. Das Buch selbst hatte Jakub gehört.«

Jutta machte eine kurze Gedankenpause.

»Das wäre im Moment alles. Im Laufe des Tages werden wahrscheinlich die ersten Erkenntnisse zu unserem heutigen Fall vorliegen. Sag mal, wie gehen wir jetzt weiter vor, Reiner?«

»Halt! Einen Punkt habe ich noch. Jutta, könntest du bitte mal recherchieren, ob dieser Marek Dzierwa bei der Firma Weiß beschäftigt war oder durch Siegfried vermittelt wurde?«

»Klar. Das dürfte ja nicht so aufwendig sein.«

»Super, vielen Dank. Ansonsten treffen wir uns wieder auf Zuruf, okay?«

Damit war die Versammlung geschlossen. Ich ging auf einen Sprung in meinem Büro vorbei, um die Post durchzusehen, die sich in den letzten Tagen auf meinem Schreibtisch stapelte. Es war aber nichts Eiliges dabei. Nicht mal ein läppischer Drohbrief. Nur eine Ansichtskarte machte mich stutzig. Ein Kollege, der sich zurzeit in Urlaub befand, schickte seine Grüße aus Dänemark. Im letzten Satz gratulierte er mir zu meinem Geburtstag. Geburtstag? Erschrocken blickte ich auf den Wandkalender. Es stimmte, am nächsten Tag hatte ich Geburtstag. Im Eifer des Gefechts der letzten Tage hatte ich überhaupt nicht mehr daran gedacht.

Zu meinen Gunsten muss man allerdings sagen, dass bei mir der Drang nach Geburtstagsfeiern in den letzten Jahren stark nachgelassen hatte. Es war für mich inzwischen ein Tag wie jeder andere geworden.

Doch in diesem Moment fiel mir wieder Stefanie ein und so schloss sich der Gedankenkreis. Stefanie wollte mich heute Abend mit dem Essen überraschen und dann mit mir und ihrer Mutter in meinen Geburtstag reinfeiern. Oh Stefanie, wie war das bitter. Stefanie wollte zurück zu mir, das fühlte ich jetzt ganz deutlich. Sie wollte einen Neuanfang und ich hatte einen Termin. Ich nahm mir vor, im Laufe des Tages bei ihr vorbeizufahren und die Situation in aller Ruhe zu klären. Doch zunächst schaute ich auf meine Uhr und kombinierte, dass das ›Caravella‹ inzwischen geöffnet hatte. Ich fuhr quer durch Schifferstadt zu dem Punkt, an dem die Burgstraße und die Iggelheimer Straße aufeinandertrafen. Verbotswidrig parkte ich auf dem Gehweg gegenüber der Pizzeria. Eine halbe Stunde später hatte ich mich im Stehen mit Pizza, Hamburger und einer kleinen Flasche Cola light zu meiner Zufriedenheit gestärkt. Die leichte Cola kaufte ich bewusst, ich musste schließlich etwas auf meine Figur achten. Immerhin schmeckte sie gut gekühlt um einiges besser als unsere amtliche Diätlimonade im Waldspitzweg.