12
Der nächste Beinahe-Herzinfarkt des Tages war fällig. Jemand klopfte nicht gerade sanft mit der Hand auf das Autodach. Es könnte durchaus sein, dass ich vor Schreck für den Bruchteil einer Sekunde die Sitzhaftung verlor.
»Tach, Herr Kommissar!«
Schemenhaft erkannte ich trotz Herzkammerflimmern und tränender Augen das zuckende Antlitz von Dr. Metzger. Ich benötigte eine halbe Minute, um mich wieder in den Griff zu bekommen, während derer dieser Horror-Arzt mich die ganze Zeit hämisch grinsend durch die Seitenscheibe beobachtete.
Ich ließ die Scheibe herab.
»Hat das sein müssen?«, pflaumte ich ihn an. »Kommen Sie nur auf diese Art an neue Patienten?«
»Was kann ich dafür, dass Sie so schreckhaft sind? Ich bin doch ganz normal auf Sie zugekommen. Wenn Sie nicht blind sind, hätten Sie mich sehen müssen.«
Ich stieg wieder aus.
»Was tun Sie hier?«, fragte ich recht unwirsch.
»Na, was schon? Da drüben steht der Notarztwagen. Ich drehe mal wieder eine Sonntagsrunde. Vorhin hats auf der A 61 bei der Autobahnraststätte Dannstadt gekracht. Ein Laster ist einem anderen in den Arsch gefahren, als er auf den Rastplatz wollte. Die Feuerwehr wird noch Stunden brauchen, um die Lkw-Vereinigung wieder auseinanderzuschweißen. Der Fahrer taugt nur noch als Anschauungsmaterial. Da war nichts mehr zu machen.«
Und wieder lachte er unpassend. Sein Mundwinkel tanzte wieder aufs Heftigste im Sekundentakt. Bei Metzger hatte das Wort Notarzt auf einmal eine ganz andere Bedeutung.
»Und wieso tauchen Sie dann jetzt hier auf?«
»Ich habe über Funk von Ihrer kleinen Misere gehört. Eigentlich wollte ich da ja gleich zu Ihnen fahren, aber der Autobahncrash kam dazwischen. Ihre Kollegen sind übrigens noch bei der Spurensicherung. Die Geschosse hat man mittlerweile schon gefunden.«
»Na, das ist ja beruhigend«, antwortete ich. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Oh, nichts Bestimmtes. Ich wollte nur mal nachsehen, wie es Ihnen so geht. Und fast hätte ich Sie noch verpasst.«
Warum bin ich um alles in der Welt nicht nur gleich losgefahren, beschimpfte ich mich gedanklich selbst. Dann wäre mir dieser Typ erspart geblieben.
Doch Metzger riss mich jäh aus diesen Gedanken.
»Palzki, sind Sie morgen früh bei der Durchsuchung von Siegfrieds Fabrik dabei?«
Meine Pupillen schienen den Arzt förmlich anzuspringen, mein Unterkiefer fiel knackend ins Bodenlose.
Gibt es in diesem Land überhaupt noch jemanden, der nichts von dieser absolut geheim geplanten Durchsuchung wusste? Stand es vielleicht doch bereits in der Zeitung? Im Geiste stellte ich mir die Meldung vor:
›Die Polizei meldet für die kommende Woche Geschwindigkeitskontrollen in Altrip und Otterstadt. Durchsuchungen sind geplant bei Fa. Siegfried in Limburgerhof.
Geschwindigkeitskontrollen und Durchsuchungen können aufgrund aktueller Gegebenheiten auch an anderen Stellen durchgeführt werden. Fahren Sie bitte langsam und zahlen Sie immer pünktlich Ihre Steuern‹.
»Was haben Sie eben gesagt?«, hakte Metzger nach. Vielleicht waren meine Gedanken einen Tick zu laut gewesen.
»Nichts, ich wundere mich nur, woher Sie diese streng vertrauliche Information haben.«
»Aber Herr Kriminalist. Seien Sie doch nicht so naiv. Da vorne steht mein Wagen. Und darin ist ein Funkgerät. Wenn ich die Frequenz um drei winzige Einheiten verstelle, dann höre ich Sie und Ihre Kollegen klar und deutlich.«
»Sie hören den Polizeifunk ab?«
»Na, regen Sie sich mal nicht so auf. Das macht doch jeder. Die Presse, die Notärzte, die Gangster, einfach jeder. Wenn wir Ihre Frequenzen nicht empfangen würden, müssten wir bei Unfällen, die zuerst der Polizei gemeldet werden, warten, bis sie die Daten an uns weitergibt. Und nach dem Prinzip der stillen Post können da durchaus wichtige Details verloren gehen. Und überhaupt sind wir so viel schneller an der Unfallstelle. Ich kam vor Ihren Kollegen beim Crash auf der A 61 an.«
»Und zu welcher Kategorie zählen Sie sich?«
»Hä? Welche Kategorie meinen Sie?«
»Presse, Notarzt oder Gangster.«
»Sie haben wohl heute Ihren witzigen Tag, Herr Kommissar. Aber seien Sie gewiss, dass ich diese Information nicht an Siegfried weitergebe. Beruf und Freizeit weiß ich noch ganz gut zu trennen.«
»Was ist in Ihrem Fall Freizeit? Die Behandlung der Polen?«
»Ganz recht, dort bin ich als freier medizinischer Berater tätig. Das ist quasi mein Hobby. Also Freizeit.«
»Ein gut bezahltes Hobby, nehme ich an.«
»Da können Sie durchaus recht haben, Palzki. Meist behandle ich aber nur Kleinigkeiten wie Seitenstrangangina oder Hitzschlag. Selten ist mal ein Blinddarm oder ein Herzinfarkt dabei.«
Er lachte wieder wie Frankensteins Erzieher.
»Das meinen Sie jetzt aber nicht im Ernst, Metzger, oder?«, fragte ich ungläubig und zugleich verwundert nach.
»Sehen Sie, jetzt habe ich ein Späßchen gemacht.«
Er winkte ab.
»Nein, einen Appendix vermiformis habe ich schon lange nicht mehr rausgeholt. Für so was hab ich kein Händchen. Das ging schon früher immer in die Hosen.«
Diesmal ersparte ich mir, über die Ernsthaftigkeit seiner Aussage nachzudenken.
»Okay, Sie Meisterschnippler. Dann behalten Sie das alles mal sehr vertraulich für sich.«
»Klar, Chef. Wobei ich nicht weiß, wie das die anderen machen.«
»Welche anderen?«
»Äh, also da wären im Umkreis diverse Rettungsdienste, freiwillige Feuerwehren, dann Berufsfeuerwehr und noch einige mehr.«
»Und die haben das alles mitgehört?«
»Wenn sich Ihre Polizeikollegen per Funk darüber unterhalten haben, und das haben Sie definitiv, dann können die das alle mitgehört haben. Doch wenn demnächst auf digital umgestellt wird, wird es damit vorbei sein. Dann müsste ich mir von Ihnen den Zugangscode geben lassen.«
»Na, da müssen wir dann noch mal ein Wörtchen drüber reden. So, ich werde dann mal heimfahren. Machen Sie es gut, Herr Doktor!«
»Sie auch, Herr Kommissar. Passen Sie auf, dass niemand auf Sie schießt!«
»Kein Problem, ich weiß ja zum Glück, wen ich dann anrufen kann, oder?«
»Stets zu Diensten, Herr Kommissar. Gewehrkugeln operiere ich Ihnen zum Sonderpreis wieder heraus. Sie können dabei sogar zuschauen, wenn Sie wollen.«
Lachend verabschiedete er sich und brauste mit seinem Notarztwagen davon.
Ich stieg ebenfalls in meinen Wagen und fuhr los. Mein erstes Etappenziel war mein Haus. Unser Haus. Ohne Mampf kein Kampf, wie ein Kollege von der Verkehrspolizei zu sagen pflegte, als er mit Sondersignal und einem Berg Fast Food auf dem Beifahrersitz im Hof der Inspektion erschien.
Ich machte es kurz. Ich warf die Bratwürste, die ich mir beim Waldfest mitgenommen hatte, in die Mikrowelle. Mangels Brot aß ich als Beilage ein Paar Eierwaffeln, die ich noch im Schrank fand. In fetten Lettern prangte der Werbespruch ›mit 35 Prozent frischen Eiern‹ auf der Verpackung. Ich überlegte, ob die restlichen 65 Prozent vielleicht faule Eier waren. Wie dem auch war, es schmeckte abscheulich zu den Bratwürsten. Zum Glück war mein Magen einiges gewohnt.