SECHS
Obwohl Christophs Körper das Bedürfnis nach Ruhe mit jeder Muskelfaser kundtat, war er, bedingt durch die innere Unruhe, in die ihn dieser Fall versetzt hatte, nach kurzen Intervallen des Schlafens wieder hochgeschreckt. Mit wirren Gedanken war er dann doch völlig übermüdet irgendwann eingeschlafen und durch das nachdrückliche elektronische Geräusch des Weckers in die Wirklichkeit zurückgeholt worden.
Im Spiegel des Badezimmers starrte ihm ein bleiches Gesicht entgegen, dessen dunkel umrandete Augen tief in den Höhlen lagen. Die kleinen Falten an den Augenwinkeln wirkten jetzt wie tiefe Furchen.
Er wurde kurz durch eine heftige Windbö aus seinen Gedanken gerissen, die am Fenster rüttelte und das stakkatohafte Trommeln des schweren Regenschauers gegen die Fensterscheiben unterbrach. Diese kurze Ablenkung reichte, um sich mit der Rasierklinge einen schmerzhaften, blutenden Schnitt im Kinn zuzufügen.
Auf seinem Fußweg durch die vorweihnachtlich erleuchtete Stadt begegnete er Menschen, die offensichtlich nur durch irgendeine dringende Verpflichtung zu bewegen gewesen waren, den wärmenden heimischen Bereich zu verlassen. Die Köpfe tief zwischen die hochgeklappten Kragen eingezogen, hasteten die Leute an den illuminierten Schaufenstern vorbei.
Christoph schoss durch den Kopf, dass er so kurz vor den Festtagen – heute war der Tag vor Heiligabend – bisher noch nicht einen Gedanken daran verschwendet hatte, mit welcher Aufmerksamkeit er seine Frau unter dem Christbaum beglücken wollte. Seine letzte Familienheimfahrt war schon seit langem überfällig, seine Frau hatte bereits öfter ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass er am gemeinsamen Familienleben nur noch gelegentlich teilnahm und ihr, die schließlich neben ihren vielfältigen Aufgaben als Hausfrau in ihrem Beruf als Rechtsanwältin auch einen verantwortungsvollen Job ausübte, alle familiären Lasten allein aufbürdete.
Trotz der frühen Morgenstunde war Mommsen schon im Büro und hatte Tee zubereitet. Christoph, als langjähriger Verwaltungsmann an den Bürokaffee gewöhnt, hatte sich während seiner kurzen Zeit an der Westküste mit der Gepflogenheit, der ungünstigen Witterung mit frisch gebrühtem Tee zu begegnen, angefreundet und nahm dankbar den von seinem jungen Kollegen angebotenen Becher an.
Mommsen hatte zwei Papierstapel auf dem Schreibtisch vor sich liegen. Mit der Hand wies er auf einen der beiden und erklärte: »Das ist der neue Posteingang.« Er zeigte auf den zweiten Stapel. »Und dies sind die überfälligen Vorgänge, die in den letzten Tagen unbearbeitet liegen geblieben sind.«
»Irgendetwas existentiell Wichtiges?«, wollte Christoph wissen.
Mommsen zuckte die Schultern. »Das kann ich letztlich nicht beurteilen«, versuchte er sich diplomatisch aus der Affäre zu ziehen, »aber spontan würde ich sagen, dass nichts dabei ist, das auch nur annähernd die Bedeutung unseres Hauptfalles hat.«
Christoph nahm einen Schluck Tee. »Danke, Harm. Gibt es Neuigkeiten von unserer Fahndung nach Frieder Brehm?«
Mommsen schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Ich habe den Eindruck, dass es auch an der nötigen Ernsthaftigkeit mangelt, diese Sache mit Druck zu verfolgen.«
»Wenn alle Dienststellen im Lande personell so bestückt sind wie wir, kann man es den Kollegen nicht verübeln, wenn sie nicht alle Anfragen sofort und abschließend bearbeiten.« Christoph nickte mit dem Kopf in Richtung des Aktenstapels mit den unerledigten Fällen. »Wir sind doch auch nicht besser …«
Mommsen räusperte sich. »Ich hätte eine Idee.«
»Und die wäre?«
»Frieder Brehm hat ein Handy, und wir wissen, dass er über dieses Gerät Kontakt zu seiner Frau hält. Das Handy meldet sich in kurzen Intervallen bei der nächsten Antennenstation seines Netzbetreibers, um zu signalisieren, wo es sich gerade befindet, um bei hereinkommenden Anrufen empfangsbereit zu sein. Der Netzbetreiber ist also in der Lage zu sagen, in welchem Umkreis sich der Handybesitzer aufhält.«
Christoph griff zum Telefon, um Kriminalrat Dr. Starke anzurufen und ihn zu bitten, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Zu seiner großen Überraschung erreichte er ihn schon zu dieser frühen Stunde.
»Das ist ein schwieriges Unterfangen«, näselte der Kriminalrat arrogant zurück. »Dazu müssen wir eine richterliche Genehmigung einholen. Das wird uns nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht gelingen. Statt sich auf wesentliche und nahe liegende Punkte zu konzentrieren, schießen Sie schon wieder mit Kanonen auf Spatzen. Außerdem haben Sie ja bereits mehrere potentielle Täter in Gewahrsam genommen. Wollen Sie ganz Schleswig-Holstein verhaften, um dann aus der großen Masse von Kandidaten einen auszuwählen? Mit etwas mehr Umsicht und Geschick bei den Vernehmungen«, stichelte Starke weiter, »hätten Sie schon weiter sein können. Ich werde veranlassen, dass die von Ihnen in Gewahrsam genommenen Personen zu uns nach Flensburg überstellt werden, damit sie sachkundig vernommen werden. Zu Ihren überzogenen Wünschen hören Sie von mir ein eindeutiges Nein. Aber da wir gerade miteinander sprechen: Ich bin ausgesprochen unzufrieden mit dem Gesamtstand der in Ihrem Verantwortungsbereich anstehenden Ermittlungen. Sie haben ja wohl die Absicht, überhaupt keine der Ihnen übertragenen Aufgaben zu erledigen …«
Es folgte eine der üblichen Tiraden des Kriminalrates.
Mit einem lauten Knall flog die Bürotür auf. Wortlos betrat Große Jäger den Raum, warf seinen nassen Parka in Richtung des Garderobenhakens, verfehlte diesen jedoch und kümmerte sich nicht um das Kleidungsstück, das auf dem Boden liegen blieb und schließlich von Mommsen aufgehoben wurde.
Der Oberkommissar angelte mit dem Fuß nach seinem Schreibtischstuhl und ließ sich schwer hineinfallen. Er zündete sich wortlos eine Zigarette an und blies die Rauchwolke quer über den Tisch in Mommsens Richtung.
Zu seinem unrasierten Gesicht schien die Platzwunde oberhalb seiner Lippe gut zu passen. Christoph musste unwillkürlich schmunzeln, da er selbst mit der Schnittwunde von der morgendlichen Rasur geziert war.
Als Große Jäger seine Zigarette erneut zum Mund führte, sahen die beiden anderen auch die Reihe Pflaster, die nur unzureichend die Platzwunden auf seinen Knöcheln verdeckten.
»Ärger gehabt?«, wollte Christoph wissen.
Der brummige Oberkommissar sah ihn verächtlich an, bequemte sich aber schließlich doch zu einer Antwort.
»Mein Lieblingsarschloch!«
»Etwa wieder der provozierende Typ mit dem BMW, dem wir schon öfter begegnet sind?«
Große Jäger nickte. »Ich war noch ein Bier trinken, als mir ein Mädchen auffiel.«
Mommsen musste lauthals lachen. Als Christoph ihn irritiert ansah, erklärte der junge Mann: »Wilderich Große Jäger geht immer den direkten Weg. Wenn er ein Mädchen sieht, das ihn interessiert, fragt er immer gleich, ob sie mit ihm ins Bett möchte.«
Große Jäger zog laut und vernehmlich die Nase hoch. »Das ist doch ganz einfach, entweder klappt es oder nicht.« Mehr zu sich selbst gewandt fügte er hinzu: »Meistens klappt es nicht. Aber warum soll ich den ganzen Abend um das Mädchen herumtänzeln? Sie kann doch nein sagen.«
»Und da hast du die Falsche erwischt?«, wollte Christoph wissen.
Jetzt war es an dem Oberkommissar, zu grinsen. »Nein! Husum ist eine relativ kleine Stadt. Da läuft man sich öfter über den Weg. Und ihr Typ war nun der Ansicht, dass das Mädchen eher zu ihm gehört und ein asoziales Geschöpf wie ich aus seinem Dunstkreis zu verschwinden hätte. So haben wir die Diskussion eben etwas körpernah ausgetragen.« Große Jäger hielt seine lädierte Hand in die Höhe und zeigte auf die aufgeplatzte Lippe.
»Aber keine Sorge«, schloss er für sich das Thema ab, »mein Kontrahent kann derzeit keine Aussage machen, allerhöchstens etwas schriftlich von sich geben. Sprechen wird ihm vorerst wohl nicht möglich sein.«
»Und was ist aus dem Mädchen geworden?«
Große Jäger winkte lässig ab. »Die gehört dem Sieger.«
Der Oberkommissar war schon ein merkwürdiger Mensch. Christoph wandte sich an Mommsen: »Angelst du dir deine Mädchen auch so?«
Mommsen schüttelte wortlos den Kopf, während Große Jäger in ein nicht enden wollendes Gelächter ausbrach.
Christoph unterbrach den Oberkommissar. »Was hat deine Vernehmung der beiden polnischen Arbeiter ergeben?«
Große Jäger räusperte sich, bevor er berichtete. »Der eine Typ, der jüngere, versteht überhaupt kein Deutsch. Das musste alles dieser andere, der Dings … ähhh … Heinz Schmidt übersetzen. Ich kann nur hoffen, dass das auch alles richtig war.«
»Du hast eine gesunde Skepsis?«
»Das kannst du wohl sagen. Also, der Schmidt bestätigte, was der Türke uns erzählt hat. Yildiz hatte ihn, Schmidt, gebeten, der kleinen Lisa den Stall zu zeigen. Das Kind war eine ganze Weile mit den beiden Polen allein bei den Tieren. Erst sehr viel später erschien die Mutter, hat sich bei den Männern für das Einhüten bedankt und noch ein paar belanglose Worte mit Schmidt gewechselt. Dann hat Anne Dahl mit ihrer Tochter an der Hand die Stallungen verlassen.«
»Wie lange war das Kind mit den beiden Männern allein?«
»Das habe ich auch gefragt. Der ältere Arbeiter konnte sich daran nicht mehr erinnern, trotz mehrfacher Nachfrage.«
»Wer hat sich während dieser Zeit mit dem Kind beschäftigt? Schmidt? Oder beide?«
Große Jäger schlürfte Kaffee, bevor er Christoph antwortete. »Schmidt. Der andere versteht ja kein Deutsch. Der hätte sich gar nicht mit dem Kind unterhalten können.«
»Und was hat der andere währenddessen gemacht? Hätte einer von beiden Mutter und Tochter hinterhergehen können?«
»Sie waren die ganze Zeit zusammen im Stall. Das haben sie beide bestätigt. Zumindest hat Schmidt das so übersetzt …«, brummte der Oberkommissar missmutig vor sich hin.
»Das bedeutet, sie haben sich gegenseitig ein Alibi gegeben.«
»So sieht es aus.«
Christoph versuchte nach Große Jägers Bericht, Hauptkommissar Jürgensen zu erreichen. Nachdem am anderen Ende der Leitung der Hörer abgenommen worden war, entstand eine Pause. Jemand holte tief Luft, blies dann mit voller Inbrunst kräftig durch die Nase und meldete sich dann mit rauer Stimme: »Ja!«
Christoph erkannte die Stimme seines anscheinend ewig erkälteten Kollegen vom Erkennungsdienst und nannte seinen Namen.
»Ach du Elend«, kam es über die Leitung, »schon wieder die Schlickrutscher aus Husum, die ihre Leichen während des Winters immer nur im kalten Wasser finden.« Christoph erwartete einen Vergleich mit anderen Fällen, die in klimatisch angenehmeren Umgebungen zu lösen waren. Er wurde nicht enttäuscht.
»Gestern hatten wir einen Unfall mit Todesfolge«, setzte Jürgensen seinen Monolog fort, »einfach, unkompliziert, eindeutig ohne Fremdeinwirkung. Und das Ganze spielte sich in einem Heizungskeller ab. Daran solltet ihr euch ein Beispiel nehmen. Nein, stattdessen findet ihr eure Toten in eiskalten Entwässerungsgräben. Dabei ist euer Landstrich schon von selbst alles andere als klimatisch begünstigt.«
Es entstand eine kurze Pause. Christoph hörte Papier rascheln.
»Wir haben eine ganze Nacht durchgearbeitet, nur weil ihr von der Westküste nicht in der Lage seid, vernünftig aufbereitete Leichen zu finden.«
Der Kriminaltechniker suchte immer noch seine Unterlagen, bis er schließlich in sachlicher Tonlage verkündete: »Hier habe ich es. Zuerst das Ergebnis der Golftasche. Neben den Spuren, die auf einen offensichtlich bestimmungsgemäßen Gebrauch schließen lassen, haben wir nichts Verwertbares gefunden. An Fingerabdrücken waren die des Besitzers relativ gut erkennbar …«
»Also des alten von Dirschau«, schob Christoph ein.
»Richtig«, bestätigte Jürgensen, »sowie, allerdings weniger deutlich, haben wir Prints von …«, er machte es spannend, »… von Mehmet Yildiz gefunden.«
Christoph war überrascht. Was hatte Yildiz mit der Golftasche zu tun?
Der Mann von der Kriminaltechnik fuhr fort: »Ebenso haben wir seine, des Türken, Abdrücke ganz klar auf dem einen Golfschläger gefunden, dem Eisen sieben.«
»Das ist der Schläger, den wir vor Yildiz’ Kammertür gefunden haben, nachdem wir ihn im Set der anderen Schläger in der Golftasche vermisst hatten«, ergänzte Christoph.
»Das mag sein, da bin ich nicht im Bilde«, grummelte Jürgensen und schob ein herzhaftes Niesen ein.
»Auf dem Schläger gab es keine weiteren Abdrücke, vor allem nicht des von Dirschau. Dafür ist dieser Schläger ganz eindeutig die Tatwaffe. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Frau mit diesem Golfschläger ermordet wurde«, ließ Jürgensen die Katze aus dem Sack.
Es entstand eine kurze Pause.
»Danke, Klaus, ihr habt wieder einmal Großartiges geleistet«, lobte er. Christoph sah vor seinem geistigen Auge, wie der kleine kahlköpfige Mann in Flensburg in seinem Stuhl über sich selbst hinauswuchs.
Doch über das Telefon kam nur zurück: »Keine Ursache, wir haben nur unsere Arbeit gemacht. Dafür war das Ergebnis der Spurensuche in der Garage, aber auch in allen Fahrzeugen negativ. Wir haben nicht das Geringste gefunden, keine Blutspur, keine Hautschuppen, nicht einmal eine Mikrofaser von der Kleidung der Toten.«
»Kann das an der langen Zeitspanne liegen, die zwischen der Tat und der Spurensicherung lag?«, wollte Christoph wissen.
»Nein«, kam es prompt zurück, »so gut kannst du ein Fahrzeug nicht reinigen, dass wir nichts mehr finden. Blutspuren lassen sich auf dem Filz eines Kofferraums auch nach langer Zeit noch nachweisen. Du musst dann schon die Verkleidung austauschen. Das haben wir natürlich auch geprüft. Eine solche Aktion hinterlässt ihre Spuren an den Befestigungsklammern. Das ist bei keinem der untersuchten Fahrzeuge geschehen. Wenn die Frau mit einem der Wagen, die sich in der Garage von Dirschaus befanden, zum Fundort der Leiche transportiert wurde, dann in einem sauberen, zuvor für andere Zwecke noch nicht benutzten Plastiksack. Findet diesen Sack, und ich kann euch bestätigen, dass die Tote darin lag.« Jürgensen machte eine kurze Pause. »Vor allem aber findet den Typen, der die Frau erschlagen hat …«, schloss er seinen Bericht.
Christoph informierte seine beiden Kollegen über die neuesten Ergebnisse und ließ dann Yildiz vorführen.
Der Mann sah schlecht aus. Er hatte dunkle Ränder um die eingefallenen Augen und war sehr blass. Die Nacht in der Zelle hatte ihn mitgenommen. Auch wenn er versucht hatte, sich äußerlich herzurichten, konnte er vor den drei Beamten seinen desolaten Zustand nicht verbergen.
Christoph konfrontierte ihn mit den Ergebnissen der Spurensuche. Mit weit aufgerissen Augen folgte Yildiz den Ausführungen. Er schwieg dazu, aber seine Gestik zeigte eine fortwährende Abwehr gegenüber Christophs Bericht.
»Das kann alles gar nicht wahr sein«, schrie er in den Raum. »Ich war es nicht, ich bin doch kein Mörder.« Dann schluchzte er, hielt die Hände vors Gesicht und ließ den Tränen freien Lauf.
Die drei Beamten gaben ihm Zeit, sich zu beruhigen.
»Herr Yildiz«, begann Große Jäger, »über die nachgewiesenen Tatsachen sind wir doch nicht verschiedener Meinung?«
Yildiz sah ihn mit großen Augen an. Offene Angst, fast Panik sprachen aus seinem Blick. »Was meinen Sie mit nachgewiesenen Tatsachen?«
»Darunter verstehe ich, dass Sie den Golfschläger, der vor Ihrer Kammertür stand, angefasst haben.«
Yildiz atmete tief durch, es klang fast erleichtert.
»Ja, das ist richtig.«
»Und warum?«
»Ich habe auf dem Hof der von Dirschaus kleine Handreichungen übernommen, wie ich ja bereits erklärt habe. Herr von Dirschau hat mich gebeten, einen der Golfschläger einmal gründlich zu reinigen.«
»Nur diesen einen oder den ganzen Schlägersatz?«, wollte Christoph wissen.
»Nur einen einzigen.«
»Und warum?«, setzte Große Jäger die Befragung fort.
»Der Schläger war schmutzig. Es war mit dem üblichen Dreck versehen, der nach einer Golfpartie um diese Jahreszeit haften bleibt. Außerdem war er blutverschmiert.«
Die Kriminalbeamten horchten auf. Das blieb auch Yildiz nicht verborgen. Er ließ seinen Blick schweifen, von einem zum anderen.
»Wie konnte denn Blut an den Schläger kommen?«, stellte Christoph die entscheidende Frage.
Yildiz zuckte fast gleichmütig mit den Schultern. »Herr von Dirschau erklärte beiläufig, als er mich um diese kleine Gefälligkeit bat, dass ihm in der Garage Mäuse aufgefallen wären, die er mit dem Golfschläger verjagt hat. Dabei hat er wohl eine erwischt.«
Große Jäger kratzte sich am Kopf, dann fuhr er mit seiner Hand über die unrasierte Wange entlang bis zum Kinn. In die atemlose Stille hinein war das schabende Geräusch der Bartstoppeln deutlich zu hören.
»Das klingt aber sehr unglaubwürdig«, gab er dann von sich.
Yildiz zuckte bei diesen Worten zusammen. Er beteuerte immer wieder, den Sachverhalt genau so geschildert zu haben, wie er sich wirklich zugetragen habe. Dazwischen streute er ein, dass er mit der fürchterlichen Tat nichts zu tun habe.
Dabei blieb es. Sie konnten dem Mann keine weiteren Aussagen entlocken.
Mitten in die abschließenden Anmerkungen zum Verhör platzte Frau Fehling hinein, die Sekretärin von Oberrat Grothe. Ihr Gesicht war grau, ihre Stimme belegt. So hatten sie diese selbstsichere Frau noch nicht erlebt. Sie bat Christoph, umgehend den Chef aufzusuchen.
Gothe saß inmitten der dichten Qualmwolken hinter seinem Schreibtisch und wies wie immer stumm auf den Besucherstuhl, als Christoph sein Büro betrat. Er bemerkte, dass Grothe zweimal schluckte, bevor er ohne lange Vorrede begann.
»Ich bin mein ganzes Leben bei der Polizei. Es gibt nichts, was mir nicht schon begegnet wäre. Trotzdem! Immer dann, wenn ein Kind ins Spiel kommt, ich …« Mitten im Satz brach er ab.
Alle hatten es befürchtet, niemand hatte sich getraut, es offen auszusprechen. Nun war es traurige Gewissheit geworden.
Auch das Kind war gefunden worden!
»Wieso glaubt man, dass es Lisa Dahl ist?«
Die Frage war rhetorisch. Dahinter stand die Hoffnung, dass vielleicht ein Irrtum vorliegen könnte, wobei Christoph sich im Klaren darüber war, dass Grothe, der sonst der ruhende Pol in dieser Dienststelle war, nicht leichtfertig irgendwelche Vermutungen in den Raum stellte.
»Wir sind informiert worden, dass in einer Feldscheune eine Leiche gefunden wurde. Die Kollegen der Streife, die daraufhin zum Fundort beordert wurden, haben durchgegeben, dass es sich um ein Kind handelt.«
Er sah Christoph fest in die Augen. »Gottlob gehören Mord und Gewalt in unserer Gegend nicht zum Alltag«, murmelte Grothe mehr zu sich selbst. »Und dass Kinder die Opfer sind, ist – Gott sei Dank – die große Ausnahme. Daher liegt die Vermutung sehr nahe, dass wir schon jetzt wissen, um wen es sich handelt.«
Grothe kaute an seiner Zigarre, fast biss er in das angeschnittene Ende hinein.
»Finden Sie das Schwein, mein Junge. Sie haben alle Unterstützung, die Sie benötigen. Alle Kollegen der Polizeiinspektion Husum stehen hinter Ihnen, gleichgültig, ob sie im Dienst sind oder freihaben.«
Er machte mit seiner großen, fleischigen Hand eine Bewegung, die Christoph beschied, den Raum zu verlassen.
Als Christoph ins Büro zurückkehrte, erwarteten ihn die neugierigen Blicke seiner beiden Kollegen.
»Lisa!«, sagte er nur.
»Verdammte Scheiße!«, entfuhr es Große Jäger. Dann wischte sich der Oberkommissar verstohlen die Augen, während Mommsen sich wortlos unter den Schreibtisch bückte, um an seinen Slippern ein nicht vorhandenes Schuhband zu binden.
Mit knappen Worten hatte Christoph veranlasst, dass der Erkennungsdienst in Kenntnis gesetzt wurde. Außerdem hatte er Dr. Hinrichsen informiert.
»Ich bin schon dorthin bestellt worden«, erwiderte dieser, »es gibt dort einen medizinischen Notfall bei den Zeugen.«
*
Nahezu gleichzeitig mit dem Mediziner erreichten sie ihr Ziel. Inmitten der flachen Weidelandschaft im Dreieck zwischen Marschenbüll, Oldenswort und Witzwort stand, durch einen mit Kopfweiden bepflanzten Knick zur Wetterseite vor dem Wind grob geschützt, eine alte, baufällig wirkende Feldscheune. Sie hatte schon seit langem keinen Anstrich mehr gesehen, an einigen Stellen waren morsche Bretter aus der Wand herausgebrochen. Eine Seite des Scheunentors schlug im Wind hin und her und krachte dumpf gegen die Wand. Der Sturm trug die Schläge zu ihnen herüber, als sie aus den Wagen stiegen.
Vor der Scheune stand ein Streifenwagen. Zwei Polizisten entstiegen ihm, als sie sich näherten. Automatisch fuhren ihre Hände an die Schirmmütze, um diese vor einem Fortwehen bei der nächsten Bö zu schützen. Während einer auf den Arzt zuging, kam der zweite den drei Kriminalbeamten entgegen.
»Frerch, aus Tönning«, stellte er sich kurz vor und tippte dabei an den Mützenschirm. »Bei dem Sturm sollten wir uns besser in den Wagen setzen«, schlug er vor.
Im Fahrzeug berichtete er kurz und präzise, was die beiden Streifenbeamten bisher in Erfahrung bringen konnten.
Über Handy sei ein Notruf an die Polizei herausgegangen, und die Leitstelle hätte daraufhin ihr Fahrzeug zum angegebenen Ort bestellt.
Dort hatten sie zwei völlig verstörte junge Leute angetroffen. Die beiden, ihren Namen hatte die Polizisten notiert, waren mit einem Fahrzeug, einem Golf, aus Uelvesbüll zu dieser ihnen bekannten Stelle herübergekommen. Sie wollten die Scheune zu … nun ja, zu einem zärtlichen Beisammensein aufsuchen.
Christoph sah sich um. Er konnte keinen Golf entdecken.
Der Streifenbeamte bemerkte den suchenden Rundblick. »Der Golf steht in der Scheune«, erklärte er und fügte hinzu, dass die Scheune sonst fast leer sei. Ein paar Strohballen würden in einer Ecke liegen, ferner befänden sich dort einige ausrangierte landwirtschaftliche Geräte.
Die jungen Leute hätten noch etwas herumgealbert und seien über die Strohballen getollt, als sie das tote Kind entdeckten und dann über Handy sofort die Polizei verständigten. Er, Frerch, sei kurz in der Scheune gewesen, um die Angaben zu überprüfen, und könne die Aussage des jungen Paares nur bestätigen. Dort in der Scheune liege ein Kind, wahrscheinlich ein Mädchen. Näheres könne er nicht sagen, da er keine Spuren verwischen wollte. Deshalb sei er auch allein in der Scheune gewesen, während sein Kollege sich um die beiden jungen Leute gekümmert habe. Sie hatten auch gleichzeitig den Arzt verständigt, da die beiden dringend medizinischer Hilfe bedurften.
Dr. Hinrichsen hatte ebenfalls in einem Streifenwagen Zuflucht vor dem Sturm gesucht. Es dauerte eine Weile, bis der Arzt das Fahrzeug wieder verließ.
»Ich habe mir den Fundort noch nicht angesehen, um der Spurensicherung den Vortritt zu lassen«, begann der Arzt, »aber es muss ein sehr unerfreulicher Anblick sein. Die beiden jungen Leute sind nervlich sehr angeschlagen. Ich habe ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht. Es ist dringend erforderlich, dass sie nach Hause gefahren werden. In diesem Zustand sind sie nicht mehr fahrtüchtig und dürfen unter keinen Umständen selbst ans Lenkrad.«
Christophs Frage, ob die beiden für ein kurzes Gespräch zur Verfügung stehen würden, beantwortete der Mediziner mit einem knappen »Bedingt«.
Christoph sah Große Jäger an. »Könntet du und Mommsen das übernehmen?«
In der Weite der offenen Landschaft sah man eine kleine Wagenkolonne, die sich der Scheune näherte.
Das erste Fahrzeug rollte noch, da sprang Hauptkommissar Jürgensen schon heraus; er trug einen daunengefütterten Blouson, und sein Hals war durch einen mehrfach gewickelten Schal geschützt. Eine Strickmütze verdeckte sein fast haarloses Haupt.
Anstelle einer Begrüßung stapfte er schimpfend auf Christoph zu. Von weitem fuhr er ihn an: »Da taucht ihr das ganze Jahr über ab, und in dieser verfluchten Jahrszeit ist bei euch Hochkonjunktur in Sachen Leichenfund.«
Zuerst sah es aus, als würde er Christophs entgegengestreckte Hand ignorieren, dann ergriff er sie aber doch, ohne dabei seinen Handschuh auszuziehen.
Mit dem Zeigefinger wies Jürgensen über die Schulter in Richtung Scheune. »Da drinnen?«
Christoph nickte.
»Ich vermute einmal, dass ihr Nordfriesen den Schuppen nicht geheizt habt?«
Christoph war nicht nach Scherzen zumute. »Da liegt ein Kind in der Scheune.«
Es war, als würde mit Jürgensen eine Verwandlung vorgehen. Wortlos drehte er sich um, ergriff seinen Metallkoffer, brummte grimmig: »Ich gehe erst einmal allein«, und stapfte in Richtung Scheunentor.
Es dauerte eine Weile, bis Jürgensen hinter dem immer noch durch den eiskalten Wind bewegten Tor erschien und stumm seinen Männern winkte. Im Gänsemarsch verschwanden die Beamten der Spurensicherung in Richtung des entsetzlichen Fundes.
Da der Sturm immer noch heftig von der See herüberblies, fingen die wartenden Männer trotz der winterlichen Bekleidung an zu frieren.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Jürgensen wieder in der Tür erschien und ihnen zurief: »Jetzt soll der Doc kommen.«
Der Arzt zog den Kopf zwischen die hochgezogenen Schultern und ging mit festen Schritten auf die Scheune zu. Nachdem sie noch eine Weile hatten warten müssen, trat Jürgensen erneut aus der Scheune heraus. »Ihr könnt jetzt kommen«, meinte er.
Eine Ecke war mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Dr. Hinrichsen kam Christoph entgegen. Er war blass.
»Vorsicht«, warnte er, »die Begegnung mit dem Tod ist mir nicht fremd und gehört für mich zum Alltag.« Er holte tief Luft und hüstelte. »Da liegt ein Kind oder besser das, was davon noch übrig geblieben ist. Das arme Wesen liegt dort schon eine ganze Weile. Da hat nicht nur die Verwesung begonnen. Es waren auch Tiere dran.«
Ohne weitere Erklärung verließ der Arzt die Scheune.
Mit schweren Schritten ging Christoph in die Ecke. Vorsichtig warf er einen Blick auf das, was die Beamten des Erkennungsdienstes freigelegt hatten.
Ruckartig führte Christoph eine Hand an den Mund. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er es schließlich vermeiden, sich zu übergeben. Nach der Beschreibung der Kleidung lag in der Tat die kleine Lisa Dahl vor ihnen.
Keiner der Männer sprach. Christoph kämpfte mit seiner Übelkeit. Da fasste ihn jemand sanft an den Schultern und führte ihn vorsichtig von diesem Ort fort. Erst nach einer Weile nahm er wahr, dass es Jürgensen war, der ihn vor die Tür brachte.
»Wir kümmern uns hier um alles Weitere«, übernahm der Leiter der Kriminaltechnik die Regie. »Ihr könnt jetzt abrücken. Den Bericht bekommt ihr besonders schnell.«
Die Rückfahrt zur Dienststelle erfolgte schweigend, nachdem Mommsen es zuvor übernommen hatte, Christoph kurz über die Vernehmung der beiden jungen Leute zu informieren.
Den schweren Besuch bei Peter Dahl wollte Christoph allein machen.
*
Vor der Wohnung von Peter Dahl atmete Christoph noch einmal tief durch und betrat das Haus, nachdem ihm der Summer die Tür geöffnet hatte.
Dahl erwartete ihn am Treppenabsatz. Sein Gesicht war von den Ereignissen der letzten Zeit tief gezeichnet.
»Ach, Sie sind’s. Kommen Sie rein«, begrüßte er Christoph, drehte sich um und ging in die Wohnung zurück. Christoph folgte ihm in die Wohnküche und nahm am Küchentisch Platz. Dahl zündete sich eine Zigarette an.
»Gibt’s was Neues?«, fragte er matt.
Christoph antwortete nicht direkt.
Sein Gegenüber winkte ab. »In der letzten Zeit hat mich das Schicksal arg geprügelt. Ich glaub, ich will nichts Neues mehr hören.«
Christoph schluckte tief. Er suchte nach geeigneten Worten.
»Haben Sie wieder ‘ne schlechte Nachricht für mich?«
»Es gibt Aufgaben in meinem Beruf, die zu den schwersten gehören, die einem zufallen können«, begann Christoph vorsichtig.
Der Tonfall ließ Dahl aufhorchen. Er hielt seine brennende Zigarette über die Tischplatte und achtete nicht auf die sich langsam vor der Glut bildende Asche, die herunterzufallen drohte.
Dann nahm er einen Schluck Kaffee aus einem bunten Becher. Er setzte das Trinkgefäß hart auf den Tisch zurück.
»Lisa?«
Christoph nickte.
»Herr Dahl, es ist anzunehmen, dass … Aber noch haben wir keine abschließende Gewissheit«, stammelte er.
Dahl fixierte einen imaginären Punkt an der Wand. »Lisa ist tot«, flüsterte er.
Christoph nickte erneut. Er war froh, dass ihm die Antwort abgenommen worden war.
In diesem Augenblick hörten sie einen Schlüssel in der Wohnungstür. Schlurfende Schritte näherten sich der Wohnküche. Kurz darauf erschien der alte Herr Grün im Türrahmen.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe Sie vorhin kommen hören.« Er zeigte auf Dahl. »Peter hat mir einen Wohnungsschlüssel anvertraut. Ich kümmere mich ein wenig um ihn.«
Dahl sah zu ihm auf. Er hatte Tränen in den Augen. Ohne weitere Worte verstand der Alte.
»Lisa?«, fragte er Christoph.
Leo Grün trat hinter Dahls Stuhl und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Mit der anderen strich er ihm vorsichtig über das Haar.
»Kann ein Mensch so viel auf einmal verkraften? Können Sie mir sagen, wer diese Welt so lenkt, dass dieses Unheil über ein Haupt eines einzelnen Menschen abgeladen wird? Kann Gott so ungerecht sein, einen Tag vor Weihnachten diesen Mann so zu strafen?«
Christoph konnte nichts darauf erwidern.
»Wer auch immer Schicksal spielt«, gab er schließlich zur Antwort, »es war nicht Gott, sondern die Hand eines Menschen. Wir kennen bisher nicht einmal ein Motiv. Mit dem Verstand und dem Gefühl eines normal entwickelten Menschen kann man es nicht verstehen.«
»Sie müssen diese Bestie finden.« Leo Grün war bei seinem emotionslosen Tonfall geblieben.
»Wir werden alles daran setzen, die Person zur Rechenschaft zu ziehen, die diese Familie zerstört hat«, versicherte Christoph. »Derjenige, der zwei unschuldige Leben ausgelöscht hat, wird seinem irdischen Richter nicht entgehen.«
»Und seinem göttlichen erst recht nicht!«, ergänzte der alte Mann.
Das Gespräch war an Peter Dahl vorbeigegangen. Der Mann saß völlig apathisch auf seinem Stuhl, und die Asche war inzwischen auf den Tisch hinabgefallen. Zwischen den Fingern hielt er die erloschene Zigarettenkippe.
*
Im Büro herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Harm Mommsen war mit administrativen Aufgaben beschäftigt, während Große Jäger an seinem Schreibtisch saß und ein Blatt Papier mit Strichen und Anmerkungen versah.
»Ich habe versucht, die Beziehungen aller Beteiligten untereinander darzustellen«, erklärte er. »Aber das Motiv fehlt uns immer noch. Warum mussten Mutter und Tochter sterben? Ein Raubmord scheidet aus. Die Dahls hatten kein Vermögen. Es bestand nicht einmal eine Lebensversicherung für Anne Dahl. Somit gibt es kein finanzielles Motiv.«
»Eine Sexualstraftat ist zumindest bei der Mutter unwahrscheinlich. Die Aussage von Mehmet Yildiz und sein Eingeständnis, dass Anne Dahl kurz vor ihrem Tod freiwillig mit ihm geschlafen hat, könnte zwar eine Schutzbehauptung sein, wenngleich die Autopsie keine Anzeichen für eine Gewaltanwendung ergeben hat. Warum ist die Frau offensichtlich grundlos mit dem Golfschläger ermordet worden?«
Christoph sah eine Weile aus dem Fenster, bevor er fortfuhr. »Nun bleiben noch die Auswertungen der Spuren beim Fundort des Kindes abzuwarten, ebenso der Befund der Autopsie. Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse, dass die beiden nicht einem Zufallstäter zum Opfer gefallen sind, aber alle bisherigen Anzeichen deuten darauf hin, dass uns der Täter bereits begegnet ist.«
»Ich habe alle Verdächtigen in diese Übersicht eingetragen.« Große Jäger zeigte auf seine Ausarbeitung.
In der Mitte hatte er in drei kleinen Kreisen die Namen der Opfer geschrieben, daran anschließend den Ehemann, Mehmet Yildiz und den flüchtigen Frieder Brehm gruppiert. Im dritten Kreis waren Kästchen angebracht, die mit »Polen« bezeichnet waren, und eines mit »von Dirschau«. Ein Kästchen trug die Inschrift »Unbekannter Täter«, und selbst Leo Grün fehlte nicht in der Übersicht. Auch waren die Geschwister Anne Dahls aufgeführt. Selbst Bürgermeister Römelt, Gastwirt Stamm und der Sohn des Gutsbesitzers waren in dem Schema zu finden.
Der Oberkommissar betrachtete seine Übersicht. »Wer hat das getan? Und warum?«
Das Telefon klingelte, und Mommsen hob ab.
»Einen kleinen Augenblick«, sprach er in den Apparat und reichte den Hörer an Christoph weiter. »Deine Frau«, erklärte er.
»Hallo«, meldete sich Christoph.
»Weiß du, was heute für ein Tag ist?«, überfiel sie ihn. »Morgen ist Heiligabend. Ich habe in der Kanzlei einen Berg unerledigter Vorgänge, den ich eigentlich über die Feiertage abarbeiten müsste. Und jetzt soll ich mich auch noch allein um die Vorbereitungen für Weihnachten kümmern? Wir haben bisher weder Essen noch Trinken eingekauft. Der Tannenbaum fehlt auch noch, abgesehen davon, dass wir noch keine Geschenke für die Familie besorgt haben. Wann, glaubst du, soll ich das alles erledigen?«
»Es tut mir Leid«, versuchte er sie zu unterbrechen, »ich hatte mir das auch anders vorgestellt.«
»So? Hast du? Ich bin berufstätig und habe einen Job, der sich nicht in acht Stunden erledigen lässt. Ich bin schließlich kein Beamter.«
»Ich stimme dir zu, dass es einfacher war, als ich noch in Kiel –«
Doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass deine neue Aufgabe dich so fordert, dass du darüber Weihnachten vergisst. Ich erwarte, dass du noch heute hier eintriffst und deinem Anteil an den Verpflichtungen nachkommst«, hörte er sie durch das Telefon sagen.
Dann hatte sie aufgelegt. Ohne Verabschiedung, ohne ein Wort der Versöhnung.
Christoph starrte gedankenverloren eine Weile auf den Telefonhörer, bis er ihn zurück auf den Apparat legte.
»Können wir weitermachen?«, fragte Große Jäger.
Christoph nickte stumm.
»Wir haben die prekäre Situation«, fasste Große Jäger das Ergebnis zusammen, »dass wir in der Aussage des einen Polen, Schmidt, sogar einen Entlastungszeugen für Yildiz haben. Schließlich waren es diese beiden, die als Letzte Anne Dahl und ihre Tochter gesehen haben.«
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen.
»Und wenn nun einer der beiden Polen oder vielleicht sogar beide versucht haben, sich an der Frau oder dem kleinen Mädchen zu vergehen? Vielleicht haben sie etwas mitbekommen von dem, was zwischen Yildiz und Anne Dahl gelaufen ist. Wäre es da so abwegig, wenn sie die Idee gehabt hätten, selbst einmal ihr Glück bei der Frau zu versuchen? Warum sollte sie sich widerspenstig zeigen, wenn sie sich sogar einem Türken hingegeben hatte?« Große Jäger hatte diesen Gedanken in den Raum gestellt.
»Sicherlich«, stimmte Christoph zu. »Das wäre natürlich denkbar. Aber bevor wir uns noch einmal die beiden Polen vornehmen, sollten wir das vorläufige Ergebnis der Spurensicherung abwarten.«
Sie wurden durch das Läuten des Telefons unterbrochen.
Kriminalrat Dr. Starke war am anderen Ende. Er rief aus dem Auto an, deshalb hatten sie eine sehr schlechte Verbindung.
»Es wird am späten Nachmittag eine Pressekonferenz in Husum stattfinden. Ich möchte gern, dass Sie daran teilnehmen. Geben Sie mir bitte noch einige kurze Erläuterungen zum Sachstand«, forderte er Christoph auf.
Christoph berichtete über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Danach saß er ohne rechte Konzentration an seinem Schreibtisch und nutzte die Zeit für die Erledigung anderer Aufgaben.
Nach einer endlos erscheinenden, nervenzermürbenden Zeit des Wartens meldete sich schließlich Jürgensen von der Spurensicherung.
»Wir haben noch keine gesicherten Befunde«, eröffnete er seine Ausführungen. »Ich glaube aber trotzdem, dass euch auch die ersten vagen Hinweise schon interessieren. Macht von diesen aber bitte noch keinen Gebrauch in der Öffentlichkeit. Wir benötigen zusätzlich die Nacht, um die jetzt vorliegenden Ergebnisse untermauern zu können.«
Jürgensen erklärte, dass Lisa Dahl mit hoher Wahrscheinlichkeit mit demselben Golfschläger wie ihre Mutter erschlagen worden war. Das ließ die Vermutung zu, dass auch die angenommene Tatzeit identisch war.
Die Kratzspuren an Lisas Hals stammten zweifelsfrei von ihrer Mutter. Die Hautpartikel unter den Fingernägeln von Anne Dahl wiederum gehörten der Tochter.
An Lisas Kleidung konnten mikroskopisch feine Spuren von Betonstaub identifiziert werden, die übereinstimmten mit Proben, die von der Spurensicherung in weiser Voraussicht bei der Analyse der von Dirschau’schen Fahrzeuge in der Garage genommen worden waren.
Es gab noch einen weiteren bedeutsamen Hinweis: Die Radspuren in der Feldscheune, in der das Kind gefunden wurden, stammten von einem VW-Variant.
Christoph informierte seine beiden Kollegen über das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung.
Große Jäger kratzte sich seine Bartstoppeln. »Wie kommen die Hautpartikel vom Hals des Kindes unter die Fingernägel der Mutter? Warum, verdammt noch einmal, hat Anne Dahl ihre Tochter in den letzten Augenblicken ihres Lebens gekratzt?«
»Und wer von den beiden wurde zuerst ermordet?«, fragte Mommsen.
»Das sind Fragen, die wir noch beantworten müssen«, stimmte Christoph zu. »Allerdings wäre da noch etwas …«
Seine beiden Kollegen sahen ihn interessiert an.
»Die Reifenspuren am Fundort des Kindes stammen von einem VW-Variant. Von Dirschau und sein Sohn fahren aber andere Marken. Das spricht für eine Entlastung der beiden, da wir an ihren Fahrzeugen nicht eine einzige Spur feststellen konnten.«
»Verdammter Mist!«, fluchte Große Jäger.
Mommsen war es, der plötzlich eine Idee hatte. »Als wir das erste Mal in Marschenbüll waren, haben wir Frieder Brehm aufgesucht. Vor seinem Haus stand sein Fahrzeug. Brehm ist Handelsvertreter und nach eigenem Bekunden auch des Öfteren länger unterwegs. Erinnert ihr euch noch, was für ein Wagen dort parkte?«
»Ein Kombi«, meinte Christoph sich zu erinnern.
Große Jäger pflichtete ihm bei. »Ein VW-Variant«, sagte Mommsen. »Da bin ich mir ganz sicher.«
»Wir haben die Fahndungsausschreibung nach Brehm. Da steht doch, mit welchem Wagentyp er unterwegs ist.« Christoph hatte seinen Satz noch nicht beendet, als Mommsen schon in den Unterlagen suchte und nach kurzer Zeit seine Vermutung bestätigte.
»Und wir laufen an der Tatsache, dass Brehm einen Kombi hat und damit sehr einfach die Leichen hätte transportieren können, einfach vorbei.« Große Jäger schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Warum ist er geflüchtet? Wo ist dieser Kerl nur abgeblieben?«
Mommsen warf ein, dass außer den vagen Hinweisen, die sie zu Brehms Aufenthaltsort erhalten hatten, keine weiteren Anhaltspunkte vorlagen. Er wollte aber den Aufruf erneuern und durch ergänzende Informationen den Fahndungsdruck erhöhen.
»Es ist wichtig, dass wir Brehm erwischen und mit ihm sprechen können. Außerdem muss sein Wagen zur Spurensicherung. Die werden schon etwas finden«, meinte der Oberkommissar.
»Richtig«, stimmte ihm Christoph zu. »Das wäre gut. Selbst wenn die nichts finden und wir Brehm von der Liste der Verdächtigen streichen könnten. Außerdem interessiert mich brennend, warum der Mann überhastet geflüchtet ist. Unsere erste Befragung war reine Routine. Wir hatten keinen konkreten Verdacht gegen ihn.«
»Wir stecken in der Sackgasse. Da gibt es zwei Tote und mehrere Verdächtige, die als Täter in Frage kommen. Wir tappen allerdings immer noch im Dunkeln, was das Motiv betrifft.« Große Jäger war sichtlich unzufrieden.
Christoph warf einen Blick auf die Uhr. In Kürze sollte die anberaumte Pressekonferenz stattfinden. Sie konnten heute nicht mehr viel unternehmen. Es fehlten noch die ausführlichen Berichte der Spurensicherung und der Obduktionsbefund des Kindes. Spektakuläre neue Erkenntnisse versprach Christoph sich davon jedoch nicht. Die wesentlichen Punkte hatte Jürgensen ihm schon genannt.
Ihnen blieb nur, am folgenden Tag noch einmal nach Marschenbüll zu fahren und Frau Brehm aufzusuchen. Vielleicht war sie am Heiligabend eher bereit, die Polizisten mit Informationen über den Aufenthaltsort ihres Mannes zu versorgen. Möglicherweise bot sich eine Chance, über die Frau einen Kontakt zu Frieder Brehm herzustellen. Vielleicht veranlasste das bevorstehende Weihnachtsfest den Familienvater, aus einer besonderen Sentimentalität heraus, sich zu stellen.
Außerdem hatte Christoph vor, noch einmal von Dirschau aufzusuchen. Noch hatte er keine Idee, mit welcher Taktik er diesem Mann begegnen wollte. Zumindest war die Frage nach der Verwendung der Golfschläger von Bedeutung.
Es war später Nachmittag geworden. Deshalb drängte Christoph Mommsen, nach den anstrengenden letzten Tagen die Gelegenheit wahrzunehmen und heute einmal nach nur neun Stunden dem Dienst zugunsten privater Interessen den Rücken zu kehren.
Christoph sah auch Große Jäger an, der in seiner Lieblingspose an seinem Schreibtisch thronte, die Füße mit den ungeputzten Schuhen auf einer herausgezogenen Schublade geparkt.
»Du solltest auch Feierabend machen.«
Als er aber in das Gesicht seines Kollegen blickte und den kampfeslustigen Blick gewahrte, winkte Christoph nur müde ab und murmelte: »Ach was! Bei dir hat es doch keinen Zweck!«
Die Pressekonferenz war für siebzehn Uhr anberaumt. Als er sich dem Besprechungsraum näherte, hörte Christoph schon von weitem die Geräuschkulisse der wartenden Journalisten.
Der Raum war bereits gut gefüllt. An der hinteren Wand war eine Kamera aufgebaut. Vorn standen drei Einzeltische, auf denen Mikrofone installiert waren, die mit ihren bunten Aufdrucken auf das regionale Fenster des Fernsehens, den öffentlichen-rechtlichen Rundfunk sowie zwei private Sender hinwiesen.
Die Plätze waren mit Namensschildern versehen. Links sollte Kriminalrat Dr. Starke sitzen, rechts Oberrat Grothe. Die Mitte war für Oberstaatsanwalt Dr. Breckwoldt aus Schleswig reserviert.
Christophs kurzer Gruß, als er den Raum betrat, wurde von den in Gespräche verwickelten Anwesenden kaum wahrgenommen und nur von wenigen mit einem freundlichen Nicken oder Aufblicken quittiert.
Er suchte sich einen Platz in der hinteren Reihe.
Kurz darauf betraten die drei avisierten Herren den Raum und nahmen an der Stirnseite Platz.
Der Oberstaatsanwalt begrüßte kurz die Anwesenden, stellte seine beiden Partner zur Linken und zur Rechten vor und eröffnete formell die Pressekonferenz.
Dr. Breckwoldt war ein hoch gewachsener Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und wachsamen flinken Augen. Das grau melierte wellige Haar rundete, in Kombination mit seiner gepflegten Erscheinung, das Bild ab und verlieh ihm schon vom Äußeren her einen respektablen Eindruck. Mit einer dunkel gefärbten, angenehmen Stimme schilderte er den bisherigen Verlauf, beginnend beim Mord an Anne Dahl bis hin zu der grausigen Entdeckung des heutigen Tages. Er ließ dabei nicht unerwähnt, welch tiefes Mitgefühl er und seine beiden Beisitzer für die Hinterbliebenen empfanden, und drückte die Abscheu gegenüber einer solchen Tat aus.
Routiniert kleidete er geschickt und medienwirksam den ganzen Sachverhalt in eine rhetorisch gekonnte, aber dennoch sachliche Darstellung.
Zum Abschluss seiner Ausführungen wandte er sich zuerst an Oberrat Grothe mit der Frage, ob dieser noch ergänzende Anmerkungen beizutragen hätte. Nachdem dieser verneint hatte, gab der Oberstaatsanwalt das Wort an Dr. Starke weiter.
Der Kriminalrat räusperte sich effektvoll und griff sich dabei theatralisch an den Kehlkopf.
»Die unter meiner Leitung stehende Kommission arbeitet fieberhaft an der Klärung dieses grausamen Doppelmordes«, begann er.
Sogleich unterbrach ihn einer der anwesenden Reporter: »Wieso Doppelmord? Es gibt doch eine größere zeitliche Verschiebung zwischen den beiden Leichenfunden. Wie erklären Sie sich das?«
Diese Zwischenfrage brachte den Kriminalrat offensichtlich aus dem Konzept. Mit einem »Ähhh« überbrückte er den peinlichen Augenblick, fuhr dann aber mit der Anmerkung, es gebe gesicherte Erkenntnisse über die Zusammenhänge, fort.
Christoph zuckte in seiner Ecke zusammen. Natürlich lag die Vermutung nahe, dass die beiden Straftaten zusammenhingen, aber es gab keine abgesicherten Fakten.
Dr. Starke ließ weiterführende Fragen des Journalisten mit dem Hinweis, aus polizeitaktischen Gründen wäre eine Beantwortung nicht angezeigt, unbeantwortet.
Christoph verspürte mehr als Unbehagen, während er dem weiteren Verlauf der Pressekonferenz folgte und seinen Vorgesetzten miterleben durfte, der im Bestreben, ein nicht vorhandenes Detailwissen vorzutäuschen, auf die vorgetragenen Fragen mit einer einzigartigen Mischung aus erwiesenen Tatsachen, ungesicherten Vermutungen und reinen Spekulationen den Wissensdurst der Reporter zu befriedigen suchte.
Das unruhige Wechselspiel aus Frage und Antwort wurde unterbrochen, als der Reporter eines Radiosenders in den Raum hineinrief: »Stimmt es, dass den Taten möglicherweise ein Bezug zur Asylanten- oder Ausländerszene zugrunde liegt?«
Konzentriert blickten alle auf den Oberstaatsanwalt.
Dr. Breckwoldt setzte eine ernste Miene auf und zögerte einen Moment mit der Antwort.
»Im Zusammenhang mit den Ermittlungen ist die Polizei auch auf Spuren gestoßen, die zu ausländischen Mitbürgern führen.« Der Oberstaatsanwalt verfügte über die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl, vorsichtig die bekannten Fakten darzulegen, ohne gleichzeitig der Presse Anreiz für reißerische Schlagzeilen zu liefern.
Ein durch sein verwegenes Äußeres hervortretender Reporter hakte nach. Er suchte nach Bestätigungen, dass – so formulierte er ohne jedes Feingefühl – unzivilisierte Ausländer wie wilde Tiere über einheimische Frauen herfielen.
Dr. Breckwoldt ließ sich nicht aufs Glatteis führen. Mit scharfer Stimme wies er jeden Verdacht in diese Richtung energisch zurück.
Ein anderer Journalist wollte wissen, ob es weitere Spuren gebe.
Mit einer Handbewegung erteilte der Vertreter der Staatsanwaltschaft dem Kriminalrat das Wort.
»Ja!« Klar und deutlich kam dieses Wort über Starkes Lippen.
Christoph ahnte, auf welchen Punkt sein Vorgesetzter anspielte.
Zu seinem großen Entsetzen begann Starke zu berichten, dass in der Nähe des Ortes der Gewalttaten ein früher wegen sexuellen Missbrauchs und Gewaltanwendung gegen Frauen vorbestrafter Mann wohnen würde, den die Polizei routinemäßig befragt hätte.
Seitdem, so der Kriminalrat, hätte sich dieser Mann einer weiteren Befragung durch Flucht entzogen.
Die Reporter hatten nun doch ihre Sensation. Dr. Starke hatte ihnen gerade die Schlagzeile für die nächste Ausgabe geliefert. Alle anderen Informationen wurden durch diese unfundierte und sensationsheischende Meldung überschattet.
Dem Oberstaatsanwalt schwollen die Zornesadern. Seine Kiefer mahlten aufeinander. Christoph glaubte trotz des jetzt entstandenen Tumults das Knirschen seiner Zähne hören zu können. Selbst Oberrat Grothe, der bisher der ganzen Veranstaltung schweigend gefolgt war, zeigte Ärger. Nur Kriminalrat Dr. Starke schien nicht bemerkt zu haben, welche Lawine er mit seinen unbedachten Äußerungen losgetreten hatte.
Dr. Breckwoldt versuchte noch einmal, ein Schlusswort zu formulieren, doch niemand hörte mehr zu. Resigniert verließ der Oberstaatsanwalt, gefolgt von den beiden anderen Herren, die Konferenz.
In Windeseile hatte sich der Raum geleert, nur die Techniker des Fernsehens und der Rundfunksender waren noch mit dem Abbau ihrer Gerätschaften beschäftigt.
Langsam ging Christoph zu seinem Dienstzimmer zurück. Er konnte es nicht fassen. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass sich ein verantwortlicher Polizeibeamter zu einer solchen Dummheit würde verleiten lassen.
Große Jäger saß am Schreibtisch und sah ihn fragend an. Mit kurzen Worten informierte Christoph seinen Kollegen über den Verlauf der Pressekonferenz
Es war früher Abend. Sie beschlossen, in der Cafeteria eines Kaufhauses am Marktplatz eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.
Als sie das Dienstgebäude verließen, spürten sie den eiskalten Wind, der gedreht hatte und nun von Land her, aus Osten, herüberwehte. Der Sturm hatte an Stärke eingebüßt, trotzdem war es unangenehm kalt. In diesen Breitengraden gab es selten extreme Temperaturen. Die Meteorologen unterschieden nach tatsächlicher und gefühlter Temperatur. Subjektiv empfand Christoph den nasskalten Ostwind als arktisch.
Sie näherten sich mit raschen Schritten dem Stadtzentrum und bahnten sich einen Weg durch die vielen Menschen, die in Hektik ihre Feiertagsbesorgungen erledigten. Die Cafeteria war gut besucht, doch sie fanden noch einen freien Tisch.
Christoph stocherte in seinem Essen herum. Er hatte eine Spezialität des Hauses geordert, das Halligbrot. Auf einem kräftigen Schwarzbrot türmte sich eine handfeste Portion würziger Nordseekrabben. Das Ganze wurde garniert durch zwei Spiegeleier. Es sah zwar appetitlich aus, konnte Christoph aber nicht wirklich begeistern.
An den Tischen um sie herum schnatterten einkaufsmüde Hausfrauen, junge Leute auf Stadtbesuch und ältere Paare. Inmitten des hohen Geräuschpegels vernahm Christoph kaum das Surren seines Mobiltelefons. Es war die Telefonzentrale der Dienststelle. Dort war eine Nachricht für ihn angekommen.
Eine Frau hätte sich gemeldet und speziell ihn verlangt. Sie wollte ihr Anliegen keinem anderen offenbaren, auch nicht dem Diensthabenden. Sie hatte ausdrücklich betont, nur mit Christoph sprechen zu wollen.
»Hat die Anruferin ihren Namen genannt?«, wollte Christoph wissen und hielt sich mit der freien Hand das andere Ohr zu, um das Stimmenwirrwarr abzuschirmen, das durch den Raum hallte.
»Ja«, entgegnete der Beamte in der Zentrale, »sie nannte ihren Namen: Brehm!«
Christoph hielt die Luft an. »War das alles?«
Der Mann am anderen Ende der Leitung raubte ihm langsam den letzten Nerv. In seiner Zeit an der Westküste hatte er die ruhige und bedächtige Art der Einheimischen kennen und manchmal auch schätzen gelernt. Aber Besonnenheit war nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem Phlegma dieses Kollegen, dem er jedes Wort einzeln entlocken musste.
»Nein«, kam es zurück.
»Verdammt noch mal«, entfuhr es Christoph. »Was hat die Frau noch gesagt?«
Wiederum war es für einen kurzen Moment still in der Leitung.
»Sie sagte, es wäre etwas geschehen, und fragte, ob Sie nicht einmal bei ihr vorbeischauen könnten.«
Mehr war dem wortkargen Kollegen nicht zu entlocken.
Christoph informierte den Oberkommissar in zwei Sätzen und versuchte dann seinerseits, einen telefonischen Kontakt zu Frau Brehm herzustellen, indem er die sorgfältig in seinem kleinen Notizbuch vermerkte Rufnummer anwählte.
Es wurde allerdings nicht abgenommen.
Kurz entschlossen bat Christoph Große Jäger, zur Dienststelle zurückzueilen, um das Fahrzeug zu holen. Er selbst wollte die wenigen Schritte bis zu Mommsens Wohnung zurücklegen, um diesen trotz der verordneten Freizeit zu bitten, mit nach Marschenbüll zu kommen. Er stimmte mit dem Oberkommissar ab, dass dieser die beiden anderen vor der Wohnung abholen sollte.
Schnellen Schrittes ging Christoph durch die Straßen und hatte das kleine Stadtzentrum bald hinter sich gelassen. Mommsen wohnte in einem liebevoll restaurierten Mehrfamilienhaus in der Altstadt. Die Straße war ruhig und strahlte mit ihren wenigen Laternen eine angenehme Behaglichkeit aus, wobei dieses Bild noch durch die elektrischen Leuchter und Kerzenbögen unterstrichen wurde, die in den Fenstern standen.
Kurze Zeit nachdem Christoph den Klingelknopf betätigt hatte, hörte er den Summer und drückte die Tür auf. Rasch bewältigte er die Stufen bis zum Obergeschoss. Die Wohnungstür am Treppenkopf war angelehnt.
Christoph klopfte, worauf er eine unbekannte helle Männerstimme mit einem eigenartigen Timbre vernahm.
»Komm, Schatzi, die Tür ist offen. Warum klopfst du denn?«
Christoph trat in den kleinen Flur, als durch eine der Türöffnungen ein sehr kleiner Mann mit tänzelnden Schritten heraustrat.
Mit einer fast linkischen Geste hielt er sich das rot karierte Geschirrtuch vor den Mund.
»Oh!«, entfuhr es ihm. »Ich hatte eigentlich jemand anderen erwartet.«
Der Mann hatte eine über die Stirn laufende Glatze, die von einem sehr kurz rasierten Haarkranz umgeben wurde. Im Kontrast zu den wenigen Haaren stand allerdings der mit einem Gummiband zusammengehaltene Haarzopf, der vom Nacken über den Kragen des Poloshirts hinunterhing.
Freundliche, lustige Augen strahlten Christoph an. Lediglich der Dreitagebart verlieh der kleinen Gestalt einen maskulinen Hauch.
Christoph sah den Mann irritiert an.
»Entschuldigung«, bemühte er sich, den Rückwartsgang einlegend, »ich habe mich wohl in der Tür geirrt.«
»Schade!« Der kleine Mann machte einen winzigen Schritt auf Christoph zu, was diesen instinktiv veranlasste, noch ein Stück zurückzuweichen. Dabei stieß er mit jemandem zusammen, dessen Herannahen er nicht wahrgenommen hatte.
Rasch drehte er sich um, und blickte Mommsen direkt in die Augen.
Nun war es an Christoph, »Oh!« zu sagen. Alle Anwesenden an diesem Ort und zu dieser Stunde sagten anscheinend »Oh«.
»Zu dir wollte ich.« Es klang wie ein Stoßseufzer.
Mommsen errötete bis unter die Haarspitzen. »Bitte«, sagte er und wies auf den kleinen Flur. »Hier wohnen wir.«
Seine Stimme hatte wieder an Festigkeit gewonnen. Er räusperte sich und fuhr fort: »Darf ich vorstellen. Das ist mein Chef, Hauptkommissar Johannes. Und das«, er zeigte auf den kleinen Mann, der Christoph mit großen interessierten Augen betrachtete, »das ist Karlchen, mein Lebenspartner.«
Deshalb hatte Mommsen also nie reagiert, wenn ihm, dem gut aussehenden, sportlichen jungen Mann, die Frauen, unabhängig vom Alter, hinterherblickten.
Der kleine Mann, den Mommsen als Karlchen vorgestellt hatte, wischte sich die Hände am Geschirrhandtuch trocken. Mit einem überraschend festen Händedruck begrüßte er Christoph.
»Sie müssen einmal vorbeikommen. Dann trinken wir eine schöne Flasche Wein miteinander.«
Dankend nahm Christoph an. Große Jäger war inzwischen unbemerkt von der kleinen Gesellschaft im Türrahmen erschienen.
»Alles klar?« Das breite Grinsen auf dem unrasierten Gesicht des Oberkommissars ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Situation sofort erkannt hatte und sich für einen kurzen Moment an Christophs Verblüffung weidete.
Christoph erklärte Mommsen, dass sie ihn gern dabeihätten, um dem mysteriösen Anruf der Frau Brehm nachzugehen. Er bedauerte, ihn noch einmal dienstlich in Anspruch nehmen zu müssen.
Harm Mommsen verschwand durch eine der Türen, die von dem kleinen Flur abgingen, um sich schnell umzuziehen, und kehrte kurz darauf zurück. Er fuhr vorsichtig mit der Hand über Karlchens Oberarm.
»Warte nicht auf mich. Es kann spät werden.«
Zu Christoph und Große Jäger gewandt meinte er: »Wollen wir?«