EINS
»He, Sie da!« Der Uniformierte zog den Kopf noch ein wenig mehr in den Kragen seiner Jacke. »Da können Sie nicht parken, das ist reserviert für Dienstfahrzeuge.« Er blieb unter dem schützenden Vordach des Hauseingangs stehen und beobachtete Christoph, der seinen schwarzen Volvo-Kombi in der Parklücke hinter dem Dienstgebäude der Polizeiinspektion abgestellt hatte.
Es war erst früher Nachmittag, und der Westwind von der nahen See trieb den Regen schräg vor sich her. Der feine Nieselregen griff horizontal an, er schien auf den Wellen des Windes nahezu waagerecht zu reiten und traf direkt von vorn auf Gesicht und Körper. Die in bizarren Gebilden landeinwärts jagenden Wolken schluckten einen erheblichen Teil des Lichts, sodass es für die Tageszeit viel zu dunkel war und alles in ein trübes Grau getaucht wurde. Hinter den Fenstern der umliegenden Gebäude war überall das Licht eingeschaltet.
Christoph blickte kurz in die Richtung des Uniformierten, beeilte sich dann, sein geparktes Fahrzeug abzuschließen, und kam in schnellen Sätzen auf den Mann zu.
»Dieser Parkplatz ist nur für Dienstfahrzeuge reserviert.« Der Streifenpolizist stellte sich dem Neuankömmling in den Weg, ohne dabei aber das schützende Vordach zu verlassen.
»Das ist quasi ein Dienstfahrzeug«, antwortete Christoph. »Ich möchte zum Herrn Grothe. Wo erreiche ich den?«
Der Polizist trat einen Schritt zu Seite. »Das Vorzimmer vom Chef ist in der zweiten Etage«, gab er zur Antwort.
Christoph trat zügig in das Dienstgebäude und hörte hinter sich den schwachen Protest des Beamten: »Trotzdem dürfen Sie da nicht parken …«
Die Polizeistation befand sich in jenem beklagenswerten Zustand, der jedem Gebäude, in dem eine Behörde oder öffentliche Einrichtung residiert, eigen ist. Die in düsteren Ölfarben gehaltenen Wände hatten schon seit langem einen neuen Anstrich nötig, und der gesamte Bau strahlte den Betoncharme der frühen sechziger Jahre aus.
In der zweiten Etage fand Christoph die Bürotür mit der Aufschrift: Dienststellenleiter, Polizeioberrat Grothe.
Nach einem kurzen Klopfen betrat er den Raum. Eine hoch gewachsene, nicht mehr ganz junge Frau saß vor einem Bildschirm und bearbeitete mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit die Tastatur. Sie unterbrach ihre Arbeit und sah auf. »Ja, bitte?«
»Guten Tag. Mein Name ist Christoph Johannes. Ich habe eine Verabredung mit Herrn Grothe.«
Die in einer eleganten beigefarbenen Kombination gekleidete Sekretärin stand auf und umrundete ihren Schreibtisch. Sie streckte ihm eine gepflegte schlanke Hand entgegen.
»Guten Tag, Herr Johannes.« Sie hatte ein angenehmes Timbre in der Stimme. »Mein Name ist Fehling. Ich bin die Sekretärin vom Chef. Wir erwarten Sie eigentlich schon seit einer Stunde.«
Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Es tut mir Leid. Bei diesem Regen können Sie keine Termine einhalten, wenn Sie mit dem Auto übers Land fahren. Heute hatten sich alle anderen Verkehrsteilnehmer gegen mich verschworen.«
Frau Fehling griff zum Telefon, um den Besucher anzukündigen.
»Bitte!« Sie deutete auf eine Zwischentür. »Der Chef erwartet Sie.«
Christoph trat ein. Das trübe Novemberwetter tauchte den Raum in ein diffuses Halbdunkel. Er wurde nur durch eine altertümliche Schreibtischlampe mit einem großen runden Messingfuß erhellt. Der Lichtstrahl konzentrierte sich auf einen kreisrunden Ausschnitt auf dem Holzschreibtisch. Dicke Rauchschwaden waberten wolkengleich durch den Raum.
Hinter dem Schreibtisch saß ein schwergewichtiger Mann. Die Hemdsärmel hatte er, soweit es die kompakten Unterarme zuließen, hochgerollt, der Kragenknopf war geöffnet. Breite Hosenträger spannten sich über einen fülligen Oberkörper und verschwanden irgendwo unterhalb der Schreibtischkante.
Am meisten beeindruckte Christoph aber der massige Schädel, der nahezu ansatzlos zwischen den Schultern thronte und in ein gewaltiges Doppelkinn überging. Von einem grauen Haarkranz gesäumt glich dieser kugelrunde Kopf einem knallroten Ballon.
Kleine listige Schweinsäugelein musterten Christoph unter den buschigen Augenbrauen hervor.
Ohne die dicke Zigarre aus dem breiten Mund zu nehmen, wies Polizeioberrat Grothe auf den Besucherstuhl und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Ich hatte Sie früher erwartet. Pünktlichkeit ist in meinem Amtsbereich eine der ersten Tugenden.«
Christoph atmete tief durch, wollte sich für die Verspätung rechtfertigen, nahm dann aber schweigend auf dem angebotenen Stuhl Platz.
Grothe hielt es nicht für notwendig, seinen Besucher zu begrüßen. »Sie sind also Christoph Johannes«, begann er, zog tief an seiner Zigarre und blies eine stinkende blaue Rauchwolke über den Schreibtisch.
»Erzählen Sie etwas von sich!«
»Gern. Ich bin in Kiel geboren und aufgewachsen. Direkt nach der Schule trat ich in den Polizeidienst ein. Im Anschluss an die Ausbildung war ich zwei Jahre bei der kasernierten Schutzpolizei in Eutin, bevor ich als Beamter im Streifendienst in verschiedenen Wachen in Lübeck und in Bad Oldesloe Dienst tat. Dann habe ich mich bei der Kripo beworben.«
»Da haben Sie ja die Ochsentour gemacht«, murmelte Grothe dazwischen.
Christoph nickte, bevor er fortfuhr: »Die ersten Jahre war ich im Ermittlungsdienst tätig, überwiegend im Kommissariat für Wirtschaftsstrafsachen. Dann hat man mich vor zehn Jahren in das Dezernat für allgemeine Verwaltungsangelegenheiten versetzt. Dort habe ich bis gestern gearbeitet.«
»Und was treibt Sie nun zu uns nach Husum?«, fragte der Polizeioberrat neugierig.
Christoph zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, die Frage kann ich nicht beantworten. Ich war sehr überrascht, als man mich in der vergangenen Woche kurzfristig mit der vorübergehenden Leitung der hiesigen Kriminalpolizeistelle betraute.«
Gegenüber Grothe ließ er unerwähnt, dass man in Kiel seine Argumente gegen diese Versetzung freundlich angehört hatte, seine Skepsis, ob gerade er die richtige Besetzung für diese Aufgabe wäre, aber zerstreute und schließlich mit höflicher Bestimmtheit vom Weisungsrecht des Dienstherrn Gebrauch machte.
Husum! Als Tourist hatte er schon einige Male diese Region besucht, immer mit dem beruhigenden Gefühl, wieder in die ihm wesentlich angenehmer erscheinende Landesmetropole zurückkehren zu können. Zweifellos hatte sich der schon von Theodor Storm als »graue Stadt am Meer« besungene Ort hervorragend entwickelt und war zu einem touristischen Anziehungspunkt geworden. Behutsam hatte sich die Stadt zu einem städtebaulichen Kleinod gemausert und ihre Bedeutung als zentraler Ort der Region ausgebaut. Aber für Christoph selbst und seine weitere berufliche Entwicklung bedeutete dieser Standort keine Perspektive. Auch seine Ehefrau hatte wenig Begeisterung für seine vorübergehende Versetzung an das andere Ende des Landes gezeigt.
Nun sollte er die Leitung dieser Dienststelle übernehmen, ein »Provinzkommissar«, wie seine Kollegen in Kiel spotteten.
Die beiden Männer sahen sich einen Moment schweigend an, bevor der Polizeirat das Wort ergriff: »Wir sind hier eine hervorragende Mannschaft«, erklärte Grothe zwischen zwei Qualmwolken. »Abgesehen von den Beschränkungen, denen aus Geldmangel alle öffentlichen Einrichtungen unterliegen, steht hier jeder Kollege für den Einsatz mit allen seinen Möglichkeiten. Unsere Inspektion umfasst diese Region …«
Er wuchtete seine Massen aus dem Sessel und stellte sich vor eine Wandkarte, die an der Stirnseite seines Büros angebracht war. Er benutzte die glimmende Zigarre als Zeigestock und fuhr eine Linie ab, die den nördlichsten Küstenbereich Deutschlands einschließlich der Inseln und Halligen umschloss.
»Wenn wir einmal von der im Sommer besonderen Situation auf Sylt absehen, haben wir ein Gebiet, das – gemessen an den Problemen mancher Metropolen – relativ ruhig erscheint. Schwere Gewaltstraftaten, Bandenkriminalität oder ausufernde Rauschgiftdelikte sowie die daraus resultierenden Folgetatbestände wie Beschaffungskriminalität sind bei uns nicht so weit verbreitet wie in anderen Gegenden.«
Grothe holte tief Luft, sog erneut an seiner Zigarre und entließ geräuschvoll weitere blaue Schwaden in den ohnehin schon mit Rauchwolken gefüllten Raum. Christoph unterdrückte ein Hüsteln.
»Unsere Probleme liegen eher in der Weitläufigkeit der Region, die wir mit zu wenig Personal zu betreuen haben«, fuhr Grothe fort. »Und ich sorge dafür, dass in meinem Gebiet alles reibungslos funktioniert. Das gilt auch für Sie.«
Christoph wollte im ersten Moment aufbegehren. Disziplinarisch war für die Kripo Husum die Bezirkskriminalinspektion in Flensburg zuständig und keineswegs Polizeioberrat Grothe von der Schutzpolizei. Er unterdrückte aber seine Widerrede, als dieser massig wirkende Mann einige Schritte auf ihn zu machte, mit der brennenden Zigarre auf sich wies und unmissverständlich erklärte: »Ich bin hier der Chef!«
Er stand jetzt neben Christoph, der sich ebenfalls aus dem Besucherstuhl erhoben hatte, und ließ seine mächtige Pranke auf dessen Schulter fallen.
»Herzlich willkommen bei uns an der Küste.« Grothe blies ihm eine Ladung tabakgeschwängerten Atems unter die Nase. »Falls Sie, mein Junge, irgendwelche Sorgen oder Probleme haben, kommen Sie einfach zum Chef. Auf gute Zusammenarbeit.«
Erneut ließ er seine Hand auf Christophs Schulter fallen, drehte sich dann abrupt um und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, um dort ohne ein weiteres Wort seine Arbeit wieder aufzunehmen.
Christoph nahm an, die Unterredung sei ohne weitere Erklärung und gar Verabschiedung beendet, deutete eine leichte Verbeugung an und verließ wortlos den Raum.
*
Am nächsten Morgen saß Christoph in einem tristen, aber zweckmäßig eingerichteten Büro und blätterte in einem Ordner mit abgelegten Dienstplänen und anderen internen Unterlagen der neuen Dienststelle. Der graue Novemberhimmel, einhergehend mit dem Dauerregen, ließ den Start in das – hoffentlich nur vorübergehende – Abenteuer in dieser am Ende der Republik gelegenen Kleinstadt noch dunkler erscheinen.
Gestern hatte ihn die freundliche Sekretärin noch im Haus herumgeführt, mit künftigen Kollegen bekannt gemacht und ihm seinen neuen Arbeitsplatz gezeigt.
Er verglich im Stillen die ihm aus der Landeshauptstadt vertraute Büroausstattung mit der in diesem muffig wirkenden Büro. Hier wirkte alles antiquierter, hing eine Technikgeneration hinter dem Equipment in Kiel zurück. An den kunststoffverkleideten Schreibtischen mussten schon ganze Generationen von Polizeibeamten im steten Papierkrieg mit der Unterwelt gefochten haben. Die übrige Einrichtung war schlicht und wies erhebliche Gebrauchsspuren auf, war aber im Großen und Ganzen zweckmäßig. Telefon und Computer hatten allerdings nahezu museale Züge.
Den Raum teilte er mit zwei ihm zugewiesenen Mitarbeitern. Von seinem einzeln stehenden Schreibtisch aus konnte er den grauhaarigen, ungekämmt wirkenden Oberkommissar Große Jäger beobachten. Er war etwas irritiert gewesen, als ihm dieser Name gestern genannt worden war, hatte sich aber eine scherzhafte Bemerkung verkniffen. Für einen Kriminalbeamten war es vielleicht ein zutreffender Familienname, aber in Verbindung mit der äußeren Erscheinung seines Trägers klang er nahezu komödiantisch.
Der Mann trug Jeans und ein Baumwollhemd, die beide schon länger in Gebrauch waren, darüber eine leicht fleckige offene Weste. Der Oberkommissar saß ihm gegenüber und starrte missmutig in die Luft. Über den breiten Ledergürtel schwappte ein Hängebauch, der nahezu die gesamte Gürtelschnalle verdeckte. Der schwarze Schimmer auf den Wangen ließ erahnen, dass die morgendliche Rasur nicht zu seinen täglichen Ritualen gehörte.
Große Jäger rauchte. Die nikotingelben Finger zeigten, dass dies ein intensiv gepflegtes Vergnügen sein musste.
Zu seiner eher ungepflegten Erscheinung wirkte der Dritte im Raum, Kriminalkommissar Harm Mommsen, wie ein Kontrastprogramm. Er war ein hoch gewachsener Endzwanziger mit gesundem braunem Teint und einer sportlichen und durchtrainierten Gestalt.
Dieser junge Kollege mit seinem zurückhaltenden und freundlichen Wesen war Christoph sofort sympathisch.
Mommsen arbeitete irgendwelche Papiere durch, sortierte diese, schob seinen Drehstuhl zurück und kam herüber an Christophs Schreibtisch.
»Ich habe einmal unsere aktuellen Fälle zusammengestellt«, erklärte er mit einer sonoren Stimme. Die Klangfärbung verriet seine nordfriesische Herkunft.
»Die Akten und weitere Unterlagen dazu befinden sich in diesen Schränken.« Er wies auf Rollladenschränke an der rückwärtigen Zimmerseite.
In kurzen Sätzen erläuterte er Christoph die laufenden Fälle, darunter Wohnungs- und Fahrzeugaufbrüche, Diebstähle, über Nacht erneut aufgetretene Graffitischmierereien und einige weitere kleine Delikte.
»Hier ist etwas Merkwürdiges.« Mommsen wies auf ein Blatt Papier, das er in seinen Händen hielt.
»Da hat eine Lehrerin von der Bürgerschule – das ist eine Grundschule – bei unseren uniformierten Kollegen Meldung erstattet, dass eine Schülerin aus ihrer Klasse seit einigen Tagen nicht mehr zum Unterricht erschienen ist. Frau Pohl, so heißt die Lehrerin, hat daraufhin versucht, bei der Mutter der Kleinen vorzusprechen, aber erfolglos. Dort hat keiner geöffnet.«
»Ist sie telefonisch auch nicht erreichbar?«
Mommsen sah auf das Blatt Papier. »Davon ist hier nichts vermerkt. Anscheinend wurde in dieser Hinsicht nichts unternommen.«
»Und die Nachbarn?«, fragte Christoph.
»Die Streife hat sich der Sache angenommen. Ihre Bemühungen waren aber ebenfalls erfolglos. Sie haben auch bei den Nachbarn geklingelt. Aber keiner hat etwas gesehen oder gehört, weder von der Mutter noch vom Kind.«
»Wie alt ist denn das Mädchen?«
Mommsen warf einen kurzen Blick auf das Papier. »Die kleine Lisa Dahl ist acht Jahre.«
»Hat sich einmal irgendwer um andere Angehörige Gedanken gemacht, die man befragen könnte?«, mischte sich nun der bisher unbeteiligt in den Raum blinzelnde Oberkommissar Große Jäger ein.
»Die Sache ist noch nicht ernsthaft verfolgt worden«, antwortete Mommsen. »Außer der eher vorsorglich klingenden Anfrage der Lehrerin gibt es keine Anhaltspunkte, die eine weitere Aktivität unsererseits rechtfertigen würden. Vielleicht ist die Mutter mit ihrer Tochter irgendjemanden besuchen gefahren.«
»Das ist doch Quatsch«, dröhnte Große Jäger zurück und hatte in der Zwischenzeit eine der Schreibtischschubladen herausgezogen, um darauf seine Füße zu platzieren. »Wir haben derzeit keine Ferien. Also muss das Kind doch die Schule besuchen.«
Christoph und Mommsen blickten zu ihrem Kollegen hinüber, was diesen aber nicht hinderte, mit dem Zeigefinger in der Nase zu bohren, um anschließend mit zusammengekniffenen Augen ausgiebig das Ergebnis zu betrachten.
»Wenn die Mutter einen dringenden Verwandtenbesuch zu erledigen hat, wird sie doch nicht in der Schule um Freistellung bitten. Was wissen wir denn sonst noch?« Große Jäger stand auf, um sich aus der Kaffeemaschine auf der Fensterbank einen frischen Becher einzuschenken.
»Weitere Informationen liegen uns nicht vor«, antwortet Mommsen.
Große Jäger hatte sich zu seinen beiden Kollegen gestellt. Er schlürfte laut und vernehmlich an seinem Kaffee und schniefte in einer herablassenden Tonart: »Sie sind ja hier der neue Boss.«Er nickte in Christophs Richtung. »Aber ich würde einfach einmal neugierig sein. Das bereitet wenig Mühe, wenn man den Dienst an der Front gewohnt ist.« Er sah Christoph direkt in die Augen. »Aber vielleicht legen Verwaltungsmenschen ja andere Maßstäbe an.«
Christoph erwiderte den Blick. Er hatte sich seinen Anfang an der Westküste anders vorgestellt. Nach dem merkwürdigen Empfang durch den Dienststellenleiter hatte er nun auch Probleme, den neuen Kollegen einzuschätzen.
Der ungepflegte Oberkommissar machte einen desillusionierten Eindruck, zermürbt durch langjährige ungedankte Kärrnerarbeit im Polizeialltag, den Kleinkrieg mit unbedeutenden und größeren Gesetzesbrechern. Dieser erfahrene Kriminalist schien nicht nur mit dem richtigen Ohr an Gesprächen teilzunehmen, sondern auch über enge Dienstauffassung hinweg ganz pragmatische Vorstellungen vom Dienst am Bürger zu haben.
Eine offensichtlich zur Schau gestellte Verbitterung rührte sicher von der steten Auseinandersetzung mit den Prinzipienreitern her, die ihn im Laufe seiner Dienstzeit auf das formale Gleis zu bringen versucht hatten.
Christoph sah Große Jäger an.
»Ich finde Ihren Vorschlag gut. Ich würde gern mit Herrn Mommsen die Lehrerin aufsuchen, damit wir uns einen eigenen Eindruck machen können. Bei dieser Gelegenheit kann ich dann vielleicht auch etwas von der Stadt kennen lernen.«
*
Christoph folgte Mommsen mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Obwohl es immer noch regnete, hatte der junge Kriminalkommissar angeregt, auf das Auto zu verzichten und den kurzen Weg zu Fuß zurückzulegen.
»Husum ist die Stadt der kurzen Wege. Hier ist alles überschaubar«, hatte er erklärt.
Die Polizeistation lag etwas außerhalb des Stadtkerns gegenüber dem Bahnhof. Sie gingen mit schnellen Schritten über die »Rote Pforte«, den ehemaligen ZOB der Stadt, Richtung Zentrum. Immer wieder zerrte der böige Wind wütend an den Regenschirmen, sodass der schräg einfallende Regen die beiden Männer schnell durchnässte.
Nur wenige Fußgänger waren im kleinen Stadtzentrum rund um den Marktplatz unterwegs.
Harm Mommsen gab einige knappe Erläuterungen zu den auffälligen Baulichkeiten am zentralen Platz der Stadt. Vor der imposanten Marienkirche stand der Marktbrunnen mit einer von Patina überzogenen Figur.
»Das ist die Tine«, erklärte Mommsen und setzte ein Lächeln auf. »Haben Sie eine Idee, was die Frau vorstellt? Das ist eine Frage, die jeder Fremde beantworten muss.«
Christoph besah sich die Plastik, eine Frau in Friesentracht.
»Ein Mädchen aus Husum?«, mutmaßte er.
Mommsen ließ ein jungenhaftes Lachen hören und zeigte auf die Holzpantinen der Figur. »Die Antwort ist ganz einfach. Die Tine stellt ihren rechten Fuß vor … Aber im Ernst: Es ist eine Fischerfrau.«
Mehr Worte ließ der Wind aber nicht durch, sodass die weiteren interessanten Anmerkungen im wahrsten Sinne vom Winde verweht wurden.
Trotz des unwirtlichen Wetters ließ das liebevoll restaurierte Ensemble etwas vom verdeckten Charme dieses Ortes ahnen. Die eindrucksvollen Bürgerhäuser mit ihren Giebelfronten boten eine anheimelnde Kulisse. Zwischendrin schlossen aber Beton gewordene Sünden die Baulücken vergangener Jahre. Mit diesen Bauten haben sich ideenlose Architekten unrühmliche Andenken gesetzt.
Wenn hässliche Fassaden ein Straftatbestand wären, schmunzelte Christoph in sich hinein, hätten wir wahrlich sehr viel Arbeit.
»Das ist das alte Rathaus.« Mommsen zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ein rotes Backsteingebäude. Er führte Christoph durch einen Torbogen rechts von der Freitreppe in den Schlossgang, eine Fußgängerzone mit modernen, dem Erscheinungsbild der Altstadt angepassten Wohnhäusern. Am Ende der kleinen Gasse tauchte halbrechts das Schloss mit seinen hohen Giebeln und Türmen auf.
»Im Schlosspark blühen im März, April mehr als vier Millionen Krokusse und verwandeln die ganze Anlage in ein violettes Blütenmeer.« Mommsen hatte Gefallen an seiner Rolle als Fremdenführer gefunden.
Sie bogen nach rechts in die Asmussenstraße ein. Gleich hinter dem Schloss lag die Bürgerschule. In den gefliesten Gängen hing vor den Klassenräumen dicht an dicht die winterliche Bekleidung der Schüler.
Im Schulsekretariat bedauerte die Mitarbeiterin, dass die Frau Rektorin leider auch unterrichten müsse. »Sie wissen ja, der Lehrermangel …«, meinte sie achselzuckend. Aber in wenigen Minuten sei ohnehin Pause. Wenn die Herren vielleicht etwas warten könnten, die Lehrerin, Frau Pohl, würde dann ins Lehrerzimmer kommen. Gleich dort hinten, am Ende des Ganges …
Schweigsam sahen die beiden aus dem Fenster auf den leeren Schulhof. Eine gebrauchte Plastiktüte wurde von den Windböen heftig hin und her getrieben.
Nach wenigen Minuten läutete die Schulglocke zur Pause. Die monotone Geräuschkulisse aus den einzelnen Klassenräumen schwoll in Sekundenbruchteilen zu einem gewaltigen Lärm an. Die Türen wurden aufgerissen, und eine unendlich erscheinende Masse kleiner schnatternder, lachender, sich schubsender Menschenkinder füllte die Flure, um dann wie von einer unsichtbaren Hand geleitet die ins Freie führende Treppe anzusteuern.
Als die große Flut der Kinder abgeebbt war, erschienen die Lehrer. In ihrem betont legeren Erscheinungsbild erinnerten sie Christoph an Studenten auf dem Campus einer Universität.
Einige nickten in Richtung der beiden Besucher auf dem Gang, andere schlichen wortlos und desinteressiert an den Dingen, die sie nicht direkt betrafen, ihrem Ziel Lehrerzimmer entgegen.
Nachdem die beiden Beamten eine Weile gewartet hatten, klopfte Christoph an die Tür, öffnete sie einen Spalt und steckte seinen Kopf hinein. Ein schneller Blick erklärte ihm, weshalb es während seiner Schulzeit bei Strafe verboten gewesen war, das Lehrerzimmer zu betreten. Aus pädagogischer Sicht hätte die Begegnung mit der dort herrschenden Unordnung sicher viele Bemühungen um eine Erziehung zur Ordnung zunichte gemacht.
Er zog alle Blicke auf sich.
»Frau Pohl?«, fragte er in den Raum hinein.
Eine jüngere Frau mit einer dunklen Ponyfrisur sah auf. »Ja, bitte?«
»Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
Sie nahm den angebissenen Apfel, der vor ihrem Platz auf einem Stück Papier lag, und trat auf den Flur hinaus.
Christoph stellte sich und Mommsen kurz vor. Zusätzlich identifizierte sich der junge Kriminalbeamte durch Vorzeigen seines Dienstausweises.
»Es geht um Lisa Dahl«, übernahm Mommsen die Gesprächsführung. »Lisa ist seit einigen Tagen nicht zur Schule erschienen. Daraufhin haben Sie mit unseren uniformierten Kollegen gesprochen. Leider können wir aber nichts unternehmen, da das Kind nicht abgängig ist, wie es im Amtsdeutsch heißt.«
»Nachdem Lisa unentschuldigt vom Unterricht ferngeblieben ist, habe ich versucht, die Mutter zu sprechen. Sie müssen wissen, dass ich die Klasse jetzt im zweiten Jahr habe und so etwas bei dieser Schülerin noch nie vorgekommen ist. Lisa hat regelmäßig die Schule besucht. Und wenn sie einmal krank war, so hat die Mutter über eine Klassenkameradin ausrichten lassen, dass Lisa nicht am Unterricht teilnehmen kann.« Sie biss in den Apfel.
»Haben Sie mehrfach versucht, Lisas Eltern anzusprechen?«, setzte Harm Mommsen nach.
»Ja«, erwiderte die Lehrerin. »Lisas neue Wohnung liegt an meinem Heimweg. Außerdem ist es in Husum ja nie weit zu irgendeinem Platz.« Es klang fast wie eine Entschuldigung, dass sie sich in die Privatsphäre von Lisas Familie einmischte. »Ich wollte nicht aufdringlich werden.«
»Haben Sie es telefonisch versucht?« Mommsen stellte seine Fragen ruhig und sachlich.
»Lisas Mutter hat in der neuen Wohnung kein Telefon«, erklärte die junge Frau.
»Sie haben jetzt zweimal von der neuen Wohnung gesprochen«, mischte sich Christoph ein. »Außerdem erwähnen Sie immer nur Lisas Mutter.«
Frau Pohl sah ihn an, wendete den Blick dann aber wieder Mommsen zu. »Ich weiß nicht, ob ich da sachgerecht Auskunft geben kann«, zögerte sie. »Es ist immer schwierig, mit Halbwissen über die persönlichen Angelegenheiten anderer Menschen zu sprechen.«
»Es liegt keine autorisierte Vermisstenanzeige vor«, sagte Mommsen. »Demnach gibt es auch keine offiziellen Ermittlungen. Wir suchen nur das informative Gespräch mit Ihnen, nachdem Sie Ihre persönliche Besorgnis bei der Polizei vorgetragen haben.«
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das richtig war.« Frau Pohl schwankte. »Aber ich mache mir Sorgen um Lisa. Sie ist vor kurzem mit ihrer Mutter in eine kleine Wohnung ganz hier in der Nähe gezogen, in die Woldsenstraße.«
Mommsen signalisierte unmerklich in Richtung Christoph, dass ihm die Straße bekannt war.
»Bis vor kurzem waren die drei, Lisa, ihre Mutter und der Vater, eine ganz normale Familie. Bis die Mutter mit dem Kind in eine eigene Wohnung gezogen ist. Deshalb ist sie auch nicht telefonisch erreichbar. Über die näheren Umstände wird viel hinter vorgehaltener Hand erzählt.«
»Immerhin sind Sie so besorgt, dass Sie die Polizei angesprochen haben. Deshalb sind wir jetzt auch hier. Gibt es Anhaltspunkte, dass sich hinter der Trennung der Eltern mehr verbergen könnte?«, wollte Mommsen wissen.
Sie schüttelte ihren Kopf. »Da das alles nur Mutmaßungen sind, möchte ich nichts zu dieser Gerüchteküche beitragen. Dafür haben Sie doch sicher Verständnis?«
Mit großen Augen sah sie Mommsen an und erhoffte sich eine Bestätigung ihrer Verhaltensweise.
»Ganz richtig, Frau Pohl. Sie haben korrekt gehandelt. Es ist stets ein schmaler Pfad zwischen Aufmerksamkeit und überzogener Neugierde.«
»Vielen Dank für Ihre Beobachtung«, mischte sich nun Christoph wieder in das Gespräch ein. »Können Sie uns noch die Adresse von Lisas Vater nennen?«
In das Läuten, das das Ende der Pause anzeigte, nannte die Lehrerin eine weitere Adresse.
Die beiden Kriminalbeamten verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg zurück zur Dienststelle.
Es regnete immer noch.
*
Große Jäger hatte seine Lieblingsposition eingenommen, als sie ins Büro zurückkehrten. Er lehnte fast in der Waagerechten und parkte die Füße auf der ausgezogenen Schreibtischschublade. In beeindruckender Weise versuchte er, einem Unbekannten lautstark am Telefon etwas zu erläutern, was aber bei seinem Gesprächspartner offensichtlich nicht auf Verständnis stieß. Wütend warf er den Hörer auf die Gabel, wandte sich seinen beiden Kollegen zu und schimpfte in den Raum:
»So ein Spinner. Nur weil irgendjemand sein vermaledeites Auto aufgebrochen hat, glaubt der, wir würden eine ganze Kompanie Spürhunde loshetzen. Was haben die Leute eigentlich für Vorstellungen, wer wir sind?« Ansatzlos, ohne seinen Kollegen die Möglichkeit einer Antwort zu geben, wandte er sich ihnen zu und fuhr fort: »Ich habe mich in der Zwischenzeit einmal erkundigt. Die kleine Lisa ist vor kurzem mit ihrer Mutter aus der ehelichen Wohnung ausgezogen. Es gab dort wohl offensichtlich familiäre Probleme, die aber nicht näher spezifiziert werden konnten.«
»Das deckt sich mit dem, was uns die Lehrerin berichtet hat«, setzte ihn Christoph ins Bild. »Nähere Umstände haben wir auch nicht in Erfahrung bringen können.«
Dann wollte er wissen, aus welcher Quelle Große Jäger seine Informationen hatte. Dieser zierte sich mit einer Antwort, auf erneute Nachfrage räumte er aber ein:
»Ich kenne eine Maus im Einwohnermeldeamt.«
Christoph konnte sich auch mit viel Phantasie nicht vorstellen, wie dieser grobschlächtige Mann die Bekanntschaft einer Frau machen konnte.
»Was gibt es da zu grinsen?«, wollte der Oberkommissar wissen.
Christoph verkniff sich eine Antwort und fragte stattdessen. »Und was machen wir jetzt?«
Mommsen hatte inzwischen seinen Platz im hinteren Bereich des Raumes eingenommen.
»Es gibt für uns keine Veranlassung für ein weiteres Vorgehen in dieser Angelegenheit. Wir können nicht den Polizeiapparat in Bewegung setzen, nur weil ein kleines Mädchen einige Tage nicht die Schule besucht hat«, erklärte Christoph.
Mommsen öffnete den Mund, als wolle er etwas dazu anmerken, schwieg dann aber doch.
»Tja!« Große Jäger hatte die Lippen gespitzt und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. »Wenn wir immer nur nach Dienstvorschriften verfahren, können wir den Pilatus spielen und unsere Hände in Unschuld waschen. Ob wir mit einer solchen Einstellung auch persönlich zurechtkommen, muss schließlich jeder für sich selbst entscheiden.« Dabei sah er Christoph herausfordernd an.
»Wie sollen wir weitere Aktivitäten in dieser vagen Angelegenheit rechtfertigen?«, wollte dieser wissen.
»Wenn ich etwas zu sagen hätte …« In Große Jägers Worten schwang der Vorwurf an einen imaginären Vorgesetzten mit, der nicht ihn zum Leiter dieser örtlichen Kriminalpolizeistelle gemacht hatte, sondern einen in seinen Augen unerfahrenen Verwaltungsmenschen mit dieser Aufgabe betraut hatte. »Wenn ich etwas zu sagen hätte«, setzte er erneut an, »würde ich einmal dem Vater auf den Zahn fühlen. Nicht, dass es irgendwelche Vermutungen oder Anhaltspunkte gäbe, sondern nur, um mir selbst die Sicherheit zu geben, dass hier ein Windei vorliegt.«
»Ich greife Ihren Vorschlag auf, dem Vater einen kurzen Besuch abzustatten. Möglicherweise weiß der etwas über den Aufenthaltsort von Frau und Tochter. Zumindest wird er uns Namen und Anschriften von Verwandten oder Freunden nennen können, bei denen sich die beiden aufhalten könnten.«
Nach seinen ersten Erfahrungen mit Harm Mommsen war Christoph daran interessiert, einmal den dritten Mann im praktischen Einsatz zu erleben.
»Begleiten Sie mich dieses Mal, Herr Große Jäger«, wandte er sich an den Oberkommissar.
Wortlos erhob sich Große Jäger von seinem Platz, griff einen Parka vom Wandhaken, zog diesen über und stolzierte zur Tür.
»Was ist nun?«, fragte er Christoph.
*
Schweigsam stapfte Große Jäger neben Christoph her. Er trug keinen Regenschirm. »Der macht bei diesem Wind keinen Sinn«, hatte er knapp erklärt. Aus dem Kragen seines Parkas hatte er eine Kapuze geschält und diese mit einem kräftigen Ruck an den heraushängenden Schnüren rund um das Gesicht straff gezogen. Die Hände tief in den Taschen vergraben, sah er nicht wirklich wie jemand aus, dem man seine Tochter anvertrauen würde. Er machte schon gar nicht den Eindruck eines vertrauenerweckenden Polizeibeamten.
»Vielleicht hätten wir uns zuvor telefonisch versichern sollen, dass der Vater auch im Hause ist«, versuchte Christoph das Gespräch aufzunehmen.
Große Jäger deutete ein Achselzucken an. »Und wenn er nicht ans Telefon geht? In Husum sind alle Wege kurz, da macht so ein kleiner Weg von wenigen Minuten nichts aus.«
Unter der angegebenen Adresse fanden sie ein in der Nachkriegszeit mit schnellen Mitteln hochgezogenes Haus mit grauer Putzverkleidung. Irgendwann waren einmal die kleinsprossigen Fenster gegen unpassende Kunststoffrahmen ausgetauscht werden. An der Hausfront war abzulesen, welches spezifische Vergnügen sich die Bewohner ins Haus holten: Vor nahezu jeder Wohnung war eine Satellitenschüssel installiert.
Gleichsam als Symbol für die unterschiedliche Herkunft der Bewohner des Hauses waren die Klingelknöpfe an der Eingangstür mit höchst individuell gestalteten Namensschildern versehen.
Große Jäger fuhr mit dem Zeigefinger über die Klingelleiste, um dann neben dem handschriftlich angebrachten Namen »Dahl« den Knopf zu drücken.
Sie warteten eine Weile. Nichts rührte sich. Diesmal klingelte Christoph. Wiederum tat sich nichts. Die beiden sahen sich an, der Oberkommissar zuckte mit den Schultern.
»Wir versuchen es einmal beim Nachbarn«, sagte Christoph. Der Anordnung der Namensschilder war zu entnehmen, dass sich in jeder Etage zwei Wohnungen befanden. Christoph betätigte den Klingelknopf neben einem sauber aus Messing gravierten Schild mit dem Namen »Grün«.
Einige Augenblick später hörten sie aus der Gegensprechanlage die brüchige Stimme eines alten Mannes.
»Ja, wer ist dort?«
Christoph erwiderte: »Wir möchten zu Herrn Dahl. Der ist aber anscheinend nicht zu Hause. Wissen Sie, wo wir ihn antreffen könnten?«
»Der muss aber da sein«, antwortete die Greisenstimme. »Der ist immer zu Hause. Den ganzen Tag. Aber warten Sie. Ich werde die Tür öffnen.«
Der Summer ertönte, und die beiden betraten das schlichte, aber saubere Treppenhaus. Herr Grün wohnte vis-à-vis der Familie Dahl in der ersten Etage. Er hatte die Tür einen Spalt geöffnet.
Der alte Herr war fast kahlköpfig. Seine kleine Statur wurde zudem von seiner gebeugten Körperhaltung unterstrichen. Zu einer bequemen Stoffhose trug er ein Sakko, darunter ein gestreiftes Hemd mit Krawatte.
»Herr Dahl muss im Hause sein«, erklärte er. »Wissen Sie, unsere Wohnungen grenzen aneinander. Und wenn jemand auf die Toilette geht, hören Sie die Spülung. Diese Häuser sind zur Beseitigung der großen Wohnungsnot nach dem Kriege mit einfachen Mitteln errichtet worden. Da standen Überlegungen zum Lärmschutz hinten an.« Es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Kennen Sie die kleine Lisa und ihre Mutter?«, fragte Christoph. Herr Grün öffnete die Tür einen Spalt weiter.
»Ja. Die haben seit der Geburt der Kleinen hier gewohnt. Ich habe miterlebt, wie sich das Mädchen entwickelt hat.« Er stockte in seiner Erzählung. »Aber Lisa und ihre Mutter sind vor kurzem ausgezogen. Sie wohnen jetzt nicht weit entfernt von hier. Ich glaube, warten Sie einmal …« Er zögerte ein wenig, legte den Kopf zur Seite und nannte dann die schon bekannte neue Adresse. Dann öffnete er die Tür ganz. »Wissen Sie, in meinem Alter fällt mir das Stehen schwer. Möchten Sie nicht hereinkommen?«
Sie durchquerten einen kleinen Flur und traten in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Die Möbel waren seit langem unmodern, strahlten aber mit ihren dunklen Holztönen eine angenehme Wärme aus. Auf dem Tisch lagen mehrere aufgeschlagene Zeitungen, daneben eine Brille und ein Vergrößerungsglas, wie es oft von älteren Leuten zum Lesen benutzt wird.
Der alte Mann wies auf ein mit grünem Samt bezogenes Sofa und nahm selbst in einem Ohrensessel Platz. Mit den Füßen schob er sich eine kleine Fußbank zurecht. Die feingliedrigen und mit Altersflecken übersäten Hände faltete er vor dem Bauch zusammen.
Herr Grün bemerkte, wie die beiden Kriminalbeamten sich im Zimmer umsahen.
»Wissen Sie«, erklärte er, »ich wohne seit fast fünfzig Jahren in diesem Haus. Damals war es gar nicht einfach, eine Wohnung zu finden. Nicht für eine Einzelperson. Und schon gar nicht für einen wie mich.«
Er sah seine Besucher an, die bei dieser Anmerkung etwas irritiert wirkten.
»Wissen Sie«, begann er erneut. Anscheinend war das seine bevorzugte Redewendung. »Wenn ich Ihnen verrate, dass ich mit Vornamen Leo heiße, kennen Sie schon fast meine Geschichte.«
Christoph nickte ihm verstehend zu.
»Aufgrund meines Namens vermuten Sie zu Recht, dass ich Jude bin, einer der wenigen in Deutschland, die achtzig Jahre alt geworden sind.«
Herr Grün unterbrach seine Ausführungen und sah die beiden Beamten an, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen.
»Ich bin dank der Hilfe mutiger Menschen als Einziger meiner Familie übrig geblieben. Voller Hass, damals. Doch dann begriff ich, dass Rache ein törichter Gedanke ist, weil ich Menschen sah, denen es genauso schlecht ging wie mir. Wir waren damals alle ohne Hoffnung, hatten Zweifel an der Zukunft. Doch an der wollte ich mitwirken. So bin ich nicht ausgewandert, sondern Lehrer geworden.«
Er atmete tief durch und schloss kurz die Augen.
»Natürlich hat es für ein ausführliches Studium, das mich zu einem Lehramt am Gymnasium berechtigt hätte, bei meiner Vita nicht gereicht. Aber wissen Sie«, fügte er erneut ein, »ich habe hier in Husum in vielen Jahrzehnten die Kinder für das wahre Leben unterrichtet. Und wenn ich durch die Stadt gehe und meinen ehemaligen Schülern begegne, die heute selbst Verantwortung für eine eigene Familie tragen, dann danke ich Gott für ein solch erfülltes Leben.«
Wieder unterbrach er sich, um die Augen zu schließen.
»Ich bin damals aus meiner Heimatstadt weg, immer Richtung Norden, ohne recht zu wissen, wohin es mich treibt. Hier ging es nicht mehr weiter. Hier bin ich geblieben. So bin ich in Husum gelandet. Jeder wusste, dass ich Jude war. Keiner traute sich etwas zu sagen in der damaligen Zeit, insbesondere nicht diejenigen, die mit Begeisterung dem Unheil gefolgt waren. Aber die Kinder an meiner Schule, die waren unschuldig. Und so bin ich alt geworden, und die Schüler, meine Kinder, sind jetzt die neuen Deutschen.«
Er schwieg.
»Herr Grün …«, begann Christoph vorsichtig.
Der Alte sah ihn an. »Ich habe es von Anfang an gewusst.« Er blickte zu Große Jäger hinüber. »Sie sind von der Polizei. Glauben Sie wirklich, alle alten Menschen sind so weltfremde Gesellen, dass sie jeden hergelaufenen Fremden in ihre Wohnung lassen und ihm Vertrauen schenken?«
»Ja, wir sind von der Polizei«, bestätigte Christoph.
»Sie wollten etwas über Familie Dahl erfahren?«
»Es handelt sich nicht um einen offiziellen Besuch der Polizei. Die kleine Lisa ist seit einigen Tagen nicht in der Schule erschienen. Nun sorgt sich die Lehrerin, weil auch die Mutter nicht erreichbar ist. Wir wollten deshalb den Vater, Herrn Dahl, befragen, ob er über mögliche kurzfristige Verwandtenbesuche seiner Frau informiert ist.«
Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, weder Frau noch Herr Dahl gehörten zu meinen Schülern. Er ist zwar in Husum groß geworden, hat aber nicht die Schule besucht, an der ich unterrichtet habe. Frau Dahl stammt aus Marschenbüll. Das ist ein kleines Dorf im Umland. Ich habe die beiden erst nach ihrer Hochzeit beim Einzug in die Nachbarwohnung kennen gelernt. Frau Dahl war damals schon schwanger, sie hat aber noch als Verkäuferin in einer Bäckerei gearbeitet.«
Er hielt inne und betrachtete seine gefalteten Greisenhände. »Eine unglaublich fleißige und nette Frau. Ihr Mann war ebenfalls ein strebsamer junger Mann. Wenn er konnte, hat er Überstunden gemacht. Viel zu verdienen gab es ja nicht in seinem Job als Arbeiter auf der Werft. Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit«, unterbrach er sich selbst. »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
Die beiden verneinten dankend.
»Dann wurde Lisa geboren. Sie glauben gar nicht, was das für eine Aufregung war.«
Bei der Erinnerung daran schmunzelte der Greis vergnügt in sich hinein. »Der Herr Dahl war so durcheinander, als seine Frau ins Krankenhaus musste, dass er wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend lief. Der konnte keinen klaren Gedanken fassen. Anstelle des für die Entbindung gepackten Koffers hat er einen anderen mit eingelagerter Winterkleidung in das Krankenhaus geschleppt. Anschließend hat er die Geburt seiner Tochter ausgiebig gefeiert. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er an meiner Haustür stand: Herr Grün, hat er gesagt, kommen Sie zu mir herüber. Wir stoßen jetzt auf meine Tochter an. Ich bin nämlich stolzer Vater geworden. Und das ist er bis heute geblieben. Auch wenn die Arbeit sicherlich sehr anstrengend war, hat er nach Feierabend immer Zeit für die Kleine gefunden und sich mit ihr beschäftigt. Ich konnte es durch die nicht sehr dicken Wände hören. Eine glückliche, eine sehr glückliche Familie.«
Erneut lehnte er sich zurück. Die beiden Polizeibeamten ließen ihm Zeit.
»Frau Dahl hat dann wieder zeitweise in der Bäckerei gearbeitet. Ich war schon über siebzig und hab durch meinen Beruf immer gern den Umgang mit Kindern gepflegt. Frau Dahl bat mich manchmal, einen Blick auf die Kleine zu werfen, wenn sie nicht rechtzeitig vor Rückkehr des Mädchens aus der Schule von der Arbeit zurück war. Sie hat mich auch oft besucht, die Lisa. Ich habe ihr dann Bilder gezeigt und alles das erläutert, was an Fragen ihrem kleinen Hirn entsprang. Und sie war sehr wissbegierig. Die wollte die ganze Welt auf einmal erklärt bekommen.«
Sein Blick ging jetzt in eine unbekannte Ferne. Er seufzte.
»Opa Grün hat sie mich genannt. Opa! Ach, Sie glauben gar nicht, wie gern ich eigene Kinder gehabt hätte. Aber so ist Gottes Weg.«
Christoph räusperte sich. »Warum sind Lisa und ihre Mutter vor kurzem in eine andere Wohnung gezogen?«, fragte er.
Herr Grün zuckte die Schultern, als könne er sich das auch nicht erklären.
»Herr Dahl wurde im letzten Jahr arbeitslos. Zuerst schien er darüber nicht unglücklich, weil er so mehr Zeit für seine Familie hatte. Aber bereits nach kurzer Zeit wurde er immer unzufriedener. Ich habe von drüben«, seine ausgestreckte Wand wies zur Nachbarwohnung, »bis spät in die Nacht hinein den Fernsehapparat laufen hören. Dafür schlief er wohl morgens länger und kümmerte sich nicht mehr um das Kind. Die Mutter war in dieser Situation erst recht auf das Geld von der Verkaufstätigkeit in der Bäckerei angewiesen. So musste Lisa sich morgens allein versorgen. Und wenn das Kind dabei etwas lauter war, hörte ich schon einmal den Vater herumschreien, sie raube ihm seinen wohlverdienten Schlaf. Hinzu kam wohl auch der gesteigerte Genuss von Alkohol. Die Mutter machte ihm Vorhaltungen. Daraus entwickelte sich immer öfter ein lautstarker Streit, den es in dieser Form in all den Jahren zuvor nie gegeben hatte. Ja, sicher, Meinungsverschiedenheiten gibt es überall einmal. Aber so?«
»Hat Herr Dahl sich an seiner Frau oder Tochter vergriffen?«, wollte Christoph wissen.
Grün sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
Größe Jäger hatte die ganzen Unterhaltung bisher wortlos verfolgt. Jetzt mischte er sich ein: »Mein Kollege möchte wissen, ob Ihr Nachbar seine Frau oder seine Tochter geschlagen hat.«
Der alte Mann sah auf seine Fingerspitzen. »Ich weiß es nicht«, murmelte er schließlich leise vor sich hin. »Ich weiß es nicht.«
»Jedenfalls haben Sie uns ein gutes Stück weitergeholfen«, bedankte sich Christoph bei Herrn Grün. »Falls wir noch weitere Fragen haben sollten … Dürften wir Sie noch einmal ansprechen?«
»Jederzeit!«, versicherte der Greis.
Sie verabschiedeten sich von dem Mann.
*
Herr Grün hatte die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen. Sie hörten das Schlurfen seiner sich entfernenden Schritte, als sie an der gegenüberliegenden Tür klingelten. Aus der Wohnung drang jetzt der Ton eines Fernsehgerätes. Nach einer Weile vergeblichen Wartens ließ Christoph seinen Finger erneut auf dem gedrückten Klingelknopf ruhen. Schrill übertönte die Türglocke den Fernseher.
»Das bringt doch nichts.« Große Jäger drängte sich an Christoph vorbei und schlug mit der flachen Hand auf das Türblatt. Das Holz vibrierte heftig, während ein dumpfer Hall das ganze Treppenhaus erfüllte.
»Dahl«, rief der Oberkommissar und verzichtete auf jede Freundlichkeit in der Stimme, »Dahl, mach sofort die Tür auf. Sonst gibt es Ärger!« Er blickte zu Christoph und erklärte ergänzend in ruhiger Tonlage. »Solche Typen verstehen nichts anderes.«
»Wir sind hier nicht in offizieller Mission, darum hätte ich mich etwas dezenter verhalten«, entgegnete Christoph. Seine Stimme verriet eine Spur Missbilligung.
»In Schönheit sterben.« Große Jäger zog mit einem Hauch Verachtung geräuschvoll den Naseninhalt in Richtung Stirnhöhle. »Das ist doch Quatsch. Wir wollen mit der Figur sprechen. Oder?«
In diesem Moment wurde die Wohnungstür geöffnet. Eine Wolke miefiger, abgestandener Luft schlug ihnen entgegen.
Der große muskulöse Mann trug ein fleckiges T-Shirt mit Schweißrändern unter den Armen und eine Trainingshose. Die Haare, unter denen zwei rot umkränzte Augen müde auf die beiden Besucher blickten, hingen wirr in die Stirn.
»Wir möchten mit Ihnen reden, Herr Dahl«, eröffnete Große Jäger das Gespräch.
»Warum?« Ohne die Antwort abzuwarten, drehte Dahl sich um, hob kurz seine rechte Hand und sagte knapp: »Meinetwegen.«
Sie folgten ihm durch einen kleinen Flur. Es sah trostlos aus. An den Garderobenhaken hatte der Wohnungsinhaber Plastiktüten, den Schlauch eines Staubsaugers und ein Netz mit Zwiebeln aufgehängt. Alle Türen in der Wohnung waren geöffnet, die Fenster hingegen waren schon seit langem nicht mehr zum Lüften bewegt worden. In allen Räumen lagen Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände verstreut, die Schranktüren und Schubladen standen offen. Herr Dahl schien die Angewohnheit zu haben, alles genau an dem Platz zu hinterlassen, an dem er sich gerade befand. Er trottete in die enge Küche und warf sich schwer auf einen Küchenstuhl. Auf der Arbeitsfläche stand ein tragbarer Fernsehapparat. Aus ihm quoll das Geschwätz einer mittäglichen Talkshow.
Wortlos schaltete der Oberkommissar das Gerät ab, angelte sich mit der Fußspitze einen dritten Küchenstuhl, nachdem er mit einem Kopfnicken Christoph bedeutet hatte, sich ebenfalls hinzusetzen.
Große Jäger schob mit einer Handbewegung die angebrochenen Aufschnittverpackungen zur Seite. Dahl hatte hier vor einiger Zeit gegessen und die nicht verzehrten Lebensmittel einfach liegen lassen. Sie waren in der Zwischenzeit unappetitlich angelaufen. Auf einem verschmierten Teller hatte er Zigarettenkippen ausgedrückt.
Dahl trank Bier aus der Flasche. Die leeren Batterien in der Küche zeugten davon, dass die halb volle Flasche, an der er jetzt glucksend in großen Schlucken sog, nicht seine erste war.
»Herr Dahl, wir –«, setzte Christoph an, aber Große Jäger unterbrach ihn, indem er seine Hand auf Christophs Unterarm legte.
»Hier stinkt’s!«, schnarrte er.
Dahl hatte die Flasche abgesetzt und geräuschvoll auf den Tisch zurückgestellt. Mit glasigen Augen blickte er den Oberkommissar an. »Wen interessiert’s. Den Gerichtsvollzieher oder das Sozialamt?« Der große Mann im T-Shirt blinzelte sein Gegenüber böse an.
»Nee«, entgegnete Große Jäger ungerührt, »die Bullen.«
Ein unsicheres Blitzen entfuhr Dahls Augen. »Was wollt ihr?« Seine Stimme hatte etwas von der nassforschen Aggressivität eingebüßt, die seine vorhergehenden Äußerungen begleitet hatte.
»Wir wollen wissen, wo deine Frau und deine Tochter stecken.« Große Jäger duzte ihn. Anscheinend war das dem Mann geläufig, denn er zeigte keine Reaktion.
»Keine Ahnung!« Er verfiel wieder in einen aggressiveren Tonfall. »Interessiert mich auch nicht, wo diese Schlampe sich herumtreibt.« Er griff zur Bierflasche, setzte dann aber fragend nach. »Warum interessiert es euch?«
Wortlos verfolgte Christoph diesen eigentümlichen Dialog. Große Jäger hatte genau den richtigen Ton getroffen, um diesem eigentümlichen Mann zumindest ein paar karge Informationen zu entlocken.
»Das geht dich einen Dreck an. Also, noch mal. Wo sind deine Frau und deine Tochter?«
Dahl holte tief Luft. Leise, fast flüsternd, mehr zu sich selbst jammerte er: »Ich weiß es doch nicht, ich weiß es wirklich nicht. Weg ist sie. Einfach ausgezogen. Sie hat mich einfach allein gelassen.« Dann schwieg er einen Moment. Fast sah es aus, als würden ihm die Tränen kommen.
Plötzlich, ohne jede Vorankündigung, griff er ein schmutziges Geschirrtuch vom Tisch und feuerte es quer durch die kleine Küche in eine Ecke.
»Rausgeschmissen habe ich sie«, schrie er. Zorn sprühte aus seinen Augen. »Viele Jahre habe ich mich abgeschuftet, habe Überstunden geschoben. Hier!« Er zeigte den beiden seine schwieligen Hände. »Damit habe ich meine Familie ernährt. Und?« Verstohlen wischte er sich über die Augen. »Rausgeschmissen haben sie mich.«
»Wer?«, mischte sich Christoph in das Gespräch ein. »Wer hat wen rausgeschmissen?«
Dahl sah auf und blickte verständnislos in das Gesicht des Hautkommissars, als ob er die Frage nicht verstehen würde. »Na, der Betrieb. Einfach dichtgemacht haben die. Keine Arbeit. Wen interessiert da schon, wo Peter Dahl mit seiner Familie bleibt, wie Peter Dahl seine Raten bezahlen kann!«
»Und weiter«, ermunterte ihn Christoph.
Doch Dahl rülpste nur laut und stand auf. »Ich muss mal pissen«, verkündete er und verließ die Küche. Durch die offenen Türen in der Wohnung hörten sie, wie er kräftig Wasser ließ.
»Der ist absolut unten«, flüsterte Christoph seinem Kollegen zu.
»Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir hier noch mehr in Erfahrung bringen können. Außerdem steckt er voller Widersprüche. Einmal behauptet er kläglich, seine Frau habe ihn verlassen. Im nächsten Moment will er es gewesen sein, der seine Frau vor die Tür gesetzt hat. Was trifft nun zu? Wie sollen wir das bewerten? Und – aus welchem Grund sollten eheliche Auseinandersetzungen für uns von Interesse sein, so tragisch sie für die Beteiligten auch sein mögen?«, fasste Große Jäger seine Meinung zusammen.
Christoph musste ihm Recht geben. »Es gibt für uns immer noch keinen Anlass, sich in die höchst privaten Angelegenheiten fremder Leute einzumischen. Es kann durchaus sein, dass Frau Dahl mit ihrer Tochter eine vorübergehende Auszeit bei einem Verwandten genommen hat.«
In der Toilette wurde die Spülung betätigt. Dahl erschien wieder in der Küche. Er setzte sich und schien den Faden des Gespräches verloren zu haben.
»Herr Dahl«, setzte Christoph vorsichtig an, »Sie hatten uns gerade davon berichtet, dass Sie Ihren Job verloren haben.«
Dahl blickte auf. Dann zeigte er mit dem Finger auf Große Jäger, als wolle er den für seine Lage verantwortlich machen. »Das ist ein saublödes Ding, wenn du das Gefühl hast, keiner braucht dich mehr. Diese verdammte Rumgammelei … Irgendwann gab’s Zoff mit Anne.« Mit weinerlicher Stimme murmelte er eher selbst zu sich: »Sie hatte ja auch Recht. Es geht doch nicht ohne sie.«
Es entstand eine Pause, als würde er über die Erkenntnis nachdenken. Unvermittelt schlug er mit der Faust auf die Tischplatte, dass die dort liegenden Gegenstände abhoben. »Diese Sau«, schrie er, der Speichel floss wieder aus seinen Mundwinkeln, »diese verdammte Sau. Bumst einfach mit dem Türken.«
»Welcher Türke?«, fragte Christoph.
»Was weiß ich«, gab Dahl zur Antwort. »Irgend so ein hergelaufener Mistkerl. Ich kenne ihn nicht, aber Gott sei ihm gnädig, wenn ich ihn erwische.« Er reckte die Faust in die Luft. »Den bringe ich um!«
Er griff hinter seinen Stuhl, öffnete behände eine neue Flasche Bier und leerte diese ohne abzusetzen gut zur Hälfte. Für ihn war das Gespräch damit offensichtlich beendet.
»Ich weiß nicht, was mich veranlasst, ohne jede Berechtigung in den Eheproblemen fremder Leute herumzuwühlen«, hatte Christoph auf dem Weg zurück zur Dienststelle gesagt, aber dennoch den kurzen Umweg über die Bäckerei gemacht, in der Frau Dahl ihren Teilzeitjob ausübte. Eine rundliche kleine Frau mit gesunden roten Pausbacken hatte ihnen bereitwillig Auskunft erteilt.
»Ja, natürlich kenn ich Anne. Eine liebe Kollegin … Und so ruhig … Die is schon lange hier in Laden … Da kriegt man ‘ne Menge mit … Auch von privat … Anne hat alles für ihre Lütte getan … Ihr Mann is eigentlich auch ‘nen ganz netten Kerl. So’n ganz Ruhigen. Hat nur manchmal mit seine Kollegens vonne Werft ein getrunken. Wie Männers das so tun.«
»Kennen Sie Freunde oder Bekannte der Familie?«, fragte Christoph.
Die Verkäuferin strich sich über ihren adretten Kittel. »Nee! Wie ich schon gesagt hab … Anne hat fast nix von zu Haus erzählt … Aber! Warten Sie mal.«
Sie kratzte sich vorsichtig mit der Hand den Haaransatz über der Stirn: »Da fällt mir noch was ein … Da war mal ‘nen Mann. Der is vor’n Laden auf und ab gegangen. Mensch, war das Anne peinlich. Sie is dann kurz raus vor die Tür und hat mit den Fremden heftig gestritten. Sah jedenfalls so aus … Der Fremde is dann wech … Der is auch nie wieder aufgetaucht.«
Ein Kunde betrat den Laden. Die Verkäuferin bediente ihn, bevor Christoph die nächste Frage stellen konnte:
»Was war das für ein Mann? Wie hat er ausgesehen?«
»Wie soll ich den beschreiben? War nich von hier. Sah so’n bisschen fremd aus …«
»Vielleicht ein Türke?«, hakte Christoph nach.
»Woher soll ich wissen, wie’n Türke aussieht? So viele von die gibt’s hier ja nich. Und außerdem seh’n die doch alle ähnlich aus, die Türken, die anderen aus Dingsbums … na, ich komm da im Moment nich drauf … Nee, wie die Türken, die man in Fernsehn immer sieht, hat er nich ausgesehn.«
Nach ihrer Rückkehr in die Dienststelle hatte Große Jäger schnell und auf nur ihm bekannten Wegen die Telefonnummern der von Peter Dahl genannten Angehörigen besorgt. Mommsen übernahm es, diese Liste durchzutelefonieren und die Verwandten zu fragen, ob Anne Dahl mit ihrer Tochter bei ihnen wäre. Niemand hatte etwas von Anne und Lisa gehört.
Es war früher Nachmittag. Seit wenigen Stunden war Christoph auf diesem Außenposten am Rande Deutschlands tätig. Nichts hätte ihn freiwillig hierher gebracht. Und anstatt sich mit den Aufgaben, die vor ihm lagen, vertraut zu machen und sich in die offenen Fälle einzuarbeiten, hatte er in einer Eheangelegenheit herumgestöbert. Und das Ganze nur, weil eine Lehrerin Besorgnis darüber geäußert hatte, dass eine Schülerin seit ein paar Tagen nicht mehr zum Unterricht erschienen war. Es gab in keiner Weise Anhaltspunkte, die eine polizeiliche Aktivität rechtfertigen würden, ja, es gab nicht einmal eine Anzeige gegen unbekannt, die so oft die polizeiliche Ermittlungsarbeit erschwerte, Einsatz forderte und sich dann als Windei erwies.
»Wir werden in dieser Angelegenheit nichts weiter unternehmen«, beschloss er. »Es liegen wichtigere Aufgaben vor uns. Man wird uns für verrückt erklären, wenn wir irgendjemandem Rechenschaft darüber ablegen müssten, was die Kripo in Husum einen ganzen Tag lang gemacht hat.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Frau Fehling bat ihn, sofort zum Chef zu kommen.
*
Grothe hatte kein Wort der Begrüßung fallen lassen, sondern mit seiner Zigarre auf den Besucherstuhl gewiesen.
»Sie haben sich heute mit Ihrer ganzen Mannschaft intensiv um eine Angelegenheit gekümmert, die keine ist«, bellte er los. Christoph wollte etwas entgegnen, doch der Polizeioberrat ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Auch wenn Sie glauben, ich wäre nicht zuständig. Was in meinem Bereich geschieht, geht mich grundsätzlich etwas an. In dieser Region bin ich der Chef!«, donnerte er in den Raum. »Zumindest was die polizeilichen Belange anbetrifft«, ergänzte er etwas ruhiger.
Er forderte Christoph auf, zu berichten. Aufmerksam hörte er zu, um zwischendurch vorsichtig die Glut seiner Zigarre anzublasen.
»So«, kommentierte der rotgesichtige Mann hinter dem Schreibtisch, als Christoph seinen Vortrag abgeschlossen hatte. »Sie sind also heute den ganzen Tag zu dritt einer Eheangelegenheit hinterhergestiegen und haben herausgefunden, dass Herr Dahl vermutet, seine Frau würde ihn mit einem Unbekannten, vielleicht einem türkischen Mitbürger, betrügen.« Grothe lehnte sich im Schreibtischsessel zurück, dass die Lehnen knarrten. »Und nun? Sind Ihre Ermittlungen abgeschlossen? Insbesondere würde mich einmal interessieren, wie Sie ein Phantom – denn mehr gibt es ja nicht – für eine nicht begangene Tat sicher im Zuchthaus wegsperren wollen.« Er sagte wirklich »Zuchthaus«. »So ein Geist entwischt Ihnen doch gleich wieder.«
Grothe grinste jetzt unverschämt breit, wobei seine wulstigen Lippen sich öffneten und eine ganze Reihe von Goldplomben sichtbar werden ließen.
Unvermittelt schoss es Christoph durch den Kopf, dass dieser Mann bei so viel Edelmetall im Mund aus Sicherheitsgründen eigentlich mit dem Kopf im Tresor schlafen müsste. Doch für heitere Überlegungen war nicht der richtige Zeitpunkt. Stattdessen sackte Christoph im Stuhl in sich zusammen. Sein Start an diesem Ort stand wirklich unter einem ungünstigen Stern.
Grothes Grinsen ging unvermittelt in ein dröhnendes Lachen über. Der dicke Leib bewegte sich dabei heftig auf und ab, und nur die besondere Stabilität der breiten Hosenträger verhinderte es, dass diese rissen und sich pfeilartig verselbständigten.
»Wissen Sie, mein Junge«, schnaufte der Oberrat schließlich. »Ich bin jetzt fast vierzig Jahre Polizist. Mir haben schon viele junge Leute gegenübergesessen. Mich kann wenig beeindrucken, aber wenn jemand unsere Aufgabe für den Bürger so versteht, dass wir auch einmal über unseren Schatten springen, einmal scheinbar unverständliche Dinge tun, die nicht irgendwo paraphiert sind, dann finde ich das couragiert. Für mich wartet eine ordentliche Polizei nicht darauf, dass irgendeine Anzeige ins Haus flattert, die dann gestempelt und sauber abgelegt wird. Nein, der Schutzmann, der gute alte Schutzmann, soll durch die Straßen seines Bezirkes gehen, mit den Bürgern sprechen, sich die Sorgen der großen und kleinen Leute anhören. Und dieses Durch-die-Straßen-Gehen ist nichts anderes als eine scheinbar ziel- und planlose Wanderung. Aber genau das verkörpert unsere Aufgabe, verschafft uns ein positives Image. Ich vertrete immer wieder die Ansicht, die Polizei soll präventiv wirken und nicht erst tätig werden, wenn eine Straftat begangen wurde. Nehmen Sie die gute alte Zeit, als an jeder Ecke ein Schutzmann stand. Auch nachts patrouillierte die Polizei durch die Straßen. Als in den Parks der großen Städte noch berittene Uniformierte unterwegs waren, hat sich kein Spitzbube getraut, einer alten Dame die Handtasche zu entwenden. Das ist Prävention. Und Sie haben mit ihrer Besorgnis um eines unserer Kinder in meinen Augen hervorragende Polizeiarbeit geleistet. Gratuliere.«
Christoph verschlug es den Atem. Alles hatte er erwartet, aber nicht diese Reaktion, auch wenn er Grothes idealistisch gefärbten Verklärungen der Vergangenheit nicht zustimmen konnte. Dieser vierschrötige Mann mochte vielleicht ein ganz eigenartiges Auftreten und ein gewöhnungsbedürftiges Erscheinungsbild haben. Aber das Herz hatte er auf dem rechten Fleck. Christoph erschrak über sich selbst, als er sich ganz automatisch mit strammer Stimme sagen hörte: »Jawohl, Chef!«
Grothe Züge wechselten abrupt zu einem konzentrierten Ausdruck. »Sie nannten den Namen Grün«, konstatierte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Er griff zum Telefonhörer, um sofort, nachdem am anderen Ende abgehoben wurde, barsch zu befehlen: »Bringen Sie mir einmal die Akte Grün, ich glaube, Leo hieß der. Das muss schon eine Weile zurückliegen.«
Kurze Zeit später reichte ein uniformierter Kollege einen blassblauen Aktendeckel aus Pappe ins Büro. Grothe schlug den Deckel auf und überflog den Inhalt. Schließlich blickte er Christoph über den Rand der Unterlage an.
»Dachte ich mir doch«, begann er seine Erklärung, »da war etwas. Gegen Leo Grün haben wir vor drei Jahren aufgrund einer anonymen Anzeige ermittelt. Ein Unbekannter – wir haben nie erfahren, wer es war – hat Grün damals der Unzucht mit Kindern bezichtigt. Er zielte dabei auf das Nachbarskind, die kleine Lisa Dahl, ab.«
Christoph erinnerte sich daran, dass ihm der alte Herr von sich aus erzählt hatte, dass die Kleine ihn oft besucht habe, sie Bilder betrachtet hätten und er ihre Wissbegierde – so hatte er sich ausgedrückt – gestillt habe.
»Das Ermittlungsverfahren ist eingestellt worden. Es haben sich keine Verdachtsmomente ergeben. Auch haben weder die Eltern noch das Kind in irgendeiner Weise etwas Negatives verlauten lassen.«
»Leo Grün war doch schon weit über siebzig Jahre, da erscheint allein der Verdacht absurd«, wandte Christoph ein, um sich gleich darauf selbst zu korrigieren: »Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass auch anscheinend unmögliche Dinge vorkommen.«
»Erschwerend kommt hinzu«, fuhr Grothe fort, »dass zu Beginn der fünfziger Jahre, als der Jude«, er tippte mit dem Finger auf den Aktendeckel und fügte ein: »Das steht hier natürlich nicht drinnen …« Fast zu sich selbst ergänzte er leise: »Das dürfen wir ja auch gar nicht schreiben.« Er setzte erneut an: »In den fünfziger Jahren, als Leo Grün ein junger Lehrer war, ist schon einmal eine anonyme Anzeige gegen ihn wegen – sagen wir einmal – merkwürdigen Umgangs mit den ihm anvertrauten Kindern eingegangen. Auch damals verliefen die Ermittlungen im Sande. Es wurde niemand gefunden, der öffentlich einen Verdacht gegen Grün äußern wollte, geschweige denn eine konkrete Beschuldigung vorgebracht hat.«
»Das hat sicher auch eine Ursache darin, dass damals kurz nach dem Krieg niemand öffentlich gegen einen Mitbürger jüdischen Glaubens auftreten mochte. Er wäre dann selbst ins Rampenlicht gerückt«, erklärte Christoph.
»Ein Jude war seinerzeit natürlich noch den vielen Verbohrten ein Dorn im Auge«, ergänzte Grothe, »und so könnte es für irgendjemanden Grund genug gewesen sein, mit einer anonymen Anzeige dem Herrn Grün einen Stachel ins Fleisch zu setzen.«
»Mithin gilt Leo Grün rechtlich als unschuldig. Für uns Polizisten ist der Umgang mit solchen Situationen immer ein besonderes Problem. Wie sollen wir damit umgehen? Es ist schlimm genug, wenn ein fader Nachgeschmack bleibt, der durch einen bösartigen Denunzianten verursacht wurde. Andererseits können wir selbst anonyme Hinweise nicht ignorieren, wenn Kinder betroffen sind. Immer wieder sind wir mit Situationen konfrontiert, in denen Konkretes nicht greifbar ist. Die eigenen Gefühle, von denen sich auch ein Ermittlungsbeamter nicht vollends frei machen kann, erschweren es uns aber, objektiv zu sein.«
Grothe nickte ihm zu: »Über die Fragestellung, was Objektivität eigentlich ist, haben sich schon viele kluge Leute die Köpfe zerbrochen. Wieso sollte ausgerechnet von Ihnen, einem Hauptkommissars aus Husum, erwartet werden, diesen Punkt endgültig zu klären? Vorerst haben Sie andere Rätsel zu lösen, mein Junge.« Der Polizeirat atmete einmal tief durch. »Zurück zu unserem Fall. Der Vorgang Grün – korrekterweise ist es ein Nichtfall, da alle Ermittlungen abgeschlossen sind – spielt natürlich nur sekundär eine Rolle in der Frage, warum das kleine Mädchen seit einigen Tagen die Schule nicht besucht. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn wir Vorgänge ungeklärt offen lassen. Es verursacht auch einen bitteren Beigeschmack, wenn wir im Inneren noch einen letzten Zweifel gegen unbescholtene Bürger hegen, denen wir damit eventuell tiefstes Unrecht zufügen. Genauso wie wir jeden Straftäter überführen wollen, müssen Unschuldige vor ungerechtfertigten Verdachtsmomenten geschützt werden. Also, mein Junge«, Grothe lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »wenn Sie so ganz nebenbei zu erweiterten Erkenntnissen auch in Verbindung mit Leo Grün kommen, so lassen Sie es mich wissen. Stellen Sie sich vor, welche Freude Sie dem alten Herrn bereiten könnten, wenn Sie den Denunzianten identifizieren. Andererseits sollte uns aber im schlimmsten Fall der Respekt vor dem Alter und einem sicher leidensreichen und schweren Lebensweg nicht davon abhalten, den Missbrauch von Kindern zu verfolgen.«
»Ich bin Ihrer Meinung«, stimmte Christoph dem Polizeirat zu. »Trotzdem können wir in diesem Fall nichts weiter unternehmen. Das ist alles zu vage.«
Unerwähnt ließ Christoph, dass er noch eine Idee hatte, wie er sich eine offizielle Legitimation für ein weiteres Nachforschen in dieser merkwürdigen Geschichte verschaffen konnte.
*
Der kräftige Wind hatte sich inzwischen noch verschärft und blies nun mit Sturmstärke von der nahen See herüber. Christoph hatte sich noch einmal auf den Weg zur Wohnung von Peter Dahl gemacht. Die wenigen Passanten, denen er begegnete, bewegten sich in leicht gebückter Haltung, um dem Sturm eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten. Mit der richtigen Bekleidung, das hatte er schon an seinem ersten Tag hier verstanden, konnte man der Witterung trotzen. Und wenn man unvorsichtigerweise einmal den Mund öffnete und sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, so spürte man den hohen Salzgehalt der Luft. Das Klima hatte aber auch etwas Natürliches, Erfrischendes. Er hatte den Eindruck, dass jeder Atemzug ihm reine, frische Seeluft in die Lungen pumpte.
So war es an diesem mittlerweile späten Nachmittag schon dunkel, als Christoph die Wohnung von Peter Dahl erreichte. Er hatte Glück, dass er in der Haustür mit einem Handwerker zusammenstieß, der ihn in den Flur ließ. Auf sein Klingeln hin hatte Dahl nicht geöffnet, aber auf das nachhaltige kräftige Klopfen gegen die Wohnungstür dann doch reagiert. Er hatte sich seit Christophs erstem Besuch offensichtlich nicht gewaschen oder die Kleidung gewechselt. Außerdem hatte er sich dem Augenschein nach weitere Biere genehmigt.
»Gibt es Freunde oder Verwandte, bei denen sich Ihre Frau mit dem Kind aufhalten könnte? Ich muss Ihnen diese Frage noch einmal stellen.«
Der Mann antwortete mit schwerer Zunge: »Wir haben keine Bekannten. Und die Verwandtschaft … nur, wenn es unbedingt sein muss. Ich …«, er wurde durch einen Schluckauf unterbrochen, »ich … hab manchmal mit ‘nen paar Kumpels von der Werft ‘nen Bier getrunken. Aber seit sie mich gefeuert haben … Nix. Gar nix.«
»Hatte Ihre Frau auch Kontakte zu den Arbeitskollegen?«
Dahl kniff die Augen zusammen: »Was willst du damit sagen? Dass Anne –«
Schnell unterbrach Christoph ihn: »Ich möchte lediglich wissen, ob Ihre Frau die Kollegen kannte. Eventuell war sie mit einer der Frauen bekannt oder gar befreundet. Das wäre doch möglich, oder?«
Der Schluckauf hinderte Dahl einen Moment zu antworten. »Nee, nix da …«, dabei fegte er mit seinem Arm durch die Luft, »so eine ist meine Anne nicht. Die ist … war … immer zu Hause. Ein ganz braves Mädchen … meine Anne«, sprach er mit schwerer Zunge.
Dann hielt er inne, sah Christoph aus zu schmalen Schlitzen zusammengepressten Augen an und polterte urplötzlich los: »Verdammte Scheiße! Mit dem Türken hat sie gebumst. Mit diesem verdammten Türken. Wenn ich den erwische, dann … den mach ich alle.«
»Können Sie mir etwas über diesen ›Türken‹ – wie Sie ihn nennen – sagen? Wie heißt er? Wie sieht er aus? Sind Sie ihm schon einmal begegnet?«
»Nee!«, antwortete Dahl knapp.
»Was nee?«, bohrte Christoph nach.
Der Mann griff zu einer Bierflasche und nahm einen Schluck.
»Nee! Ich hab ihn noch nie gesehen … bin ihm nie begegnet. Aber wenn ich …«
»Woher wissen Sie von der Existenz dieses angeblichen Türken?«
Peter Dahl machte eine wegwerfende Handbewegung: »Blöde Frage … Das is so …«
»Sie haben folglich nichts weiter als einen Verdacht gehabt?«
»Mensch, das merkt ‘nen Mann doch.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ich bin doch nicht blöd!«
»Wie hat Ihre Frau reagiert, als Sie sie mit diesen Vorwürfen konfrontierten?«
Zum ersten Mal hatte es den Anschein, als fühlte Dahl sich bei etwas Unrechtmäßigem ertappt. Er sah betreten auf den Boden und wippte mit seinen Fußspitzen. Nach unendlich langer Zeit kam es mühsam aus ihm heraus: »Ich hab ihr eine gescheuert … Dann hat sie ihre Sachen gepackt und ist mit Lisa abgehauen.«
Christoph ersparte sich einen Kommentar zu diesem Eingeständnis. »Jeder – auch Sie – hat Ihre Frau als pflichtbewusste Mutter geschildert. Darum ist es verwunderlich, dass sie Ihre Tochter nicht zur Schule schickt. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
Der Mann sah immer noch auf seine Fußspitzen. Dann schluckte er heftig. Mit einem feuchten Schleier vor den Augen blickte er Christoph an. »Bitte … sagen Sie mir: Wo ist meine Tochter?«
»Damit wir offiziell etwas unternehmen können, ist eine Vermisstenanzeige erforderlich«, erklärte Christoph. »Ich habe bereits ein Formular vorbereitet. Das müssten Sie als Vater unterschreiben.« Er zückte einen Kugelschreiber, drückte ihn Dahl in die Hand und zeigte auf die Stelle im Vordruck.
Mühsam malte der Mann seinen Namen.
Wir haben jetzt eine rechtliche Legitimation für das weitere Vorgehen, dachte sich Christoph. Warum muss bei uns alles immer so formell und bürokratisch abgewickelt werden? Da fühlt man sich wie ein erfolgreicher Handelsvertreter, dem es nach aufwendigen Vertragsverhandlungen endlich gelungen ist, die begehrte Unterschrift unter dem Auftrag zu erhalten.
Seine Gedanken schweiften kurz ab zu seiner persönlichen Situation ab, als er durch die schmalen Straßen zum Polizeirevier zurückging. Nach langjähriger Ehe war der Alltag eingeschliffen, mit Riten besetzt, die automatisch abgewickelt wurden. Jeder im Haushalt erledigte die ihm zufallenden Handgriffe. Erst jetzt, wo er nicht zum Feierabend ins gemeinsame Heim zurückkehren konnte, wurde ihm das Fehlen des Vertrauten bewusst. Er verstand plötzlich die Bedenken, die seine Frau Dagmar gegen seine Abkommandierung nach Husum vorgebracht hatte. Gottlob war es nur eine vorübergehende Aufgabe. Und in absehbarer Zeit würde er wieder nach Kiel zurückkehren und das gewohnte regelmäßige Leben weiterführen …
*
»Papiertiger«, brummte Große Jäger vorsichtig, als Christoph die Vermisstenanzeige im Büro präsentierte.
Mommsen hatte das Formular übernommen, wortlos und akkurat eine Akte angelegt und gefragt: »Und nun?«
»Ich würde gern einmal einen Blick in die Wohnung von Frau Dahl werfen«, schlug Christoph vor. Er sah auf die Uhr. »Es ist zwar schon Abendbrotzeit, aber das interessiert mich nun doch. Der Tag ist ohnehin verschenkt …«
»Das ist eine gute Idee, obwohl uns das ja nicht möglich ist«, wandte Mommsen ein. »Wir haben keine Berechtigung, in die Räume einzudringen.«
Wortlos stand Große Jäger auf, zog sich seinen Parka über, ging zur Tür und meinte nur: »Kommt!«
Diesmal nutzten sie ein Fahrzeug für den kurzen Weg.
Von außen war kein Licht zu sehen, und auch auf das Klingeln hin rührte sich nichts. Sie hatten bei Nachbarn geläutet, sich als Polizisten ausgewiesen und so Zugang zum Treppenhaus bekommen.
Nun standen sie vor der verschlossenen Wohnungstür.
»Und wie wollen wir dort hineinkommen?«, fragte Christoph. »Ob es hier einen Hausmeister gibt?«
Das Türschloss war handelsüblicher Art, nicht massiv, aber doch ein nicht zu überwindendes Hindernis für Leute, die in friedlicher Absicht kamen.
Mommsen zupfte Christoph am Ärmel. »Herr Johannes«, sagte er, »ich glaube, wir sollten einmal auf die Namensschilder in der darüber liegenden Etage sehen.«
Christoph verstand. Sie gingen die Treppe einen halben Absatz aufwärts und blickten auf die dunkle Straße hinaus. Sie war menschenleer. Hinter den hell erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Straßenseite spielte sich in diesen frühen Abendstunden das Feierabendritual der Durchschnittsfamilie ab. Nicht alle Fenster waren durch Gardinen abgeschirmt, sodass, wer wollte, an den Geschehnissen teilhaben konnte.
Sie hörten ein kurzes metallisches Knacken. Mommsen drehte sich um, lächelte ein wenig verschmitzt und sagte: »Das ist aber ein Zufall, dass die Wohnung gar nicht abgeschlossen ist.«
Sie folgten Große Jäger in die kleine, einfache Wohnung. Sie war sauber und aufgeräumt. Die Einrichtung war einfach und unvollständig. Außerdem fiel es auf, dass die Möbel nicht zueinander passten. Das Geld war knapp, und Frau Dahl schien in der Übergangsphase die Wohnung mit Gegenständen unterschiedlicher Herkunft bestückt zu haben.
Es gab ein großes Zimmer mit einem akkurat bezogenen Bett, das mit einer schlichten Tagesdecke abgedeckt war. Ein kleiner Tisch und drei Stühle standen an der einen Wand, ein gebrauchter Kiefernholzschrank sowie eine dazu nicht passende Anrichte vervollständigten das Mobiliar. Auf dem Tisch lag eine kleine gehäkelte Platzdecke, halb verdeckt durch einen ordentlich geschichteten Stapel von Schulbüchern und Heften. Christoph warf einen kurzen Blick auf das oberste Heft. »Rechnen Lisa Dahl Klasse 2b« stand dort in kindlicher Schrift. Gegen ein Tischbein gelehnt sahen sie die Schultasche, sie war geöffnet. Das Ganze erweckte den Eindruck, als hätte die Kleine die Schulaufgaben nur einmal kurz unterbrochen, um sie nach ihrer Rückkehr an diesen Platz fortzusetzen oder das Ergebnis der Bemühungen in die Schultasche zurückzulegen.
Christoph fingerte einen Kugelschreiber aus der Tasche und schlug damit vorsichtig das Schulheft auf. Er blätterte die wenigen mit kindlicher Schrift versehenen Seiten bis zum letzten Eintrag um. Die einzelnen Abschnitte waren jeweils mit einem Datum versehen, darunter standen mit roter Tinte Anmerkungen der Lehrerin, manchmal als erläuternder Text, in anderen Fällen mit einer unterschiedlichen Anzahl roter Sternchen. Die letzte Bemerkung der Lehrerin stand unter den Schulaufgaben vom Montag der vergangenen Woche. Dienstag war der letzte Tag, so hatte Frau Pohl berichtet, an dem Lisa die Schule besuchte hatte. Seitdem fehlten weitere Eintragungen.
Das zweite Zimmer war etwas kleiner. Anstelle eines Bettes war auf dem Fußboden mittels einer bezogenen Matratze ein Schlaflager hergerichtet. Die Bettwäsche war mit bunten Kindermotiven versehen, in der Ecke zur Wand lehnten mehrere Kuscheltiere. Ein einfacher Holzschrank komplettierte die Einrichtung, ein Tisch fehlte. Tiermotive, mit Klebestreifen befestigt, zierten die Raufaserwände.
Im Schrank befand sich eine überschaubare Anzahl sauber zusammengelegter Kleidungsstücke, in den Regalen aber auch wärmende Oberbekleidung wie Pullover, die jemand bei Antritt einer Reise in dieser Jahrszeit sicherlich mitgenommen hätte.
Die kleine Küche konnte gerade zwei Personen aufnehmen, die sich dann aber schon in ihrer Bewegungsfreiheit gegenseitig behinderten. Obwohl alles einen sauberen und aufgeräumten Eindruck machte, roch es säuerlich aus dem Kühlschrank. Im Inneren fanden sie etwas Aufschnitt, eine noch halb gefüllte Packung mit Eiern, angebrochene Flaschen mit Fruchtsaft und Mineralwasser und eine geöffnete, halb geleerte Milchtüte, die den unangenehmen Geruch verströmte. Das Haltbarkeitsdatum wies das Ende der vergangenen Woche aus. Es passte nicht zum ersten Eindruck eines gepflegten Haushaltes, den die anderen Räume vermittelt hatten.
In der Spüle standen drei benutze, unterschiedliche Wassergläser. Eines war mit kleinen fettigen Fingerabdrücken versehen, was die Vermutung nahe legte, dass dieses Glas zuletzt vom Kind benutzt wurde. Auch der Abdruck kleiner Lippen am Glasrand bestärkte diesen Gedanken. Am zweiten Glas waren ganz schwach einige rote Spuren zu sehen, so als wenn ein Hauch Lippenstift haften geblieben wäre. Das dritte wies keine mit bloßem Auge erkennbaren Spuren auf.
Weiteres benutztes Geschirr fand sich nicht in der Wohnung, dafür aber hing am Rande des Spülbeckens ein rot-weiß kariertes Trockentuch. Die Kriminalbeamten konnten sich zusammenreimen, dass Lisa am Dienstag aus der Schule heimgekommen war und dort mit ihrer Mutter zu Mittag gegessen hatte. Nach dem Essen hatte die Kleine die Hausaufgaben erledigt, während Frau Dahl das Geschirr spülte und die Küche aufräumte. Das feuchte Geschirrtuch hatte sie zum Trocknen ausgebreitet.
Danach musste es noch einen Besucher gegeben haben, der Mutter und Tochter nicht unbekannt, sondern sogar so vertraut war, dass sie gemeinsam etwas getrunken hatten. Dann hatten sie das Haus verlassen, ob zusammen mit dem unbekannten Besucher oder allein, war nicht ersichtlich.
Der letzte Blick in das kleine Bad zeugte ebenfalls davon, dass es offensichtlich keine Absicht gegeben hatte, die Wohnung für eine längere Reise zu verlassen, denn die Zahnbürsten der beiden sowie die täglich genutzten wenigen Kosmetika der Mutter waren noch da.
»Kein Telefon in der Wohnung«, stellte Große Jäger fest.
»Dann ist es nicht verwunderlich, dass die Lehrerin Frau Dahl nicht erreichen konnte«, ergänzte Mommsen.
»Und was hätte ein Telefon genützt, wenn Mutter und Tochter seit Dienstag aus der Wohnung verschwunden sind?«, gab Christoph zu bedenken.
*
Der Oberkommissar verschloss die Wohnung wieder. Christoph beobachtete ihn dabei.
Große Jäger sah auf. »Ist was? Ich versetze die Räume nur wieder in den vorherigen Zustand«, kommentierte er.
Seine Worte wurden durch ein heftiges Knurren seines Magens unterstrichen. Er hielt sich beide Hände vor den Bauch, als wolle er den Zustand seines Innenlebens prüfen, und beschloss für alle drei: »Jetzt gehen wir eine Kleinigkeit essen.«
»Und wo?«, fragte Christoph neugierig.
Mommsen stöhnte theatralisch auf. »Wenn der Kollege vom Essen spricht, dann meint er etwas aus der Palette Brathähnchen, Pommes, Burger, Bratwurst … und wieder von vorn: Brathähnchen, Pommes und so weiter … Aber im Ernst: Aus Zeitmangel sind wir oft in einem der Fastfood-Läden der Stadt zu Gast.«
Christoph war es gleich.
Mommsen klemmte sich hinter das Lenkrad ihres Dienstwagens, eines älteren Ford-Kombis, und kreuzte die Richtung Norden führende Bundesstraße.
Da die »Neustadt« als Einbahnstraße nur in nördlicher Richtung befahrbar ist, folgte Mommsen der ausgeschilderten Strecke durch eine in der Dunkelheit trist wirkende Gegend, fuhr am alten Güterbahnhof vorbei und stieß auf den Platz am Ende der Hafenstraße, den Christoph von früheren Besuchen kannte. Ihr Weg führte am Binnenhafen entlang, der um diese Jahreszeit verlassen dalag. Im Sommer war an dieser Stelle mit dem Auto nur schwer durchzukommen, da diese Flaniermeile von den Besuchermassen in ganzer Breite vereinnahmt wurde.
An der Schiffbrücke, dem Platz am Ende des Binnenhafens, fanden sie vor den beschaulichen Giebelhäusern ohne Mühe einen Parkplatz und gingen die paar Schritte durch die schmale Gasse Richtung Marktplatz.
Das Fastfood-Restaurant war relativ gut besucht. Sie ergattern einen freien Platz und aßen schweigend. Vom Nachbartisch her drang das kichernde Getuschel einiger Teenager herüber, die offenbar von Harm Mommsen angetan waren, was dieser aber kommentarlos und mit stoischem Gleichmut über sich ergehen ließ.
Nach dem bescheidenen Mahl fuhren sie wieder das kurze Stück zu dem kleinen Platz zurück, an dem die »Wasserreihe« mündete. Die gläsernen Pavillons der Fischrestaurants und Fischläden sahen in der Dunkelheit verloren aus. Über die Klappbrücke, die den Binnen- vom Außenhafen trennte, rumpelte der Nahverkehrszug Richtung Niebüll. Sie suchten eine bürgerlich wirkende Gaststätte auf, die das einzig Bewohnte an diesem im Sommer so belebten Fleck zu sein schien, und genehmigten sich noch einen Feierabendschluck.
»Das Ganze ist eigenartig.« Christoph unterbrach als Erster die Gedankengänge der drei Männer. »Da kommt ein kleines Mädchen nicht zur Schule, was eine aufmerksame Lehrerin zu dem eher ungewöhnlichen Schritt veranlasst, sich informell an die Polizei zu wenden. Wir stoßen auf eine eheliche Zerrüttung, wie tief die auch immer sein mag, die eine Folge der Arbeitslosigkeit des Mannes zu sein scheint. Zwei Hinweise, von Herrn Dahl und der Kollegin in der Bäckerei, deuten auf einen unbekannten Mann hin, der als Türke bezeichnet wird, aber niemand kennt diesen Unbekannten näher. Gehört ihm das dritte Glas, das wir in der Küche gefunden haben? Die Wohnung sieht so aus, als wäre sie nur vorübergehend verlassen worden, ein ganz alltäglicher Vorgang. Es gibt keine Indizien dafür, dass Frau Dahl mit ihrer Tochter eine längere Abwesenheit geplant hat.«
Christoph trank einen Schluck Bier, bevor er fortfuhr: »Der Ehemann legt ein eigentümliches und schon gar nicht kooperatives Verhalten an den Tag. Die Rückfrage bei den Verwandten ist eine Fehlanzeige. Weitere Angehörige oder Freunde, zu denen Beziehungen bestehen könnten, gibt es laut Herrn Dahl nicht. Der Einzige, der uns mit Informationen weitergeholfen hat, war der betagte Nachbar, Herr Grün, mit einer objektiv nicht eindeutig geklärten Vorbelastung, die aber auch bösartigen Denunziationen zuzuschreiben wäre. Warum verlässt eine Mutter mit ihrer Tochter die Wohnung ohne triftigen Grund? Und wo halten die beiden sich jetzt auf? Niemand hat sie gesehen, keiner hat etwas gehört. Wo finden wir Ansatzpunkte für weitere Überlegungen?«, schloss Christoph die Zusammenfassung dessen, was sie wussten, ab.
»Tja«, antwortete Große Jäger nur und leerte mit einem großen Schluck das vor ihm stehende Glas.
Mommsen war den Ausführungen Christophs schweigend gefolgt. Er hatte nur kurz zustimmend genickt, aber sich jeder Anmerkung enthalten. Was hätte er auch sagen sollen? Zu diesem Zeitpunkt wussten sie einfach nicht mehr.