ZWEI
In den folgenden Tagen hatten sie noch einmal die Nachbarn befragt, weitere Erkundigungen in der Bäckerei, in der Anne Dahl beschäftigt war, eingezogen, mit Unterstützung der Lehrerin die Klassenkameraden des kleinen Mädchens interviewt und mehr oder weniger erfolglose Gespräche mit Peter Dahl geführt. Nichts! Niemand kannte einen Grund, weshalb die junge Frau mit ihrer Tochter wie vom Erdboden verschluckt war. Keiner hatte eine Idee, wo sie sich aufhalten könnte.
Und nirgendwo erhielten sie einen weiteren Hinweis auf den mysteriösen Mann in Anne Dahls Umgebung. Selbst die drei Gläser aus der Spüle waren inzwischen kriminaltechnisch analysiert worden. Sie wiesen alle Fingerabdrücke auf. Auf dem dritten Trinkgefäß fanden sich deutliche Abdrücke einer männlichen Hand. Für diese gab es allerdings keine Einträge in ihrer Zentralkartei. Das heißt, auch dort gab es keine Anhaltspunkte.
Parallel zu ihren erfolglosen Bemühungen drängten immer zwingender andere unerledigte Fälle auf Bearbeitung, sodass die Vermisstenanzeige in den Hintergrund geriet.
Christoph hatte die ersten Tage in Husum in einer Pension gewohnt, war dann aber in die Berliner Straße, in eine kleine möblierte Wohnung, gezogen. Er war jetzt bereits einige Wochen hier und pendelte an den Wochenenden, wenn der Dienst es zuließ, zu seiner Familie in die Landeshauptstadt. Bei seinen Besuchen in Kiel bemerkte er, dass die Gespräche zwischen ihm und seiner Frau anders verliefen als früher. In der Vergangenheit, als man sich täglich sah, hatten sie ein breites Themenspektrum zur Auswahl. Jetzt stand weniger Zeit für das Gespräch zur Verfügung. Er hatte den Eindruck, seine Frau zeigte nur ein eingeschränktes Interesse an seiner Arbeit, während er – umgekehrt – sich dabei erwischte, dass er nur mit halbem Ohr bei der Sache war, wenn sie etwas aus ihrem Alltag erzählte. Die durch seinen Einsatz in Husum erzwungene Wochenendbeziehung tat seiner Ehe nicht gut. Über diese Erkenntnis war er alles andere als glücklich.
Die ersten grauen Regen- und Sturmtage waren einem winterlichen Hoch gewichen, das einen strahlend blauen Winterhimmel mit sich brachte. Die Temperaturen blieben auch tagsüber unterhalb des Gefrierpunktes. Dabei war es aber trocken. Aber dann war das Hoch vorbeigezogen. Ihm folgte das nächste Tiefdruckgebiet von Westen her. Es brachte tief liegende, rasch durchziehende Wolken, verbunden mit dem allseits gegenwärtigen Grau, Sturm und natürlich Regen. Der gefrorene Boden war wieder aufgetaut, und die Trittfestigkeit auf unversiegelten Flächen war einem regendurchfeuchteten Morast gewichen. In der Stadt selbst galt es nun, den stehenden Wasserlachen möglichst elegant auszuweichen. Der Zuständigkeitsbereich der Husumer Polizei umfasste aber die ganze Region Nordfriesland, sodass sich das Wetter und die damit verbundenen Einschränkungen in der Beweglichkeit nachteilig auf die tägliche Arbeit auswirkten.
Christoph hatte sich relativ schnell in die für ihn zuerst ungewohnte Umgebung eingearbeitet und erledigte mit wachsender Routine die anstehende Arbeit. Das Team spielte dabei reibungslos mit. Jeder kannte seine Aufgaben und erledigte sie in der ihm eigenen Art und Weise.
Große Jäger schien – zumindest nach außen hin – eher zufallsgesteuert die ihm übertragenen Aufträge wahrzunehmen. Er hatte die Gabe, ohne Strategie im Einzelfall intuitiv die richtige Aktion einzuleiten, das passende Gefühl für eine Situation zu entwickeln, und traf vor allem im Gespräch fast immer die richtige Einstellung zu seinem Gegenüber. Er konnte schmeicheln, kumpelhaft wirken, hatte aber auch keine Hemmungen, mit Drohgebärden seinen Einfluss deutlich zu machen. In jedem Fall machte er keinen Hehl daraus, dass er die nötige Papierarbeit zutiefst verabscheute. Das Schreiben eines Protokolls, das Führen einer Akte, das Ausfüllen eines Formulars – nein, dies war nicht seine Welt. So hatte sich ein fortwährender Disput zwischen Christoph und seinem Oberkommissar aufgebaut, in dem es einzig um die ständige Anmahnung zur abschließenden Erledigung eines Falles ging, der erst dann sein Ende fand, wenn die Akte zur weiteren Strafverfolgung an die Staatanwaltschaft abgegeben werden konnte.
Harm Mommsen war ein Mitarbeiter, der alle Aufgaben sorgfältig und eigenständig ausführte. Sein ruhiges und zurückhaltendes Verhalten, das aber nie devot wirkte, war nur eine der positiven Eigenschaften, die man ihm zuschreiben konnte. Er war in jeder Hinsicht ein sympathischer und angenehmer Zeitgenosse.
An einem dieser trüben grauen Regentage waren Christoph und Große Jäger wegen einer Betrugsanzeige auf einem abseits gelegenen Gehöft in der Nähe von Tating unterwegs gewesen und hatten gerade ihr Dienstfahrzeug für die Rückfahrt bestiegen, als das Handy summte. Christoph erkannte am Display, dass die Dienststelle ihn zu erreichen versuchte, und wunderte sich, dass dies nicht über Funk erfolgte.
»Ja«, meldete er sich knapp.
»Hier Grothe«, hörte er die schnarrende Stimme des Chefs. »Haben Sie den Funkverkehr abgehört?«
»Nein, wir waren zu einem Verhör in Eiderstedt«, entgegnete Christoph.
»Da ist etwas sehr Unangenehmes passiert«, fuhr Grothe fort. »Ein Spaziergänger hat in der Nähe von Marschenbüll eine Leiche gefunden. Die Kollegen von der Mordkommission und vom Erkennungsdienst in Flensburg sind bereits informiert. Meine Männer sind unterwegs, um die Fundstelle zu sichern. Ich schlage vor, Sie machen sich auch auf den Weg.«
»Wir sind schon unterwegs«, antwortete Christoph und platzierte das mobile Blaulicht auf dem Dach. Unterwegs informierte er kurz Große Jäger über die Meldung des Chefs.
Der Regen peitschte gegen das Fahrzeug. Die Scheibenwischer arbeiteten heftig. Die Sturmböen, die über die weite Ebene von der Seeseite herüberbliesen, rüttelten kräftig am Auto, sodass es trotz des wenigen Verkehrs höchste Aufmerksamkeit erforderte, den Wagen auf den kurvenreichen und engen Straßen zu halten.
Große Jäger dirigierte ihn auf der schmalen Straße Richtung Tümlauer Koog. Sie folgten dem Deich bis Westerhever, jener kleinen Siedlung hinterm Deich, deren markanter Leuchtturm mit den beiden rot gedeckten Wärterhäuschen das wohl bekannteste Bauwerk der Westküste ist. Die Straße schlängelte sich durch die feuchten Wiesen, eine der letzten großen Naturlandschaften Europas, bis kurz vor Osterhever.
»Jetzt links«, wies Große Jäger an der einsamen Kreuzung an.
Der Weg führte in Richtung See. An seinem Ende wies der Oberkommissar wortlos mit dem Daumen nach rechts. Sie folgten dem Deich, der Eiderstedt vor dem Wattenmeer schützte.
Nach einer Christoph unendlich erscheinenden Fahrt durchquerten sie schließlich den kleinen Ort Marschenbüll, ein mitten in der Weite der Marschlandschaft gelegenes, für diese Gegend typisches Straßendorf. Am Ortsausgang sahen sie schon über die freie Fläche, etwa fünfhundert Meter abseits der Straße, mehrere Blaulichter.
Von der anderen Seite her näherten sich zwei weitere Einsatzfahrzeuge. Sie bogen nahezu gleichzeitig mit den Neuankömmlingen von der Landstraße in einen asphaltierten Wirtschaftsweg ein, der in einigen von der Hauptstraße nicht einsehbaren Windungen zwischen den Wiesen zur Fundstelle der Leiche führte.
Dort standen bereits zwei Streifenwagen der uniformierten Polizei. Die Beamten hatten das Terrain weiträumig mit rot-weißem Flatterband abgesperrt und hielten sich selbst hinter dieser Abgrenzung auf.
Trotz des schlechten Wetters waren, angelockt durch das blaue Licht, einige Schaulustige, teils mit Fahrrädern, teils zu Fuß, aus dem nahen Dorf gekommen.
Christoph hielt am Rande der Wiese hinter den beiden Fahrzeugen. Aus dem ersten Wagen sprang noch während der Fahrt ein kleiner, glatzköpfiger Mann, setzte sich, noch bevor seine Füße den Boden berührten, eine Seglermütze auf und hüpfte sogleich wieder in die Höhe, als wolle er über den durchgeweichten, morastigen Boden schweben. Christoph griff nach seiner wetterfesten Jacke, zog sie im Aussteigen an und klappte die Kapuze hoch. Mit jedem Tag mehr an der Küste verstand er den Sinngehalt der Aussage besser, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur die unpassende Kleidung gebe. Große Jäger, bekleidet mit dem obligatorischen Parka, folgte ihm.
Der kleine Mann mit der Mütze versuchte immer noch, hüpfenderweise ein einigermaßen trockenes Stück Erde zu finden. Mit schmatzenden Geräuschen hielt der tiefe, feste Morast seine Halbschuhe gefangen.
»So ein Scheißwetter«, hörten sie ihn fluchen, »so eine verdammte Scheiße.« Unter dem kurzen Schirm seiner Prinz-Heinrich-Mütze funkelte er die beiden grimmig an. »Was wollen Sie denn hier?«, fragte er böse.
Christoph musste unwillkürlich schmunzeln. »Wir suchen einen dritten Mann zum Skat.«
Dem kleinen Mann blieb schlicht die Luft weg.
Christoph trat auf ihn zu, streckte ihm versöhnlich die Hand entgegen und stellte sich vor.
»Johannes, Kripo Husum«, sagte er, zeigte mit dem Daumen über seine Schulter und ergänzte, »und das ist mein Kollege Große Jäger.«
Der kleine Mann rang immer noch nach Luft.
»Klaus«, stellte er sich vor, »Klaus Jürgensen. Und was hat es mit dem großen Jäger auf sich?«
Jetzt musste Christoph lauthals lachen. Dieses Problem mit seinem Namen war ihm schon oft begegnet.
»Johannes ist mein Nachname«, erklärte es deshalb. »Christoph Johannes. Hauptkommissar. Ursprünglich aus Kiel, seit kurzem mit der Leitung der Dienststelle Husum betraut.«
»Meinetwegen«, brummte der kleine Mann. »Ich bin Hauptkommissar Klaus Jürgensen vom K6 aus Flensburg, Kriminaltechnik und Erkennungsdienst.« Er beschrieb mit der Hand einen Bogen, der die beiden Fahrzeuge umfasste, und fuhr fort: »Das ist meine Mannschaft. Aber wenn es denn sein soll, ich heiße trotzdem Klaus.«
»Und mein Kollege heißt Große Jäger«, erläuterte Christoph.
»Was habt ihr für komische Namen in Husum, ich dachte schon, Große Jäger wäre ein Künstlername wie Winnetou.«
Jürgensen wandte sich ab, sprach kurz mit seinen Männern und ließ sich dann von einem der Streifenbeamten einweisen. Christoph und Große Jäger stellten sich dazu.
»Ein Spaziergänger aus Marschenbüll«, der Uniformierte nickte in Richtung Dorf, »war mit seinem Hund unterwegs. Beim Herumstöbern ist das Tier auf die Leiche gestoßen. Sie liegt dort drüben.«
Er bewegte erneut den Kopf, diesmal aber zur anderen Seite. Die anderen folgten seiner Richtungsangabe. Neben dem Feldweg, der an dieser Stelle vom asphaltierten Belag in Schotter überging, führte ein kleiner Entwässerungsgraben entlang, der um diese Jahreszeit von den Rändern her zugewachsen war.
Jürgensen gab seinen Männern noch ein paar kurze Anweisungen, zog sich dann einen blauen Plastikumhang über, der ihm das Aussehen einer Mülltüte auf zwei Beinen verlieh, tauschte die Halbschuhe gegen ein Paar Gummistiefel und bewegte sich vorsichtig hinter das Absperrband.
»Wo ist der Mann, der die Leiche gefunden hat?«, fragte Große Jäger den Streifenbeamten.
»Dem ist schlecht geworden. Der ist nach Hause und benötigt einen Arzt. Ich habe seine Anschrift.«
Der Polizist blätterte in einem kleinen Notizbuch und nannte dem Oberkommissar Name und Adresse.
Große Jäger ging auf die Schaulustigen zu. »Hat jemand etwas gesehen?«, fragte er.
Wie Kühe auf der Weide starrten ihn die Leute schweigend an.
»In Ordnung!« Große Jäger wedelte mit seinem Notizbuch. »Ich notiere mir jetzt die Namen all derer, die in zwei Minuten noch hier sind, und lade sie anschließend als Zeugen nach Husum vor.«
Als ob ein Bienenschwarm über sie hergefallen wäre, stob die Gruppe der Neugierigen auseinander, um dann unter Protest ins Dorf zurückzukehren.
Während die Männer im strömenden Regen hinter dem rot-weißen Flatterband warteten, tastete sich Jürgensen zentimeterweise vorwärts und suchte dabei den Boden nach Hinweisen ab. Wie gut, dachte sich Christoph, dass er so klein ist, da ist er näher dran. Nachdem er den Rand der Böschung erreicht hatte, gab Jürgensen seinen Männern ein kurzes Zeichen, worauf diese ausschwärmten und im Kriechgang ihm folgend auf den Fundort zustrebten.
Christoph und Große Jäger mussten warten. Erst hatten die Spezialisten des Erkennungsdienstes das Umfeld auf Spuren zu sichern. Außerdem waren sie ohnehin nicht für diesen Fall zuständig. Bestimmte Arten von Straftaten, dazu gehörten auch Kapitalverbrechen wie Mord und ungeklärte Todesfälle, wurden von einer speziellen Einheit, der K1 – Mordkommission – bearbeitet, die direkt bei der übergeordneten Kriminalbereichsinspektion in Flensburg angesiedelt war.
»Herr Johannes«, rief einer der Streifenbeamten, der sich halb in sein Fahrzeug hineingelehnt hatte und Christoph nun den Telefonhörer entgegenhielt. »Der Chef möchte Sie sprechen.«
Christoph nahm den Hörer entgegen und war dankbar, sich kurz in das regengeschützte Innere des Polizeiwagens zurückziehen zu können.
»Da ist noch ein Problem.« Grothes Stimme klang in einer Lautstärke aus dem Hörer, dass Christoph instinktiv den Apparat vom Ohr weghielt. »Ihre Kollegen bei der Kripo sind wieder einmal schlecht organisiert. So eine Schlamperei hätte es bei mir nicht gegeben.«
Christoph sah den schwergewichtigen Mann vor seinem inneren Auge förmlich aus seinem Schreibtischsessel hüpfen.
»Die haben jetzt kurz vor Weihnachten eine Reihe von Leuten nach Hause geschickt, um die noch offenen Urlaubsansprüche abzufeiern. Die restliche Truppe ist grippekrank.« Grothe schnaubte so lautstark, dass es deutlich durch die Leitung zu hören war. »Die Jungs sollten alle einmal bei uns an der Westküste Dienst tun. Da wird keiner grippekrank. Nicht hier! Und die wenigen vom K1, die noch arbeiten, sind im Augenblick auswärts bei einem anderen Einsatz. Sie sollen schon einmal die Arbeit kommissarisch aufnehmen. Die Mordkommission übernimmt dann später.« Ohne eine Antwort abzuwarten beendete Grothe das Gespräch.
Christoph informierte kurz Große Jäger, der immer noch mit den Besatzungen der beiden Streifenwagen im Regen stand und wärmend die Arme um den Körper schlug. Der Regen troff ihm dabei von der Kapuze seines Parkas auf die Nasenspitze und lief über den Mund abwärts. Gelegentlich streckte er die Zunge in Richtung seiner Nasenspitze aus, um die dort herabhängenden Wassertropfen aufzunehmen.
»Scheiße!«, sagte Große Jäger nur. Noch einmal: »Scheiße!« Sonst nichts.
Von der Hauptstraße näherte sich jetzt ein Mercedes ihrem Standort. Der Wagen stoppte, und ein Mann mittleren Alters stieg aus. Er hielt mit seiner linken Hand die Knopfleiste seiner Jacke zusammen und kam auf sie zu, während er die Stirn krauszog.
»Hallo, Doc«, sagte Große Jäger. Die Streifenpolizisten nickten dem Mann zu.
»Guten Tag, mein Name ist Hinrichsen«, stellte er sich Christoph vor. »Ich bin frei praktizierender Arzt in Husum. In der Vergangenheit habe ich des Öfteren mit der Polizei zusammengearbeitet und werde deshalb gerufen, wenn es gilt, einen ersten Eindruck bei ungeklärten Todesfällen, aber auch bei Unfällen und Ähnlichem abzugeben. Wenn es sein muss, stelle ich auch den Totenschein aus.« Er reichte Christoph die Hand. Es war ein angenehmer, kurzer, aber fester Händedruck.
Christoph stellte sich ebenfalls vor und informierte den Arzt kurz über das Wenige, was sie bisher wussten.
»Männlich oder weiblich?«, wollte Dr. Hinrichsen wissen. Christoph zuckte die Schultern. »Die Kollegen vom Erkennungsdienst sondieren im Augenblick noch das Umfeld auf etwaige Spuren.«
Inzwischen hatte einer der Kriminaltechniker damit begonnen, mit einer Digitalkamera Aufnahmen vom Umfeld zu machen. Jürgensen winkte ihnen vom Graben her und deutete an, dass sie näher kommen könnten. Er stand breitbeinig darüber, leicht gebeugt, und hatte die wuchernde Bepflanzung zur Seite gebogen.
»Macht noch einmal Gipsabdrücke von den markierten Fußabdrücken«, rief er einem seiner Männer zu, »und nehmt auch welche von den beiden Kollegen von der Streife, die zuerst hier waren. Einer muss noch zu dem Menschen fahren, der die Tote entdeckt hat, um auch seine Abdrücke zu Kontrollzwecken aufzunehmen.«
Jürgensen war über und über mit Schlammspritzern übersät.
»Es ist eine Frau«, erklärte er. »Zuerst der Doktor. Die anderen sollen noch oben bleiben.«
Als Dr. Hinrichsen vorsichtig zum Kriminaltechniker in den Graben hinunterrutschte, spürte Christoph urplötzlich einen großen, schweren Stein im Magen. Er musste ganz plötzlich an Anne Dahl denken.
Im Augenblick war nur der Hinterkopf der Frau zu sehen, der aus dem schmutzigen Wasser des Grabens herausragte. Sie lag seitlich verdreht mit dem Rücken nach oben. Unter dem ursprünglich hellen Popelinmantel hatte sich eine Luftschicht gebildet, die den Stoff einem Ballon gleich aufblähte und im Augenblick keine weiteren Schlüsse auf den Zustand des Körpers zuließ.
Christoph stand zwar noch in gebührendem Abstand zur Toten, aber ihn schauderte es. Während seiner bisherigen Tätigkeit bei der Polizei war er Anblicken wie diesem selten begegnet. Er war dankbar, dass die routinierten Kollegen vom Erkennungsdienst die direkte Arbeit an der Leiche übernommen hatten.
Der Arzt hatte sich Handschuhe übergestülpt und tastete vorsichtig Kopf und Nacken der Frau ab, dabei bemüht, die Lage möglichst nicht zu verändern.
»Hier«, sagte er zu dem kleinen Kriminaltechniker und teilte die nassen, dreckverschmierten Haare. »Sie ist offensichtlich mit einem länglichen Gegenstand erschlagen worden.«
Jürgensen besah sich die Stelle, die ihm der Doktor wies.
»Sieht so aus«, stimmte Jürgensen zu. »Können Sie schon mehr erkennen?«
Der Mediziner schüttelte seinen Kopf.
»Nein, ob der Schlag auch die Todesursache war, wird erst die Autopsie zeigen. Im Augenblick steht nur fest, dass hier ein …«, er stutzte, fühlte noch einmal, »nein, offensichtlich mehrere Schläge ausgeführt wurden.«
Der Beamte mit der Kamera machte ein paar Detailaufnahmen aus der Nähe.
»Können Sie einmal mit anfassen, dass wir sie etwas höher ziehen und umdrehen«, bat der Arzt.
Der Mann vom Erkennungsdienst nickte und versuchte, seine immer noch in Grätschstellung auf beiden Grabenseiten stehenden Füße anders zu positionieren. Dabei rutschte er im nassen Bewuchs der Böschung ab, versuchte sich vergeblich zu halten und landete schließlich bis zum Knie im kalten schmutzigen Brackwasser.
»So ein verdammter Mist«, fluchte er, »jetzt ist mir die ganze Suppe in die Gummistiefel hineingelaufen.«
Beim zweiten Versuch gelang es den beiden schließlich, die Tote vorsichtig Stück für Stück auf den Grabenrand hochzuziehen. Dabei kam der Kopf seitlich zu liegen, sodass Christoph jetzt einen Teil des Gesichtes erkennen konnte. Es wurde von den schwarzen Haarsträhnen teilweise verdeckt, der Mund war leicht geöffnet. Der gebrochene Blick führte ins Unendliche.
Christoph schüttelte sich. Es war ein entsetzlicher Anblick, der ihn mit Sicherheit eine ganze Weile beschäftigen würde. Er musste tief schlucken und eine aufkommende Übelkeit unterdrücken. Verstohlen warf er einen Blick zu Große Jäger hinüber, der neben ihm stand. Dessen Adamsapfel bewegte sich heftig, die Wangen waren eingefallen, die tief liegenden Augen blickten entsetzt aus dem grauen Gesicht.
Die beiden Männer im Graben hatten die Tote jetzt auf den Rücken gelegt. Christoph bemerkte, dass der Popelinmantel zugeknöpft war. Nachdem der Fotograf erneut eine Reihe von Aufnahmen gemacht hatte, tastete der Doktor mit geschickten Händen Kopf und Hals des Opfers ab, dann schüttelte er den Kopf.
»Nichts!«, sagte er schließlich. »Hier kann ich im Augenblick nichts weiter feststellen. Tut mir Leid.«
Die Männer vom Erkennungsdienst hatten inzwischen damit begonnen, Plastiktüten über die Hände der Toten zu stülpen.
»Willst du einmal die Taschen kontrollieren?« Der kleine Mann mit der Seglermütze grinste Christoph breit an. Dieser schüttelte so heftig den Kopf, dass selbst Große Jäger lachen musste.
»Habe ich mir gedacht«, murmelte der Kriminaltechniker und untersuchte mit geschickten Händen die Manteltaschen. Aus der einen zog er ein Schlüsselbund mit zwei etwas größeren und einem kleineren Schlüssel hervor, aus der zweiten Tasche eine angebrochene Packung aufgeweichter Papiertaschentücher.
»Nichts weiter«, erläuterte er, »keine Papiere, kein Portemonnaie, keine Handtasche, also keine Identifikationsmerkmale.«
»Ich glaube, wir haben eine Ahnung, wer sie sein könnte«, würgte Christoph hervor. »Können wir das Schlüsselbund haben?«
Jürgensen war jetzt vom Graben auf den Feldweg zurückgekehrt. Er war über und über mit Schmutz bedeckt und sah erbärmlich aus.
Als er Christophs Blick begegnete, sagte er nur: »Es gibt ganz bestimmt angenehmere Jobs als diesen. Wenn ich da an unsere Verwaltungsheinis denke …«
Er ließ das Ende des Satzes im Raum stehen. Christoph musste ihm innerlich beipflichten.
Der Beamte des Erkennungsdienstes händigte das Schlüsselbund einem seiner Mitarbeiter aus, der damit in einem der Fahrzeuge der Kriminaltechnik verschwand, um bald darauf zurückzukehren und Christoph eine kleine Plastiktüte in die Hand zu drücken.
Jürgensen wischte sich die Hände an seiner Hose ab, wollte sie dann Christoph reichen, überlegte es sich aber schließlich doch anders. Christoph war ihm dankbar dafür.
»Wir werden hier noch eine Weile zu tun haben«, erklärte Jürgensen schließlich. »Ich werde aber sofort nach unserer Rückkehr nach Flensburg die weiteren Untersuchungen einleiten. Ich melde mich umgehend«, versprach er dann. »Und nun sage ich tschüss und nicht auf Wiedersehen, denn das hat in meinem Job immer einen tödlichen Beigeschmack.«
*
Sie kehrten zur Dienststelle zurück. Es lag nicht nur am schaurigen Wetter, dass eine weihnachtliche Stimmung bei den beiden Beamten nicht aufkommen wollte.
Harm Mommsen hatte Tee gekocht, Christoph saß an seinem Schreibtisch und trommelte nervös mit einem Kugelschreiber auf die Arbeitsplatte. Er war von einer unbestimmten inneren Unruhe erfasst.
Impulsiv sprang er plötzlich auf. »Ich muss es jetzt wissen«, sagte er.
Parallel lupfte sich Große Jäger von seinem Sitzmöbel, griff sich seinen immer noch durchnässten Parka und antwortete kurz entschlossen: »Ich komme mit.«
Harm Mommsen hatte über diesen unvollständigen und eigentümlichen Dialog irritiert von einem zum anderen geblickt, sich aber jedes Nachfragen verkniffen.
Sie nutzten jetzt das Auto, um den kurzen Weg zur Wohnung von Anne Dahl zurückzulegen, und parkten verbotswidrig direkt vor der Haustür. Christoph hielt das Schlüsselbund, das sie bei der Toten gefunden hatten, schon in der Hand. Nach einem vergeblichen Versuch mit dem ersten der großen Schlüssel probierten sie den zweiten. Er passte! Wie angewurzelt standen beide im Regen vor der geöffneten Haustür und sahen sich stumm an. Nun hatten sie die traurige Gewissheit.
Sie hatten Anne Dahl gefunden!
Der zweite Schlüssel passte zur Wohnungstür, der kleinere zum Briefkasten. In der Wohnung hatte sich seit ihrem ersten, illegalen Besuch nichts verändert. Es gab keine Anzeichen dafür, dass irgendjemand in der Zwischenzeit die Räume betreten hatte. Nun stand Christoph etwas bevor, was er nur von Erzählungen von Kollegen, aus Büchern oder Filmen kannte: Er musste Peter Dahl aufsuchen und ihn davon in Kenntnis setzen, dass seine Ehefrau mit hoher Wahrscheinlichkeit tot war.
»Und wo ist die Tochter?« Christoph richtete diese Frage an Große Jäger. »Was ist mit der Kleinen geschehen? Wo, verdammt noch einmal, ist das Kind?«
Der Oberkommissar wich Christophs Blick aus. »Ich würde viel darum geben, wenn ich das wüsste«, erwiderte er.
»Ich mache mir große Sorgen um Lisa«, sprach Christoph seine Befürchtungen aus.
»Wir sollten jetzt ganz schnell mit Peter Dahl sprechen«, nickte Große Jäger.
*
Daheim hatten sie ihn nicht angetroffen. Aus den Fenstern seiner Wohnung fiel kein Lichtschein auf die Straße. Große Jäger hatte angeregt, die in der Nähe liegenden Gaststätten abzusuchen, und in der dritten hatten sie ihn schließlich gefunden. Er saß mit dem Rücken zum Tresen und schien sich in einer erhitzten Diskussion mit zwei anderen Männern zu befinden.
Christoph trat von hinten an ihn heran. »Herr Dahl«, sagte er leise, fast flüsternd, »können wir Sie einmal sprechen?«
Dahl sah ihn, nahm einen Zug aus seiner Zigarette, blies Christoph den Rauch ins Gesicht und rülpste ihm aus kürzester Entfernung eine ekelhaft riechende Wolke entgegen. Große Jäger machte einen schnellen Schritt auf den Mann am Tresen zu, aber Christoph hielt seinen Kollegen zurück.
»Herr Dahl«, begann er noch einmal vorsichtig, »wir haben etwas Dringendes mit Ihnen zu bereden.«
Dahl schüttelte den Kopf. »Keinen Bock«, sagte er nur und nickte mit seinem Kopf über die Schultern für seine Mitzecher erklärend zurück: »Das sind Bullen.«
Die anderen beiden Männern lachten bei dieser Bemerkung. Es war eher ein meckerndes Lachen, das die ganze Verachtung gegenüber den beiden Beamten ausdrücken sollte, das herablassend klingen sollte, aber im Grunde nur ihre Unsicherheit gegenüber dieser Situation zeigte. Dahl stimmte wiehernd in das Lachen ein. Er machte keine Anstalten, sich den beiden Beamten zuzuwenden, eher schien es, als genieße er seine Position in Gegenwart der beiden Trinkgenossen.
Plötzlich griff ihn Große Jäger an den Oberarm. Mit einem kurzen Ruck riss er ihn vom Barhocker herunter, musste ihn kurz stabilisieren, damit er nicht das Gleichgewicht verlor, und zerrte ihn an einen unbesetzten Tisch in der Ecke. Das Ganze geschah so schnell und so überraschend, dass weder Dahl noch seine Kumpel reagieren konnten.
»Herr Dahl«, versuchte es Christoph erneut und bedeutete dem Wirt, dass er nichts trinken wollte, »wir müssen unbedingt mit Ihnen sprechen.«
Der Mann sah ihn irritiert an, schwieg aber.
»Sind Sie in Ordnung, Herr Dahl?«, fragte Christoph vorsichtig.
Dahl nickte.
»Wir haben die Vermutung, Ihre Frau gefunden zu haben.«
Ein unheimliches Erschrecken durchfuhr den Mann. Blankes Entsetzen stand in seinem Blick, die Mundwinkel zuckten unkontrolliert. Dann dauerte es lange, bis sich die Lippen öffneten.
»Nein!«, presste er hervor. »Das kann nicht sein!«
Christoph wartete eine Weile, bis er antwortete. »Leider ja. Die Frau, von der wir vermuten, dass es sich um Anne handelt, ist tot. Um endgültige Gewissheit zu bekommen, müssen wir Sie bitten, uns zu begleiten. Sie müssen Ihre Frau identifizieren.«
Dahl rührte sich nicht. Schließlich schüttelte er den Kopf, zuerst ganz langsam, dann immer heftiger.
»Nein, das kann ich nicht«, stieß er dabei hervor und wiederholte diesen Satz mehrfach. Dann fing er an zu zittern. Der ganze Körper bebte, die Zähne schlugen aufeinander, die Hände zuckten unkontrolliert vor dem Körper hin und her.
Sie ließen ihm ein wenig Zeit. Dahl stellte keine Fragen, nicht nach den näheren Umständen, nicht nach Zeit und Ort, keine einzige Frage. Er fragte auch nicht nach dem Verbleib seiner Tochter.
»Wir bringen Sie jetzt nach Hause«, hatte Christoph dann beschlossen. In diesem Zustand hätten sie den Mann nicht mehr zur Identifizierung der Toten führen können. Vorsichtig hakte sich Große Jäger bei Dahl ein und bugsierte ihn zur Ausgangstür.
»Was ist mit der Zeche?«, warf ihnen der Wirt hinterher.
Der Oberkommissar blinzelte ihn böse an. »Das geht aufs Haus«, gab er zurück. Die Art, wie er dies sagte, ließ keinen Widerspruch zu.
Als sie Dahl durch das Treppenhaus hinaufführten, öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Vor dem Hintergrund der warmen Beleuchtung, die in den Hausflur schien, war die Kontur des alten Herrn Grün zu erkennen. Obwohl sie sich leise bewegt hatten, fragte der alte Mann: »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Herrn Dahl geht es im Augenblick nicht gut«, gab Christoph eine vorsichtige Erklärung.
Grün schien die Situation auch ohne Worte zu verstehen.
»Warten Sie«, sagte er kurz, um in seine Wohnung zurückzuschlurfen. Kurz darauf erschien er wieder und zog die Tür seiner Wohnung hinter sich zu.
»Ich werde mich um ihn kümmern.«
Zu viert betraten sie Dahls Wohnung.
»Ich glaube, Herr Dahl hat ein großes Geheimnis«, murmelte der alte Mann mehr zu sich selbst.
*
Auf dem Weg zurück zur Dienststelle hatten sie das fast obligate Schnellrestaurant aufgesucht. Christoph hatte zwei Bissen zu sich genommen, dann aber angewidert den Pappbehälter von sich geschoben. Nach den Ereignissen dieses Tages konnte er nichts essen. Er war sich sicher, dass sein Magen umgehend rebelliert hätte.
Christoph sah aus dem Fenster. Was ist das für eine Welt, schoss es ihm durch den Kopf. Da werden Menschen in eine mysteriöse Angelegenheit verstrickt, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Ermordung einer Frau findet. Sie, die Kriminalisten, die Kollegen vom Erkennungsdienst mit ihrer undankbaren Aufgabe, der Arzt, insbesondere aber ein alter und ein zerstörter Mann, die jetzt in einer unscheinbaren Wohnung dieser Stadt saßen und nicht wussten, was der morgige Tag bringen würde. Im Widerspruch dazu stand der stille Lichterglanz, der so kurz vor Weihnachten festlich die Husumer Innenstadt erleuchtete. Das Fest der Freude stand bevor …
Als sie das Restaurant verließen, begegnete ihnen eine Gruppe junger Leute. Ein Jugendlicher, mit Ring im Ohr und gepiercter Augenbraue, steuerte zielsicher auf Große Jäger los und rempelte ihn an.
»Eh, du Penner, pass doch auf«, schimpfte der junge Mann und baute sich drohend vor dem Oberkommissar auf.
»Hast du Stinkmorchel mich gemeint?«, erwiderte Große Jäger. Er hatte sich dem Mann zugewandt und sah ihm in die Augen.
»Suchst du Putz, Alter?«
Die beiden Kontrahenten waren etwa gleich groß.
»Soll ich dich Zwerg noch weiter stutzen? Dann kannst du durch den Strohhalm direkt in die Milchtüte kriechen.« Große Jäger scheute die Auseinandersetzung nicht.
Die Begleiter des Aggressors verfolgten den Disput mit großer Anspannung, mischten sich aber nicht ein. Die Tatsache, dass sein vermeintliches Opfer so ungewohnt reagierte, verunsicherte den Mann. Als Große Jäger ihn jetzt auch noch an der Vorderseite seiner Jacke packte und ganz nah zu sich heranzog, warf er einen hilfesuchenden Blick über die Schulter zu seinen Freunden. Die rührten sich immer noch nicht.
»Nun sag schon ›Bitte, bitte‹, damit ich dir deine Zähne nach hinten verschieben kann«, drohte der Oberkommissar.
Christoph wurde die Situation zu heikel. Er wollte die Eskalation vermeiden und zog Große Jäger am Ärmel.
»Kommen Sie, wir haben Wichtigeres zu erledigen«, mahnte er.
Der Oberkommissar ließ von dem jungen Mann ab und drehte sich um.
»Fuck you!«, rief der gedemütigte Jugendliche ihm nach.
»Da kannst du sicher sein. Und nicht nur ins Knie«, warf Große Jäger über die Schulter zurück und folgte Christoph.
Als sie auf der Dienststelle zurück waren, saß Harm Mommsen noch an seinem Arbeitsplatz und sortierte Papiere. Mit Sicherheit war das keine Tätigkeit, die unbedingt heute und zu dieser späten Stunde hätte erledigt werden müssen. Vielmehr war es wohl das Pflichtbewusstsein dieses jungen Kollegen, das ihn noch am Schreibtisch hielt.
Er wurde von den anderen beiden über die Geschehnisse des Tages informiert.
Jetzt war es kurz vor Mitternacht. Jemanden um diese Zeit bei der Kriminaltechnik erreichen zu wollen, war eigentlich ein sinnloses Unterfangen. Christoph griff trotzdem zum Telefonhörer und wählte Flensburg an. Es dauerte eine Weile, bis auf der Gegenseite abgenommen wurde. Er hörte zuerst nur ein Schnauben, dann ein Niesen, dem folgte ein Räuspern, bis sich schließlich jemand meldete.
»K6 – Jürgensen!«
»Hallo, Klaus, hier ist Christoph Johannes aus Husum. Habt ihr schon erste Ergebnisse wegen der Toten von heute Nachmittag vorliegen?«
Wieder war ein Niesen zu hören, bis die nasal klingende Stimme endlich antwortete: »Ihr seid mir sonderbare Gestalten. Erst lockt ihr uns bei diesem verdammten Mistwetter in die Wildnis der Westküste«, erneut war ein Niesen zu hören, »und dann erwartet ihr Wunderdinge von uns. Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?« Versöhnlicher fuhr die Stimme am anderen Ende der Leitung fort: »Die letzte Leiche, die wir hatten, war ein erschossener Zuhälter aus dem Rotlichtmilieu im Flensburger Hafen. Den hatten die Kumpels wenigstens in einem trockenen und geheizten Raum umgebracht. Aber ihr müsst eure Leichen ja immer in wassergefüllten Gräben ablegen.«
»Und, was ist, gibt es schon erste Ergebnisse?«, wollte Christoph wissen, ohne auf die Frotzeleien des kleinen Mannes vom Erkennungsdienst einzugehen.
»Meinst du«, gab dieser zurück, »ich sitze um diese Zeit hier, weil bei mir zu Hause die Toilettenspülung nicht funktioniert?« Christoph hörte Papier rascheln. »Der Doktor sagt, die Tote ist mit einer dünnen Metallstange von einem Rechtshänder erschlagen worden. Es waren wahrscheinlich drei heftig geführte Schläge. Moment mal.« Erneut raschelte Papier. Christoph sah vor seinem geistigen Auge, wie Jürgensen mit einer roten Erkältungsnase in seinen Unterlagen wühlte. »Hier ist es«, meldete er sich wieder. »Schädelbruch. Durch die mit großer Gewalt geführten Schläge wurde die hintere Zerebralarterie zerstört. Das führte zu einer inneren Blutung, die auf das Gehirn gedrückt hat. Der Medizinmann nennt das Epiduralhämatom. Damit war sie aber noch nicht tot, sondern nur bewusstlos. Sie ist dann zum Graben gebracht worden und dort ertrunken. Es wurde Wasser in der Lunge gefunden.«
Christoph konnte nichts Tröstliches an dem Gedanken finden, dass die Frau davon nichts mehr gespürt hatte.
»Weitere Spuren waren nicht mehr erkennbar. Kein Wunder, wenn jemand mehrere Wochen im Wasser liegt …« Jürgensen ließ das Ende des Satzes offen.
»Gibt es sonst noch etwas?«, nahm Christoph den Faden wieder auf.
»Wer glaubt eigentlich immer, dass wir nichts tun?«, entrüstete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung, sodass Große Jäger auflachte und auch Mommsen sich zu einem Schmunzeln hinreißen ließ. Beide hörten das Telefonat mit. »Ihr mit eurem verdammten Mistwetter. Erst hat es geregnet, dann war der Boden durchgefroren, dann wieder aufgetaut und erneut durchgesumpft. Dabei bleiben alle Spuren auf der Strecke. Wir haben keine Schleifspuren oder Ähnliches entdecken können. Die Fußabdrücke, die wir genommen haben, gehörten dem alten Mann, der die Tote gefunden hat, und den beiden neugierigen Trampeln.«
»Welche Trampel?«, fragte Christoph nach.
»Eure beiden Kollegen. Müssen wohl Einheimische von der Westküste sein.« Jürgensen nieste erneut.
»Was soll das heißen?« Christoph war es leid, diesem Menschen alles einzeln aus der Nase ziehen zu müssen.
»Die sind am Fundort der Leiche herumgetrampelt wie eine Herde nordfriesischer Kühe«, näselte es durch den Draht. Dann wurde Jürgensen wieder ernst. »Nein, sonst haben wir nichts finden können. Keine Spuren, keinen weiteren Hinweis. Der Doktor ist allerdings noch nicht ganz fertig. Da müsst ihr morgen früh noch einmal nachfragen.«
Christoph bedankte sich und wünschte dem Kollegen eine gute Nacht und vor allem gute Besserung. Um diese Uhrzeit konnten sie nichts mehr bewirken, zumal auch die aufkommende Müdigkeit bei allen Spuren hinterließ.