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Der Westerbork
Max’ Verhältnis mit Tsjallingtsje hatte im Laufe der Jahre den ruhigeren Charakter einer Ehe angenommen. Wenn sie zum Orgasmus kam, rief sie immer noch »O Gott! O Gott!«, aber aus ihrer Wohnung hatte sie ausziehen müssen, die Buchhandlung, über der sie gewohnt hatte, war von einem großen Verlagskonzern übernommen worden, der ihre Räume für die Lagerung heruntergesetzter englischer Kunstbände benötigte.
Max hatte dafür gesorgt, daß sie in ein rustikales, an ein Hexenhäuschen erinnerndes Haus am Dorfrand von Westerbork ziehen konnte, in dem ein verdruckster Elektrotechniker aus Dwingeloo bis zu seinem Ruhestand junge Bauernburschen empfangen hatte. Dabei hatte Max auch das Ende von Groot Rechteren im Kopf gehabt und den Zeitpunkt, an dem Quinten aus dem Haus gehen und sich seine und Sophias Wege trennen würden. Hinten in dem verwilderten Garten stand ein Holzschuppen, der die gesamte Breite des Grundstücks einnahm und eigentlich viel zu groß war für den Platz, aber er konnte ihn zu einem Studio für sich umbauen lassen; in letzter Zeit hatte er sich manchmal dorthin zurückgezogen, wenn er ungestört arbeiten wollte. Mit Tsjallingtsje hatte er nie über Zukunftspläne gesprochen, und sie hatte auch nie etwas in diese Richtung angedeutet, aber da sie von seinem Versprechen wußte, das Kind seines Freundes aufzuziehen, der seit vier Jahren verschwunden war, wußte sie natürlich auch, daß danach eine neue Situation entstehen würde.
In Dwingeloo hatte sie von dem Reinfall mit dem VLBI gehört und vielleicht um ihn zu trösten den Tisch festlich gedeckt, in einem Kühler stand sogar Champagner. Sie trug einen grellroten Morgenmantel, der bis zum Boden reichte, wodurch sie noch größer wirkte, und obwohl sie gleich groß waren, umarmte sie ihn wie die Größere den Kleineren: sie mit den Armen um seinen Hals, er mit den Händen auf ihren hohen Hüften, was sofort eine Änderung seines chemischen Haushaltes zur Folge hatte.
»Du weißt wenigstens, was einem enttäuschten Forschergeist guttut«, sagte er und zog sein Jackett aus. Er ließ sich auf die Couch fallen, und mit einem Glas rosaroten Champagner erzählte er von dem weltweiten astronomischen Debakel, das Hunderttausende gekostet habe, vielleicht sogar Millionen. »Aber ist es nicht eigentlich wunderbar, daß so etwas möglich ist? Es hätten Tausende von Kindertagesstätten davon gebaut werden können, und wenn der Versuch geglückt wäre, hätte trotzdem kein einziger Mensch etwas davon gehabt. Daß das alles immer noch möglich ist, versöhnt mich ein wenig mit der Menschheit. Und es heißt auch, daß der Homo sapiens sapiens seiner neugierigen Kindheit noch nicht ganz entwachsen ist. Erst wenn die Kurzsichtigkeit endgültig durchschlägt und die Bedeutung der Dinge nur noch entsprechend ihrer Funktion für die unmittelbare Gegenwart angesehen wird, geht es den Bach hinunter. Hör mir bitte zu, ich rede wie gedruckt.«
»Du meinst, der Mensch muß über seine Nasenspitze hinausschauen.«
»In meinem Fall ist das eigentlich kaum möglich.«
Vielleicht war es auch ihre Art zu lachen, die ihm an ihr so gefiel. Er konnte sich nicht erinnern, Sophia je richtig lachen gesehen zu haben, und Ada eigentlich auch nicht; aber Tsjallingtsjes strenges Gesicht war immer drauf und dran, sich von einem Augenblick auf den anderen völlig zu verwandeln.
Vielleicht war das Talent zu lachen genau das, worauf es im Grunde ankam, mehr als auf die Fähigkeit zu intellektuellen Kraftakten.
Als sie in der Küche war, warf er mit verschränkten Armen einen Blick auf die Abendzeitung, die halb zusammengefaltet neben ihm auf der Couch lag. Ohne sie in die Hand zu nehmen und aufzublättern, überflog er die Schlagzeilen, die vom Umschwung in Moskau handelten. Auch dort war offenbar eine Art Rotverschiebung im Gange – oder eher das Umgekehrte, eine politische Violettverschiebung: etwas bewegte sich mit großer Geschwindigkeit auf die Menschheit zu, da die Expansion des politischen Weltraums in eine Kontraktion umgekippt war. Er legte die Beine auf die Couch, und als er die Augen schloß, standen ihm sofort wieder die absurden Meßergebnisse vor Augen. Vielleicht war es nur der Champagner, aber aus irgendeinem Grund hatte er plötzlich das Gefühl, daß dennoch ein Sinn darin enthalten war.
Bei Tisch fiel ihm auf, daß Tsjallingtsje wieder einmal über ihre Verhältnisse eingekauft hatte. Es gab Austern, zu denen sie wieder Champagner tranken, und als sie dann mit einem Rehrücken aus der Küche kam und ihm eine Flasche Volnay zum Entkorken gab, war er ganz sicher, daß etwas dahintersteckte.
»Heraus damit, Tsjal«, sagte er, während er mit ihr anstieß, »was ist es? Habe ich ein Datum vergessen?«
Über das Glas hinweg sah sie ihn an und schluckte, er spürte, daß es sie Mühe kostete, zu reden.
»Ich hoffe, daß du mir nicht böse sein wirst, Max, aber ich wünsche mir, daß es ein Datum gibt, das wir nicht vergessen werden.«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Ich will ein Kind von dir.«
Regungslos erwiderte er ihren Blick. Wie ein Feuerpfeil durch ein offenes Fenster flogen die Worte in seinen Kopf. Er hatte schon hie und da vermutet, daß es sie beschäftigte, aber daß sie so unumwunden und bestimmt damit herausrücken würde, hatte er nicht erwartet. Und noch ehe er selbst wußte, wie seine Reaktion auf diese Mitteilung ausfallen würde, war er aufgestanden und hatte sich zu ihr gekniet, die Arme um ihre Taille und sein Gesicht in ihrem Schoß verborgen. Tsjallingtsje begann zu weinen. Sie nahm seine Hand und drückte ihre Lippen auf die Innenseite, während sie mit der anderen durch sein dickes graues Haar fuhr. Seine Gedanken überschlugen sich. Natürlich! So mußte es sein! Und es war, als ob in dem Tumult eine Stimme ununterbrochen wiederholte: »Alles wird zurechtgerückt! Alles wird zurechtgerückt!« Er wollte nachdenken, mit sich ins reine kommen, am liebsten wäre er auf der Stelle durch die Verandatür in den Garten gegangen.
Er sah sie an.
»Sei ganz ehrlich: Bist du schwanger?«
»Nein, natürlich nicht, wofür hältst du mich? Meinst du etwa, ich will dich erpressen? Aber ich möchte ein Kind von dir, auch wenn du es nicht willst. Ich bin jetzt sechsunddreißig, und es wird mit jedem Jahr kritischer, wie du vielleicht weißt. Wenn ich noch ein paar Jahre warte, werden die Kinder mongoloid.«
»Ich kenne ein sehr nettes mongoloides Kind.« Da der rauhe Kokosteppich langsam anfing, die Knie zu malträtieren, ging er in die Hocke. »So also ist die Lage: ein Kind mit mir oder ohne mich, aber auf jeden Fall ein Kind.«
»Ja.«
»Und wenn ich nun nicht gewollt hätte, was dann? Hättest du dann einen anderen genommen?«
»Das weiß ich nicht. Und so etwas fragt man auch nicht.«
»Es ist dir natürlich klar, daß ich siebzig sein werde, wenn dein Kind achtzehn wird?«
»Es gibt keinen idealeren Vater als einen Großvater, das weiß doch jeder.«
»Nun gut, das wäre also klar.« Er stand auf, legte die Arme um ihren großen Körper und küßte sie. »Laß dir morgen die Spirale herausnehmen. Und dann wirst du natürlich auch heiraten wollen.«
»Das ist mir egal. Meinetwegen muß es nicht sein.«
»Und dein Vater, der Prediger?«
»Wenn du mich fragst, glaubt der schon lange nicht mehr an Gott.«
»In was für einer Welt leben wir bloß?« rief Max mit einem Gefühl, als ob er Onno zitierte.
In einem Zug leerte er sein Glas und schenkte sich nach, und als er wieder vor seinem Teller saß, besprachen sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung. Wenn alles gutging, würde Quinten nächstes Jahr Abitur machen und vielleicht ein Studium anfangen, auch wenn er nie etwas in dieser Richtung angedeutet hatte; und ungefähr zu dieser Zeit wäre dann auch ihr Kündigungsschutz im Schloß abgelaufen. Sophia hatte sich nie über ihre Pläne danach geäußert, aber so wie er sie kannte, wußte sie längst, was dann anstehen würde.
»Trink nicht so viel«, sagte Tsjallingtsje und stellte eine neue Flasche auf den Tisch.
»Und ob ich viel trinke. Ich habe sogar vor, heute abend eine ganze Menge zu trinken. Ist dir eigentlich klar, daß auch ich zum ersten Mal Vater werde, wenn’s klappt?« Mit beiden Händen rieb er sich das Gesicht. Plötzlich hatte sich die Welt verändert. Die ganzen siebzehn Jahre, die er mit Sophia und Quinten verbracht hatte, schienen plötzlich wie von einem Windhauch weggeblasen zu sein. Alles fing wieder von vorn an, aber jetzt solider, eindeutiger. Er stand auf und schwankte leicht.
»Möchtest du keinen Kaffee?«
»Sei mir nicht böse, aber ich muß einen Augenblick allein sein. Ich geh kurz in den Schuppen.«
»Jetzt in den Schuppen? Du bist einigermaßen angesäuselt, Max, warum gehst du nicht nach oben?«
»Laß mich nur.«
Er küßte sie auf die Stirn, machte die Tür auf und ging mit der Flasche und dem Glas in den Garten. Es war schon dunkel, und über den Bäumen stand der Mond in seinem dritten Viertel. Auf halbem Wege stützte er sich kurz mit dem Flaschenboden auf den riesigen Findling, der sich aus der Erde hochgearbeitet hatte und ihm bis zur Taille reichte; als er sich wieder in der Gewalt hatte, machte er im Schuppen Licht und ließ sich unter der nackten Glühbirne mit einem Seufzer in den verschlissenen Korbstuhl sinken. Die Tür ließ er offen. Irgendwann war dieser Raum vielleicht als Lager oder als Werkstatt benutzt worden, vielleicht hatte in Tsjallingtsjes Haus einmal ein Zimmermann gewohnt. In Augenhöhe befanden sich einige Fenster.
Er schenkte sich ein und wunderte sich amüsiert über die Rätselhaftigkeit des Daseins. Es war, als ob Tsjallingtsjes sechs Wörter seinem Leben einen neuen Impuls gegeben hätten. Seit er ›im Dienste‹ Onnos mit Quinten und Sophia auf Groot Rechteren wohnte, hatte sein ureigenes Leben nur noch in den Kategorien der Vergangenheit existiert, doch jetzt, schien ihm, war er um hundertachtzig Grad gedreht worden und stand plötzlich mit dem Gesicht zur Zukunft, wo er zwar nichts Konkretes unterscheiden konnte, da es sie ja noch nicht gab, wo aber dennoch irgendwo etwas da war wie eine dunkle Raum-Zeit voller wimmelnder Möglichkeiten.
Mit einem Schlag hatte Tsjallingtsje das Ende einer verzwickten Konstellation eingeläutet, in der er siebzehn Jahre lang gelebt hatte. Ein Baby in einem Laufstall. Quintens Laufstall und das zerlegte Kinderbett mußten noch irgendwo im Keller stehen. Ihm war, als ob die Aussicht auf ein Kind, das ohne Zweifel von ihm sein würde, Quinten nun endgültig zu Onnos Sohn machte. In der Zeitung hatte er gelesen, daß es seit kurzem möglich sei, die Vaterschaft durch eine DNS-Untersuchung zweifelsfrei festzustellen, aber seine diesbezüglichen Ängste waren seit langem verschwunden. Äußerlich hatte Quinten weder Ähnlichkeit mit Onno noch mit ihm, nur an Ada, an die Ada vor dem Unfall, hatte er sich manchmal erinnert gefühlt, wenn er Quinten unbemerkt beobachtete, dessen geisteswissenschaftliche Interessen ohnehin viel stärker in Onnos Richtung zeigten als in seine. Daß Musik ihm wenig zu sagen schien, bestätigte das nur, er hatte nicht einmal eine Stereoanlage in seinem Zimmer. Vielleicht ähnelte dieser unbegreifliche Junge überhaupt niemandem. Als das reglose, langsam eingehende Häufchen Elend im Krankenhausbett vor seinen Augen auftauchte, rieb er sich mit beiden Händen das Gesicht, als klebe das Bild auf der Haut. Er nahm einen Schluck und hatte das Gefühl, jetzt endlich imstande zu sein, der Existenz dieser lebenden Toten eigenhändig ein Ende zu machen. Aber wie? Mit einem Messer? Und warum nicht mit einem Messer? Warum, fragte er sich, würde sofort ein Aufschrei des Entsetzens durch die Welt gehen, wenn sich herausstellte, daß in irgendeinem Krankenhaus die todgeweihten Patienten im Keller mit einer Guillotine geköpft wurden?
Oder in einem Hof mit einem Genickschuß? Nur weil das an Hinrichtungen erinnerte? Oder weil dadurch allzu deutlich würde, daß töten töten war und eben nicht etwas wie entschlafen‹? Vielleicht war letztlich alles eine Frage der Wörter? Die Deutsehen hatten den Massenmord an den Juden Endlösung genannt. Was war schöner als die Endlösung von etwas, das endgültige Ergebnis, die entscheidende restefreie Lösung? Es war fast so etwas wie die Theory of Everything der Physiker. Mit halbgeschlossenen Augen sah er das rostige Rot in seinem Glas und dachte an Onno. Darüber würde er jetzt gerne mit ihm reden, über die Sprache als Tarnung der Realität. Vermutlich würde er das als zu abgegriffen sofort von der Hand weisen und für pubertierende Jünglinge reservieren wollen, dann aber doch einige unerwartete Dinge zum besten geben. Wo war Onno? Was machte er in diesem Moment? Dachte er jetzt vielleicht auch an ihn? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte er alle vollkommen aus seinem Gedächtnis verbannt – nicht nur ihn, sondern auch Quinten und Ada und Sophia. Vielleicht lebte er gar nicht mehr. Vielleicht war er irgendwo auf Kreta in eine Höhle gekrochen, wo man in fünfzig Jahren seine Knochen finden und sie zunächst für die des Schreibers des Diskos von Phaistos halten würde, bis man mit der C -Methode feststellte, daß es sich hier leider nur um einen niederländischen Politiker vermutlich kalvinistischer Herkunft handle.
Tsjallingtsje hatte ohne Licht zu machen den Fernseher eingeschaltet, der Widerschein des Bildes flackerte durch das Zimmer, als ob es ständig kleine Explosionen gäbe. Er hatte das Gefühl, daß er sie jetzt eigentlich nicht allein lassen sollte, aber er wollte noch einen Moment nachdenken, oder besser: sich auf seinen Gedanken weitertreiben lassen wie auf einer Luftmatratze im Meer. Zu Hause saß jetzt auch Sophia allein in ihrem Zimmer und sicher auch Quinten in dem seinen, jeder saß allein in seinen vier Wänden. In letzter Zeit machte er sich manchmal Sorgen um Sophia: Sie saß oft stundenlang reglos in ihrem Stuhl, stierte vor sich hin und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Wenn er dann eine Bemerkung dazu machte, schreckte sie auf und sah ihn verwundert an.
Von seinen Urlaubsreisen her erinnerte er sich an französische und italienische Familien, die abends an langen Tischen unter würdigen, verwachsenen Olivenbäumen zusammensaßen und selbst wie Bäume waren, mit steinalten Urgroßvätern und Urgroßmüttern und all ihren Verzweigungen und Verästelungen, den Kindern, Enkeln, Urenkeln, Neffen, Nichten und unzähligem, angeheiratetem Volk, bis hin zu den Säuglingen an der Brust, die Tische über und über beladen mit Speisen und Wein: das alles kannte er nicht. Nur in Onnos Verwandtschaft gab es das, wenn auch in kleinerem holländischem Rahmen. Aber diese Urlaubsreisen lagen lange zurück, in Zeiten des verhängnisvollen Sportwagens. Seit er mit Quinten und Sophia auf dem Schloß lebte, waren sie selten ins Ausland gefahren, alle paar Jahre einmal nach Südfrankreich oder Spanien, aus einer Laune heraus, wenn das Wetter Anlaß dazu gab. Schöner als auf Groot Rechteren konnte es ohnehin nirgends sein. Er selbst hatte kein Bedürfnis mehr zu reisen, jedes Jahr mußte er einige Male zu einer Konferenz irgendwo auf der Welt und freute sich jedesmal, wenn er wieder zu Hause war. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, daß er nie bis zur Spitze der internationalen Astronomenszene hatte vordringen können. Er kannte zwar jeden, und jeder kannte ihn und schätzte seine Arbeit, aber während des offiziellen Abschlußdiners saß er dennoch nie an dem runden VIP-Tisch beim Bürgermeister oder Minister wie sein Kollege Maarten Schmidt von CalTech.
Während er sich wieder einschenkte und ein Auge zukniff, um nicht das Glas zu füllen, das gar nicht dastand, dachte er an seine erste Fahrt in den Süden, einige Jahre nach dem Krieg. Der überwältigende Eindruck, den das Licht dort auf ihn gemacht hatte, und die Farbe des Mittelmeeres, die er später im Blau von Quintens Augen wiederfand! In seinem Studentenzimmer in Leiden hatte er diese Farben manchmal kurz nach dem Aufwachen, aber noch bevor er die Augen öffnete, gesehen, aber sobald er sie aufschlug, waren sie von einem grauen holländischen Morgen verschluckt worden. Als er zum zweiten Mal an der Riviera war, hatte er sich etwas ausgedacht, um diesen Schock wiedergutzumachen. Beim Aufwachen dort stellte er sich mit geschlossenen Augen vor, wieder in dem verregneten Leiden zu sein, wo seine Erinnerung an das mediterrane Bild mit dem allerersten Blick vernichtet werden würde. Wenn er sie dann aber tatsächlich öffnete, war es wirklich da! Das Meer aus Lapislazuli: ein glückseliges Wunder! Unmittelbare Bewegung, schneller als Licht! Das Meer –. Nachts war das Meer schwarz – aber daran wollte er jetzt nicht denken. Wie hieß sie noch? Marilyn. Ihre Maschinenpistole. Gott und die Erfindung der Zentralperspektive; der Fluchtpunkt, durch den seit dem fünfzehnten Jahrhundert nichts mehr hindurchkam, weder von der einen noch von der anderen Seite. Sie mußte jetzt um die Vierzig sein und war mit Sicherheit schon längst wieder in den Vereinigten Staaten, irgendwo in einem Provinznest, wo sie als Kunstgeschichtslehrerin und Mutter dreier Kinder lebte und mit einem Anwalt verheiratet war, den der Schlag treffen würde, wenn er etwas über ihre revolutionäre Vergangenheit erführe.
Plötzlich kam ihm in einer noch ferneren Vergangenheit das Schlafzimmer seiner Mutter in den Sinn: die offenen Schubladen und Schränke, ihre Kleider in einem Haufen auf dem Boden. Es würde nie aufh ören. Wie Onno immer sagte: Verwandtschaft währt am längsten. Tsjallingtsje wußte nichts von alldem, vielleicht wäre es an der Zeit, ihr langsam etwas über den Großvater und die Großmutter ihres Kindes, das sie von ihm haben wollte, zu erzählen. Wie sollte es überhaupt heißen? Octave? Octavia? Nach Onnos Eins-zu-zwei-Theorie des einfachsten konsonanten Intervalls? Das Geschlecht schien man ja heutzutage bereits während der Schwangerschaft mit Ultraschallecho feststellen zu können, und das mit einem ganz ähnlichen Prinzip, das Quinten für sein Historioskop benötigte. Es würde natürlich ein Mädchen, da war er sich ganz sicher. Er sah durch die offene Tür zum Haus. Der Fernseher lief nicht mehr, und oben im Schlafzimmer brannte Licht. Sie las wohl noch, Die Brüder Karamasow, die er ihr verordnet hatte, und wartete auf ihn. Langsam sank sein Kopf vornüber, und seine Augenlider schlossen sich kurz. Mit einem Ruck kam er wieder zu sich und seufzte einige Male tief.
Er schenkte sich nach, lehnte sich mit dem Hinterkopf an die Rückenlehne und schaute durch den Schuppen hinaus. Es kam ihm vor, als spüre er sein Leben wie ein großes Ding, um das er seine Arme legen konnte wie um einen viel zu großen Hund auf dem Schoß. Alles nahm ständig zu, alles wurde immer komplizierter, war wie eine Eichel, die einen winzigen symmetrischen Keimling austrieb, der zu einer knorrigen Eiche heranwuchs, die in nichts an ihren fast geometrischen Ursprung erinnerte. Obwohl sie doch diesen Ursprung, diese Form gehabt hatte. Wie konnte das eine in das andere übergegangen sein? Und wenn das nicht zu erklären war, wie konnte dieser Übergang dann überhaupt stattgefunden haben? Die Probleme, überlegte er, lagen nicht in dem, was geschah, denn das war einfach das, was eben geschah, sondern in dem, wie dieses Geschehen denkbar war. Das Weltall war aus einem homogenen Ursprung entstanden – wie konnte es dann jetzt so aussehen, wie es aussah, mit einer Verteilung der Sternensysteme, die so war, wie sie war, und nicht anders? Warum war nicht alles homogen geblieben? Warum war die Erde anders als die Sonne? Und die Sonne anders als ein Quasar? Wie konnte hier ein Stuhl stehen und dort eine Harke liegen? Wie konnte er selbst existieren und anders sein als Onno? Wie konnte er jetzt etwas anderes denken als vorhin, und nachher wieder etwas anderes als jetzt? Was war unterdessen passiert? Oder war der Ursprung vielleicht doch nicht homogen gewesen? Natürlich kannte er die Theorien über die initiellen Quantensprünge, aber erklärten die den Unterschied zwischen ihm und Onno? Er betrachtete die Bretter des Schuppens, die alle ähnlich aussahen, weil sie so zurechtgemacht worden waren. Aber sie waren nicht alle gleich: das eine war etwas breiter als das andere, etwas dunkler, etwas heller, und eines sah aus, als ob etwas hineingekerbt worden war. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, was es war.
Da er fand, daß er es herausfinden mußte, erhob er sich stöhnend aus dem Stuhl. Es waren Buchstaben und Zahlen, dünn und fast unleserlich; er lehnte sich mit einer Hand gegen das Brett und legte die andere über ein Auge.
Gideon Levi. 8. 3. 1943.
Er stützte sich auch mit der anderen Hand am Brett ab und ließ erschöpft den Kopf hängen. Der Schuppen stammte aus Westerbork. Vor zweiundvierzig Jahren hatte ein Junge das wahrscheinlich mit dem Taschenmesser eingekerbt. Nachdem er im Gas umgekommen war, hatte jemand den Schuppen gekauft und hier in seinem Garten aufgestellt. Durch das kleine Fenster, das er jetzt einordnen konnte, sah er das Haus.
Er wollte Tsjallingtsje davon erzählen und sagen, daß der Schuppen gleich morgen abgerissen werden müsse, aber im Schlafzimmer war kein Licht mehr. Auf den Giebel fiel blaß das Licht des Mondes. Er schaute sich um. Der Raum war zu klein, um als Wohnbaracke gedient zu haben, vielleicht war es eine Schule gewesen, oder das Nähzimmer. Vielleicht hatte man seine Mutter hier arbeiten lassen. Indem er hier und dort Halt suchte, tastete er sich zurück zum Stuhl, ließ sich hineinfallen und hielt die Flasche umgekehrt über das Glas.
Dann mußte er eingeschlafen sein, denn er wachte plötzlich auf, weil er fror und es im Schuppen feucht geworden war; trotzdem stand er nicht auf, um die Tür zu schließen. Es war nach zwölf, und er wußte, daß er betrunken war und ins Bett gehen sollte, aber er hatte auch das Gefühl, sein Hirn könne unter oder hinter der Trunkenheit ungehindert arbeiten – vielleicht sogar ungehinderter als in nüchternem Zustand.
Mit geschlossenen Augen wippte er im Stuhl vor und zurück und dachte an den Computerausdruck von heute nachmittag. War das Ergebnis wirklich so unsinnig? Er hatte die Seiten genau vor Augen, als hätte er sie tatsächlich vor sich liegen. Und plötzlich war es, als ob ihm ein großes Licht aufginge: Er begriff alles! In einem unteilbaren Augenblick war alles zusammengekommen – aber was war es? Er wußte die Antwort, aber es schien, als ob sie ebenso schwer zu entwirren sei wie die Frage selbst. Die sogenannte unendliche Geschwindigkeit von MQ 3412 war kein Fehler, wie alle seine Kollegen auf der ganzen Welt jetzt annahmen, sondern offenbarte eine Konstellation, an die keiner gedacht hatte! Es war wie mit der Entdeckung des Penicillins durch Fleming: Sein Assistent hatte eine Petrischale mit einer Staphylokokkenkultur beiseite gestellt, um sie in den Mülleimer zu werfen, weil sie verschimmelt war; als Fleming aber nochmals genau hinsah und feststellte, daß die Bakterien nicht das Pénicillium angegriffen hatten, sondern im Gegenteil das Pénicillium die Bakterien, rettete das Millionen von Menschen das Leben und brachte ihm den Nobelpreis ein. Den Nobelpreis! Es gab keinen Nobelpreis für Astronomie, wohl aber für Physik. Seine Gedanken schweiften ab nach Stockholm, wo er im Frack auf der Bühne in dem Kreis mit dem N stehen würde, mit der goldenen Medaille um den Hals, aus der Hand des Königs – oder zumindest würde er die Ehrendoktorwürde verliehen bekommen, in Uppsala Er schob seine Spinnereien beiseite und zwang sich, seine Entdeckung so genau wie möglich zu durchdenken. Die vermeintliche unendliche Geschwindigkeit wies auf eine perspektivische Verzerrung hin! Es war wie mit dem Fluchtpunkt: Am Horizont liefen die Schienen zusammen, kein Zug käme da durch, er würde in diesem Punkt entgleisen, vernichtet – und auf der anderen Seite gab es nichts mehr. Und dennoch fuhren die Züge weiter, sowohl von der einen als auch von der anderen Seite. Quasar MQ 3412 war gar kein Quasar! Oder vielleicht war es doch ein Quasar, aber jeder hielt ihn für etwas anderes, weil sich in einer geodätisch geraden Linie dahinter und von ihm verdeckt ein anderes Objekt befand, das noch viel weiter entfernt war. Vielleicht enthielt es kein schwarzes Loch, sondern die Ursingularität selbst: den Punkt am Firmament, an dem der Big Bang noch sichtbar war! Vielleicht hatte der VLBI letzte Nacht Signale empfangen, die von der anderen Seite her diesen Fluchtpunkt durchquert hatten – oder besser: den Erscheinungspunkt!
Auch schwarze Löcher, aus denen theoretisch keine Information dringen konnte, erwiesen sich bei näherem Hinsehen als durchlässig wie ein Sieb. In einer negativen Raum-Zeit waren plötzlich all diese Unendlichkeiten, auf die die Theoretiker in hren mathematischen Beschreibungen ständig stießen, sichtbar geworden. In weniger als einer 10–43stel Sekunde nach dem Moment 0, der Planckzeit, war das hypermikroskopische All ein theoretisches Irrenhaus; für den Moment Zero ergaben die Berechnungen ein paradoxes All mit einem Umfang von Null, einen mathematischen Punkt also, und zugleich mit einer unendlichen Dichte, einer unendlichen Krümmung der Raum-Zeit und unendlich hoher Temperatur. Dort brachen sowohl die allgemeine Relativitätstheorie als auch die Quantentheorie zusammen. Alle waren sich darüber einig, daß eine neue, übergreifende Theorie nötig war, um weiter darüber reden zu können; das Auftauchen von Unendlichkeiten wurde immer schon als Zeichen dafür gewertet, daß theoretisch irgend etwas grundsätzlich nicht stimmte, aber es gab sie, diese Theorie, tatsächlich, und vor vierundzwanzig Stunden war sie wahrgenommen worden! Nur dachte keiner daran, die Phänomene so zu interpretieren: die gesamte Kosmologie war das Opfer einer Sinnestäuschung! Und es wäre doch absurd, wenn der Anfang des Alls nicht mit Unendlichkeiten einherginge. Wenn etwas aus nichts entstand, so war das doch eine vollkommen andere Sache, als wenn etwas aus etwas anderem entstand – das Unbegreifliche war doch gerade die Essenz der Tatsache, daß die Welt existierte, und nicht, daß sie nicht existierte! Er richtete sich auf. Und jetzt schlafen, und morgen sofort alles ausarbeiten und veröffentlichen, ehe ein anderer dieselbe Idee haben würde.
Statt aufzustehen hielt er die Flasche noch einmal über das Glas. Da nichts mehr herauskam, wollte er sie irgendwo abstellen, aber sie fiel ihm aus der Hand. Er streckte den Arm aus, um sie zu fassen, aber weiter kam er nicht. Das Kinn sank ihm auf die Brust. Dann schoß ihm durch den Kopf, daß seit einigen Monaten eine neue physikalische Theorie für Aufregung sorgte, die möglicherweise Quantentheorie und Relativitätstheorie miteinander versöhnen würde: die große Unifikation – die lang gesuchte Theorie von allem! Im Sommer würde zu diesem Thema in Bari eine große Konferenz stattfinden – sollte er da nicht hingehen? Bisher hatten Elementarteilchen wie Elektronen immer als punktförmig gegolten, null-dimensional, was bedeutete, daß ihre Energie und damit auch die Masse in diesem Punkt unendlich groß waren, merkwürdigerweise jedoch hatte sich niemand je sonderlich um diese Unendlichkeiten gekümmert, doch mittlerweile wunderte er sich nicht mehr über solche Inkonsequenzen: in der Wissenschaft war es nicht anders als in der Politik. Die neue Theorie ging davon aus, daß Elementarteilchen nicht null-, sondern eindimensional seien: superkleine Saiten in einer zehn-dimensionalen Welt. Nicht nur die Teilchen, auch die vier fundamentalen Grundkräfte und siebzehn Naturkonstanten könnten aus dem Schwingungszustand von ansonsten völlig identischen Saiten abgeleitet werden. Saiten! Das Monochord!
Pythagoras! Kam die Wissenschaft wieder dahin, wo sie begonnen hatte? War das Wesen der Welt die Musik? Adas Bild erschien vor seinen Augen, das Cello zwischen den gespreizten Beinen. »Das Wesen aller Dinge sind Zahlen«, hatte Pythagoras gesagt. Die Zehn war für ihn die heilige Zahl, nachzählbar an den eigenen Fingern, ebenso wie die Zehn Gebote und die zehn Dimensionen der Supersaitentheorie. Die Zehn war »die Mutter des Universums«, und er erinnerte sich an etwas, das er als Junge gelesen hatte: an Pythagoras’ mystische Tetractys, die Vierfältigkeit, die symbolische Abbildung des Spruchs »Eins, zwei, drei, vier«, mit dem seine Jünger ihren Eid ablegten:
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Als rechtschaffener Grieche, dachte Max, wollte Pythagoras natürlich nichts von vollendeten Unendlichkeiten wissen, obwohl er mit seinem berühmten Satz auf die irrationalen Zahlen gestoßen war, aber er, Max, brauchte sie jetzt, um die Werte des VLBI zu interpretieren, und das hieß, die Entstehung der Welt. Der Big Bang als unendliche Musik! Plötzlich hob er den Kopf und öffnete kurz die Augen. Da die Helligkeit ihn störte, stand er schwankend auf, machte das Licht aus und ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen.
War es möglich, daß es die mathematischen Grundlagen dazu schon gab? Als Einstein eine nichteuklidsche, vierdimensionale Geometrie für seine gekrümmte Raum-Zeit brauchte, stellte sich heraus, daß sie bereits vor Jahrzehnten von Gauß und Riemann entwickelt worden war. Wenn die Welt in erster und letzter Instanz realisierte Unendlichkeit war, konnte er vielleicht Cantor zu Rate ziehen, den Begründer der Mengenlehre. Cantor! Der Sänger! Als Student hatte er sich eine Zeitlang mit dessen schockierender Theorie der transfiniten Kardinalzahlen beschäftigt, der unendlichen Zahl aus vollendet unendlichen Zahlen, aber das war lange her. Er erinnerte sich an das Schwindelgefühl, das ihn bei seinem Besuch in der schauerlichen orphischen Schola Cantorum ergriffen hatte: seine Alephs, Aleph-0, Aleph–1, sein Absolut Unendliches. Er mußte sich sofort wieder damit beschäftigen, zugleich aber mächtig aufpassen, denn Cantor war darüber wahnsinnig geworden. Da er sich für den Mann, der sich in solche Regionen gewagt hatte, brennend interessierte, hatte er eine Biographie über ihn gelesen, an die er sich besser erinnern konnte als an seine Theorie. Cantor war regelmäßig in eine Anstalt eingeliefert worden und hatte ursprünglich Musiker werden wollen, Geiger, aber Gott selbst, ließ er verlauten, habe ihn gerufen und ihm seine Lehre offenbart. Wie für Pythagoras war die Mathematik für ihn zugleich Metaphysik: alle Zahlen waren Dinge. Er war paranoid und litt an schweren Depressionen, interessierte sich für die Theosophie, die Freimaurerei und die Lehre der Rosenkreuzer, schrieb ein Pamphlet, in dem er nachwies, daß Christus der natürliche Sohn Josefs von Arimatäa war, hielt Vorlesungen über Bacon und bewies ›unwiderlegbar‹, daß der und niemand anderer es gewesen sei, der die Stücke Shakespeares geschrieben habe.
Max hatte die Augen im Dunkeln nun weit geöffnet. Immer wieder setzte er das leere Glas mechanisch an den Mund und stellte es wieder ab; es schien, als nähmen die Alkoholnebel in der Dunkelheit ab, aber zugleich wußte er, daß das nicht stimmte. Er sah plötzlich eine enervierende Zeichnung aus einer noch ferneren Vergangenheit vor sich und erinnerte sich sofort, woher sie stammte: aus der Übersetzung eines populären Buches von Gamow, One, Two, Three … Infinity, das er mit siebzehn Jahren gelesen hatte und das an seinem Entschluß, Astronom zu werden, nicht ganz unschuldig war. Gamow, so hatte er später gelernt, war der erste gewesen, der die Theorie des Big Bang wissenschaftlich akzeptabel gemacht und 1948 dessen Echo vorhergesagt hatte. Die kosmische Hintergrundstrahlung, die 1964 gemessen wurde, hatte diese Theorie definitiv bestätigt. Eine Zeichnung dieses Gamow zeigte die topologische Verformung eines Mannes, der auf der Erde wandelte und den Sternenhimmel bewunderte: alles war von innen nach außen gestülpt. Die Organe, die normalerweise in einem vom Universum umgebenen Körper eingeschlossen waren – mit lediglich einem Durchgang vom Mund über den Magen-Darm-Trakt zum After –, waren bei Gamow nach außen gestülpt: Eingeweide erstreckten sich als Ausgeweide ins Unendliche, während das All mit seinen Planeten und Sternen und Spiralnebeln zum Inneren des Mannes geworden war, in dem er selbst noch immer mit dem nach innen gekehrten Äußeren auf der Erde wandelte und es mit staunenden Augen bewunderte. Wer war dieser verflixte Mann? Er, Max, wie er durch den Erscheinungspunkt in die negative Raum-Zeit auf der anderen Seite des Big Bang schaute? Gott? Oder vielleicht eine Frau? War es Ada mit dem Geschwür in ihrem Bauch, das Quintens Platz eingenommen hatte? Oder seine eigene Mutter, mit ihm in ihrem Bauch? Die Mutter des Universums – Ada und Eva – Frauen – nur Frauen Er hatte wieder geschlafen. Als er aufwachte, fühlte er sich müde und glücklich. Er war nun über fünfzig und beschäftigte sich immer noch mit denselben Dingen, für die er sich schon als Siebzehnjähriger interessiert hatte. War in seinem Leben so wenig passiert? Falsche Frage. Es gab keinen Bruch wie bei Onno, und der Junge, der er gewesen war, brauchte sich des erwachsenen Max nicht zu schämen. Er stand auf und dachte wieder an das Kind, das Tsjallingtsje von ihm wollte. Natürlich: Octavia! Diese Nacht würde er sie wohl kaum zeugen, dazu war er erstens zu betrunken, und zweitens saß in der Gebärmutter noch die Spirale. Er machte die Tür auf und blieb mit der Klinke in der Hand stehen. Wo war Onno? Wer war Onno geworden? Wie war es möglich, daß er sich ganz und gar von dem Kind zurückziehen konnte? Und der arme Quinten – wer war für ihn jetzt weiter weg, seine Mutter oder sein Vater?
Das Haus war dunkel, und der Garten lag still im Mondlicht. Janáček, dachte er. Ein Märchen. Er zwang sich, nicht zu sehr zu torkeln, ging zum Findling und setzte sich, um eine Pause einzulegen. War es Unsinn, was er sich da zusammengesponnen hatte? Hatte der VBLI wirklich die Ursingularität gesehen, vielleicht sogar quer hindurchgeschaut in eine andere, zeitlose Welt, die größer war als das All? Hatte er etwas vergessen? Wie betrunken war er eigentlich? Wie konnte bewiesen werden, daß das alles nicht so war? Und wenn es so war, mußte dann nicht auf jeden Fall eine gigantische Rotverschiebung aufgetreten sein – die so groß war, daß keiner daran dachte? Das Maximum, das bisher gemessen worden war, beim OQ 172, hatte einen Wert von 3.53 gehabt; dort war die Lyman-Linie in das sichtbare Licht geraten. Bei MQ wurde jetzt irgendwo zwischen 4 und 5 gesucht, aber vielleicht mußte man auf 20 gehen oder auf 50. Oder auf 100! Wer nur bis fünf zählen konnte, würde dort nie suchen, nicht einmal Maarten. Wo war man mit einer solchen Rotverschiebung? Er versuchte es auszurechnen, irgendwo im Kurzwellenbereich vermutlich. Vielleicht hatte irgendein Funkamateur einmal eine singulare Stimme aufgefangen: »Ich bin der Herr dein Gott!« und dann gelangweilt weitergedreht, weil er geglaubt hatte, es mit einem Äthersonderling zu tun zu haben! Das war offenbar kein zweiter Moses gewesen!
Max hob die Arme, legte den Kopf in den Nacken und begann laut zu lachen.
Der dröhnende Knall, mit dem im selben Augenblick ein
blendendweißer Feuerball wie eine Rakete aus dem Himmel den Stein
traf, auf dem er saß, versengte alle Bäume und Pflanzen im Garten,
zersplitterte die Fenster von Tsjallingtsjes Haus, die Vorhänge
fingen Feuer, und schreckte das ganze Dorf aus dem Schlaf. Überall
begannen Hunde zu bellen, Hähne krähten, in Panik wurden in der
ganzen Umgebung Lichter angemacht, und aus den Fenstern riefen die
Leute einander zu, daß es ganz nach einer Gasexplosion geklungen
habe. Am nächsten Tag stellte man fest, daß sogar Teile des
Findlings verdampft waren. So kam Max schließlich doch noch in die
Weltpresse, wenn auch nicht aufgrund seiner kosmologischen
Vermutungen, denn die blieben unbekannt, sondern dank des
unglaublichen Zufalls, daß er genau an der Stelle gesessen hatte,
wo er gesessen hatte. Vermutlich teilte er sein Schicksal nur mit
einem Franziskanermönch aus dem siebzehnten Jahrhundert in Mailand.
Der Volltreffer hatte von dem unglückseligen Astronomen weniger
übriggelassen als das Aufeinanderschlagen zweier Feuersteine von
einer Ameise. Fachleute gingen davon aus, daß der Meteorit
faustgroß gewesen sein mußte. Es wurden jedoch nur winzige
Fragmente gefunden, aus denen man schloß, daß es sich vermutlich um
einen Steinmeteoriten gehandelt habe, einen Achondriten, der gut
vier Milliarden Jahre alt sei und vermutlich aus dem Gebiet
zwischen Mars und Jupiter stamme. Nach internationalem Brauch wurde
der Himmelskörper nach dem nächstliegenden Postamt benannt:
Der Westerbork.