30
Das Schafott
Max wußte von der Zusammenkunft und wartete unruhig den Bericht ab. Am liebsten hätte er Onno und Sophia sofort angerufen, aber es schien ihm nicht ratsam, allzu große Neugier zu zeigen. Am nächsten Tag rief Onno ihn in Leiden an und meldete sich für den Abend an.
Während er sich sonst immer gleich in den grünen Sessel fallen ließ, ging er nun ununterbrochen in Max’ Zimmer auf und ab und erzählte, wie das Treffen verlaufen war, wie er schließlich in den Staub gesunken sei und sich erniedrigt habe, worauf er unverzüglich mit einer Fürbitte bei Gott belohnt worden sei.
»Was ist das bloß für eine ehrlose Sklavenreligion! Wie hat dieser schäbige Kerl aus Nazareth bloß diesen stolzen Jupiter besiegen können?«
»Aber diese ehrlosen Christen haben dir immerhin angeboten, dein Kind aufzunehmen.«
»Meinst du, daß das bei den heidnischen Römern nicht passiert wäre? Das hat nichts mit Religion zu tun, das ist die Sippe. Davon hast du keine Ahnung, denn du hast keine, aber es passiert sogar im Tierreich. Das ist das Blut.«
»Nein, ich habe keine Verwandten«, sagte Max und sah ihn an. »Ich habe also insofern Ahnung davon, als ich irgendwann selbst von Christen aufgenommen worden bin, obwohl ich nicht von ihrem Stamm war.«
Während er das sagte, wurde ihm klar, daß das für Adas Kind vielleicht auch wieder gelten würde, wenn es nicht von Onnos Stamm wäre. Onno erwiderte seinen Blick; er wußte, daß er einen Schnitzer gemacht hatte.
»Gut«, sagte er mit einer generösen Geste, »einigen wir uns darauf, daß es uneigennützige Menschenliebe tatsächlich gibt.
Als ich heute morgen aufwachte, wußte ich mir trotzdem noch keinen Rat. Wie soll ich mich um Himmels willen entscheiden? Die eine Option ist schlechter als die andere, und die andere schlechter als die eine. Nach Meinung beschränkter Geister ist das zwar logisch unmöglich, aber dieses Unmögliche ist hier der Fall.«
»Warum sagst du dann nicht, daß die eine besser ist als die andere, und die andere besser als die eine?«
»Ganz einfach: weil keine von beiden gut ist. Zumindest nicht gut genug. Zum Beispiel Jan-Kees und seine Paula. Sie wohnen in Rotterdam in einem riesigen Haus, und ich kann jeden Mittwochnachmittag hinfahren, um mein Kind abzuholen, und mit ihm in den Zoo gehen. Irgendwie kann ich sie gut leiden, aber es ist nicht mein Stil, und auch nicht Adas Stil; ich möchte nicht, daß unser Kind dort aufwächst. Hans und Hadewych sind in dieser Hinsicht besser, werden aber demnächst von Dänemark nach Sambia versetzt, und dann von Sambia nach Brasilien, und dann von Brasilien auf die Philippinen; unser Kind wird von einer internationalen Schule in die andere geschleppt und muß alle vier Jahre von seinen Freunden Abschied nehmen. Andererseits würde es natürlich etwas von der Welt sehen und eine Menge Sprachen lernen, aber ich würde unwiderruflich ein Fremder für es werden: eine Art Onkel im fernen Holland. Nur während der Sommerferien wäre es dann mal ein paar Wochen hier – und der Gedanke behagt mir gar nicht. Wenn Jan-Kees im diplomatischen Dienst wäre und Hans und Hadewych in Kralingen wohnten, ja, dann wüßte ich, wie ich mich zu entscheiden hätte, aber so wohlwollend scheint das Leben nicht zu sein. Also, wie soll das jetzt weitergehen? Was würdest du an meiner Stelle tun?«
Er setzte sich, und Max stand auf. Mit den Händen in den Taschen stellte er sich vor das Fenster und sah in den dunklen Abend hinaus, ohne etwas zu sehen. Er wußte, sein Hinterkopf und sein Rücken sandten die Botschaft aus, daß er ruhig überlegte, aber sein Herz klopfte laut, und er fühlte sich innerlich zerrissen. Was würde er an Onnos Stelle tun? Vielleicht war er an Onnos Stelle – das heißt, daß auch Onno selbst nicht wußte, an wessen Stelle er vielleicht war. Wie lange sollte das noch so weitergehen? War es nicht an der Zeit, diesen Knoten aus Liebe und Betrug radikal durchzuhauen? Sollte er sich jetzt nicht umdrehen, jetzt, in diesem Augenblick, und endlich sagen: »Onno, das Kind, das Ada erwartet, ist vielleicht von mir.« – Sollte er nicht endlich das sagen, was er ihm hatte schreiben wollen und auch geschrieben, dann aber nicht abgeschickt hatte? Die Überlegung, daß er das nicht ohne Adas Wissen tun konnte, hatte nun keine Gültigkeit mehr, es geschah nichts mehr ohne Adas Wissen, weil alles ohne ihr Wissen geschah. Aber er brachte es jetzt nicht mehr übers Herz, er hatte es zu weit kommen lassen. Dennoch konnte er nicht einfach weiter abwarten und darauf vertrauen, daß sich alles von allein regeln würde. Es mußte etwas geschehen!
Plötzlich sah er sein Spiegelbild im dunklen Glas. Er rückte seine Krawatte zurecht und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, und er mußte an den Abend denken, an dem er mit Onno ins Theater gegangen war, in König Ödipus ; während sie im Foyer in der Pause eine Tasse dünnen Kaffee tranken, hatte Onno gefragt: »Schaust du etwa ständig in diesen Spiegel, du eitler Gockel?«, worauf er geantwortet hatte: »Ja, ich schaue immer in alle Spiegel: um sie zu eichen.«
Er drehte sich um, steckte die Hände wieder in die Taschen und setzte sich auf die Fensterbank.
»Du könntest eine Haushälterin einstellen, Fulltime, Tag und Nacht.«
»Ich soll mein Kind von einer Haushälterin erziehen lassen?
Um zwanzig Jahre lang auch noch eine unglückliche Frau am Hals zu haben, die jeden Abend in der Küche heult? Ich denke gar nicht daran. Und was meinst du wohl, was das kostet? Wie du weißt, widme ich mich infolge meines edelmütigen Charakters ausschließlich der Wissenschaft und der Res publica und verdiene folglich so gut wie nichts; ich lebe von einem kleinen Vorschuß aus meinem Erbteil. Gut, dafür könnte man noch eine Lösung finden, ich könnte zum Beispiel arbeiten gehen, obwohl mich die Vorstellung abstößt, Studenten im sechsten Semester das Abc beizubringen. Jedenfalls würde ich jederzeit eine Stelle an irgendeiner Universität bekommen, vielleicht sogar in den Niederlanden.«
»Es braucht doch nicht länger als für fünf oder sechs Jahre zu sein? Danach könnte das Kind dann in ein gutes Internat gehen.«
»Ein gutes Internat! Soll mein Kind wirklich mit sechs Jahren von der Sicherheit in die Unsicherheit hineingestoßen werden, damit es für den Rest seines Lebens unsicher ist? Auf die feine englische Art? Ist das tatsächlich das, was du an meiner Stelle tun würdest?«
Max rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Nein«, sagte er.
»Natürlich«, sagte Sophia, als Max sie am nächsten Tag anrief und fragte, ob es ihr recht wäre, wenn er nach dem Abendessen noch auf eine Tasse Kaffee vorbeikäme. »Du kannst auch hier essen, wenn du möchtest.«
Das war neu.
»Sind Sie sicher, daß ich Ihnen keine Ungelegenheiten mache?« Als er sich das sagen hörte, hatte er das Gefühl, es jetzt zu bunt zu treiben, aber das war offenbar nicht der Fall.
»Du weißt doch, wie das ist. Wenn Essen für einen da ist, reicht es auch für zwei, und wenn es Essen für zwei gibt, reicht es auch für drei.«
»Das stimmt. Wenn es Essen für hundert gibt, reicht es auch für hundertundzehn. Es ist schwer zu begreifen, daß es noch Hunger gibt auf der Welt.«
Er brachte eine Flasche Chianti mit, und als sie sich am Küchentisch gegenübersaßen, machten sie sich sofort über ihre Rinderfilets her. Während sie vom Haager Familienrat erzählte, spürte er wieder die Erregung, die diese Situation jedesmal aufs neue bei ihm auslöste: eine Audienz bei der unnahbaren Mutter Oberin, der Braut Christi, die sich im Dunkeln gleich wieder in eine wollüstige, Schreie ausstoßende Circe verwandeln würde. Er hatte sich oft gefragt, wie diese Verwandlung vor sich ging. Er versuchte sich auszumalen, was in ihr vorging: sie legte ihre Kleider über den Stuhl, wusch sich, legte sich ins Bett und knipste das Licht aus. War das der Moment? Verwandelte die einfallende Dunkelheit sie vom einen in das andere? Oder gab es gar keinen Moment des Übergangs, war es lediglich ein maliziöses Spiel, dessen Wirkung sie irgendwann, bei einer bestimmten Art von Männern wie Brons und ihm, entdeckt hatte? Aber was hatte er mit Brons gemein? Vielleicht die Empfänglichkeit für dieses Spiel? Dann mußte es auch noch ein paar andere Gemeinsamkeiten geben, und genau die gab es nicht. Natürlich war es mit Brons nicht so gewesen, so war es nur mit ihm, Max, und ein Spiel war es auch nicht. Er war davon überzeugt, daß ihr Nachtleben für sie tagsüber tatsächlich nicht existierte, man erinnerte sich tagsüber ja auch nicht an seine Träume. Er war ihr Traum, und das mußte er auch bleiben. Wenn er tagsüber zu ihr sagen würde, daß sie wieder einmal eine aufregende Nacht gehabt hätten, würde sie vielleicht wirklich nicht wissen, wovon er sprach, und ihn hinauswerfen. Sie mit ihm im Bett – was fiel ihm eigentlich ein! Das sollte er doch wohl lieber mit einer Hure ausleben!
Nickend hörte er ihr zu, wischte sich den Mund ab, nahm einen Schluck Wein und sah von ihrem sich bewegenden Mund zu ihren Augen und von den Augen wieder zum Mund. Da er den Stand der Dinge bereits von Onno gehört hatte, achtete er mehr auf das Timbre ihrer Stimme als auf das, was sie sagte; zum ersten Mal hörte er fast so etwas wie einen Schluchzer heraus, einen verzweifelten Unterton, der vielleicht gar nichts mit Gefühl zu tun hatte, sondern einfach nur mit der Struktur ihrer Stimmbänder. Sie erzählte, daß sie nach dem Treffen mit Onno mit dem Zug zurückgefahren sei und ihm angeboten habe, sich selbst um das Kind zu kümmern.
»Ich habe ihm gesagt, daß das schon immer die Rolle der Großmutter gewesen ist. Wenn die Eltern ausgehen, wird die Großmutter angerufen, um auf das Kind aufzupassen.«
Onno hatte ihm nichts von diesem Gespräch erzählt. Er dachte kurz an seine eigene Mutter, die vielleicht die Großmutter von Adas Kind wäre, oder gewesen wäre.
»Und was hat Onno dazu gesagt?«
»Er hat sich nicht weiter geäußert, aber ich habe den Eindruck, daß er das auch nicht für die ideale Lösung hält, und das ist es wohl auch nicht. Ich bin jetzt fast fünfundvierzig, du kannst es dir ja ausrechnen: Wenn das Kind fünfzehn ist, bin ich sechzig. Das würde vielleicht noch gehen, aber trotz all seiner Erneuerungsideen ist Onno dann plötzlich ganz altmodisch: er findet, daß in die Familie ein Mann gehört. Abgesehen davon habe ich das Gefühl, daß er mich nicht sonderlich mag. Trotz allem wird er seine Entscheidung bald treffen müssen.«
Sie war aufgestanden und räumte den Tisch ab. Obwohl Max genau wußte, daß eine Befruchtung am 8. Oktober nach etwa zehn Mondmonaten zu einer Geburt Anfang Juli 1968 führen mußte, sagte er beiläufig:
»Ja, ungefähr in zwei Monaten.«
»Nein«, sagte Sophia. »Vermutlich schon viel früher.«
»Viel früher?«
Während sie die Teller in die Spüle stellte, sagte sie, ohne sich umzudrehen:
»Hast du heute noch nicht mit Onno gesprochen?«
»Gestern. Ist etwas passiert?«
»Er rief kurz nach dir an. Ich weiß nicht genau, was los ist, aber Adas Zustand scheint trotz allem doch ein Risiko zu bergen. Der Neurologe sagt, daß ihr EEG kaum noch ein Bild zeigt. Die Ärzte überlegen auf alle Fälle, ob sie das Kind nicht bald mit einem Kaiserschnitt holen sollen. Das wäre ohnehin erforderlich, denn gebären kann sie natürlich nicht mehr. Ich werde gleich morgen hinfahren, und dann müssen wir entscheiden.«
Max wurde heiß und kalt. Jetzt war sie plötzlich da, die Stunde der Wahrheit. Natürlich hatte er in diesen letzten Monaten immer gewußt, daß der Augenblick unwiderruflich näher rückte; aber ohne daß er sich dessen bewußt war, hatte er dennoch immer das Gefühl gehabt, dieser Moment würde nie kommen – wie bei Zenon, demzufolge immer wieder ein weiterer Teil des Weges zurückgelegt werden mußte: zuerst die Hälfte, dann die erste Hälfte der zweiten Hälfte, dann die erste Hälfte des letzten Viertels –, und auf diese Weise würde immer wieder Zeit übrigbleiben. Aber jetzt war der Sprung plötzlich gemacht.
»Auch Kaffee?« fragte Sophia, während sie den Wasserkessel füllte.
Verwirrt stand er auf. Er hatte das vage Gefühl, daß nichts mehr so war wie vorher, daß er bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
»Nein«, sagte er, »danke –.« Er suchte nach Worten. »Ich muß gehen.«
Sie drehte sich um.
»Was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht – ich muß nachdenken. Bitte, entschuldigen Sie mich, es ist unhöflich, aber –.« Er gab ihr die Hand.
»Danke für das Essen, ich rufe Sie morgen an. Ich muß jetzt allein sein.«
»Natürlich. Wie du meinst.«
Sophia brachte ihn zur Tür, und er stieg in seinen Volkswagen, den er sich gerade gekauft hatte. Ohne Ziel fuhr er los. Er wollte nachdenken, aber er wollte erst nachdenken, wenn niemand mehr zu sehen war. Ununterbrochen hallte eine Verszeile von Rilke in seinem Kopf, die seine Gedanken wie ein Damm zurückhielt:
Du mußt dein Leben ändern.
Es war bereits Abend, und auf der Straße nach Amsterdam fuhr er an der Ausfahrt Noordwijk ab. Auf der dunklen Straße durch die Dünen fuhr er zum Leuchtturm, wo er den Wagen parkte.
Er stellte den Motor ab und stieg aus; der Knall, mit dem er die Wagentür zuschlug, war wie der Punkt hinter einem Satz. Und wie der erste Buchstabe des nächsten Satzes kam das Rauschen der Brandung näher – hörbare Stille, durch die das Licht des Leuchtturms flog wie etwas, das stiller war als still. Es wehte ein kalter Seewind, die Sterne erschienen und verschwanden zwischen schwarzen, schnell vorbeiziehenden Wolken. Er atmete die salzige Luft und ging den Pfad zum Meer hinunter. Als er den Strand erreichte, war ihm danach, Schuhe und Socken auszuziehen, statt dessen stellte er den Kragen auf, vergrub die Hände tief in den Taschen und ging weiter zum Wasser. Er erreichte den festeren, feuchten Sand, den die Flut zurückgelassen hatte, blieb stehen und sah auf den dunklen Horizont, über den der Lichtkegel des Leuchtfeuers alle paar Sekunden zugleich langsam und doch schnell hinwegstrich. Mit gebeugtem Kopf ging er an der Muschellinie entlang in Richtung Süden.
Der Kaiserschnitt! Es war klar: Er mußte sich aufopfern.
Er mußte Adas Kind aufziehen – zusammen mit Sophia. Nur wenn er das tat, würde er dem, was passiert war, wirklich etwas gegenüberstellen. Sollte sich, Gott bewahre, in irgendeiner Weise zeigen, daß das Kind nicht von Onno war, sondern von ihm, dann wäre das Elend zwar grenzenlos und Onno würde ausfallen, aber zugleich auch verstehen, was er, Max, getan hatte: nämlich, das Kind in einem Augenblick zu sich zu nehmen, als er noch nicht wußte, wer der Vater war; er wäre das Risiko eingegangen, sein Leben nach einem Kind zu richten, das nicht seines war. Sollte sich herausstellen, daß es wirklich nicht von ihm war, so würde Onno dennoch nie erfahren, weshalb er sich so entschieden hatte. Denn dann wäre es immer noch nicht so, als wäre nichts geschehen: der Verrat der Freundschaft konnte nie wiedergutgemacht werden, die Lüge würde bis in alle Ewigkeit zwischen ihnen bleiben, obwohl nur er selbst davon wissen würde – mit der kleinen Beruhigung, auf jeden Fall alles getan zu haben, was in seiner Macht stand.
Den Gedanken, die künstliche Entbindung könnte vielleicht mißlingen und damit wäre alles erledigt, verdrängte er, aber er ertappte sich plötzlich dabei, daß das jetzt unter Umständen eine Enttäuschung für ihn wäre.
Ununterbrochen schwenkte das Kreuz des Leuchtfeuers über seinen Kopf wie Hubschrauberflügel, die die Erde schwebend im All hielten. Noch heute abend, spätestens morgen, mußte er Sophia seinen Vorschlag unterbreiten, und wenn sie einverstanden wäre, dann auch Onno. Stimmte auch er zu, so mußte er so rasch wie möglich weg aus Amsterdam und weg von dem Leben, das er dort geführt hatte, seine Wohnung kündigen und nach Drenthe ziehen, irgendwo in der Nähe von Dwingeloo und Westerbork ein Haus für sich und seine bizarre Familie suchen: mit einer Frau, die nicht die Mutter, sondern die Großmutter seines Kindes war, das vielleicht gar nicht sein Kind war. Oder war er vielleicht verrückt geworden? Würde es das durchhalten? Ja, er würde es durchhalten, und er opferte sich auch nicht auf, von »Aufopferung« zu sprechen wäre nur wieder eine neue Lüge, und Sophia würde Bescheid wissen. Es wäre vielmehr die Gelegenheit, seinem dunklen Verhältnis mit ihr eine dauerhafte Form zu geben; so, wie es bisher war, konnte es nicht weitergehen, ohne irgendwann lächerlich zu werden. Was würde sie dazu sagen? Auch ihr Leben war schließlich verpfuscht. Was sollte sie in Leiden mit einer Antiquariats-Buchhandlung, mit der sie sich nicht auskannte und die früher oder später pleite gehen würde? Andererseits: Wenn das Kind fünfzehn sein würde, also in fünfzehn Jahren, wäre sie sechzig, wie sie gesagt hatte, er selbst aber erst fünfzig. Erst? Die Vorstellung erschreckte ihn. War er in fünfzehn Jahren schon fünfzig? Aber dann wäre alles anders, und man würde dann schon weitersehen.
Er dachte an eine Anekdote, die ihm Onno während eines Spaziergangs durch die Stadt erzählt hatte. Anfang des vorigen Jahrhunderts wurde der eher zweitrangige deutsche Bühnenautor Kotzebue, der im Dienst des Zaren stand, von dem nationalistischen Korpsstudenten Sand ermordet; Sand wurde zum Tode verurteilt und von dem Henker Braun geköpft.
Dieser aber bereute anschließend so sehr, einen so hochgestellten Menschen hingerichtet zu haben, daß er aus den Brettern des Schafotts eine Hütte baute, in der die Korpsstudenten dann heimlich zusammenkamen, um Sand zu verehren, die Blutflecke zu küssen und antisemitische Lieder zu singen.
Die Muscheln knirschten unter seinen Schuhen, und eine Art Trunkenheit überkam ihn, nicht vom Wein, sondern von der totalen Veränderung, die plötzlich bevorstand; er fühlte sich wie jemand, der angesichts eines drohenden Krieges von einem Augenblick auf den anderen beschlossen hatte auszuwandern, weit weg: in ein Land, auf das man nicht mit dem ausgestreckten Finger in einer Himmelsrichtung zeigen konnte, sondern nur, indem man auf den Nadir deutete, senkrecht nach unten, auf die andere Seite der Welt, möglichst weit weg, dorthin, wo die Bäume nach unten wuchsen, Mensch und Tier kopfunter an der Erde klebten und die Steine nach oben fielen.
Wieder hatte er das Gefühl, als wollte er seine Gedankenkette hinauszögern wie im Bett den Orgasmus. Plötzlich verspürte er das Bedürfnis, seine Ziehmutter zu besuchen. Zehn Jahre lang, bis 1952, hatte er bei ihr und ihrem Mann gelebt; danach hatte er sich als Arbeitsstudent in Leiden ein Zimmer gemietet. Ende der fünfziger Jahre waren sie nach Santpoort umgezogen, wo seine Ziehmutter Kindergärtnerin wurde; sein Ziehvater, ein Geographielehrer, war damals schon ernsthaft erkrankt. Mit der Zeit hatte er die beiden immer seltener besucht; zuerst alle paar Wochen, dann alle paar Monate, später nur noch zu Weihnachten und schließlich nicht einmal mehr das. Jeder Besuch war für ihn eine Rückkehr in den Krieg, und das belastete ihn immer mehr, je länger der Krieg zurücklag. Inzwischen hatte er seit Jahren nichts mehr von sich hören lassen.
Er schaute angestrengt auf die Uhr, im Licht des Leuchtturms sah er, daß es halb zehn war. Wann legte sie sich schlafen? Sie wohnte etwa dreißig Kilometer von hier, er würde sie zumindest noch anrufen.
Etwas weiter, am Rand der Dünen, stand das Huis ter Duin, ein großes, hellerleuchtetes Badehotel mit mediterranem Flair, das den Eindruck erweckte, als befände es sich am Boulevard des Anglais in Nizza und nicht in der Nähe eines verschlafenen Dorfes an der kalten Nordsee. Durch den lockeren Sand stapfte er hin, fand auf der Terrasse eine Tür, die nicht abgeschlossen war, und geriet in ein überschwengliches Fest aus Genever, Bier und Karnevalsschlagern. Auf dem Podium saßen als Bauern verkleidete Musikanten mit schwarzseidenen Mützen auf dem Kopf und roten Taschentüchern um dem Hals und spielten gerade das Letzte vom Letzten: eine Polonaise, bei der sich die Gäste unter dem Festschmuck kindisch in einer Schlange mit den Händen auf den Schultern des Vordermannes durch den Saal bewegten. Während er noch ins Licht blinzelte, wurde er schon mit einem Ruck in die singende und tanzende Reihe gezogen, und ehe er es sich versah, war er mittendrin im Festgeschehen. Selten hatte er sich so fehl am Platze gefühlt, aber mit einem nachsichtigen Lächeln ließ er sich mitziehen; wenn er protestiert hätte, wäre er wahrscheinlich an Ort und Stelle geschlachtet und ins siedende Fett geworfen worden, zwischen die Bratwürste. In der Nähe einer Tür tauchte er weg und ging zur Rezeption in die Eingangshalle.
Schwere Sofas und leinenbezogene Sessel mit großen roten und blauen Blumenmustern riefen in Erinnerung, daß England unmittelbar gegenüber auf der anderen Seite des Wassers lag. In der Telefonzelle wählte er nervös die Nummer in Santpoort.
»Blok«, sagte eine Männerstimme.
»Entschuldigen Sie bitte, ist das nicht die Nummer von Frau Hondius?«
»Die wohnt nicht mehr hier.«
Sie sei seit einem Jahr in einem Pflegeheim in Bloemendaal, Sancta Maria, Max bekam auch gleich die Nummer. Mit dem Finger in der Scheibe, im Loch über der letzten Zahl, einer 1, hielt er inne. Sie hatte ihn nicht benachrichtigt und, nachdem er nicht am Sterbebett ihres Mannes erschienen war, offenbar abgeschrieben. Er schämte sich auf einmal so darüber, daß er nicht weiter zu wählen wagte – und wußte zugleich, daß er sie nie wieder sehen würde, wenn er mit dem Finger jetzt nicht die letzten neunzig Grad zurücklegte. Mit einem Ruck zog er ihn herunter bis an den Anschlag.
Der Portier in Bloemendaal verband ihn, und kurz darauf hörte er ihre Stimme.
»Ja, wer ist da?«
»Hier Max.«
Es blieb einen Augenblick still.
»Max?« fragte sie leise. »Bist du das, wirklich?«
»Haben Sie schon geschlafen?«
»Ich schlafe nachts nie. Es ist doch nichts Schlimmes passiert?«
»Ich bin jetzt in Noordwijk, ich wollte kurz vorbeikommen.
Geht das?«
»Jetzt gleich?«
»Oder kommt es ungelegen?«
»Natürlich nicht, für dich nie. Ich werde unten im Gesellschaftsraum auf dich warten.«
»In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen, Mutter Tonia.«
Über die menschenleere Strandpromenade ging er schnell zurück zum Wagen, nahm eine Abkürzung über Haarlem und überlegte, ob er etwas über sein unverzeihliches Wegbleiben sagen sollte, als ihr Mann im Sterben gelegen hatte, aber vielleicht verstand sie auch so, daß er Schwierigkeiten hatte mit dem Sterben von Eltern, auch wenn es die Zieheltern waren.
Sancta Maria, aus dunklem Backstein im schweren Patronatsstil des holländischen Katholizismus erbaut, lag hinter einem schmiedeeisernen Zaun an einer ruhigen Allee am Waldrand. Er parkte den Wagen auf dem gepflasterten Vorplatz, und als er die Eingangstür öffnete, stand er augenblicklich Auge in Auge dem gemarterten Leib des Religionsstifters gegenüber, der in derselben Haltung am Kreuz befestigt war wie Otto Lilienthal an dem Schwebegerät, mit dem er seinen ersten Gleitflug unternommen hatte. Consummatum est, dachte Max, auch der Ingenieur hatte sein Experiment nicht überlebt. Der Portier sah verstört von seiner Zeitung auf, warf einen Blick auf die Uhr und zeigte mit einer Kopfb ewegung auf den Eingang des Gesellschaftsraumes.
Auf den Wellen der gesellschaftlichen Veränderungen hatte ein moderner Innenarchitekt dort mit grellem Neonlicht und häßlichem Mobiliar aus knallbuntem Kunststoff einen Eindruck des nahenden Fegefeuers vermitteln wollen, und das war ihm perfekt gelungen. Max’ Ziehmutter saß allein an einem Tisch beim Fenster und winkte ihm zu; zum ersten Mal seit seinem Auszug sah er sie ohne seinen Ziehvater. Sonst war nur noch ein massiger Mann von etwa sechzig Jahren im Raum. Er saß in einem Rollstuhl, der so willkürlich quer dastand, als hätte ihm jemand an der Tür einen Stoß versetzt, um ihn irgendwie in den Raum zu expedieren; über dem rechten Auge trug der Mann eine schwarze Augenklappe.
»Max! So eine Überraschung!« Seine Ziehmutter war aufgestanden; mit Tränen in den Augen küßte sie ihn und hielt ihn auf Armlänge von sich weg, um ihn eingehend zu betrachten. »Du bist männlicher geworden, ein echter internationaler Gentleman.«
Er mußte über das Kompliment lachen.
»Und Sie sind noch immer dieselbe, Mutter Tonia.«
Sie war kleiner geworden und hatte einen runderen Rükken; ihr Gesicht war jetzt noch schärfer gezeichnet als früher, mit der Spur eines feinen Lächelns in den Mundwinkeln.
Doch sie trug über einem schmalen, dunklen Schatten immer noch die Perücke aus kastanienbraunem Haar, und der Schatten war wie eine geheimnisvolle Schlucht zwischen Haut und Perücke, die ihn als Jungen mehr fasziniert hatte als alle Schluchten in den Büchern von Karl May. Seit er sie kannte, hatte sie Perücken getragen, und er hatte keine Ahnung, welches Geheimnis sich darunter verbarg, aber er war seitdem sicher, immer zu erkennen, ob jemand eine Perücke trug, bis Onno ihm eines Tages erzählt hatte, daß er es doch wohl nur dann sehen könne, wenn er es tatsächlich sehe, und nicht, wenn er es nicht sehe.
Seine leibliche Mutter hatte Max immer ›Mama‹ genannt.
Er setzte sich ihr gegenüber, und sie nahm seine Hände in die ihren. Sie streichelte über seine Spateldaumen und sah ihn an.
»Du hast noch immer so kalte Hände wie früher.«
»Das ist immer so bei Hitzköpfen.«
»Erzähl, wie geht es dir?«
»Gut«, sagte er. »Gut.«
Gut? Es war ausgeschlossen, ihr zu erzählen, wie durcheinander sein Leben war und wie er es zu ordnen gedachte; er wußte ja selbst nicht, wie es ihm ging, vielleicht war das der Grund, weshalb er jetzt hier war. Wirklich alt war Mutter Tonia noch nicht, knapp siebzig vielleicht – seine richtige Mutter wäre jetzt sechzig –, und sie war dennoch hier, an diesem schrecklichen Ort, hatte die Gedanken nur noch in der Vergangenheit und wartete bereits auf den Tod, während seine Sorgen ausschließlich der Zukunft galten. Er erzählte ihr von seiner Arbeit in Leiden und daß er in absehbarer Zeit vermutlich nach Drenthe ziehe, wo ein neues Teleskop in Betrieb genommen werde.
»Du nach Drenthe? Max! Ein Lebemann wie du in den Moorkolonien? Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, daß du inzwischen geheiratet hast, ohne mir ein Wort davon zu sagen?«
»Wenn ich heirate, sind Sie meine Trauzeugin«, sagte er, während ihm zugleich durch den Kopf ging, daß er bald vielleicht sogar ein Kind hätte, ohne daß sie es je erfahren würde.
»Nein, ich widme mich der Wissenschaft. Es ist ein ganz besonderes Teleskop.«
»Ich sehe es noch vor mir, wie du in deinem Zimmer über die Sternenkarte gebeugt dasaßt. Ich werde das Geheimnis des Weltalls lüften, hast du einmal bei Tisch gesagt.«
»Wirklich?« Er lächelte gerührt. »Solche Dinge treiben sie einem an der Universität schon aus. Das erste, was sie einem nehmen, ist die Lust an dem Fach, das man studieren will. Die wirklich großen Genies wie Einstein sind alle reine Amateure, und das ist nicht nur in den Naturwissenschaften so.«
»Es ist besser, glücklich zu sein als ein großes Genie.«
»Vielleicht. Was einen dabei allerdings irritiert, ist die Tatsache, daß Einstein vermutlich auch glücklich war.«
»Und du?«
»Der Symmetrie halber müßte ich also eigentlich sowohl kein Genie als auch unglücklich sein, oder?«
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert, weißt du das? Wer gibt schon so eine Antwort?«
»Sie haben recht.«
Er überlegte. Es war natürlich Unsinn zu sagen, er sei glücklich, aber bedeutete das auch schon, daß er unglücklich war?
Logisch vielleicht, aber psychologisch? In den letzten Monaten war er vielleicht wirklich unglücklich gewesen, zumindest hoffnungslos verheddert in dem Netz, das er selbst geknüpft hatte. ›Glücklich‹, ›unglücklich‹, das waren nicht die Termini, in denen er über sich nachdachte, das war eher ›was für Mädchen‹, um mit Onno zu sprechen. Aber von dem Augenblick an, in dem er seinen Entschluß gefaßt hatte, war zwar alles beim alten geblieben – nämlich für immer verdorben –, aber plötzlich auch verändert, umgekippt wie bei einem Marathonläufer, der gerade aus seiner tödlichen Ermüdung Kraftschöpfte und vielleicht sogar etwas wie Lust. Vielleicht war er eben deshalb zum Marathonläufer geworden: weil er süchtig war nach dieser Lust an der Erschöpfung.
»Gott weiß, ich bin glücklich, ja.«
Seine Ziehmutter zog die Hände zurück und schlug den Blick nieder.
»Dieser Mistkrieg«, sagte sie.
Die Bemerkung wunderte ihn, aber er ging nicht darauf ein.
Er nahm nun ihre Hände in die seinen.
Sie sah ihn an.
»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, Max. – Warum bist du heute abend auf einmal gekommen?«
»Weil ich heute abend eine wichtige Entscheidung gefällt habe, Mutter Tonia, die vielleicht mein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Aber Sie dürfen nicht danach fragen, denn vielleicht wird gar nichts daraus. Wenn es soweit ist, werde ich es Sie wissen lassen. Ich weiß nicht – auf einmal wollte ich Sie wiedersehen. Das hätte ich natürlich schon viel früher machen können, ich habe Sie enttäuscht, aber-.«
»Sprich nicht weiter.«
Er schwieg. Auf dem Nebentisch stand ein Schachbrett mit einer abgebrochenen Partie; morgen früh würde sie wahrscheinlich von zwei alten Männern fortgesetzt, die jetzt im Bett lagen und über ihren nächsten Zug nachdachten, ein niederschmetterndes Schachmatt mit Läufer und Dame, die ihre Kraftlinien wie tödliche Strahlen über die 666 Felder zum feindlichen König aussandten. Der Mann im Rollstuhl rührte sich nicht; er hielt den Kopf gesenkt und sah auf seine weißen Hände, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Irgendwie sah er aus wie ein rochierter König, der auf das Matt wartete.
Im Türrahmen, unter dem Kruzifix, das auch hier hing, erschien eine junge Frau und sagte, es sei Schlafenszeit. Sie war groß und schlank, Ende Zwanzig; unter kräftigen, dunkel-blonden Augenbrauen sahen Max zwei blaue Augen an, und im selben Augenblick wußte er, daß er nachher mit ihr im Wald verschwinden könnte, wenn er das wollte. Er sah auch, daß sie sofort sah, daß er das wußte, aber er wollte nicht, das war vorbei. Als würde er sie schon Jahre kennen, blinzelte er ihr wie zur Entschuldigung mit beiden Augen zu. Sie errötete leicht und ging zum Rollstuhl.
»Kommen Sie auch, Herr Blits? Es geht jetzt ab in die Federn.«
Max und Mutter Tonia standen auf. »Gehst du kurz mit auf mein Zimmer?« fragte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen, aber ich konnte es so schnell nicht finden.«
Als sie am Rollstuhl vorbeigingen und Max einen melancholischen Blick mit der Altenpflegerin wechselte, folgte Herr Blits ihm mit seinem einen verbliebenen Auge und sagte: »Schuft!«
»Nanu, Herr Blits, was ist denn das? Machen wir Mätzchen?«
»Herr Blits hat vollkommen recht«, lachte Max. »Vor Ihnen steht ein rechter Nichtsnutz.«
Sie nahmen den Fahrstuhl, und als sie das kleine Appartement betraten, bekam er einen Schock. Alles, was er sah, kannte er aus ihrem Haus in Amsterdam und später in Santpoort, aber hier war es reduziert auf seine Essenz, ein eingedampfter Extrakt. Rechts die Küche war so groß wie ein Tischtuch und grenzte an ein winziges Wohnzimmer, von dem ein bogenförmiger Durchgang zu einem ebenso bescheidenen Schlafzimmer führte. Auf dem Sofa mit dem unvergeßlich harten, rauhen Bezug aus den zwanziger oder dreißiger Jahren hatte er sein erstes Buch über Sternkunde gelesen, eine Übersetzung von Jeans’ The Mysterious Universe;
über den verschlissenen Armlehnen lagen zwei undefinierbare Lappen. Darüber hing die Reproduktion von Breughels Fall des Ikarus, von der sich jedes noch so winzige Detail auf dem Grund seiner Seele eingegraben hatte: der unermeßliche Raum des Landes und der See, der pflügende Bauer, sein rotes Hemd, inzwischen in ein mattes Rosa verblaßt, der Hirte, der sich auf seinen Stab lehnt, als wisse er von nichts, und dem Geschehen, um das alles sich dreht, den Rücken zukehrt, und aus den Wellen ragt, gerade noch sichtbar, ein winziges Bein. Auf dem niedrigen Tisch vor der Couch die lila Bonbonniere aus geschliffenem Kristall, an die er nie mehr gedacht hatte, die ihm aber vertrauter war als das meiste, was bei ihm zu Hause stand; in dem kleinen Bücherschrank die bekannten Buchrücken. Lexikon für Jedermann. Ein märchenhaftes Gefühl beschlich ihn: all diese alten Dinge hier plötzlich versammelt, auf diesen wenigen, geheimen Quadratmetern in Bloemen daal. Es gab – aus dem geplünderten Königsgrab seines Elternhauses – noch archaischere Dinge in seinem Leben, an die er sich nur noch vage erinnern konnte, die aber vielleicht auch noch irgendwo existierten, bei den Dieben, die in den Spuren der Mörder gekommen waren, oder bei deren Witwen und Kindern.
Auf dem Fernsehgerät standen zwei gerahmte Fotos: das seines Ziehvaters und das von ihm selbst. All die Jahre, in denen er nichts von sich hatte hören lassen, hatte dort sein Bild gestanden, und jeden Tag hatte Mutter Tonia es gesehen!
Hondius, mit Weste und Uhrkette, warf ihm einen strengen Blick zu. Warum bist du nicht gekommen, Max? Beschämt wandte er sich ab. Im Schlafzimmer suchte seine Ziehmutter halb kniend etwas in einer Schachtel, die sie unter dem Bett hervorgezogen hatte. An der Wand das Mahagonischränkchen mit den beiden Türen, deren symmetrische Maserung noch immer wie der angsteinflößende Kopf einer Fledermaus aussah. Darauf, neben dem Nähkorb, ein Kopf: lebensgroß, aus glattem Holz, ohne Gesicht, wie auf einem Gemälde von De Chirico. Es war klar, daß er nicht für seine Augen bestimmt war, nachts setzte sie ihre Perücke darauf, vielleicht hatte er früher im Schrank gestanden, denn er hatte ihn nie gesehen. Aber für wen sollte hier wohl noch etwas verborgen bleiben? Über der Tür wieder Christus am Kreuz, der nur ein Lendentuch trug.
»Ja, da ist es«, sagte sie. Sie stützte sich auf den Rand des Bettes, kam mühsam hoch und brachte ihm ein großes Foto mit Eselsohren, das an den Rändern hier und da eingerissen war. »Kommt dir das bekannt vor?«
»Das sind sie!« rief er aus.
Da standen sie, Arm in Arm: sein Vater und seine Mutter.
Ungläubig, mit offenem Mund, betrachtete er das Paar. Das vergilbte Schwarzweißfoto, eher ein Porträt, mußte vor seiner Geburt von einem Berufsfotografen aufgenommen worden sein, vielleicht an ihrem Hochzeitstag 1926. In einem tadellosen Maßanzug schaute der Vater in die Linse, die nun ersetzt war durch die Augen seines Sohnes, der sofort die seinen wiedererkannte. Er hielt eine Zigarette in der Rechten, seine Frau zur Linken war achtzehn Jahre alt und sechzehn Jahre jünger als er, dicht neben ihm, eine Hand in der Hüfte, einen dunklen Hut auf dem Kopf, und darunter zwei unbeschreibliche Augen, deren Farbe er nicht erkennen konnte und an die er sich auch nicht erinnerte, kombiniert mit seiner eigenen Nase und seinem Mund. Er tippte auf das Foto.
»Das sind sie«, sagte er wieder und hatte die Überraschung noch nicht verwunden. »Das ist das erste Mal, daß ich ein Bild von ihnen sehe.«
»Das habe ich mir gedacht. Du ähnelst beiden.«
Daß sein Kind auch Ähnlichkeit mit ihm haben würde, wenn er so viel Ähnlichkeit mit seinen Eltern hatte, war ein Gedanke, der jetzt nicht länger als einen Moment in ihm aufkam.
»Wie kommen Sie dazu?«
»Das habe ich zwischen den Unterlagen meines Mannes gefunden, als ich aufräumen mußte, bevor ich hierher umgezogen bin. Ich sah sofort, daß das nichts mit meiner Verwandtschaft zu tun haben konnte; das waren nicht solche weltlichen Leute. Das Foto muß unter den Sachen gewesen sein, die uns nach dem Tod deines Vaters zugeschickt worden sind.«
»Warum hat Ihr Mann mir das nie gezeigt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte er dich damals nicht damit konfrontieren und es dir später geben, aber soweit ist es ja dann nicht mehr gekommen –.«
Sie schwieg. Meinte sie vielleicht, daß Hondius ihm das Foto auf seinem Sterbebett hatte geben wollen? Max wandte den Blick nicht vom Foto.
»Darf ich es behalten?«
»Aber selbstverständlich.«
Es war ihm ein Rätsel: das Bild stammte also aus der Zelle seines Vaters, das heißt, daß er es als eines der wenigen Dinge bei seiner Festnahme mitgenommen hatte – warum? Er hatte die Frau an seinem linken Arm in den Tod gejagt, und das hatte ihn selbst vor ein Exekutionskommando gebracht, ihn, den einzig Sterblichen. Warum dann ein Foto von jemandem, den es nicht gab und der folglich nicht sterben konnte? Gab es sie für ihn also doch? War sie also doch gestorben? Wie erklärlich war der Mensch? Wie erklärlich war er selbst?