Der Morgen des ersten Weihnachtstages brach an, als wir von der Rue d’Odessa mit zwei Negerinnen von der Telefongesellschaft heimkamen. Das Feuer war erloschen, und wir alle waren so müde, daß wir mit den Kleidern ins Bett krochen. Die, die ich hatte, die sich den ganzen Abend wie ein reißender Leopard gebärdet hatte, fiel in tiefen Schlaf, als ich sie bestieg. Eine Weile arbeitete ich auf ihr herum, wie man an einem Menschen herumarbeitet, der ertrunken oder mit Gas vergiftet ist. Dann gab ich es auf und schlief selbst tief ein.
Die ganzen Feiertage hindurch bekamen wir morgens, mittags und abends Champagner – den billigsten und besten Champagner. Zum Jahresende sollte ich nach Dijon fahren, wo mir ein unbedeutender Posten als Austauschlehrer für Englisch angeboten worden war, eine dieser französisch-amerikanischen Freundschaftseinrichtungen, durch die das Einvernehmen und der gute Wille zwischen Schwesterrepubliken gefördert werden sollen. Fillmore war von der Aussicht begeisterter als ich – er hatte guten Grund dazu. Für mich bedeutete es nur einen Umzug von einem Fegefeuer in ein anderes. Vor mir lag keine Zukunft, nicht einmal ein Gehalt war mit der Arbeit verbunden. Es wurde von einem erwartet, daß man sich glücklich schätzte, das Vorrecht zu genießen, das Evangelium französisch-amerikanischer Freundschaft verbreiten zu dürfen. Es war eine Aufgabe für den Sohn eines reichen Mannes.
Die Nacht vor meiner Abreise bummelten wir. Gegen Morgen begann es zu schneien. Wir schlenderten von einem Viertel ins andere, um einen letzten Blick auf Paris zu werfen. Beim Gang durch die Rue St. Dominique gerieten wir plötzlich an einen kleinen Platz, und dort stand die Eglise Ste. Clotilde. Menschen gingen zur Messe. Fillmore, der noch ein wenig benebelt war, bekam Lust, ebenfalls zur Messe zu gehen. «Zum Jux!» wie er es ausdrückte. Mir war etwas unbehaglich zumute. Erstens hatte ich noch nie einer Messe beigewohnt, und zweitens sah ich katzenjämmerlich aus und fühlte mich auch so.
Auch Fillmore sah recht mitgenommen aus, sogar noch verkommener als ich. Sein großer Schlapphut saß lächerlich auf seinem Kopf, und sein Mantel war noch voll Sägemehl von dem letzten Lokal, in dem wir gewesen waren. Gleichwohl marschierten wir hinein. Das Schlimmste, was uns passieren konnte, war, hinausgeworfen zu werden.
Ich war so erstaunt über den Anblick, der sich meinen Augen bot, daß ich meine ganze Unsicherheit verlor. Ich brauchte eine kleine Weile, um mich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Ich stolperte hinter Fillmore drein, wobei ich mich an seinem Ärmel festhielt. Ein geisterhaftes, unirdisches Geräusch drang an meine Ohren, eine Art dumpfen Geleiers, das aus den kalten Fliesen drang. Es war ein riesiges, düsteres Grabgewölbe. Leidtragende schlürften ein und aus. Eine Art Vorzimmer zur Unterwelt war es, in dem die Temperatur etwa 55 oder 60 Grad Fahrenheit betrug. Es ertönte keine Musik, außer diesem undefinierbaren Grabgesang, der in dem tiefen Keller hervorgebracht wurde und wie von einer Million im Dunkeln wehklagender Blumenkohlköpfe aufstieg. Menschen in Sterbehemden murmelten mit dem hoffnungslosen, niedergeschlagenen Blick von Bettlern vor sich hin, streckten in einem Zustand der Entrückung die Hand aus und flüsterten eine unverständliche Bitte.
Ich wußte, daß es so etwas gab; aber man weiß auch, daß es Schlachthäuser und Leichenschauhäuser und Seziersäle gibt. Instinktiv vermeidet man solche Orte. Auf der Straße war ich oft an einem Priester vorübergekommen, der ein Gebetbüchlein in Händen hielt und fleißig seine Texte memorierte. Idiot, sagte ich dann zu mir selber und ließ es dabei bewenden. Auf der Straße begegnet man allen Formen der Geistesgestörtheit, und der Priester war keineswegs die auffallendste. Zweitausend Jahre haben uns gegen die Idiotie der Sache abgestumpft. Aber wenn man plötzlich mitten in dieses Treiben versetzt wird, wenn man die kleine Welt sieht, in welcher der Priester wie ein Wecker funktioniert, dann regen sich in einem leicht ganz andere Gefühle.
Einen Augenblick begann all dieses Gegeifer und Lippengemurmel beinahe einen Sinn zu bekommen. Etwas spielte sich ab, eine Art stummen Schauspiels, das mich nicht ganz in seinen Bann zu schlagen vermochte, mich aber doch fesselte. Auf der ganzen Welt findet man überall, wo es diese trübbeleuchteten Grabgewölbe gibt, dieses unglaubwürdige Schauspiel – dieselbe elende Temperatur, die gleiche zwielichtige Helle, das gleiche Summen und Brummen. In der gesamten christlichen Welt kriechen schwarz gekleidete Menschen zu gewissen festgesetzten Stunden vor den Altar, wo der Priester mit einem kleinen Buch in der einen Hand und einer Tischglocke oder einem Zerstäuber in der anderen dasteht und ihnen etwas vormurmelt in einer Sprache, die, selbst wenn sie verständlich wäre, keine Spur von Sinn mehr hat. Höchstwahrscheinlich segnet er sie. Segnet das Land, segnet den Herrscher, segnet die Waffen, die Schlachtschiffe, die Munition und die Handgranaten. Kleine Knaben, wie die Engel des Herrn gekleidet, umgeben ihn am Altar und singen mit Altstimme und Sopran. Unschuldsvolle Lämmer. Alle in Chorhemden, geschlechtslos wie der Priester selbst, der gewöhnlich plattfüßig und obendrein kurzsichtig ist. Ein schönes, zwitterhaftes Miaugeschrei. Das Geschlecht zu einer Melodie in J-moll ins Joch gespannt.
Ich sah es mir an, so gut ich das in dem düsteren Licht konnte. Es war gleichzeitig faszinierend und verblüffend. Auf der ganzen gesitteten Welt, dachte ich bei mir. Auf der ganzen Welt. Wirklich wundervoll. Regen oder Sonnenschein, Hagel, Schnee, Donner, Blitz, Krieg, Hungersnot oder Pestilenz stören sie nicht im geringsten. Immer die gleiche elende Temperatur, der nämliche Hokuspokus, dieselben hohen Schnürstiefel und die Sopran und Alt singenden kleinen Engel des Herrn. Am Ausgang hängt eine kleine Sammelbüchse zur Förderung des himmlischen Werkes. Auf daß Gottes Segen herabregnen kann auf König und Vaterland, auf Schlachtschiffe und Sprengstoffe, Panzer und Flugzeuge. Auf daß der Arbeiter mehr Kraft in seinen Armen habe, mehr Kraft, um Pferde, Kühe und Schafe zu schlachten, mehr Kraft, um Löcher in eiserne Tragbalken zu stanzen, mehr Kraft, um Knöpfe an anderer Leute Hosen zu nähen, mehr Kraft, um Karotten und Nähmaschinen und Automobile zu verkaufen, mehr Kraft, um Insekten zu vertilgen, Ställe zu säubern, Müllkästen zu entleeren und Toiletten zu schrubben, mehr Kraft, um Leitartikel zu schreiben und Untergrundbahn-Fahrkarten zu lochen. Kraft … Kraft. All dieses Lippengemurmel und aufgeblasene Getue, nur um ein wenig Kraft herbeizuflehen!
Wir gingen von einer Stelle zur anderen und beobachteten das Schauspiel mit jener Klarsichtigkeit, die auf einen die ganze Nacht währenden Bummel folgt. Wir müssen ziemlich aufgefallen sein, wie wir so mit aufgeschlagenen Mantelkrägen herumschlurften, ohne uns ein einziges Mal zu bekreuzigen oder ein einziges Mal die Lippen zu bewegen, außer um eine pietätlose Bemerkung zuflüstern. Vielleicht wäre alles unbemerkt geblieben, wenn nicht Fillmore gerade mitten während des Gottesdienstes hinter dem Altar hätte vorbeigehen wollen. Er suchte den Ausgang und dachte wohl, er könne bei dieser Gelegenheit einen eingehenden Blick auf das Allerheiligste werfen, gewissermaßen eine Nahaufnahme davon mitnehmen. Wir waren gut vorbeigekommen und gingen gerade auf einen Lichtspalt zu, der den Ausgang bezeichnen mußte, als plötzlich ein Geistlicher aus dem Dunkel hervortrat und sich uns in den Weg stellte. Er wollte wissen, wohin wir gingen und was wir hier zu suchen hätten. Wir antworteten recht höflich, daß wir den Ausgang suchten. Wir gebrauchten das englische Wort ‹Exit›, denn wir waren im Augenblick so verblüfft, daß uns der französische Ausdruck für Ausgang nicht einfiel. Ohne ein Wort der Erwiderung ergriff er uns fest am Arm und gab uns, indem er eine Tür öffnete – es war eine Seitentür –, einen Stoß, und wir torkelten in das blendende Tageslicht hinaus. Es geschah so plötzlich und unerwartet, daß wir, bereits auf dem Gehsteig, noch ganz benommen waren. Wir gingen ein paar Schritte, mit den Augen blinzelnd, und dann drehten wir uns beide instinktiv um: der Pfarrer stand noch immer auf den Stufen, bleich wie ein Gespenst, und schimpfte wie der Teufel. Er muß höllisch wütend gewesen sein. Wenn ich es mir später überlegte, konnte ich ihm keinen Vorwurf daraus machen. Aber in jenem Augenblick, als ich ihn in seinem langen Talar und das Käppchen auf dem Kopf dastehen sah, erschien er mir so lächerlich, daß ich in Lachen ausbrach. Ich sah Fillmore an, und er begann gleichfalls zu lachen. Eine ganze Minute standen wir so da und lachten dem armen Kerl gerade ins Gesicht. Er war so verwirrt, nehme ich an, daß er einen Augenblick nicht wußte, was er tun sollte. Plötzlich jedoch schickte er sich an, die Stufen herunterzurennen und drohte uns, als meinte er es ernst, mit der Faust. Als er aus dem Bereich der Kirche heraus war, lief er in vollem Galopp. Inzwischen riet mir ein Selbsterhaltungsinstinkt, uns zu verziehen. Ich ergriff Fillmore am Mantelärmel und rannte los. Er sagte wie ein Idiot: «Nein, nein! Ich will nicht rennen!» – «Los, komm!» rief ich ihm zu. «Wir hauen hier besser ab. Dieser Kerl ist glatt verrückt.» Und wir liefen davon, so rasch uns unsere Beine tragen wollten.
Auf dem Weg nach Dijon, während wir noch immer über die Geschichte lachten, fiel mir wieder ein ziemlich ähnlicher, spaßiger Vorfall ein, der sich während meines kurzen Aufenthaltes in Florida zugetragen hatte. Es war während der berühmten Hausse, als ich – wie tausend andere – ohne einen Pfennig auf der Straße lag. Bei dem Versuch, mich aus dieser Notlage zu befreien, geriet ich zusammen mit einem Freund richtig in die Patsche. Jacksonville, wo wir für etwa sechs Wochen gestrandet waren, befand sich praktisch in einem Belagerungszustand. Alle Landstreicher der Welt und eine Menge von Burschen, die nie zuvor Landstreicher gewesen waren, schienen nach Jacksonville verschlagen worden zu sein. Die YMCA, die Heilsarmee, die Feuerwehrhäuser und Polizeistationen, die Hotels, die Herbergen, alles war überfüllt. Völlig complet, und überall gab es diesbezügliche Anschläge. Die Einwohner von Jacksonville hatten sich so verhärtet, daß es mir vorkam, als liefen sie in Panzerhemden herum. Wieder war es die alte Geschichte mit dem Essen. Essen und einen Platz, wo man sich hinhauen konnte. Das Essen kam aus dem Hinterland in Waggonladungen: Orangen und Pampelmusen und alle Arten saftiger Nahrungsmittel. Wir pflegten zu den Güterschuppen zu gehen und nach verfaultem Obst zu suchen, aber sogar das war rar.
Eines Abends schleppte ich in meiner Verzweiflung meinen Freund Joe während des Gottesdienstes in eine Synagoge. Es war eine reformierte Gemeinde, und der Rabbi machte mir einen recht angenehmen Eindruck. Auch die Musik hatte es mir angetan, diese durchdringende Wehklage der Juden. Sobald der Gottesdienst beendet war, ging ich in das Arbeitszimmer des Rabbi und bat ihn um eine Unterredung. Er empfing mich recht freundlich, bis ich ihm mein Anliegen vorgetragen hatte. Dann war er einfach entsetzt. Ich hatte ihn nur um eine Nothilfe für meinen Freund Joe und mich gebeten. Nach der Art und Weise, wie er mich ansah, hätte man glauben mögen, ich hätte ihn gebeten, die Synagoge als Kegelbahn benutzen zu dürfen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fragte er mich plötzlich rundheraus, ob ich Jude sei oder nicht. Als ich verneinte, schien er völlig aus dem Häuschen. Warum ging ich einen jüdischen Priester um Hilfe an? Ich erwiderte ihm naiv, ich hätte immer mehr Vertrauen zu den Juden als zu den Andersgläubigen gehabt. Ich sagte das bescheiden, als wäre es einer meiner besonderen Fehler. Außerdem war es wahr. Aber er schien nicht im geringsten geschmeichelt. Nein, mein Lieber. Er war entsetzt. Um mich loszuwerden, schrieb er ein paar Zeilen an die Leute von der Heilsarmee: «Dorthin müssen Sie sich wenden», sagte er und drehte mir schroff den Rücken zu, um sich seinen Schäfchen zu widmen.
Die Heilsarmee hatte uns natürlich nichts zu bieten. Hätten wir jeder einen Vierteldollar gehabt, dann hätten wir eine Matratze auf dem Fußboden mieten können. Aber wir besaßen zusammen nicht einmal zehn Cents. Wir gingen in den Stadtpark und streckten uns auf einer Bank aus. Es regnete, und deshalb deckten wir uns mit Zeitungen zu. Wir lagen wohl nicht viel länger als eine halbe Stunde dort, als ein Polyp daherkam und uns ohne ein Wort der Warnung einen Tüchtigen überzog, so daß wir im Nu hoch und auf den Beinen waren und einen kleinen Tanz aufführten, wenn uns auch nicht nach Tanzen zumute war. Ich fühlte mich so verdammt niedergeschlagen und elend, so unglücklich, so lausig, nachdem mir dieser halbidiotische Saukerl eins über den Hintern gezogen hatte, daß ich das Rathaus hätte in die Luft sprengen können.
Am nächsten Morgen erschienen wir, um diesen gastfreundlichen Hurensöhnen eins auszuwischen, munter und frühzeitig an der Tür eines katholischen Pfarrers. Diesmal ließ ich Joe das Wort ergreifen. Er war Ire und sprach ein wenig irischen Dialekt. Auch hatte er sehr sanfte blaue Augen und konnte sie ein wenig tränen lassen, wenn er wollte. Eine Nonne in Schwarz öffnete uns die Tür, forderte uns jedoch nicht auf, hereinzukommen. Wir sollten im Vorraum warten, bis sie den geistlichen Herrn holte. Nach ein paar Minuten kam er, der geistliche Herr, schnaufend wie eine Lokomotive. Was wollten wir, daß wir jemand wie ihn so früh am Morgen störten? Etwas zu essen und eine Klappe zum Hineinhauen, sagten wir unschuldig. Und wo stammten wir her? – wollte der geistliche Herr sofort wissen. Aus New York. Aus New York, was? Dann geht besser so rasch ihr könnt dorthin zurück, meine Lieben – und ohne ein weiteres Wort schlug uns der große, gedunsene, rübengesichtige Schuft die Tür vor der Nase zu. Eine Stunde später, während wir hilflos wie zwei betrunkene Schoner herumkreuzten, kamen wir zufällig wieder am Pfarrhaus vorbei. So wahr mir Gott helfe, die große, geil aussehende Rübe kam in einer Limousine aus dem Zufahrtsweg herausgefahren! Im Vorbeifahren blies er uns eine Wolke Tabaksrauch in die Augen, so als wollte er sagen: ‹Das für euch!› Es war eine schöne Limousine mit zwei Reservereifen hinten drauf, und der geistliche Herr saß mit einer großen Zigarre im Mund am Steuer. Es muß eine Corona-Corona gewesen sein, so dick und köstlich sah sie aus. Er saß bequem, darüber gab’s keinen Zweifel. Ich konnte nicht sehen, ob er einen Priesterrock anhatte oder nicht. Ich konnte nur das Bratenfett von seinen Lippen triefen sehen und die dicke Zigarre mit ihrem Fünfzig-Cent-Aroma.
Den ganzen Weg nach Dijon mußte ich an die Vergangenheit denken. Ich dachte an all die Dinge, die ich hätte sagen und tun können, die ich aber in den bitteren, demütigenden Augenblicken nicht gesagt oder getan hatte, in denen das Betteln um wenigstens eine Brotkruste so viel bedeutet wie sich geringer machen als einen Wurm. Stocknüchtern, wie ich war, litt ich noch immer unter diesen alten Beleidigungen und Demütigungen. Ich konnte noch immer den Schlag über den Hintern spüren, den mir der Polyp im Stadtpark versetzt hatte, obwohl man vielleicht sagen wird, es habe sich dabei um eine reine Bagatelle, eine harmlose Tanzstunde gehandelt. Ich wanderte durch die ganzen Vereinigten Staaten und weiter nach Kanada und Mexiko. Überall war es dieselbe Geschichte. Wer Brot will, muß ins Geschirr, muß in Reih und Glied marschieren. Über die ganze Erde breitet sich eine graue Wüste, ein Teppich aus Stahl und Zement. Die Produktion! Mehr Schraubenmuttern und Nägel, mehr Stacheldraht, mehr Hundekuchen, mehr Rasenmäher, mehr Kugellager, mehr Sprengstoffe, mehr Panzer, mehr Giftgas, mehr Seife, mehr Zahnpasta, mehr Zeitungen, mehr Bildung, mehr Kirchen, mehr Bibliotheken, mehr Museen. Vorwärts! Die Zeit drängt. Der Embryo zwängt sich durch den Ausgang der Gebärmutter, und kein Tröpfchen Speichel erleichtert das Durchkommen. Eine trockene, würgende Geburt. Kein Wimmern, kein Pieps. Salut au monde! Ein Salut von einundzwanzig vom Mastdarm abgefeuerten Kanonenschüssen. «In und außer Hause trage ich meinen Hut, wie mir’s gefällt», sagte Walt. Das war zu einer Zeit, als man noch einen auf seinen Kopf passenden Hut bekommen konnte. Aber die Zeit vergeht. Um heute einen passenden Hut zu bekommen, muß man den elektrischen Stuhl besteigen. Da stülpen sie einem eine Kappe auf den Schädel. Sitzt ein bißchen fest, was? Aber gleichviel, sie paßt.
Man muß in einem wunderlichen Land wie Frankreich leben, auf dem Meridian wandeln, der die Hemisphären von Leben und Tod scheidet, um zu wissen, was für unberechenbare Aussichten drohen. Der elektrische Leib! Die demokratische Seele! Flut! Heilige Mutter Gottes, was soll dieser Unsinn? Die Erde ist ausgedorrt und rissig. Männer und Frauen kommen zusammen wie Geierschwärme bei einem stinkenden Aas, um sich zu paaren und wieder auseinanderzufliegen. Geier, die wie schwere Steine aus den Wolken fallen. Krallen und Schnäbel – das sind wir! Ein riesiger Verdauungsapparat mit einer Spürnase für totes Fleisch. Vorwärts! Vorwärts ohne Mitleid, ohne Erbarmen, ohne Liebe, ohne Verzeihen. Bitte um keinen Groschen und gib selber keinen! Mehr Schlachtschiffe, mehr Giftgase, mehr Sprengstoffe! Mehr Gonokokken! Mehr Streptokokken! Mehr Bombenflugzeuge! Immer mehr und mehr, bis die ganze beschissene Kiste auseinanderfliegt, und die Erde dazu!
Als ich aus dem Zug stieg, wußte ich sofort, daß ich einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Das Gymnasium lag ein kleines Stück vom Bahnhof entfernt. Ich ging in der frühen Winterdämmerung die Hauptstraße hinunter meinem Bestimmungsort zu. Ein leichter Schnee fiel, die Bäume schimmerten im Frost. Ich kam an ein paar riesigen, leeren Cafés vorüber, die wie traurige Wartesäle aussahen. Stumme, leere Trauer – das war mein Eindruck. Eine trostlose, dreckig-trübselige Stadt, aus der Senf in Wagenladungen, Bottichen, Tonnen, Fässern, Krügen und niedlichen irdenen Töpfchen versandt wird.
Der erste Blick auf das Gymnasium jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich fühlte mich so unentschlossen, daß ich am Eingang stehenblieb, um zu überlegen, ob ich eintreten sollte oder nicht. Aber da ich kein Geld für die Rückfahrkarte besaß, hatte es nicht viel Zweck, die Frage zu überlegen. Einen Augenblick dachte ich daran, Fillmore ein Telegramm zu senden, aber dann wußte ich nicht, was für eine Entschuldigung ich vorbringen sollte. Es blieb nichts anderes übrig, als mit geschlossenen Augen hineinzumarschieren.
Es stellte sich heraus, daß Monsieur le Proviseur ausgegangen war – er hatte seinen freien Tag, hieß es. Ein kleiner Buckliger erschien und erbot sich, mich in das Büro von Monsieur le Censeur, des zweiten Bevollmächtigten, zu bringen. Ich ging ein wenig hinter ihm, fasziniert von der grotesken Art, wie er voranhoppelte. Er war ein kleines Ungeheuer, so wie man es in dem Vorraum jeder Kirche in Europa antreffen kann, die nur einigermaßen etwas auf sich hält.
Das Büro von Monsieur le Censeur war groß und kahl. Ich setzte mich wartend auf einen steifen Stuhl, während der Bucklige loshoppelte, ihn zu suchen. Ich fühlte mich fast wie zu Hause. Die Atmosphäre des Raumes erinnerte mich lebhaft an gewisse Wohltätigkeitsbüros in den Staaten, wo ich oft stundenlang herumsitzen mußte, bis mich ein glattzüngiger Kerl ins Kreuzverhör nahm.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und mit zierlich gesetztem Schritt kam Monsieur le Censeur hereinstolziert. Ich konnte gerade noch ein Kichern unterdrücken. Er hatte genau so einen Schoßrock an, wie ihn Boris immer trug, und über seiner Stirn hing eine Ponyfranse, so etwas wie eine hingeklebte Schmachtlocke, wie sie Smerdjakow gehabt haben mag. Ernst und feierlich, mit einem Luchsauge, verschwendete er keine Begrüßungsworte an mich. Sofort zog er die Liste hervor, auf denen die Namen der Schüler, die Unterrichtsstunden, die Klassen usw., alles in peinlich sauberer Handschrift, verzeichnet waren. Er sagte mir, wieviel Kohlen und Holz mir zustanden, und danach belehrte er mich, daß es mir überlassen sei, über meine Freizeit nach Belieben zu verfügen. Letzteres war das erste Angenehme, das ich von ihm hörte. Es klang so beruhigend, daß ich rasch ein Gebet für Frankreich sprach, für Heer und Marine, das Unterrichtswesen, die bistros, die ganze gottverfluchte Kiste.
Nach dieser Tändelei läutete er eine kleine Glocke, woraufhin prompt der Bucklige erschien, um mich ins Büro von Monsieur l’Econome zu geleiten. Dort herrschte eine etwas andere Atmosphäre. Mehr wie in einem Güterbahnhof, überall Frachtbriefe und Gummistempel und bleichgesichtige Angestellte, die mit kratzenden Federn in riesige, gewichtige Hauptbücher kritzelten. Nachdem mir meine Zuteilung an Kohlen und Holz zugewiesen war, marschierten der Bucklige und ich mit einem Schubkarren dem Schlafsaal zu. Ich sollte ein Zimmer im obersten Stockwerk, im gleichen Flügel wie die pions, bekommen. Die Sache nahm einen humoristischen Anstrich an. Ich wußte nicht, auf was, zum Teufel, ich mich als nächstes gefaßt machen mußte. Vielleicht auf einen Spucknapf. Das Ganze schmeckte recht nach einer Vorbereitung zum Kampf, es fehlten nur noch ein Tornister und ein Gewehr – und die Erkennungsmarke.
Das mir zugewiesene Zimmer war recht geräumig, mit einem kleinen Ofen, der ein gebogenes Rohr hatte, das gerade über dem eisernen Bett ein Knie machte. Eine große Kiste für Holz und Kohlen stand neben der Tür. Die Fenster gewährten einen Blick auf eine Reihe sämtlich aus Stein gebauter, unansehnlicher kleiner Häuser, in denen der Krämer, der Bäcker, der Schuster, der Metzger usw. wohnten – alles recht dümmlich aussehende Bauernlümmel. Ich blickte über die Dächer nach den kahlen Hügeln, wo ein Zug vorbeiratterte. Das Pfeifen der Lokomotive schrillte klagend und hysterisch.
Nachdem der Bucklige für mich Feuer gemacht hatte, erkundigte ich mich nach der Fütterung. Es war noch nicht ganz Essenszeit. Ich legte mich im Mantel aufs Bett und zog die Decke über mich. Neben mir stand der unvermeidliche wackelige Nachttisch mit dem Pißpott drin. Ich stellte den Wecker auf den Tisch und beobachtete, wie die Minuten verstrichen. In das feuchte Zimmerloch sickerte von der Straße her ein bläuliches Licht. Ich lauschte auf das Vorüberrattern der Lastautos, während ich gedankenverloren das Ofenrohr mit seinem Knie anstarrte, das mit einem Stück Draht zusammengehalten war. Die Kohlenkiste erregte mein Interesse. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Zimmer mit einer Kohlenkiste bewohnt. Und nie in meinem Leben hatte ich Feuer gemacht oder Kinder unterrichtet. Ebensowenig hatte ich jemals in meinem Leben ohne Bezahlung gearbeitet. Ich fühlte mich gleichzeitig frei und gefesselt, so wie man sich kurz vor der Wahl fühlt, wenn alle Schwindler von Kandidaten aufgestellt sind und man bekniet wird, seine Stimme dem richtigen Mann zu geben. Ich fühlte mich wie ein Tagelöhner, wie ein Hans Dampf in allen Gassen, wie ein Jäger, wie ein Seeräuber, wie ein Galeerensklave, wie ein Pädagoge, wie ein Wurm und eine Laus. Ich war frei, aber meine Glieder waren gefesselt. Eine demokratische Seele mit einer Eßmarke, aber ohne Bewegungsfreiheit, ohne Stimme. Ich fühlte mich wie eine an ein Brett genagelte Qualle. Vor allem fühlte ich mich hungrig. Die Uhrzeiger rückten langsam vor. Noch galt es, weitere zehn Minuten totzuschlagen, bis es Feueralarm geben würde. Die Schatten im Zimmer wurden tiefer. Es wurde unheimlich still, eine gespannte Stille, die an meinen Nerven zerrte. Kleine Schneeklumpen klebten an den Fensterscheiben. In weiter Ferne stieß eine Lokomotive einen schrillen Schrei aus. Dann wieder Totenstille. Der Ofen hatte zu glühen angefangen, strahlte aber keine Hitze aus. Ich fürchtete schon, daß ich einschlummern und das Essen versäumen könnte. Das würde bedeuten, daß ich die ganze Nacht mit leerem Magen wachliegen mußte. Ich bekam einen panischen Schrecken.
Gerade einen Augenblick vor Ertönen des Gongs sprang ich aus dem Bett, schloß hinter mir die Tür und stürmte in den Hof hinunter. Dort verlief ich mich. Ein viereckiger Häuserblock nach dem anderen, eine Treppenflucht nach der anderen. Ich lief von einem Gebäude ins andere auf der verzweifelten Suche nach dem Speisesaal. Ich kam an einer langen Reihe junger Leute vorüber, die in einer Kolonne Gott weiß wohin marschierten. Sie schritten dahin wie Kettensträflinge mit einem Sklaventreiber an der Spitze. Endlich sah ich ein energisch aussehendes Individuum mit einem steifen Hut auf dem Kopf auf mich zukommen. Ich hielt ihn an, um nach dem Weg zum Speisesaal zu fragen. Es traf sich, daß ich den Richtigen angehalten hatte. Es war Monsieur le Proviseur, und er schien entzückt, mir so zufällig begegnet zu sein. Er wollte sogleich wissen, ob ich gut untergebracht sei, ob er noch etwas für mich tun könne. Ich sagte ihm, alles sei in Ordnung. Es sei nur ein wenig kalt, wagte ich hinzuzusetzen. Er versicherte mir, dieses Wetter sei recht ungewöhnlich. Dann und wann kämen Nebel und ein wenig Schnee, und es würde für eine Weile unerquicklich und so weiter und so fort. Die ganze Zeit hielt er mich am Arm, während er mich zum Speisesaal geleitete. Er schien ein recht anständiger Kerl zu sein. Ein richtiger Kamerad, dachte ich bei mir. Ich ging sogar so weit, mir vorzustellen, daß ich später dicke Freundschaft mit ihm schließen könnte, daß er mich an einem bitterkalten Abend zu sich in sein Zimmer einladen und mir einen heißen Grog brauen würde. Ich malte mir alle möglichen freundlichen Dinge in den paar Augenblicken aus, die es dauerte, um die Tür zum Speisesaal zu erreichen. Hier, während meine Gedanken eine Meile in der Minute dahinstürmten, schüttelte er mir die Hand und wünschte mir, wobei er den Hut zog, gute Nacht. Ich war so verwirrt, daß ich ebenfalls meinen Hut lüftete. Das war das Richtige, wie ich bald herausfand. So oft man an einem Lehrer oder auch an Monsieur l’Econome vorbeikommt, zieht man den Hut. Auch wenn man ein dutzendmal am Tag an dem gleichen Kerl vorbeikommt. Das ändert nichts. Man muß grüßen, auch wenn der Hut in Fransen geht. Die Höflichkeit verlangt es.
Jedenfalls hatte ich jetzt den Speisesaal gefunden. Er glich einer Klinik der East Side, mit gekachelten Wänden, greller Beleuchtung und Tischen mit Marmorplatten. Und natürlich gab es einen großen Ofen mit Knierohr. Das Essen war noch nicht aufgetragen. Ein Krüppel rannte ein und aus mit Tellern, Messern, Gabeln und Weinflaschen. In einer Ecke unterhielten sich lebhaft mehrere junge Leute. Ich ging zu ihnen und stellte mich vor. Sie bereiteten mir einen sehr herzlichen Empfang. Einen eigentlich fast zu herzlichen. Ich konnte nicht ganz dahinterkommen. Im Nu begann sich der Raum zu füllen. Rasch wurde ich von einem dem anderen vorgestellt. Dann bildeten sie einen Kreis um mich, füllten die Gläser und begannen zu singen:
«L’autre soir l’idée m’est venue
Cré nom de Zeus d’enculer un pendu;
Le vent se lève sur la potence,
Voilà mon pendu qui se balance,
J’ ai dû l’enculer en sautant,
Cré nom de Zeus, on est jamais content.
Baiser dans un con trop petit,
Cré nom de Zeus, on s’écorche le vit;
Baiser dans un con trop large,
On ne sait pas où l’on décharge;
Se branler étant bien emmerdant,
Cré nom de Zeus, on est jamais content.»
Danach meldete Quasimodo, daß das Essen angerichtet sei.
Sie waren ein lustiger Verein, les surveillants. Da war Kroa, der wie ein Schwein rülpste und immer einen lauten Furz ließ, wenn er sich zu Tisch setzte. Er konnte dreizehnmal hintereinander furzen, belehrte man mich. Er hielt den Rekord. Dann war da Monsieur le Prince, ein Athlet, der gerne am Abend, wenn er in die Stadt ging, einen Smoking anzog. Er hatte einen schönen Teint, ganz wie ein Mädchen, und rührte nie Wein an oder las etwas, was seinen Geist anstrengen konnte. Neben ihm saß Petit Paul, aus dem Midi, der die ganze Zeit nur an Mösen dachte; er pflegte jeden Tag zu sagen: «A partir de jeudi je ne parlerai plus des femmes.» Er und Monsieur le Prince waren unzertrennlich. Dann gab es noch Passeleau, ein veritabler junger Taugenichts, der Medizin studierte und jedermann anpumpte. Er sprach ununterbrochen über Ronsard, Villon und Rabelais. Mir gegenüber saß Mollesse, Agitator und Organisator der pions, der sich’s nicht nehmen ließ, das Fleisch nachzuwiegen, um zu sehen, ob nicht ein paar Gramm fehlten. Er bewohnte ein kleines Zimmer in der Krankenabteilung. Sein Todfeind war Monsieur l’Econome, was kein besonderes Verdienst von ihm war, denn jedermann haßte dieses Individuum. Sein Kamerad wurde Le Pénible genannt, ein hartgesotten aussehender Bursche mit einem Habichtsprofil, der strengste Sparsamkeit an den Tag legte und sich als Geldverleiher betätigte. Er sah aus wie ein Holzschnitt von Albrecht Dürer, ein Gemisch all der strengen, herben, mürrischen, verbitterten, unseligen, unglücklichen und in sich gekehrten Teufel, welche die Ruhmeshalle von Deutschlands mittelalterlichen Rittern bevölkern. Zweifellos ein Jude. Jedenfalls wurde er kurz nach meiner Ankunft bei einem Autounfall getötet, ein Umstand, durch den mir die Rückerstattung von dreiundzwanzig Francs erspart blieb. Mit Ausnahme von Renaud, der neben mir saß, ist meine Erinnerung an die anderen erloschen. Sie gehörten zu der Kategorie farbloser Menschen, aus denen die Welt der Ingenieure, Architekten, Zahnärzte, Apotheker, Lehrer usw. besteht. Es gab nichts, was sie von den groben Klötzen unterschieden hätte, an denen sie sich wohl später ihre Schuhe abwischten. Sie waren Nullen in jedem Sinne des Wortes, Nummern, die den Kern einer achtbaren und kläglichen Bürgerschaft bilden. Sie aßen mit gesenkten Köpfen und waren immer die ersten, die eine zweite Portion verlangten. Sie hatten einen guten Schlaf und beklagten sich nie. Sie waren weder lustig noch traurig. Sie gehörten zu den Lauen, die Dante in die Vorhölle verwies. Die gesellschaftliche Elite.
Nach dem Abendessen war es üblich, sofort in die Stadt zu gehen, außer man hatte Dienst im Schlafsaal. Im Mittelpunkt der Stadt waren die Cafés, riesige, öde Hallen, wo die verschlafenen Geschäftsleute von Dijon sich versammelten, um Karten zu spielen und der Musik zu lauschen. Es war warm in diesen Cafés, das ist das Beste, was ich zu ihren Gunsten sagen kann. Auch die Sitze waren recht bequem. Und immer gab es dort ein paar Huren, die sich für ein Glas Bier oder eine Tasse Kaffee zu einem setzten und mit einem quatschten. Die Musik andererseits war grausig. Was für eine Musik! In einer Winternacht kann in einem schmutzigen Loch wie Dijon nichts quälender, nichts nervenaufreibender sein als der Klang einer französischen Kapelle. Besonders einer dieser traurigen Damenkapellen, wo alles ein Quietschen und Furzen ist, vorgetragen mit dem trockenen, algebraischen Rhythmus und der hygienischen Gleichförmigkeit von Zahnpasta. Ein Gefiedel und Gekratze, ausgeführt für so und so viele Francs die Stunde – um das Weitere schert man sich den Teufel! Welche Melancholie! Als ob der alte Euklid sich auf seine Hinterbeine gestellt und Blausäure geschluckt hätte. Der ganze Bereich der Idee, von der Vernunft so ausgepowert, daß nichts übrigbleibt, um daraus Musik zu machen, außer den leeren Schlitzen der Ziehharmonika, durch die der Wind pfeift und den Äther zerreißt. Jedenfalls, im Zusammenhang mit diesem Vorposten von Musik zu sprechen, ist ähnlich, wie in der Todeszelle von Champagner zu träumen. Die Musik war meine kleinste Sorge. Ich dachte nicht einmal ans Ficken, so düster, so entmutigend, so trocken, so grau war alles. Auf meinem Heimweg in der ersten Nacht entdeckte ich an der Tür eines Cafés eine Inschrift aus dem Gargantua. Innen war das Café wie ein Leichenschauhaus. Dennoch, vorwärts!
Ich hatte eine Menge Zeit zur Verfügung und keinen Sou zum Ausgeben. Zwei oder drei Konversationsstunden am Tag – das war alles. Und was nützte es, diesen armen Hunden Englisch beizubringen? Sie taten mir verteufelt leid. Den ganzen Vormittag mußten sie sich durch John Gilping’s Ride durchackern, um am Nachmittag zu mir zu kommen und sich in einer toten Sprache zu üben. Ich dachte an die schöne Zeit, die ich damit verschwendet hatte, Vergil zu lesen oder mich durch so unverständliches Zeug wie Hermann und Dorothea hindurchzuarbeiten. Was für unvernünftige, brotlose Künste! Ich dachte an Carl, der den Faust von hinten aufsagen kann und nie ein Buch schreibt, ohne seinen unsterblichen, unbestechlichen Goethe über den Schellenkönig zu loben. Und doch besaß er nicht genug Verstand, sich eine reiche Pritsche zu angeln und Unterwäsche zum Wechseln aufzutreiben. Dieser Liebe zur Vergangenheit, die meist mit Brotmangel und Barackenwohnungen endet, haftet etwas Obszönes an. Es ist etwas Obszönes an diesem geistigen Getue, das einem Idioten erlaubt, Dicke Berthas und Schlachtschiffe und Sprengstoffe mit Weihwasser zu besprengen. Jeder mit den Klassikern vollgestopfte Mensch ist ein Feind der Menschheit.
Hier war ich nun, der das Evangelium französisch-amerikanischer Freundschaft verbreiten sollte, der Abgesandte eines Leichnams, der von der Errichtung des Weltfriedens träumte, nachdem er überall geraubt, nachdem er unerhörtes Leid und Elend verursacht hatte. Pfui! Worüber erwartete man, daß ich sprechen würde, frage ich mich. Über die Grashalme, über Zollmauern, die Unabhängigkeitserklärung, den letzten Bandenkrieg? Über was? Nur eben über was, möchte ich gerne wissen. Schön, ich sage es euch. Ich erwähnte diese Dinge nie. Ich fing sofort auf eigene Faust mit einem Unterricht in der Physiologie der Liebe an. Wie die Elefanten beim Liebesspiel vorgehen – das war’s! Es zündete wie ein Lauffeuer. Nach dem ersten Tag gab es keine leeren Bänke mehr. Nach dieser ersten englischen Unterrichtsstunde standen sie an der Tür an und warteten auf mich. Wir kamen großartig miteinander aus. Sie stellten mir alle möglichen Fragen, so als hätten sie noch nie das Geringste gelernt. Ich ließ sie loslegen. Ich brachte ihnen bei, noch kitzligere Fragen zu stellen. Fragt, was ihr wollt! – war mein Wahlspruch. Ich bin hier als bevollmächtigter Gesandter des Reiches freier Geister. Ich bin hier, um Fieber und Gärung zu wecken. «In gewisser Weise», sagt ein hervorragender Astronom, «scheint das stoffliche Weltall zu vergehen wie eine Geschichte, die erzählt ist, es scheint sich in Nichts aufzulösen wie eine Vision.» Das scheint das allgemeine Gefühl zu sein, das den brotlosen Künsten zugrunde liegt. Ich selbst glaube nicht daran. Ich glaube nicht einen Deut von dem, was einem diese Schwindler ins Hirn zu trichtern versuchen.
Zwischen den Unterrichtsstunden ging ich, wenn ich kein Buch zu lesen hatte, in den Schlafsaal hinauf und plauderte mit den pions. Sie waren rührend unwissend in allem, besonders auf dem Gebiet der Kunst. Fast ebenso unwissend wie die Schüler selber. Es war, als sei ich in ein privates kleines Narrenhaus ohne Ausgangsschilder eingetreten. Manchmal schnüffelte ich unter den Arkaden umher und beobachtete die Kleinen, wie sie mit riesigen Stücken Brot in ihren dreckigen Schnauzen daherkamen. Ich war immer hungrig, denn es war mir unmöglich, zum Frühstück hinunterzugehen, das zu einer verruchten Morgenstunde, gerade wenn das Bett mollig zu werden anfing, ausgegeben wurde. Riesige Näpfe voll blauem Kaffee mit dicken Weißbrotbrocken ohne Butter. Zum Mittagessen Bohnen oder Linsen mit Fleischstückchen darin, damit es appetitanregend aussah. Ein Essen wie für Kettensträflinge, für Steinklopfer. Sogar der Wein war jammervoll. Die Speisen waren entweder kraftlos oder verkocht. Sie enthielten zwar Kalorien, hatten aber keinen Geschmack. Monsieur l’Econome war für all das verantwortlich, hieß es. Er wurde dafür bezahlt, uns gerade noch über Wasser zu halten. Er fragte nicht, ob wir an Hämorrhoiden oder Karbunkeln litten; er erkundigte sich nicht, ob wir einen empfindlichen Gaumen oder die Eingeweide von Wölfen hatten. Warum sollte er auch? Er war angestellt, damit so und so viele Gramm Nahrung so und so viele Kilowatt Energie hervorbrachten. Alles in Pferdekräften ausgerechnet in den dicken Hauptbüchern, in welche die bleichgesichtigen Angestellten morgens, mittags und abends ihre Eintragungen kratzten. Soll und Haben mit einem roten Längsstrich durch die Mitte der Seite.
Wenn ich so die meiste Zeit mit leerem Magen um das Häuserviereck herumstrich, wurde ich langsam verrückt. Wie Karl der Einfältige, der arme Teufel – nur hatte ich keine Odette Champsdivers, mit der ich Stinkefingerchen spielen konnte. Die Hälfte der Zeit mußte ich Zigaretten von den Schülern annehmen, und während der Stunden kaute ich manchmal ein Stück trockenes Brot gemeinsam mit ihnen. Da mir ständig das Feuer ausging, verbrauchte ich bald meine Holzration. Es war eine teuflische Mühe, den Schreibstubenhengsten ein wenig Holz abzuschwatzen. Schließlich wurde ich darüber so aufgebracht, daß ich auf der Straße nach Brennholz suchte wie ein Araber. Erstaunlich, wie wenig Brennholz man in den Straßen von Dijon auftreiben konnte. Diese Fourage-Expeditionen führten mich jedoch in merkwürdige Bezirke. Ich lernte die kleine, nach Monsieur Philibert Papillon – einem toten Musiker, glaube ich – benannte Straße kennen, wo es eine Reihe von Bordellen gab. Hier war es immer lustiger. Es roch nach Küche und zum Trocknen aufgehängter Wäsche. Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf die armen darin hausenden Schwachköpfe. Sie waren besser dran als die armen Luder im Zentrum der Stadt, denen ich oft begegnete, wenn ich in einem Warenhaus herumstrich. Ich tat das häufig, um mich zu erwärmen. Sie taten es aus dem gleichen Grunde, vermute ich. Hielten Ausschau nach jemandem, der ihnen einen Kaffee zahlte. Durch die Kälte und Einsamkeit sahen sie ein wenig verschroben aus. Die ganze Stadt sah ein wenig verschroben aus, wenn das abendliche Blau auf sie herabsank. Man konnte die Hauptstraße jeden Donnerstag in der Woche bis zum Jüngsten Gericht auf und ab wandeln, ohne jemals einer mitfühlenden Seele zu begegnen. Sechzig- oder siebzigtausend – vielleicht sogar mehr – in wollenes Unterzeug gehüllte Menschen und kein Lokal, wo man hingehen, nichts, was man unternehmen konnte. Wagenladungen voll Senf werden hergestellt. Damenkapellen fiedeln die Lustige Witwe. Silberbestecke liegen in den großen Hotels auf. Der herzogliche Palast, der Stück um Stück, Stein um Stein zerfällt. Die vor Frost knarrenden Bäume. Ein unaufhörliches Geklapper von Holzschuhen. Die Universität, die Goethes Tod oder Geburt feierte, ich weiß nicht mehr was von beiden. (Gewöhnlich sind es die Todestage, die gefeiert werden.) Jedenfalls eine idiotische Angelegenheit. Alles gähnt und streckt sich.
Jedesmal, wenn ich durch die Anfahrt in das Häusergeviert kam, überfiel mich ein Gefühl grenzenloser Nutzlosigkeit. Außen freudlos und leer, innen freudlos und leer. Eine hohle Sterilität hängt über der Stadt, ein Nebel der Bücherweisheit. Schlacken und Asche der Vergangenheit. Rund um den Innenhof waren die Klassenzimmer angeordnet, kleine Hütten, wie man sie vielleicht in den Wäldern des Nordens zu sehen bekommt, in denen die Erzieher ihren Lastern die Zügel schießen ließen. An der Wandtafel das nutzlose Abrakadabra, das die zukünftigen Bürger der Republik ihr ganzes Leben lang nicht vergessen werden. Hin und wieder wurden die Eltern in dem dicht an der Anfahrt gelegenen großen Besuchszimmer empfangen, wo Büsten der Helden der klassischen Periode wie Molière, Racine, Corneille, Voltaire usw. standen, alle die Vogelscheuchen, welche die Minister mit befeuchteten Lippen zitieren, sooft ein Unsterblicher dem Wachsfigurenkabinett hinzugefügt wird. (Keine Büste von Villon, keine von Rabelais oder Rimbaud.) Jedenfalls trafen sich hier die Eltern und die Popanze, die der Staat anstellt, damit sie das Denken der Jugend in Sackgassen führen, zu feierlicher, geheimer Versammlung. Immer dieses Verbiegen, diese ewige Ziergärtnerei, um den Geist ansprechender zu gestalten. Gelegentlich kamen auch die Kleinen, die Sonnenblümchen, die bald aus dem Klassenzimmer verpflanzt werden sollten, um die städtischen Rasenplätze zu schmücken. Manche von ihnen waren nur Gummipflanzen, die leicht mit einem Hemdfetzen abgestaubt werden konnten. Sie alle zog es zu dem geliebten Leben in den Schlafsälen, sobald die Nacht anbrach. Die Schlafsäle, wo ein rotes Licht brannte, wo die Glocke wie ein Feuermelder schrillte, wo die Bodenbretter ausgetreten waren von dem hastigen Bemühen, in die Schulzimmer zu stürmen.
Und dann die Lehrer! Während der ersten paar Tage ging ich so weit, mit einigen von ihnen einen Händedruck zu tauschen, und natürlich gab es immer die Grußbezeigung mit dem Lüften des Hutes, wenn wir unter den Arkaden aneinander vorbeikamen. Was aber eine offenherzige Unterhaltung oder einen Spaziergang zur nächsten Straßenecke betrifft, um gemeinsam ein Glas zu trinken, so konnte davon keine Rede sein. Es war einfach unvorstellbar. Die meisten von ihnen sahen so aus, als hätte man sie zu Tode erschreckt. Jedenfalls gehörte ich einer anderen Hierarchie an. Sie wollten nicht einmal eine Laus mit jemandem wie mir gemeinsam haben. Sie auch nur anzusehen, reizte mich so verdammt, daß ich sie jedesmal leise vor mich hinmurmelnd verfluchte, wenn ich sie kommen sah. Ich stand dann meist an eine Säule gelehnt da, eine Zigarette im Mundwinkel und den Hut in die Stirn gezogen, und wenn sie bis auf Hörweite herangekommen waren, spuckte ich einen tüchtigen Speichelstrahl aus und lüftete den Hut. Ich nahm mir nicht die Mühe, meine Klappe aufzumachen und ihnen guten Tag zu wünschen. Ich murmelte einfach vor mich hin: «Leck mich!» und ließ es dabei bewenden.
Nach einer Woche kam es mir so vor, als sei ich mein ganzes Leben hier gewesen. Es war wie ein elender, beschissener Alptraum, den man nicht abzuschütteln vermag. Ich fiel in Koma, wenn ich nur daran dachte. Dabei war ich erst vor ein paar Tagen angekommen. Die Nacht brach an. Die Menschen huschten in dem nebligen Licht wie Ratten nach Hause. Die Bäume glitzerten mit diamantspitzer Bosheit. Ich vergegenwärtigte mir alles, tausendmal oder öfter. Vom Bahnhof zum Gymnasium war es wie ein Gang durch den Polnischen Korridor, alles zerfranst, zerklüftet, nervenzermürbend. Ein Pfad aus Totengebeinen, mit in Leichentücher gehüllten, gekrümmten und geduckten Gestalten. Aus Sardinengräten bestehende Rückgrate. Das Gymnasium selbst schien aus einem See dünnen Schnees aufzuragen, ein umgestülpter Berg, der hinunter zur Erdmitte deutete, wo Gott oder der Teufel damit beschäftigt ist, in einer Zwangsjacke Korn für das Paradies zu mahlen, das immer ein verregneter Traum bleibt. Wenn je die Sonne schien, so erinnere ich mich jedenfalls nicht daran. Ich erinnere mich nur an die kalten, glitschigen Nebel, die von den gefrorenen Sümpfen herüberwehten, wo die Eisenbahnschienen sich zwischen den düsteren Hügeln verkrochen. Unten in der Nähe des Bahnhofs gab es einen Kanal – oder vielleicht war es ein Fluß –, unter einem gelben Himmel versteckt, mit kleinen, dicht an den ansteigenden Uferhängen hingeklebten Hütten. Auch eine Kaserne gab es irgendwo, das fiel mir auf, denn immer wieder begegnete ich dann und wann kleinen Gelbgesichtern aus Indochina, verhutzelten, opiumgesichtigen Zwergen, die wie ausgedörrte, in Hobelspäne verpackte Skelette in ihren viel zu weiten Uniformen steckten. Die ganze gottverdammte Mittelalterlichkeit des Ortes war höllisch aufreizend und eigenwillig, wiegte sich mit leisem Stöhnen hin und her und sprang einen aus den Dachtraufen an, hing wie gehenkte Verbrecher von den Wasserspeiern herab. Immer wieder wandte ich mich um, ging wie ein Krebs, den man mit einer schmutzigen Gabel anstachelt. Alle diese dicken, kleinen Ungeheuer, diese steingehauenen Bilder, die der Fassade der Eglise St. Michel angekleistert waren, verfolgten mich durch die gewundenen Gassen und um die Ecken. Die ganze Fassade von St. Michel schien sich nachts aufzublättern wie ein Album, so daß man dem Schrecken der bedruckten Seite von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Wenn die Lichter erloschen und die eingemeißelten Zeichen leblos, tot wie Worte, verblaßten, dann war die Fassade wirklich schön. In jeder Spalte der alten, verwitterten Front heulte der dumpfe Sang des Nachtwindes, und über dem spitzenartigen Füllwerk kalter, steifer Verzierungen braute ein absinth-farbener Dunst von Nebel und Frost.
Hier, wo die Kirche stand, schien alles mit der Hinterseite nach vorne dazustehen. Die Kirche selbst muß vor Jahrhunderten des Fortschritts in Regen und Schnee von ihrer Grundfläche verschoben worden sein. Sie lag auf der Place Edgar-Quinet, gegen den Wind gestemmt wie ein totes Maultier. Durch die Rue de la Monnaie wehte der Wind wie weißes, wild flatterndes Haar. Er wirbelte um die weißen Verkehrssäulen, welche die freie Durchfahrt von Omnibussen und mit zwanzig Maultieren bespannten Fahrzeugen versperrten. Wenn ich in den frühen Morgenstunden in diesen Durchlaß einbog, begegnete ich manchmal Monsieur Renaud, der mir, wie ein hungriger Mönch in seine Kutte gehüllt, in der Sprache des 16. Jahrhunderts Anerbietungen machte. Während ich mit Monsieur Renaud in Gleichschritt fiel, indes der Mond wie ein geplatzter Ballon durch den trüben Himmel brach, fiel ich sogleich dem Bereich des Übersinnlichen anheim. Monsieur Renaud hatte eine bestimmte, an getrocknete Aprikosen gemahnende, betont Brandenburger Sprechweise. Er pflegte auf mich mit voller Eindringlichkeit von Goethe oder Fichte einzureden, mit tiefen Tönen, die in den windumfegten Ecken des Platzes wie Donnerschläge vom Gewitter des vergangenen Jahres hallten. Männer von Yukatan, Männer von Sansibar, Männer von Tierra del Fuego, rettet mich vor dieser schimmeligen Schweineschwarte! Der Norden baut sich um mich auf, die eisigen Fjorde, die blaugefirnten Gebirgsgrate, die verrückten Beleuchtungen, der obszöne christliche Singsang, der wie eine Lawine alles vom Ätna bis zur Ägäis überflutete. Alles steifgefroren wie Schlacken, der Geist versperrt und erstarrt vom Frost, und durch das melancholische Klagen dringt das erstickte Röcheln läusezerfressener Heiliger. Ich bin weiß und in Wolle vermummt, eingeschnürt, gefesselt, meine Sehnen sind durchschnitten, aber damit habe ich nichts zu schaffen. Weiß bis auf die Knochen, aber mit einer kalten, alkalischen Basis, mit safrangelb getönten Fingern. Ja, weiß, aber kein gelehrsamer Bruder, kein katholisches Herz. Weiß und unbarmherzig wie die Männer, die vor mir die Elbe hinab in See stachen. Ich blicke aufs Meer, auf den Himmel, auf das Undeutliche und Fern-Nahe.
Der Schnee zu Füßen jagt vor dem Wind dahin, legt sich an, kitzelt, prickelt, berührt einen mit den Lippen, wirbelt empor, rieselt, spaltet sich, sprüht hernieder. Keine Sonne, keine dröhnende Brandung, kein Brausen von Sturzseen. Der kalte Nordwind zielt eisig, böse, gierig, zerstörend, lähmend mit spitzen Pfeilen. Die Straßen enteilen mit krummen Biegungen; sie lösen sich los von dem flüchtigen Schauspiel, dem Sternenglanz. Sie humpeln durch das Gestöber hinweg, umrunden die rückwärtige Seitenfront der Kirche, mähen die Statuen nieder, ebnen die Denkmäler ein, entwurzeln die Bäume, lassen das Gras erstarren und saugen der Erde den Duft aus. Die Blätter sind stumpf wie Zement: Blätter, die kein Tau wieder zum Glänzen bringen kann. Kein Mond wird jemals ihren teilnahmslosen Zustand versilbern. Die Jahreszeiten sind zu einem stagnierenden Halt gekommen, die Bäume scheuen zurück und welken, die Wagen rollen mit gleitendem, wie Harfen tönendem Dröhnen auf den schimmernden Geleisen. In der Senkung der weißgekrönten Hügel schlummert gespenstisch und knochenlos Dijon. Kein lebender Mensch, der durch die Nacht wandert, außer den ruhelosen Geistern, die nach Süden dem saphirblauen Schienennetz entgegenziehen. Dennoch bin ich auf und da, ein wandelndes Gespenst, ein von der kalten Sachlichkeit dieser Schlachthaus-Geometrie eingeschüchterter Weißer. Wer bin ich? Was tue ich hier? Ich stürze zwischen die kalten Mauern menschlicher Bosheit, eine weiße Gestalt, die durch den kalten See hinabgaukelt, hinabsinkt, einen Schädelberg über mir. Ich lasse mich nieder in den kalten Breiten, die Kreidestufen sind mit Indigo getönt. Die Erde kennt in ihren tiefen Gängen meinen Schritt, fühlt einen Fuß unterwegs, ein Schwingenschlagen, ein Keuchen und ein Schaudern. Ich höre die Gelehrsamkeit verspottet und verhöhnt, die Gestalten steigen nach oben und schlagen mit ihren goldenen Pappmacheflügeln, Fledermausdreck tropft herab. Ich höre die Züge zusammenstoßen, die Ketten rasseln, die Lokomotive anziehen, schnaufen, keuchen, dampfen und pissen. Alle Dinge kommen durch den klaren Nebel auf mich zu mit dem Geruch der Wiederholung, mit gelben Katern und Götzen. Im toten Mittelpunkt, tief unter Dijon, tief unter den arktischen Regionen, steht Gott Ajax, seine Schultern sind ans Mühlrad gefesselt, die Ölbäume bewegen sich unter knirschendem Geräusch, das grüne Sumpfwasser wimmelt von quakenden Fröschen.
Der Nebel und Schnee, der kalte Breitengrad, das angestrengte Lernen, der blau schillernde Kaffee, das Brot ohne Butter, die Suppe und die Linsen, die schweren Metzgerburschenbohnen, der muffige Käse, der pampige Eintopf, der schlechte Wein haben die ganze Besserungsanstalt in einen Verstopfungszustand versetzt. Und gerade als keiner mehr scheißen kann, frieren die Lokusröhren ein. Die Scheiße häuft sich wie Ameisenhügel. Man muß von dem Fußtritt heruntersteigen und sie auf den Fußboden fallen lassen. Dort liegt sie steif und gefroren und wartet aufs Tauwetter. An den Donnerstagen kommt der Bucklige mit seinem kleinen Schubkarren, schaufelt die kalten, steifen Scheißhaufen mit Besen und Kehrichtschaufel zusammen und humpelt, sein welkes Bein nachschleppend, davon. Die Gänge sind mit Toilettenpapier übersät; es bleibt einem wie Fliegenpapier an den Sohlen kleben. Wenn das Wetter milder wird, fängt es an zu stinken; man kann es bis zu dem vierzig Meilen entfernten Winchester riechen. Steht man am Morgen über diesen reifen Dunghaufen gebeugt da, um sich die Zähne zu putzen, ist der Gestank so greulich, daß einem der Kopf schwindelt. Wir stehen in roten Flanellhemden herum und warten darauf, bis wir in das Loch hinunterspucken können. Es klingt wie eine Arie aus einer Verdi-Oper, ein geschäftiger Chor mit Flaschengeklirr und Spritzen. Wenn ich nachts hinaus muß, laufe ich hinunter in die Privattoilette von Monsieur le Censeur, die gerade bei der Einfahrt gelegen ist. Mein Stuhlgang ist immer voll Blut. In seiner Toilette läuft ebenfalls kein Wasser, aber wenigstens hat man das Vergnügen, sich setzen zu können. Ich hinterlasse ihm mein Häufchen als Achtungsbeweis.
Gegen Ende der Mahlzeit kommt jeden Abend der veilleur de nuit für die ihm zustehende Aufmunterung herein. Er ist der einzige Mensch in der ganzen Anstalt, dem ich mich verwandt fühle. Er ist ein Niemand. Er trägt eine Laterne und einen Schlüsselbund. Er macht die nächtliche Runde, stur wie ein Roboter. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo der muffige Käse herumgereicht wird, erscheint er auf ein Gläschen Wein. Er steht da, seine Pfote ausgestreckt, mit dem steifen, drahtigen Haar einer Dogge, geröteten Wangen und vom Schnee glitzerndem Schnurrbart. Er murmelt ein paar Worte, und Quasimodo reicht ihm die Flasche. Dann, mit fest auf den Boden gesetzten Füßen, beugt er den Kopf zurück und hinunter rinnt es, langsam, in einem langen Zug. Mir ist, als schütte er Rubinen in seinen Schlund. Etwas an dieser Geste schneidet mir ins Herz. Es ist fast, als trinke er den letzten Rest menschlicher Sympathie hinunter, als ob alle Liebe und alles Mitgefühl in der Welt so auf einen Zug weggeschluckt werden könnten, als wäre das alles, was Tag für Tag zusammengepreßt werden konnte. Man hat ihn zu etwas weniger als einem Karnickel gemacht. In der Planung der Dinge ist er nicht einmal das Pökelwasser für einen Hering wert. Er ist nur ein Stückchen lebender Dreck. Und er weiß es. Wenn er nach seinem Trunk um sich blickt und uns anlächelt, scheint die Welt in Trümmer zu fallen. Es ist ein Lächeln über einen Abgrund hinweg. Die ganze verrottete zivilisierte Welt liegt wie sumpfiger Bodensatz auf dem Grund der Grube, und darüber hinweg huscht wie eine Fata Morgana sein unschlüssiges Lächeln.
Das gleiche Lächeln begrüßte mich nachts, wenn ich von meinem Bummel zurückkehrte. Ich erinnere mich an eine solche Nacht, als mich, während ich an der Tür stand und wartete, bis der alte Bursche seinen Rundgang beendete, ein solches Glücksgefühl überkam, daß ich ewig so hätte warten können. Ich mußte etwa eine halbe Stunde warten, ehe er die Tür öffnete. Ich blickte ruhig und lässig um mich, trank alles in mich, die kahlen Bäume vor der Schule mit ihren wie Taue verschlungenen Ästen, die Häuser über der Straße, die im Laufe der Nacht eine andere Färbung angenommen hatten und jetzt einen deutlicher wahrnehmbaren Bogen bildeten, das Geräusch eines durch die sibirische Öde rollenden Zuges, die von Utrillo gemalten Schienen, den Himmel, die tiefen Wagenspuren. Plötzlich erschien aus dem Nichts ein Liebespaar. Alle paar Meter blieben die beiden stehen und umarmten sich, und als ich ihnen nicht länger mit dem Blick folgen konnte, folgte ich dem Geräusch ihrer Schritte, hörte ich das plötzliche Stehenbleiben und dann das langsame, eng umschlungene Weitergehen. Ich konnte die Entspannung und das Sich-sinken-lassen ihrer Leiber fühlen, wenn sie sich an ein Geländer lehnten, hörte ihre Schuhe knirschen, wenn die Muskeln sich zur Umarmung spannten. Sie wanderten durch die Stadt, durch die krummen Straßen, dem erstarrten Kanal zu, wo das Wasser pechschwarz dalag. Dem Ganzen haftete etwas Einmaliges an. In ganz Dijon gab es nicht ihresgleichen.
Inzwischen machte der alte Knabe seine Runde. Ich konnte das Klirren seiner Schlüssel hören, das Knirschen seiner Schuhe, den gleichmäßigen, roboterhaften Schritt. Endlich hörte ich ihn durch die Anfahrt kommen, um das große Tor zu öffnen, ein ungeheures, gewölbtes Portal ohne Burggraben davor. Ich hörte ihn mit steifen Fingern, benommenen Kopfes, das Schloß suchen. Als der Torflügel aufschwang, sah ich ihm zu Häupten ein leuchtendes Sternbild die Kapelle krönen. Jede Tür war versperrt, jede Zelle verriegelt. Die Bücher waren zugeklappt. Die Nacht hing tief, mit Fußnotensternchen übersät, trunken wie ein Besessener. Hier war sie, die Unendlichkeit der Leere. Über der Kapelle hing das Sternbild wie die Mitra eines Bischofs jede Nacht während der Wintermonate, hing da, tief über der Kapelle. Tief und funkelnd, eine Handvoll Fußnotensternchen – das Glitzern absoluter Leere. Der alte Knabe folgte mir zur Biegung der Auffahrt. Die Tür schloß sich geräuschlos. Als ich ihm gute Nacht wünschte, fing ich wieder dieses verzweifelte, hoffnungslose Lächeln auf, das wie ein meteorisches Aufblitzen am Rande einer verlorenen Welt war. Und wieder sah ich ihn im Speisesaal stehen, den Kopf zurückgebeugt, während die Rubinen seinen Schlund hinunterrieselten. Das ganze Mittelmeergebiet schien in ihm begraben – die Orangenhaine, die Zypressen, die geflügelten Statuen, die hölzernen Tempel, das tiefblaue Meer, die starren Masken, die mystischen Zahlen, die mythologischen Vögel, die saphirenen Himmel, die jungen Adler, die sonnigen Buchten, die blinden Barden, die bärtigen Helden. Alles dahin. Begraben unter der Lawine des Nordens. Für immer begraben und tot. Eine Erinnerung. Eine wilde Hoffnung.
Einen Augenblick blieb ich an der Auffahrt stehen. Das Leichentuch, das Bahrtuch, die unaussprechliche, beklemmende Leere des Ganzen. Dann gehe ich rasch den Kiesweg an der Mauer entlang, an den Arkaden, den Säulen und eisernen Treppen vorbei, von einem Gebäudeviereck zum anderen. Alles ist fest verschlossen. Verschlossen für den Winter. Ich taste mich zu dem Säulengang, der zum Schlafsaal führt. Ein kränkliches Licht fällt durch die schmutzigen, gefrorenen Scheiben auf die Treppe. Überall blättert der Anstrich ab. Die Steine sind ausgetreten, das Treppengeländer knarrt. Eine dunstige Feuchtigkeit dringt aus den Fußbodenplatten und bildet eine blasse, trübe Aura, die von dem schwachen roten Licht vom oberen Treppenabsatz durchdrungen ist. In Schweiß und Schrecken gebadet, steige ich die letzten Stufen zum Turm hinauf. Im Stockdunkeln tappe ich meinen Weg durch die verlassenen Gänge, jeder Raum ist leer, verschlossen, modrig. Meine Hand tastet die Wand entlang auf der Suche nach dem Schlüsselloch. Eine Panik überkommt mich, als ich die Klinke ergreife. Immer habe ich die Hand an meinem Kragen, bereit, mich zurückzureißen. Sobald ich im Zimmer bin, verriegle ich die Tür. Es ist ein Wunder, das ich jede Nacht vollbringe, das Wunder, hineinzugelangen, ohne erdrosselt, ohne mit einem Beil niedergeschlagen zu werden. Ich kann die Ratten durch die Gänge huschen hören, wie sie über meinem Kopf zwischen dem dicken Gebälk nagen. Das Licht glimmt wie brennender Schwefel, und es herrscht der süßlich-stickige Geruch eines nie gelüfteten Zimmers. In der Ecke steht die Kohlenkiste, ganz so, wie ich sie verließ. Das Feuer ist erloschen. Es herrscht eine so eindringliche Stille, daß sie wie die Niagarafälle in meinen Ohren dröhnt.
Ich bin allein – mit einer riesigen, leeren Sehnsucht und Furcht. Das ganze Zimmer steht meinen Gedanken zur Verfügung. Nur ich und was ich denke, was ich fürchte. Ich könnte mir das Phantastischste ausdenken, könnte tanzen, spucken, Grimassen schneiden, fluchen, jammern, niemand würde jemals davon wissen, niemand es hören. Der Gedanke an ein so vollständiges Alleinsein genügt, um mich verrückt zu machen. Es ist wie eine saubere Geburt. Alles weggeschnitten. Abgesondert, nackt, allein. Gleichzeitig eine Wonne und eine Qual. Zeit genug. Jede Sekunde lastet auf einem wie ein Berg. Man ertrinkt darin. Wüsten, Meere, Seen, Ozeane. Die Zeit hackt wie ein Fleischerbeil. Das Nichts. Die Welt. Das Ich und das Nicht-Ich. Umaharamuma. Jedes Ding muß seinen Namen haben. Alles muß erlernt, erprobt, erlebt werden. Faites comme chez vous, chéri.
Die Stille senkt sich in vulkanischen Ergüssen herab. Drüben, bei den kahlen Hügeln, ziehen die Lokomotiven, den großen metallurgischen Regionen zurollend, ihre Handelsprodukte. Sie rollen über Stahl und Eisenbetten, der Boden ist mit Schlacke, Asche und purpurnen Erzbrocken bestreut. Im Gepäckwagen Eisenrohre, Schienenlaschen, Walzeisen, Bodenschwellen, Drahtseile, Platten und Bleche, Metallplättchen, geschmiedete Reifen, Schienen, fahrbare Mörser und Zorès-Metall. Die Räder U-80 Millimeter oder mehr. Sie kommen an prächtigen Beispielen anglo-normannischer Baukunst, an Fußgängern und Päderasten, den offenen Feuern von Hochöfen, Bessemerbirnen, Dynamos und Transformatoren, an Eisengießereien und Stahlbarren vorbei. Alles zusammen, Fußgänger und Päderasten, Goldfische und aus Glas gesponnene Palmen, klagende Esel, all das zirkuliert ungebunden durch die fünffach überkreuzten Wege. An der Place du Brésil ein Lavendelauge.
Im Fluge gehe ich noch einmal die Frauen durch, die ich gekannt habe. Es ist wie eine aus meinem eigenen Elend geschmiedete Kette. Jede mit der anderen verbunden. Eine Angst, allein zu leben, so zu bleiben wie bei der Geburt. Die Pforte des Schoßes immer nur eingeklinkt. Furcht und Sehnsucht. Tief im Blut die Lockung des Paradieses. Das Jenseits. Immer das Jenseits. Es muß alles mit dem Nabel angefangen haben. Man schneidet die Nabelschnur durch, gibt einem einen Klaps auf den Hintern und presto! du bist auf der Welt, dir selbst preisgegeben, ein Schiff ohne Steuer. Du siehst die Sterne an und dann deinen Nabel. Dir wachsen überall Augen – in den Achselhöhlen, zwischen den Lippen, in deinen Haarwurzeln, an deinen Fußsohlen. Was fern ist, wird nah; was nah ist, fern. Inwendig – auswendig, ein ständiger Fluß, ein Hautabstreifen, ein Innen-nach-außen-Kehren. So wird man Jahre um Jahre getrieben, bis man in den toten Mittelpunkt gelangt und dort verfault, langsam verfallt und wieder aufgelöst wird. Nur der Name bleibt übrig.