Sonntag! Verließ die Villa Borghese kurz vor Mittag, gerade als Boris sich anschickte, sich zum Mittagessen hinzusetzen. Ich ging aus Feingefühl weg, denn es tut Boris wirklich weh, mich dort im Atelier mit leerem Magen dasitzen zu sehen. Warum er mich nicht einlädt, mit ihm zusammen zu Mittag zu essen, weiß ich nicht. Er sagte, er könnte es sich nicht leisten, aber das ist keine Entschuldigung. Jedenfalls bin ich taktvoll bei so was. Wenn es ihm peinlich ist, allein in meiner Gegenwart zu essen, so würde es ihm vermutlich noch peinlicher sein, seine Mahlzeit mit mir zu teilen. Es ist nicht meine Sache, die Nase in seine Privatangelegenheiten zu stecken.
Bei Cronstadts hineingeschaut, und auch sie aßen. Ein junges Hähnchen mit Reis. Gab vor, bereits gegessen zu haben, aber ich hätte dem Baby das Hähnchen aus der Hand reißen mögen. Das ist nicht nur falsche Bescheidenheit, es ist eine Art von Verdrehtheit, glaube ich. Sie fragten mich zweimal, ob ich nicht mithalten wollte. Nein! Nein! Ich wollte nicht einmal eine Tasse Kaffee nach dem Essen annehmen. Ich bin feinfühlig, das bin ich! Beim Hinausgehen werfe ich einen sehnsüchtigen Blick auf die Knochen, die auf dem Teller des Babys liegen – es ist noch Fleisch daran.
Ziellos herumgeschweift. Ein herrlicher Tag – bis jetzt. Die Rue de Buci ist lebendig und wimmelt von Menschen. Die Bars sind weit offen, und an den Bordsteinen stehen in langen Reihen die Fahrräder. Alle Fleisch- und Gemüsestände haben Hochbetrieb. Arme, beladen mit Gemüse, das in Zeitungspapier eingewickelt ist. Ein schöner katholischer Sonntag – wenigstens am Morgen.
Um die Mittagszeit stehe ich mit leerem Bauch am Zusammenfluß all dieser krummen Gäßchen, die von Essengeruch geschwängert sind. Mir gegenüber ist das Hôtel de Louisiane. Ein finsteres, altes Gasthaus, das in den guten Zeiten bei den bösen Buben der Rue de Buci bekannt war. Hotels und Essen, und ich wandere umher wie ein Aussätziger, während an meinen Eingeweiden Krebse zwicken. Am Sonntagmorgen haftet den Straßen etwas Fieberhaftes an. Nirgendwo sonst gibt es so etwas, außer vielleicht in East Side oder unten am Chatham Square. Die Rue de l’Echaudé kocht. Die Straßen winden und wenden sich, an jeder Ecke ein neuer Schwarm Leben. Lange Schlangen von Menschen mit Gemüse unter dem Arm, die da und dort mit regem, fröhlichem Appetit heimgehen. Nichts als Essen, Essen, Essen. Es macht einen wahnsinnig.
Vorbei an der Place de Furstemberg. Sieht nun, zur Mittagszeit, anders aus. Als ich gestern abend vorbeikam, war alles verlassen, öde, gespenstisch. In der Mitte des Platzes vier schwarze Bäume, die noch nicht ausgeschlagen haben. Intellektuelle Bäume, von den Pflastersteinen genährt. Wie T. S. Eliots Verse. Hier, bei Gott, wäre für Marie Laurencins Lesbierinnen der Platz zum Kommunizieren gewesen, hätte sie sie je ins Freie geführt. Très lesbienne ici. Steril, zwitterhaft, verdorrt wie Boris’ Herz.
In dem kleinen, an die Kirche von St. Germain angrenzenden Garten liegen ein paar abmontierte Wasserspeier. Ungeheuer, die mit erschreckendem Ungestüm vorspringen. Auf den Bänken andere Ungeheuer – alte Leute, Idioten, Krüppel, Epileptiker. Sie machen dort ihr friedliches Nickerchen und warten auf das Läuten zur Mittagsmahlzeit. In der Galerie Zak auf der anderen Straßenseite hat ein Dummkopf ein Bild des Kosmos ausgestellt – ganz flächig. Der Kosmos eines Malers! Voll allerlei Beiwerk, bric-á-brac. In der unteren linken Ecke jedoch ist ein Anker – und eine Tischglocke. Salute! Salute! O Kosmos!
Bummle noch immer umher. Nachmittag. Därme grollen. Nun beginnt es zu regnen. Notre-Dame ragt wie ein Grabmal aus dem Wasser. Die Wasserspeier lehnen sich weit über die ornamentenreiche Fassade vor. Sie hängen da wie eine fixe Idee im Denken eines Monomanen. Ein alter Mann mit gelbem Backenbart tritt an mich heran. Hat irgend einen Unsinn von Jaworski in der Hand. Kommt mit zurückgeworfenem Kopf auf mich zu, und der ihm ins Gesicht klatschende Regen verwandelt den goldenen Sand in Schlamm. Ein Buchladen mit ein paar Zeichnungen von Raoul Dufy im Schaufenster. Zeichnungen von Scheuerfrauen mit Rosenbüschen zwischen den Beinen. Eine Abhandlung über die Philosophie von Joan Miró … Die Philosophie, wohlgemerkt!
Im gleichen Schaufenster: Ein in Scheiben geschnittener Mensch! Erstes Kapitel: Der Mensch in den Augen seiner Familie. Zweites Kapitel: Derselbe in den Augen seiner Geliebten. Drittes Kapitel: Es gibt kein drittes Kapitel. Muß morgen wieder herkommen wegen des dritten und vierten Kapitels. Jeden Tag blättert der Fensterputzer eine neue Seite um. Ein in Scheiben geschnittener Mensch. Man kann sich nicht vorstellen, wie wütend ich bin, nicht an einen solchen Titel gedacht zu haben! Wo steckt dieser Kerl, der schreibt: «Derselbe in den Augen seiner Geliebten … derselbe in den Augen von … derselbe …?» Wo steckt dieser Bursche? Wer ist er? Ich möchte ihn umarmen. Ich wünschte bei Gott, ich hätte genug Verstand besessen, mir einen solchen Titel auszudenken – statt Der hanebüchene Hahn und die anderen törichten Sachen, die ich erfunden habe. Na schön, scheiß drauf! Ich gratuliere ihm trotzdem.
Ich wünsche ihm Glück mit seinem guten Titel. Hier ist noch eine Scheibe für dich – für dein nächstes Buch! Ruf mich einmal an. Ich wohne in der Villa Borghese. Wir sind alle tot, liegen im Sterben oder sind dem Sterben nah. Wir brauchen gute Titel. Wir brauchen Fleisch-Scheiben und Scheiben von Fleisch – saftige Filets, Porterhouse-Steaks, Nieren, Kalbshoden, Kalbsbrieschen. Eines Tages, wenn ich an der Ecke der 42. Straße und des Broadway stehe, werde ich mich an diesen Titel erinnern und alles in mich hineinschlingen, was ich mir in meiner Birne vorstelle – Kaviar, Regentropfen, Achsenfett, Fadennudeln, Leberwurst – Scheiben und Scheiben davon. Und ich werde niemandem sagen, warum ich, nachdem ich alles verschlungen hatte, plötzlich heimging und das Baby in Stücke zerhackte. Un acte gratuit pour vous, eher monsieur, si bien coupé en tranches! Wie ein Mensch den ganzen Tag mit leerem Magen umherlaufen und sogar von Zeit zu Zeit eine Erektion bekommen kann, ist eines der von den ‹Seelenanatomen› zu leichtfertig erklärten Geheimnisse. An einem Sonntagnachmittag, wenn die Läden geschlossen sind und das Proletariat mit einer Art von starrem Stumpfsinn die Straße beherrscht, gibt es gewisse Verkehrsadern, die einen an nichts Geringeres gemahnen als an einen großen, der Länge nach aufgeschnittenen, von Schanker behafteten Pint. Und gerade diese Hauptstraßen, wie zum Beispiel die Rue St. Denis oder das Faubourg du Temple sind es, die einen unwiderstehlich anziehen – ähnlich wie es einen früher in der Umgebung vom Union Square oder dem oberen Teil der Bowery zu den Dreigroschenmuseen hinzog, wo in den Schaukästen Wachsnachbildungen verschiedener, von Syphilis oder anderen Geschlechtskrankheiten zerfressener Körperteile ausgestellt waren. Die Stadt schwärt wie ein in allen Teilen kranker, riesiger Organismus, wobei die schönen Hauptverkehrsadern nur deshalb etwas weniger abstoßend sind, weil ihr Eiter abgeleitet wurde.
Bei der Cité Nortier, irgendwo in der Nähe der Place du Combat, mache ich einen Augenblick halt, um den ganzen Unflat der Szenerie in mich aufzunehmen. Es ist ein rechteckiger Hof wie viele andere, auf den man einen Blick durch die niederen Durchgangsstraßen werfen kann, welche die alten Verkehrsadern von Paris flankieren. In der Mitte des Hofes gibt es eine Zusammenballung altersschwacher Gebäude, die so verfallen sind, daß sie übereinander zusammengesunken sind und eine Art von Darmverschlingung bilden. Der Boden ist uneben, das Pflaster schlüpfrig von Schleim. Eine Art menschlicher Misthaufen, aus Asche und trockenem Abfall aufgeführt. Die Sonne geht sehr rasch unter. Die Farben erlöschen. Sie wechseln von Purpur zum Rot getrockneten Blutes, von Perlmutt zu nußbraun, von kühlem, totem Grau zur Farbe von Taubenmist. Da und dort steht ein krummes Ungeheuer am Fenster und blinzelt wie eine Eule. Man hört das schrille Gequieke von Kindern mit bleichen Gesichtern und knochigen Gliedern, kleinen Bälgern, denen man die Zangengeburt ansieht. Ein übler Geruch sickert aus dem Gemäuer, der Geruch einer modrigen Matratze, Europa – mittelalterlich, grotesk, monströs: eine Symphonie in b-moll. Unmittelbar gegenüber bietet der Ciné Combat seinem vornehmen Publikum Metropolis.
Im Weggehen fällt mir ein Buch wieder ein, das ich kürzlich las: «Die Stadt war ein Trümmerhaufen. Leichname, von Schlächtern verstümmelt und von Plünderern ausgezogen, lagen gehäuft in den Straßen. Wölfe drangen aus den Vorstadtvierteln ein, um sie aufzufressen. Die Pest und andere Seuchen krochen herbei, ihnen Gesellschaft zu leisten, und die Engländer rückten mit jedem Tag näher. Derweilen wirbelte auf allen Friedhöfen der Danse macabre um die Gräber …» Paris während der Tage Karls des Wahnsinnigen! Ein reizendes Buch! Erfrischend, appetitanregend. Ich bin noch ganz in seinem Bann. Über das Leben und Treiben während der Renaissance weiß ich wenig, aber Madame Pimpernel, la belle boulangère, und Maître Jehan Crapotte, l’orfèvre, beschäftigen noch immer meine müßigen Gedanken. Rodin nicht zu vergessen, den bösen Genius des Ewigen Juden, der sein Unwesen trieb «bis zu dem Tag, an dem er sich in den Mischling Cecily verliebte und von ihr überlistet wurde». Während ich auf dem Square du Temple saß und über das Treiben der Roßschlächter mit Jean Caboche an der Spitze grübelte, habe ich lange und mit Bedauern auch über das traurige Schicksal Karls des Wahnsinnigen nachgedacht: Ein Halbidiot, der durch die Säle seines Hôtel St. Paul streifte, in die schmutzigsten Lumpen gehüllt, zerfressen von Geschwüren und Ungeziefer, der wie ein räudiger Hund einen Knochen abnagte, wenn man ihn ihm zuwarf. In der Rue des Lions suchte ich nach den Steinen des alten Zwingers, wo er einst seine Lieblingstiere fütterte. Armer Tölpel, es war seine einzige Unterhaltung, abgesehen vom Kartenspiel mit seiner ‹niedrig geborenen Gefährtin› Odette de Champsdivers.
An einem Sonntagnachmittag, ähnlich diesem, begegnete ich Germaine zum erstenmal. Ich bummelte den Boulevard Beaumarchais hinunter, hundert Francs in der Tasche, die mir meine Frau in aller Eile telegrafisch aus Amerika überwiesen hatte. Ein Hauch von Frühling lag in der Luft, eines giftigen, bösen Frühlings, der aus den Kanalisationsschächten zu dringen schien. Eine Nacht um die andere war ich in dieses Viertel zurückgekommen, angezogen von gewissen aussätzigen Straßen, die ihre düstere Pracht erst dann entfalteten, wenn das Tageslicht versickert war und die Huren ihre Posten zu beziehen begannen. Insbesondere erinnere ich mich an die Rue Pasteur-Wagner, Ecke Rue Amelot, die hinter dem Boulevard verborgen liegt wie eine schlummernde Eidechse. Hier, sozusagen am Flaschenhals, war immer eine Ansammlung von Geiern, die krächzten und mit ihren schmutzigen Flügeln schlugen, mit scharfen Krallen zugriffen und einen in einen Torweg zerrten. Hübsche, raubgierige Teufelinnen, die einem nicht einmal Zeit ließen, die Hose zuzuknöpfen, wenn es vorbei war. Die einen von der Straße weg in ein kleines Zimmer führten, gewöhnlich ein fensterloses Zimmer, und mit hochgeschlagenen Röcken auf dem Bettrand sitzend einen einer raschen Untersuchung unterzogen, auf deinen Piephahn spuckten und ihn sich selber einführten. Während man sich wusch, stand schon eine andere an der Tür und sah, ihr Opfer an der Hand haltend, lässig zu, wie man mit den letzten Griffen seine Toilette beendete.
Germaine war anders. Es war nichts an ihrer Erscheinung, was mir das verraten hätte. Nichts, was sie von den anderen Dirnen unterschied, die sich jeden Nachmittag und Abend im Café de l’Elephant zusammenfanden. Wie gesagt, es war ein Frühlingstag, und die paar Francs, die meine Frau zusammengekratzt hatte, um sie mir telegrafisch zu senden, klimperten in meiner Tasche. Ich hatte eine Art undeutlichen Vorgefühls, daß ich nicht die Bastille erreichen würde, ohne von einem dieser Bussarde ins Schlepptau genommen zu werden. Den Boulevard entlang schlendernd, hatte ich sie mit dem merkwürdigen Trippelschritt einer Hure, den schiefgetretenen Absätzen, dem billigen Schmuck und der teigigen Gesichtsfarbe ihrer Sorte, die durch das Rouge nur unterstrichen wird, auf mich zukommen sehen. Es war nicht schwer, mit ihr einig zu werden. Wir saßen in der Ecke des kleinen tabac, das L’Elephant heißt, und besprachen es rasch. Ein paar Minuten später waren wir in einem Fünf-Francs-Zimmer in der Rue Amelot, die Vorhänge zugezogen und die Bettdecken zurückgeschlagen. Sie überhastete die Dinge nicht, Germaine. Sie saß auf dem Bidet, seifte sich ab und unterhielt sich mit mir freundlich über dies und jenes. Ihr gefielen die Kniehosen, die ich trug. Très chic! fand sie. Das waren sie einmal, aber sie waren hinten durchgesessen; zum Glück bedeckte die Jacke meinen Hintern. Als sie aufstand, um sich abzutrocknen, immer noch freundlich mit mir plaudernd, warf sie das Handtuch hin, kam lässig auf mich zu und begann ihre Mieze liebevoll zu streicheln, sie mit beiden Händen zu tätscheln, zu liebkosen und zu beklopfen. Es war etwas an ihrer Beredtheit in diesem Augenblick und der Art, wie sie mir diesen Rosenbusch unter die Nase hielt, was unvergeßlich bleibt. Sie sprach davon, als wäre es eine fremde Sache, die sie um teuren Preis erworben hatte, eine Sache, deren Wert mit der Zeit gestiegen war und die sie jetzt höher schätzte als alles in der Welt. Ihre Worte verliehen ihr einen eigenartigen Duft; sie war nicht mehr nur ihr privates Organ, sondern ein Schatz, ein magischer, mächtiger Schatz, ein gottgeschenktes Ding – und das nicht weniger so, weil sie es tagein, tagaus für ein paar Silberlinge verhandelte. Als sie sich mit weitgespreizten Beinen aufs Bett warf, liebkoste sie sie mit den Händen und streichelte sie wieder, wobei sie die ganze Zeit mit ihrer heiseren, gebrochenen Stimme murmelte, sie sei gut, schön, ein Schatz, ein kleiner Tresor. Und sie war auch wirklich gut, ihre kleine Mieze! An diesem Sonntagnachmittag, mit seinem giftigen Frühlingshauch in der Luft, klappte wieder einmal alles. Als wir aus dem Hotel herauskamen, musterte ich sie noch einmal im harten Tageslicht und sah deutlich, was für eine Hure sie war – die Goldzähne, die Geranien auf ihrem Hut, die schiefgetretenen Absätze usw. usw. Sogar die Tatsache, daß sie ein Abendessen, Zigaretten und ein Taxi aus mir herausgeholt hatte, störte mich nicht im geringsten. Ich ermutigte sie vielmehr dazu. Sie gefiel mir so gut, daß wir nach dem Essen noch einmal zurück ins Hotel gingen und ich ihr noch einen verpaßte. Diesmal ‹aus Liebe›. Und wieder übte ihr großes buschiges Ding seinen Reiz und seinen Zauber aus. Es begann ein unabhängiges Dasein zu haben – auch für mich. Da war Germaine, und da war ihr Rosenbusch. Ich liebte beide gesondert und liebte beide zusammen.
Wie gesagt, Germaine war anders. Später, als sie meine wahren Lebensumstände entdeckte, behandelte sie mich großzügig – hielt mich zum Trinken frei, gab mir Kredit, versetzte meine Sachen, stellte mich ihren Freundinnen vor und so weiter. Sie entschuldigte sich sogar, mir kein Geld leihen zu können, was ich recht gut verstand, nachdem mir ihr maquereau gezeigt worden war. Nacht für Nacht ging ich den Boulevard Beaumarchais hinunter zu dem kleinen tabac, wo sie sich alle versammelten, und wartete, daß sie hereinkam und mir ein paar Minuten ihrer kostbaren Zeit schenkte.
Als ich mich nicht lange danach anschickte, über Claude zu schreiben, war es nicht Claude, an die ich dachte, sondern Germaine … «Alle die Männer, mit denen sie zusammen war, und jetzt du, gerade du, und Barken, die vorüberziehen, Masten und Schiffsleiber, der ganze verfluchte Strom des Lebens fließt durch dich hindurch, durch sie, durch alle die Kerls vor und nach dir, die Blumen, die Vögel und die Sonne, all das strömt herein, und der Duft erstickt dich, vernichtet dich.» Das war für Germaine! Claude war nicht so, wenn ich sie auch sehr verehrte, ja, eine Zeitlang glaubte, sie zu lieben. Claude hatte eine Seele und ein Gewissen; sie hatte auch Bildung, was für eine Hure schlecht ist. Claude erweckte in einem immer ein Gefühl der Trauer; ohne es zu wollen, versteht sich, hinterließ sie in einem immer den Eindruck, nur eben einer mehr aus dem Strom derer zu sein, die das Schicksal dazu bestimmt hatte, sie zu zerstören. Unbewußt, wie gesagt, denn Claude war der letzte Mensch in der Welt, der bewußt einen solchen Eindruck bei einem hätte hervorrufen wollen. Dazu war sie zu feinfühlend, zu empfindsam. Im Grunde war Claude nur ein braves französisches Mädchen von durchschnittlicher Herkunft und Intelligenz, dem das Leben irgendwie übel mitgespielt hatte. Etwas in ihr war nicht stark genug, um der Erschütterung des täglichen Lebens standzuhalten. Auf sie trafen jene schrecklichen Worte Louis-Philippes zu: «… und es kommt eine Nacht, wo alles zu Ende ist, wo so viele Kinnbacken sich über uns geschlossen haben, daß wir nicht mehr die Kraft besitzen, standzuhalten, und unser Fleisch uns vom Leibe hängt, als wäre es von jedem Munde zerkaut.» Germaine war andererseits eine Hure von Kindesbeinen an. Sie war durch und durch zufrieden mit ihrer Rolle, genoß sie sogar, außer wenn sie der Magen oder ihr Schuh drückte, aber das waren oberflächliche, nichtige Dinge, nichts, was ihr in die Seele schnitt, nichts, was ihr Qualen verursachte. Ennui! Das war das Schlimmste, was sie je zu empfinden fähig war. Es gab Tage, an denen sie den Kanal voll hatte, wie man so sagt – aber nicht mehr als das! Die meiste Zeit machte es ihr Freude – oder sie erweckte wenigstens den Eindruck, als mache es ihr Freude. Es war natürlich ein Unterschied, mit wem sie ging – oder mitkam. Aber die Hauptsache war ein Mann. Ein Mann! Das war, was sie ersehnte. Ein Mann mit etwas zwischen den Beinen, was ihr Kitzel verursachen, sie sich in Ekstase winden lassen konnte, so daß sie mit beiden Händen an ihr buschiges Gequaddel griff und es fröhlich, prahlerisch, stolz in einem Gefühl der Verbundenheit, einem Lebensgefühl rieb. Das war die einzige Stelle, wo sie Lebendigsein empfand – dort unten, wo sie sich mit beiden Händen umklammerte.
Germaine war durch und durch eine Hure, sogar bis in ihr gutes Herz hinein, ihr Hurenherz, das nicht eigentlich ein gutes, sondern ein träges Herz ist, ein teilnahmsloses, schlaffes Herz, das sich einen Augenblick rühren läßt, ein Herz ohne feste Bindung, ein großes, schlappes Hurenherz, das sich eine Weile von seinem wahren Mittelpunkt lösen kann. Wie schnöde und begrenzt die Welt auch war, die sie sich aufgebaut hatte, so paßte sie doch prächtig zu ihr. Und das allein schon wirkt stärkend. Wenn ihre Freundinnen, nachdem wir gut bekannt geworden waren, mich aufzogen, indem sie sagten, ich sei in Germaine verliebt (ein ihnen fast unvorstellbarer Gedanke), dann pflegte ich zu sagen: «Freilich! Freilich bin ich in sie verliebt. Und was noch mehr ist, ich bleibe ihr sogar treu!» Natürlich eine Lüge, denn ich dachte nicht mehr daran, Germaine zu lieben, als ich daran dachte, eine Spinne zu lieben. Und wenn ich treu war, so nicht Germaine, sondern dem buschigen Etwas zwischen ihren Beinen. Sooft ich eine andere Frau ansah, dachte ich sofort an Germaine, an diesen flammenden Busch, der sich meinem Denken eingeprägt hatte und der unzerstörbar schien. Es machte mir Vergnügen, auf der terrasse eines kleinen tabac zu sitzen und sie zu beobachten, wie sie mit anderen zu denselben Gebärden, denselben Mittelchen griff, die sie bei mir angewandt hatte. ‹Sie geht ihrer Arbeit nach!› – war das Gefühl, das ich dabei hatte, und ich beobachtete ihre Machenschaften mit Wohlgefallen. Später, als ich mich mit Claude zusammengetan hatte und ich sie Nacht für Nacht auf ihrem gewohnten Platz mit ihren runden Hinterbäckchen auf dem Plüsch des Sofas thronen sah, fühlte ich so etwas wie eine unnennbare Empörung gegen sie. Eine Hure, so schien mir, hatte kein Recht dazusitzen wie eine Dame und schüchtern darauf zu warten, daß jemand sie ansprach, und während der ganzen Zeit maßvoll an ihrer Schokolade zu nippen. Germaine war eine Anschafferin. Sie wartete nicht, bis man zu ihr kam – sie ging los und griff einen auf. Ich erinnere mich so gut an die Löcher in ihren Strümpfen und die zerrissenen, abgetretenen Schuhe. Ich erinnere mich auch, wie sie an der Bar stand, mit blinder, mutiger Verachtung einen scharfen Drink in ihren Magen hinuntergoß und wieder auf die Straße hinausging. Eine Anschafferin! Vielleicht war es nicht so erfreulich, ihren Alkoholatem zu riechen, diesen Atem, der aus schwachem Kaffee, Cognac, Apéritifs, Pernods und dem ganzen anderen Zeug zusammengesetzt war, das sie zwischendurch kippte, um sich aufzuwärmen und Kraft und Mut zu sammeln; aber das Feuer davon durchdrang sie, glühte dort zwischen ihren Beinen, wo Weiber glühen sollten, und es war jener Stromkreis hergestellt, der einem das Gefühl gab, wieder mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen. Wenn sie mit gespreizten Beinen dalag und stöhnte – auch wenn sie so für alle und jeden stöhnte –, war es gut, war es eine Äußerung echten Gefühls. Sie starrte nicht mit leerem Blick zur Decke empor oder zählte die Wanzen auf der Tapete; sie war mit ihren Gedanken bei der Sache, sie sprach über die Dinge, die ein Mann hören will, wenn er eine Frau besteigt. Während Claude – nun, bei Claude regierte immer ein gewisses Zartgefühl, selbst wenn sie mit einem in die Betten stieg. Und ihr Zartgefühl war verletzend. Wer will schon eine zartfühlende Hure? Claude bat einen sogar wegzuschauen, wenn sie überm Bidet hockte. Alles falsch! Ein Mann, wenn er in Leidenschaft entbrannt ist, will Dinge sehen; er will alles sehen, sogar wie sie Wasser lassen. Und wenn es auch sehr gut und sehr schön ist, zu wissen, daß eine Frau ein denkendes Wesen ist, so ist doch Literatur, die von dem kalten Leichnam einer Hure kommt, das letzte, was man im Bett serviert bekommen möchte. Germaine hatte die richtige Auffassung: sie war ungebildet und lüstern, sie widmete sich mit Leib und Seele ihrem Geschäft. Sie war durch und durch eine Hure – und das war ihre Tugend!