14
Marlon
Vor Barcelonas faszinierendster Baustelle bleiben wir stehen.
»Der Bau wurde 1882 begonnen«, erkläre ich meiner Begleitung, die langsam den Eindruck macht, müde zu werden. »Nach aktueller Planung soll die Kirche 2026 zum hundertsten Todestag von Gaudí fertiggestellt werden.«
»Was für eine Gaudi?«, fragt Alex.
An ihrem schelmischen Augenzwinkern erkenne ich, dass die Frage nicht ernst gemeint war.
»Antoni Gaudí, ein spanischer Architekt, Vertreter des Modernisme«, referiere ich altklug.
»Ich verstehe nur Gaudi«, erwidert sie.
»Magst du keine imposanten Kirchengebäude?«, will ich wissen.
»Solange mir die Füße nicht wehtun, mag ich sie sogar gern. Aber nach ein paar Stunden Rumlatschen ...«
»Hey, immerhin trage ich die ganzen Taschen, in denen sich deine Einkäufe befinden«, weise ich sie auf diesen Umstand hin.
»Deswegen mag ich dich ja auch«, erklärt sie. »Großzügig von mir, oder?«
»Total.« Während eine Gruppe japanischer Touristen mit klischeehafterweise gezückten Fotoapparaten an uns vorbeiläuft, presse ich Alex an mich. »Möchtest du wieder an Bord?«
Ehe sie mir antworten kann, küsse ich sie leidenschaftlich, um ihr klarzumachen, dass ich ihr in unserer Suite nicht bloß eine Ruhepause verschaffen würde.
»Meinetwegen können wir uns noch stundenlang die Altare und Kapellen ansehen«, sagt sie, ohne dabei ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken.
»Damit ich mir hinterher dein Genöle anhören darf? Danke, ich verzichte.«
»Genöle?«, beschwert sie sich über meine Wortwahl. »Ich bin eine Dame, mein Herr. Wenn überhaupt hätte ich gerechtfertigte Kritik anzubringen. Zum Beispiel über ausufernde Kirchenbesichtigungen.«
»Alles klar. Zurück zur Sonnenglück.«
»Nein, Süßer. Das war ein Spaß«, behauptet Alex plötzlich. »Ich bin zwar wirklich erschöpft, doch ein bisschen schaffe ich schon noch.«
»Kein Problem«, beruhige ich sie. »Ich war das letzte Mal vor zwei Jahren in Barcelona und habe damals an einer Führung durch die Sagrada Familia teilgenommen. Seitdem dürfte sich kaum etwas geändert haben.«
»Und das sagst du erst jetzt? Wo ist das nächste Taxi?«
»Taxi? Ich denke, du bist nicht müde? Wir könnten zu den Ramblas laufen und von dort den Hafen ansteuern.«
»Ramblas? Klingt ganz schön versaut.«
Theatralisch seufze ich. »Las Ramblas. Eine knapp tausenddreihundert Meter lange Promenade im Zentrum Barcelonas, die den Katalonienplatz mit dem Hafen verbindet.«
»Du bist so gebildet. Unglaublich, dass du lediglich Schmuddelkram schreibst.«
»Schmuddelkram?«
»Wie weit wäre der Weg?«
»Etwa vierzig Minuten.«
Alex wendet sich von mir ab. »Taxi!«, ruft sie laut.
Schmunzelnd folge ich ihr Richtung Straße.
* * *
Als wir das Schiff betreten und uns der Rezeption nähern, entdecke ich eine Frau im Gespräch mit Lena, die von hinten Ähnlichkeit mit Penelope hat. Der Kleidungsstil und das Aussehen ihrer Frisur passen perfekt, außerdem entspricht die braune Handtasche ihrem Geschmack. Aber das kann ja unmöglich sein. Penelope wartet schließlich im fernen Deutschland auf neue Statusmeldungen darüber, wie ich mich verhalte.
»Sie müssen schon einsehen, dass das ungewöhnlich ist«, erklärt Lena geduldig. »Die anderen Passagiere haben in Antalya eingeschifft. Sie hingegen kommen erst kurz vor Ende der Reise an Bord. Ohne Gepäck.«
»Ich muss GAR NICHTS einsehen«, entgegnet eine Stimme, die mir bedauerlicherweise vertraut ist. »Denn ich habe eine gültige Buchung.«
»Ist das Penelope?«, flüstert Alex.
»Ja. Lass uns schnell verschwinden«, wispere ich.
Doch entweder hat sie uns gehört oder einen siebten Sinn entwickelt. Ruckartig dreht sie sich zu uns um.
»Da seid ihr ja!«
Lena wirkt überrascht. Ihr Blick bittet Alex oder mich um Aufklärung, wie sie diesen störrischen Passagier behandeln soll.
»Was machst du hier?«, frage ich. Instinktiv greife ich zu Alex’ Hand – eine Geste, die Penelope sofort registriert.
»Sie miese Verräterin! Ich habe Ihnen den Auftrag nicht gegeben, damit Sie meinen Verlobten ...«
»Er ist nicht Ihr Verlobter, Frau de Vaar.«
»Schon lange nicht mehr«, füge ich hinzu.
»Das sehe ich anders«, giftet uns Penelope an.
»Wieso bist du überhaupt an Bord?«, erkundige ich mich.
Penelope stößt ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen Lachen und ungläubigem Staunen liegt. »Von euch Turteltäubchen existieren Bilder im Internet. Schlagwort Sonnenglück. Ich habe die Kreuzfahrt im Netz verfolgt. Es gibt Urlauber, die posten unter dem Hashtag Sonnenglück Schnappschüsse vom Schiff und den Landgängen. Rate, was ich gestern auf einem der Fotos entdeckt habe.«
»Keine Ahnung.«
»Dich und diese Fotze. Ihr wirktet sehr vertraut miteinander, während sich ein Arzt um eine verletzte Passagierin gekümmert hat.« Sie wendet sich Alex zu. »Als Sie mir von dem Zwischenfall berichteten, haben Sie dieses Detail wohl vergessen.«
»Und dann brichst du schnurstracks Richtung Barcelona auf?«, hake ich fassungslos nach. »Kaufst dir Flugtickets und eine Bordkarte? Weswegen?«
»Um euch das zu geben, was ihr verdient!«, brüllt sie aufgebracht.
Lena zuckt wegen des unerwarteten Wutausbruchs zusammen. Mir hingegen wird die Chance bewusst, die sich gerade bietet. Bislang fehlten immer Zeugen, um Penelope ihre Nachstellungen zu beweisen. Nun befinden wir uns an Bord, und neben Lena halten sich zwei weitere Angestellte des Kreuzfahrtunternehmens in unserer Nähe auf.
»Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Ich liebe dich nicht mehr. Wir passen nicht zueinander. Deine Eifersucht, dein Hinterherspionieren – das war unerträglich. Hat alle Gefühle für dich abgetötet. Und was du seitdem abziehst, ich fasse es nicht. Jede neue Frau in meinem Leben wird terrorisiert.«
»Das waren Schlampen!«
»Weshalb du deren Autos die Reifen zerstichst und den Lack zerkratzt?«
»Bei einer Einzigen.«
Innerlich triumphiere ich, denn sie hat es zugegeben. Jetzt kann ich den Spieß umdrehen. »Allerdings muss ich dir heute danken.«
»Wofür?«, fragt sie misstrauisch.
»Dafür, dass du eine Privatdetektivin auf Kreuzfahrt geschickt hast, damit sie mich im Auge behält. Sonst hätte ich Alex niemals kennengelernt. Und das war definitiv das Beste, was ich in den letzten Jahren erlebt habe. Hast du super hinbekommen. Vielen Dank.« Spöttisch werfe ich ihr eine Kusshand zu.
Ihre Mimik versteinert sich. »Weißt du, woran ich fast nicht gedacht hätte?«
»Interessiert mich das überhaupt?«
»Handgepäck wird bei Flügen durchleuchtet. Fiel mir zum Glück rechtzeitig ein, sodass ich einen Gegenstand auf der Toilette des Düsseldorfer Flughafens zurücklassen konnte. Ansonsten hätte es wohl peinliche Nachfragen gegeben.«
»Wovon zum Teufel redest du?«
»Aber ich konnte einen Ersatzgegenstand direkt am Flughafen in Barcelona besorgen.« Sie öffnet ihre Handtasche. »Es ist unbenutzt. Bestimmt scharf.«
Plötzlich zieht sie ein Messer aus der Handtasche.
»Penelope!«, warne ich sie.
Alex schreit erschrocken auf.
»Das Flittchen wird zuerst dran glauben«, droht sie zischend. »Danach bist du an der Reihe.«
Schützend stelle ich mich vor Alex. Ich liebe sie bereits so sehr, dass ich mein eigenes Leben ihretwegen opfern würde. Meine Ex registriert das und verzieht angewidert die Lippen.
»Spielst du den Helden?«
»Tu das nicht! Du wirst im Knast landen!«
»Nein, werde ich nicht.«
»Hier gibt es Zeugen.«
Penelope zuckt lediglich mit den Schultern – und diese Geste der Ahnungslosigkeit verdeutlicht den kompletten Irrsinn, der sich wie ein Parasit in ihr eingenistet hat. Sie ist nicht in der Lage, ihre Situation vernünftig zu durchdenken.
Aus dem Augenwinkel registriere ich, dass wir Unterstützung bekommen. Lena, die bislang drei Schritte von Penelope entfernt stand, hat die Distanz etwas verkürzt – wahrscheinlich um meiner Stalkerin das Messer zu entwenden.
Leider bekommt auch Penelope mit, was die Chefhostess plant, und dreht sich zu ihr um. Die nächsten Ereignisse nehme ich wie im Zeitlupentempo wahr, obwohl sie sich rasend schnell ereignen.
Lena macht einen weiteren Schritt nach vorn und hebt den rechten Arm. Im gleichen Moment sticht meine irre Ex zu. Die Klinge dringt in Schulterhöhe in Lenas Körper ein, die Chefhostess stöhnt schmerzerfüllt, und Blut tränkt ihre weiße Bluse.
Panisch springe ich auf die Kampfhennen zu.
Penelope will mich ebenfalls attackieren, aber ich agiere zuerst. Voller Wut und Angst hämmere ich ihr meine Faust ins Gesicht. Wie vom Blitz getroffen, sackt sie zu Boden, die Waffe entgleitet ihrer Hand. Nachdem ich das Messer außer Reichweite befördert habe, wende ich mich Lena zu.
»Wir brauchen einen Arzt! Sonst stirbt sie!«
Eine der Angestellten greift zu ihrem Funkgerät. Gleichzeitig flüstert Lena einen Namen.
»Mark.«
Dann fallen ihr die Augen zu.
* * *
Einen Tag später im Hafen von Palma de Mallorca.
Manchmal wählt das Schicksal komische Umwege, um Paare glücklich zu machen. Oder hat Amor es lustig gefunden, das Drama an Bord der Sonnenglück zu beobachten? Helfen ihm solche Spannungsmomente, den Job besser erledigen zu können? Weil er es zu schnulzig findet, wenn Menschen sich komplikationslos finden und füreinander entflammen?
Vor der Gangway hat sich ein Stau gebildet. Die Passagiere plauschen beim Abschied mit dem Kapitän und dem Ersten Offizier. Doch ihr Hauptaugenmerk liegt heute auf zwei anderen Personen. Denn natürlich haben sich die Ereignisse wie ein Buschfeuer herumgesprochen.
Mark war in kürzester Zeit eingetroffen. Ohne dass ich ihm Sorgen wegen Lena angemerkt hätte, riss er ihre Bluse auf, stoppte die Blutung und verband die Wunde. Es dauerte lediglich Sekunden, bis Lena wieder zu sich kam. Der Schock – und nicht die Verletzung – hatte sie für einen Moment ohnmächtig werden lassen. Beim Erwachen blickte sie ihm in die Augen – und er in ihre.
»Was machst du für Sachen?«, flüsterte er.
»Vielleicht wollte ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit haben«, erwiderte sie schwach.
»Das hättest du leichter haben können.«
Da ich mir nicht sicher war, ob er ihre Botschaft verstand, schlug ich ihm gegen das Schulterblatt.
»Küss sie endlich!«
Und das hat er letztlich getan. Sehr lang und sehr ausgiebig.
Lena muss ihren Arm in einer Schlinge tragen. Mark hat seinerseits einen Arm um ihre Hüfte gelegt.
»Seit wann verabschiedet der Arzt die Reisenden?«, frage ich, als wir an der Reihe sind.
»Oh, ich stehe hier nur, um meine Patientin zu stützen. Gleich fahre ich mit ihr in ein Krankenhaus, wo sie geröntgt wird.«
»Völlig überflüssig«, murrt Lena.
»Bloß zu deiner Sicherheit«, entgegnet Mark.
»Darüber wird nicht weiter diskutiert«, ordnet Kapitän Peter Beckmann an. »Das ist sozusagen ein dienstlicher Befehl.«
Lena verdreht die Augen, verzichtet aber auf Widerspruch.
»Du dürftest jetzt Ruhe vor Penelope haben?«, vermutet Mark.
»Gott sei Dank!«, bestätige ich.
Die herbeigerufene Polizei hatte Penelope verhaftet und in Gewahrsam genommen. Ihr droht eine Anklage wegen Körperverletzung; außerdem werde ich in Deutschland Anzeige erstatten. Sie hat ihre Nachstellungen vor Zeugen zugegeben und wird sich auch dafür verantworten müssen.
»Ihr fliegt bestimmt direkt wieder nach Hause?«, nimmt Mark an. In seiner Stimme liegt ein Hauch von Bedauern.
»So war es geplant. Achtzehn Uhr zehn vom Flughafen.«
»War?«, fragt Lena.
Alex und ich strahlen unterdessen um die Wette.
»Nach den gestrigen Ereignissen haben wir unsere Pläne über Bord geworfen«, erklärt sie.
»Wir gönnen uns eine Verlängerungswoche in einem angeblich umwerfenden Hotel.«
»Welches?«, will der Erste Offizier neugierig wissen.
»Das Castell Son Claret«, antworte ich.
»Wow!«, stößt er überrascht aus.
»Kennen Sie es?«, will der Kapitän wissen.
»Das ist ein restauriertes Schloss mit einem Restaurant, das einen Michelin-Stern als Auszeichnung besitzt«, sagt Thorsten. »In einer wunderschönen Landschaft gelegen.« Er zwinkert Alex zu. »Da hast du wohl ein gutes Gespür bei der Männerwahl besessen.«
Die Anwesenden schmunzeln. Doch am breitesten grinst Alex.
»Ich habe sofort Marlons Potenzial bemerkt«, behauptet sie selbstbewusst. »Und ihn deswegen klargemacht.«
»Soso, du hast also mich klargemacht.«
»Natürlich. Aber typisch für einen Mann, dass du das nicht gleich erkannt hast.«
»Tja, so sind Männer halt«, unterstützt Lena Alex. »Die einen brauchen Jahre, die anderen wenigstens nur eine Tour durchs östliche und westliche Mittelmeer, um zu begreifen, wer für sie geschaffen ist.«
»Moment!«, protestieren Mark und ich wie aus einem Mund.
»Sie sollten das später ausdiskutieren«, schlägt Kapitän Beckmann vor. »Sonst endet die Ausschiffung niemals.«
»Einverstanden«, sagt Alex. »Ihr wisst ja, wo ihr uns findet. Das Essen in dem Restaurant geht auf Marlons Rechnung. Weil es so lange gedauert hat, bis der Groschen endlich gefallen war.«
Alle Anwesenden versichern daraufhin unverzüglich, dass wir uns am Abend wiedersehen werden. Hände werden geschüttelt, und dann laufen Alex und ich Arm in Arm die Stufen der Gangway hinunter. In eine Zukunft ohne Penelope und anderen Ballast. In eine Zukunft voller Möglichkeiten.