Kapitel 17: Delia
Es ist, als würde ich aus einer Vollnarkose erwachen, und kurz darauf wünschte ich, es wäre tatsächlich so. Jede schwere Operation kann nur besser als dieser Albtraum sein, der kein Traum ist. Ich bin gefangen und spüre Schmerzen am ganzen Körper. Warum sehe ich nichts? Wo bin ich? Ich liege auf dem Bauch, meine Hände sind auf dem Rücken zusammengezurrt, die Füße fest verschnürt. Über meinem Kopf ist etwas gestülpt, mein Mund ist mit einem Lappen oder so was Ähnlichem verstopft. Oh Gott, ich kann nicht atmen, ich kriege keine Luft!
Langsam, ganz ruhig, nur nicht in eine Panikattacke geraten. Ich hechle flach in meine Mitte, ein und aus, ein und aus. Nach einigen Sekunden – oder sind Minuten vergangen? – geht es einigermaßen. Ich werde durch die Nase atmen und Luft bekommen. Darauf muss ich mich fokussieren. Streng dich an und konzentrier dich, Delia. Du wirst nicht sterben.
Ich öffne die Augen wieder, die ich vielleicht gar nicht geschlossen hatte. Mein Verstand kommt nicht mit, jeder Gedanke verliert sich in Angst und Hilflosigkeit.
Bis ich mit einem Schlag realisiere: Ich bin entführt worden. Sofort ist die Panik erneut da, und ich hechle gegen den Knebel im Mund an, den der Typ mir vorhin reingestopft hat. Vorhin? Oder ist es länger her? Seit wann bin ich in diesem Wagen, gefesselt und mit dem Kopf in eine Decke gewickelt? Decke? Ist es gar ein Teppich oder ein Sack? Es riecht wie ein Kartoffelsack – genau, das ist es. Ich muss bei Sinnen bleiben, rekonstruieren, was geschehen ist. Ich darf nicht durchdrehen.
Er hat mir die Hände und Beine zusammengebunden. Meine Finger sind komisch verdreht. Hektisch zerre und zapple ich, doch die Schnüre sind zu fest. Ich fühle mich wie lebendig begraben und vollkommen ausgeliefert, zum Tode verurteilt, einem qualvollem Tod, bei vollem Bewusstsein. Oh Gott. Hilfe! Der Versuch, Geräusche zu erzeugen, schlägt fehl. Gegen den Knebel habe ich keine Chance, bekomme keinen echten Schrei heraus. Wohin hat er mich gefahren? Oder befinde ich mich noch auf dem Parkplatz des Pflegeheims? Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und wie lange ich bewusstlos war. Bestimmt wurde ich an einen schrecklichen Ort gebracht und werde gleich vergewaltigt, misshandelt und bestialisch hingerichtet. Aber wann? Oder bin ich allein, werde im Nirgendwo vergessen und elendig verrecken?
Das ist ein wahrgewordener Horrorstreifen, mit mir in der Hauptrolle. Ich muss hier raus! Was würde eine Filmheldin an meiner Stelle machen? Sie würde ihre Flucht planen. Versuchen, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien und zu überlegen, wer ihr das Leid angetan hat. Noch antut. Ich habe es nicht hinter mir, denn das ist erst der Beginn. Was hat das alles zu bedeuten?
Nachdenken. Das Gehirn anstrengen.
Der Moment, in dem ich den Entführer wahrgenommen habe, steht mir deutlich vor Augen. Ich bin mir relativ sicher, ihm nie zuvor begegnet zu sein. Auch seine Stimme habe ich vorher nie gehört. Es ging so schnell. Ich hatte ihn gar nicht richtig angeschaut, als ich ihn darum bat, seinen Wagen wegzufahren. Nur ein kurzer Wortwechsel, banal und harmlos. Wer ahnt denn, dass man einen Schwerverbrecher vor sich hat, wenn man ihn um etwas so Simples bittet? Hätte ich nur nichts gesagt. Oh nein, ich bin so dumm. Einfach abwarten, bis er meine zugeparkte Fahrertür von selbst freimacht – das hätte ich tun sollen. Stattdessen quatsche ich einen wildfremden Kerl an. Wie konnte ich nur so leichtgläubig sein? Oder hat er das mit Absicht gemacht? Natürlich! Ja, es war sein Ziel, mich auf eben diese Weise in die Enge zu treiben. Und ich bin darauf hereingefallen.
Es war ein Transporter. In Transportern werden doch immer Leute verschleppt. Ich kenne das Fahrzeug nicht, das zu meinem rollenden Sarg wurde, oder habe ich es schon einmal bei uns auf dem Firmenparkplatz gesehen? Nein, zumindest nicht bewusst. Und er, wer ist das? Obwohl er mich derb gepackt und mir irgendetwas Kaltes aus Metall an den Nacken gedrückt hat, sah er nicht furchterregend aus. Die Tat war furchterregend, der Typ hingegen … attraktiv. Mist, ich bin bereits verrückt. Kein normaler Mensch nimmt Attraktivität wahr, wenn er gerade gekidnappt wird. Ob das so was wie ein Schutzmechanismus ist, der mich vorm Zusammenbruch rettet? Stelle ich mir ein Monster schön vor, damit es weniger monströs wird? Fest steht: Ich kenne ihn nicht. Ein mir unbekannter Mann. Anfang dreißig, kein Bart, kurze Haare. Blaue Augen. Genau! Die hellblauen Augen standen im Kontrast zum dunklen Hauttyp und den braunen Haaren. Den Typ habe ich nie zuvor gesehen, denn sein Anblick wäre mir im Gedächtnis geblieben.
Vielleicht ist er nicht allein, möglicherweise hat er einen Komplizen. Ob er der Fahrer des Wagens ist? Ist er Kidnapper und Mörder in einer Person? Oder arbeitet er nur im Auftrag? Der Killer mit den Eisaugen … Meine Sinne vernebeln, und ich möchte schlafen, nichts von dem mitbekommen, was mich erwartet. Wenn ich wieder aufwache, steht ein Traumprinz vor mir, der mich aus dem stinkenden Sack rausholt. Aber die herbeigesehnte Ohnmacht bleibt aus. Stattdessen rasen die Gedanken weiter, irren im Kreis und bleiben dann bei einer fixen Idee stehen: Gregor hat die Tat in Auftrag gegeben. Er war’s. Mein verändertes Verhalten hat ihn misstrauisch gemacht, und er hat bemerkt, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin. Um unser Geld in Ruhe zusammen mit seiner Geliebten ausgeben zu können, will er mich beseitigen. Was es wohl kostet, mich in einen Transporter sperren zu lassen?
Verdammt, mein baldiger Tod erscheint mir immer logischer. Sollte mein Mann wirklich hinter meiner Verschleppung stecken, kann der Plan nur Mord lauten. Warum sonst würde mich jemand in seinen Wagen zerren?
Würde ich bloß meinen Kopf befreien können! Am Schlimmsten ist der Kontrollverlust von Augen und Mund, das macht mich verrückt. Meine Gliedmaßen schmerzen unendlich, doch irgendwie gelingt es mir, das wegzudrücken. Aber dass ich nichts sehen kann und mir die Luft und Sprache wegbleiben, ist kaum zu ertragen. Diese fürchterliche Position, in der ich mich befinde, macht mich handlungsunfähig. Jeder Versuch, mich in eine aufrechte oder sitzende Haltung zu bringen, scheitert. Mein Körper scheint noch bekleidet zu sein, lediglich Kopf und Hals sind vom Sack bedeckt. Mit Schubbern am Boden bekomme ich das Juteding nicht ab; es ist zum Verzweifeln.
Da ist ein Geräusch. Jemand hantiert am Schloss. Es hört sich an, als hätte er Probleme, die Tür aufzubekommen. Warum, wenn er doch einen Schlüssel hat? Vielleicht rettet man mich. Ich will schreien, doch der Knebel verhindert es erneut. Irgendwer steigt ins Innere des Fahrzeugs. Mein Atem wird schneller, als ich höre, dass sich die Tür mit einem Ruck schließt. Das ist mein Ende. Dann bewegt sich der Boden unter Schritten.
»Sei gefälligst leise«, schnauzt eine Männerstimme.
Ich wage nicht, mich zu bewegen. Die tonlosen Rufe gegen den Knebel unterlasse ich ebenfalls. Ob man das doch gehört hat? Er kommt näher. »Na also«, sagt er. »Mach einfach nicht so einen Krach, hörst du?«
Ich nicke und habe keine Ahnung, ob er das sieht. Jedem seiner Befehle würde ich folgen, wenn er mir nur nichts antut. Ruhig und folgsam zu bleiben wird ihn beruhigen. Er ist ganz dicht über mir und beugt sich leicht keuchend zu mir runter. Was hat er vor? Bitte, möchte ich sagen, bitte, ich tu alles, was du willst. Könnten doch nur meine Gedanken telepathisch zu ihm gelangen.
Plötzlich spüre ich seine Hände auf dem Rücken. Sie ruhen dort nur einige Sekunden, wandern tiefer zum Steißbein und grabschen zwischen meine Beine. Er wühlt mit den Fingern an meiner Scham herum, scheint es sich dann wegen der eng gegeneinander gebundenen Beine anders zu überlegen und greift unter meinen Oberkörper an meine Brüste.
Ich liege mucksmäuschenstill und überlege fieberhaft. Seine Absicht ist eindeutig sexueller Natur. Kurz denke ich an Gregor, der wohl doch nicht dahintersteckt. Ich bin in die Fänge eines Triebtäters geraten. Aber eine Vergewaltigung werde ich überleben. Wenn er mich nur nicht umbringt, halte ich das aus. Ich kneife die Augen zusammen und stelle mir vor, wie ich mich aus meinem Körper wegbewege. Meine Seele verlässt diesen Ort, steigt höher, bis sie das alles nur von oben mitbekommt.
Ohne dass ich es sehe, ahne ich seine Erregung. Der Ekel hält sich in Grenzen, nein, falsch, er ist kaum spürbar. Es ist vielmehr die Angst vor dem, was noch folgt. Ich will nicht sterben. Ich will den Sack vom Kopf haben und das Ding aus dem Mund bekommen. Das Kneten meines Busens ist mehr zärtlich, denn grob. Er hält inne, zögert, zieht die Hand unter mir weg.
»Du bist gehorsam, das gefällt mir«, sagt er. Seine Stimme klingt jung und erschreckend normal. Wie kann ein normaler Mensch so etwas tun? Ist er krank? Pervers? »Wir müssen ein paar Stunden überbrücken, bevor ich dich nach Hause bringe.«
Nach Hause! Ich zittere und schwitze zugleich vor Aufregung. Ob er mein Zuhause meint? Oder verschleppt er mich zu sich? Mir fallen schreckliche Verliese aus Fernseh- und Zeitungsberichten ein. Solche Sachen passieren nur den anderen, bete ich, ich werde mehr Glück haben und bald wieder in Sicherheit sein. Worauf auch immer wir warten müssen, warum auch immer wir ein paar Stunden überbrücken müssen. Lösegeld? Ist es das? Gregor zahlt für mich vermutlich keinen Cent mehr; der ist doch froh, wenn er mich los ist. Ein weiteres Mal wirbelt mein Gedankenkarussell herum und herum und herum.
»Hm, schwierige Entscheidung. Ach, scheiß drauf«, murmelt er. »Möchtest du was essen und trinken?«
Erst jetzt spüre ich den quälenden Durst und nicke. Wieder habe ich keine Ahnung, ob er meine Bewegung korrekt deutet.
»Okay, pass auf, was ich dir erkläre. Ich sage es nur ein einziges Mal. Bist du nicht folgsam, wirst du das bitter bereuen. Verstanden?«
Ich nicke heftig. Ich tu alles, absolut alles, was du willst, wenn ich nur endlich diesen Knebel aus dem Mund bekomme.
»Versuch nicht, mich reinzulegen. Keine Tricks. Du kannst froh sein, dass ich so großzügig bin. Andere würden sich wie echte Arschlöcher verhalten, aber ich glaube an dich. Du wirst alles tun, was ich von dir verlange, weil du weißt, was es für uns bedeutet. Ich nehme dir jetzt den Sack vom Kopf, und du hältst still. Ich bin dein Meister.«
Er ist ein Psychopath. Ich muss ihm das Gefühl vermitteln, sein Diener zu sein, dann wird er mir abkaufen, dass ich ihn tatsächlich für meinen Meister halte. Das schaffe ich.
Er zieht mir das stinkende Teil runter. Die plötzliche Helligkeit lässt mich blinzeln. Ich erkenne den Boden des Fahrzeugs, sehe eine Flasche neben mir. Seine Hände packen mich an der Hüfte und drehen mich um, sodass ich alle möglichen Dinge auf einmal sehe. Sein Gesicht, seine Jeansjacke. Abdunklungsfolie an den Fensterscheiben. Ist es vorteilhaft, dass er allein ist? Sein Äußeres habe ich mir genau richtig vorgestellt – attraktiv, sportlich. Und er hat ganz hellblaue Augen, in denen ich sofort den Wahnsinn sehe, als er mich jetzt fixiert. Als würde ein wildes Tier seine Beute anvisieren, um im nächsten Moment zuzuschnappen.
Mein Instinkt sagt mir, ich soll lächeln, um die Situation zu entkrampfen. Eine Beziehung zu ihm herstellen. Hey, ich bin echt nett, du auch, lass uns einfach aufhören mit dem Quatsch und das alles vergessen. Wehrlos liege ich auf dem Rücken vor ihm. Dass er sein Aussehen nicht vor mir verbirgt, bedeutet nichts Gutes. Würde ich entkommen, könnte ich eine perfekte Täterbeschreibung liefern. Er plant eine längere Entführung. Oje, ich muss husten. Regungslos beobachtet er mich eine Weile. Dann schnellen seine Hände vor, und er löst den Knebel. Endlich! Ich atme laut und stoßweise, wage aber nicht, zu sprechen.
Wenn er nur die Fesseln abmachen würde, zumindest an den Handgelenken. Doch er ruckelt an mir rum, zerrt mich hoch und flucht dabei aggressiv vor sich hin, bis ich in halbwegs sitzender Position vor ihm kauere.
»Was ich hier für einen Zirkus veranstalte, damit es dir gutgeht. Ich erwarte ein wenig Dank«, stößt er wütend aus.
Sein verrückter Blick jagt mir Angst ein.
»Danke«, sage ich leise. Es erscheint mir, als habe ich seit Ewigkeiten nicht gesprochen. Ich klinge heiser und fremd.
»Geht doch. Und nun gibt es Essen. Halt still.«
Aus seiner Jackentasche holt er einen schmalen Schokoriegel und entfernt das Stanniolpapier. Wie soll ich das Zeug ohne Hände in den Mund bekommen? Oh nein … Er hält mir die Schokolade vor die Lippen, will mich füttern. Sein Gesicht kommt immer näher und sein warmer Atem streift meine Haut. Die Situation ist dermaßen grotesk, dass ich noch nicht einmal weinen kann. Ich schaue ihn demütig an, während ich abbeiße und kaue.
»Lecker, hm?«, fragt er.
Jetzt dämmert es mir … Er klingt verliebt. Er steht auf mich. Nicht nur körperlich, sondern er mag meinen Anblick. Verdammte Scheiße, ich bin einem komplett Irren ausgeliefert. Ob es hilft, wenn ich nett zu ihm bin?
»Ja, danke.«
»Das ist deine Lieblingsschokolade.«
Stimmt. Woher weiß er das?
»Sie schmeckt sehr gut«, antworte ich und lege Unterwerfung und Schüchternheit in meinen Blick.
»So, und nun noch einen Schluck Wasser. Warte.«
Suchend wendet er den Kopf hin und her, und ich wage einen Blick auf den Rest seines Körpers. Bevor ich es erkenne, weiß ich es bereits: Mein Entführer ist extrem erregt. Vor Geilheit beult sich seine Hose aus. Der Perverse hat einen Steifen. Nicht mehr lange und er wird mich vergewaltigen.
»Hier, trink.«
Das Wasser aus einer Plastikflasche läuft mir links und rechts am Mund herunter, als er es mir einflößt. Die wenigen Tropfen, die in meiner Kehle landen, sind wohltuend und tröstend. Ich habe so einen Durst und würde gerne einfach weitertrinken, doch nach drei Schlucken zieht er die Flasche weg und erhebt sich. Der seltsam intime Moment ist dahin. Vor mir baut sich der brutale Peiniger auf.
»Das muss bis heute Abend reichen, du wirst schon nicht verhungern. Andere halten viel mehr aus als ihr verweichlichten Weiber. Außerdem musst du sonst pinkeln. Ich warne dich!« Er wird lauter und ich senke ängstlich den Blick. »Du machst dir unter keinen Umständen in die Hose. Wenn ich Pisse entdecke, drehe ich durch!«
Energisch bückt er sich, greift nach dem dreckigen Geschirrspültuch, das mir im Mund steckte, und wickelt es mir erneut als Knebel um. Das ist mein Ende. Ich kann nicht mehr, Tränen treten mir aus den Augen.
»Flenn nicht rum«, bellt er und stülpt mir den Sack über den Kopf.
Ich ergebe mich meinem Schicksal, jetzt sitzend statt liegend. Wie soll ich mich aus dieser Misere befreien? Mein Kampfgeist erlischt, ich möchte nur noch schlafen und verschwinden. Von mir aus soll er mich umbringen, am besten schnell. Er bleibt weiter vor mir stehen. Ich bin so unendlich erschöpft.
Bevor ich wegdämmere, denke ich darüber nach, ob in der Schokolade oder dem Wasser ein Schlafmittel versteckt gewesen war. Dann ist es endlich ruhig.