Kapitel 3: Gregor

Manchmal frage ich mich, wie es so weit kommen konnte mit uns beiden. Dass wir am Küchentisch sitzen und mich ihre bloße Anwesenheit nervt. Zum Beispiel genau in diesem Moment. Delia greift in die Bäckertüte und raschelt dabei viel stärker als notwendig, weil ihr geliebtes Körnerbrötchen ganz unten liegt. Warum zum Teufel nennt sie das Teil an der Verkaufstheke nicht zuletzt, damit sie zu Hause nicht danach wühlen muss?

Wo ist die Liebe geblieben, die ich früher für sie empfunden habe? Kennengelernt habe ich Delia auf einer Geburtstagssommerparty eines gemeinsamen Bekannten. Sie war ein blutjunges Ding, relativ naiv, aber aus einer wohlhabenden Familie stammend. Doch in erster Linie war sie atemberaubend attraktiv. Niemand hatte uns einander vorgestellt, niemand den Versuch unternommen, uns zu verkuppeln. Nein, es war eine wohl schicksalshafte Begegnung am Grill gewesen, die uns zusammengebracht hatte. Während wir auf die Rinderfilets gewartet hatten, waren wir ins Gespräch gekommen – und hatten uns so prächtig amüsiert, dass ich Delia anschließend zu einem freien Stehtisch dirigiert hatte, um die Unterhaltung nicht abrupt beenden zu müssen. Mir gefielen ihr enges, türkisfarbenes Sommerkleid, die Oberweite, die sich darunter abzeichnete und die Schuhe mit den hohen Absätzen. Außerdem fand ich ihre Stimme süß. Wie sich in den nächsten dreißig Minuten herausstellen sollte, besaß sie einen feinen Humor, der mir ebenfalls zusagte. Irgendwann trat eine Freundin zu Delia, um sie in Beschlag zu nehmen. Bevor sie ging, steckte sie mir ihre Handynummer zu und sagte, sie würde sich freuen, von mir zu hören.

In meiner Wohnung angekommen suchte ich im Netz nach Informationen. Dank Facebook erfuhr ich, dass sie Single war, und zwar, laut Statusänderung, seit vier Monaten. Aufschlussreicher waren allerdings die Details, die ich über ihr Elternhaus in Erfahrung brachte. Delia war das einzige Kind eines Unternehmerehepaares. Ihre Eltern hatten sie spät bekommen; die Mutter war fast vierzig gewesen, der Vater ein paar Jahre älter. Er führte einen mittelständischen Baustoffhandel, dessen Leitung er eines Tages aus Altersgründen abgeben würde. Ich vermutete, Delia würde nach seinem Tod Alleinerbin werden. Aufgrund meiner eigenen beruflichen Perspektive – ich hing im mittleren Management eines Großkonzerns ohne ausgeprägte Aufstiegschancen fest – wurde das Zusammentreffen dadurch noch interessanter. Trotzdem ließ ich mir drei Tage Zeit, ehe ich sie telefonisch kontaktierte. Schließlich sollte sie nicht glauben, ich hätte ein Date dringend nötig. Wir verabredeten uns in einem piekfeinen Fischrestaurant der Nachbarstadt und verbrachten einen wundervollen Abend miteinander. Weitere Rendezvous folgten, und nach dem vierten landete sie endlich in meinem Bett. Der Sex war zwar nicht großartig, aber ziemlich gut gewesen – weswegen wir es wiederholten. Einige Wochen darauf änderte Delia erneut ihren Facebookstatus: Sie war wieder in einer Beziehung. Ihre Eltern bestanden auf ein zeitiges Kennenlernen, woran auch ich großes Interesse hatte, ohne es mir anmerken zu lassen. Ihr Vater klopfte mich so offensichtlich auf meine Tauglichkeit als Schwiegersohn ab, dass es peinlich war – ich tat jedoch so, als würde ich es gar nicht mitbekommen. Bereits sechs Monate später machte ich ihr einen Heiratsantrag. Mein Bestreben, Geschäftsführer des Unternehmens zu werden, hatte ich bewusst verschwiegen. Ihr alter Herr sollte von allein auf die Idee kommen, in mir den idealen Nachfolger zu erkennen, und tatsächlich erfüllte er meinen Wunsch ungefähr ein Vierteljahr nach der Hochzeit. In einem Gespräch vor dem knisternden Kamin in seinem Bibliothekszimmer bot er mir die Stellung des stellvertretenden Geschäftsführers an. Er hatte vor, mich ein Jahr lang einzuarbeiten, um mir dann nach und nach die Geschäfte zu übertragen. Das mir angebotene Gehalt entsprach in etwa dem, was ich in meiner damaligen Position verdiente, dennoch erbat ich mir eine Nacht Bedenkzeit. Am nächsten Vormittag sagte ich zu und kündigte meinen Job. Ein Dreivierteljahr, nachdem Winfried mir das Zepter übergeben hatte, starben er und meine Schwiegermutter bei einem Flugzeugunglück in Südafrika, wo sie an einer Safari teilgenommen hatten. Delia erbte das Unternehmen, doch der eigentliche Besitzer war nun ich.

Zum Zeitpunkt der Beerdigung hatte ich sie noch geliebt – ein Gefühl, das in den letzten vier Jahren neben zahlreichem anderen auf der Strecke geblieben war.

»Kannst du mir die Marmelade geben?«, bittet sie mich.

»Natürlich, Schatz.«

Ich reiche ihr das kleine Gläschen, das sie in einem Feinkostladen kauft. So wie viele der Nahrungsmittel, die regelmäßig auf unseren Tisch kommen. Delia hat mir immer die komplette Kontrolle über die Finanzen überlassen. Sie war lediglich fürs Ausgeben zuständig, während ich dafür verantwortlich war, den Laden am Laufen zu halten. Ich spiele mit dem Gedanken, ihr noch einmal zu versichern, dass ich mich um das Problem mit der Kreditkarte kümmern werde. Aber ich fürchte, das könnte sie misstrauisch machen. Nein. Sie soll ruhig glauben, es wäre ein Defekt des Terminals gewesen. Nicht, dass sie noch auf die Idee kommt, sich für die Familienfinanzen zu interessieren. Nicht ausgerechnet jetzt. Andererseits hat sie in ihrem ganzen Leben kein Interesse für solch schnöde Angelegenheiten gezeigt. Früher hat das ihr Vater erledigt. Heute bin ich derjenige, der ihr das abnimmt. Und wenn sie irgendwann aus ihrer Scheinwelt erwacht, wird es zu spät sein.

»Worüber lächelst du, Schatz?«, fragt sie.

»Ich habe an gestern Abend gedacht.« Delia muss nicht wissen, wie sehr mich ihre Naivität amüsiert. »Das war so wunderschön gewesen.« Theatralisch spitze ich die Lippen zu einem Kussmund. »Am liebsten würde ich gleich noch mal, wenn da nicht dieses blöde Meeting wäre.« Demonstrativ blicke ich auf meine teure Armbanduhr, die sie mir zum vorletzten Geburtstag geschenkt hat. Bezahlt mit der Kreditkarte, die ihr nun den Ärger bereitet hat.

»Ich fand es auch sehr schön.«

Die Lüge in ihren Worten ist nicht zu überhören. Delia favorisiert seit geraumer Zeit die langweilige Missionarsstellung und hat keinerlei Bedürfnis nach Abwechslung. Dabei fickt sie mittlerweile eigentlich nur in einer Stellung richtig gut, nämlich oben liegend und von mir angefeuert. Eine weitere Sache, die während unserer Ehe auf der Strecke geblieben ist. Aus dem befriedigenden Sexleben ist kalte Routine geworden. Woran definitiv nicht ich die Schuld trage.

Ich stehe auf, trete um den Tisch herum und gebe ihr einen Kuss. Sie ist von meiner vermeintlichen Zuneigung so überrascht, dass sie die Berührung fast zu spät erwidert. Sanft streichle ich ihr unterdessen über den Hinterkopf.

»Geliebte Ehefrau«, säusle ich. »Was habe ich ein Glück, mit dir verheiratet zu sein.«

»Ach, Gregor«, seufzt sie.

»Wir sollten demnächst mal wieder wegfahren. Ein romantisches Wochenende in einem Wellnesshotel. Was hältst du davon?«

»Das würde mir gefallen. Ein paar Tage den Alltag hinter uns lassen.«

»Oder nach Hawaii. Wie in den Flitterwochen.«

Plötzlich strahlt sie. »Wäre das möglich? Du bist beruflich derzeit so stark eingespannt.«

»Leider«, stöhne ich. »Ich prüfe im Büro meinen Terminkalender. Langsam bin ich ziemlich urlaubsreif. Vielleicht in einem Vierteljahr, falls da keine Messen stattfinden.«

»Oh, das wäre so wunderschön.«

Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn, dann drehe ich mich um. Natürlich plane ich nicht, mit ihr nach Hawaii zu fliegen. Der Vorschlag soll sie lediglich beruhigen, denn sie weiß genau, ich würde kein Geld für Urlaub ausgeben, wenn wir es uns nicht leisten könnten. Ihr Misstrauen kann ich momentan nicht gebrauchen, und in drei Monaten wird sich mein Leben ohnehin radikal geändert haben.

***

Delia fängt mich an der Haustür ab. Normalerweise sitzt sie bei meinem Aufbruch noch in der Küche und blättert in einer der Klatschillustrierten, die wir ihretwegen abonniert haben. Ich ahne, was das zu bedeuten hat.

»Hast du heute besondere Pläne?«, erkundige ich mich.

»Ich spiele nachher mit Sophia Tennis.«

»Stimmt. Heute ist ja dein Tennistag. Ich hoffe, du schlägst sie vernichtend. Ihr Gatte hat mich neulich beim Pokern total genervt.«

Delia lacht. »Du weißt, das Ergebnis interessiert mich nicht. Es geht um den Spaß am Spiel.«

»Sowie um die Gelegenheit zu quatschen«, entgegne ich. Um meinen Worten die Schärfe zu nehmen, stupse ich ihre Nase. »Ihr Frauen seid in dieser Hinsicht seltsam. Wo ist euer Ehrgeiz?«

»Nein, Frauen sind bloß nicht so schrecklich ambitioniert wie Männer. Wir müssen nicht aus allem einen Wettkampf machen.«

»Na gut, dann hab einen schönen Tag. Könnte übrigens spät werden bei mir. Eine Besprechung mit einem der wichtigsten Zulieferer beginnt erst um fünf.«

»Denkst du bitte daran, die Kreditkartenfirma zu kontaktieren?«

»Kreditkartenfirma?

»Wegen der Probleme …«

»Ach ja«, unterbreche ich sie. »Klar. Gut, dass du mich erinnerst. Deine goldene Visa, richtig?«

»Genau.«

»Ich rufe bei denen an. Aber wie gestern bereits gesagt: Mach dir keine Sorgen. Das wird ein Fehler des Terminals gewesen sein.«

»Wäre trotzdem lieb, wenn du nachhakst. Die Situation in der Boutique war so peinlich.«

Schatz, denke ich schadenfroh. Du hast ja keine Ahnung, was dir bevorsteht. Eine nicht akzeptierte Kreditkarte gehört da wirklich zu den kleinsten Übeln.

»Das erledige ich direkt als Erstes«, verspreche ich. »Können wir ja heute Abend drüber reden. Nun muss ich wirklich los.«

Ich gebe ihr einen weiteren Kuss, dann trete ich aus dem Haus. Vom Grundstück gegenüber winkt uns der Nachbar zu, was wir beide erwidern. Einer spontanen Laune heraus drehe ich mich anschließend erneut meiner Frau zu und küsse sie demonstrativ. Ich bin sicher, der Nachbar hat es mitbekommen.

»Wow«, lacht Delia verlegen. »Dir hat es offenbar gestern wirklich echt Spaß gemacht.«

»Du warst umwerfend. Und außerdem: Darf ich meine Gattin nicht anständig verabschieden?«

»Meinetwegen jeden Tag«, antwortet sie.

Die zwischen den Zeilen steckenden Vorwürfe überhöre ich. Doch natürlich kapiere ich ihre Botschaften. Mir hat es Spaß gemacht, nicht ihr. Und sie ist mit der Art unserer normalen Verabschiedung unzufrieden. Tja, Liebling, frag dich am besten, wie viel Verantwortung du daran trägst.

Als ich einen halben Kilometer von zu Hause entfernt bin, wird mir bewusst, dass ich einen Fehler gemacht habe. Es wäre geschickter gewesen, mir die Kreditkarte aushändigen zu lassen. Dafür ist es jetzt jedoch zu spät. Würde ich extra deshalb umdrehen, würde das Delias Misstrauen erst recht wecken. Nein. Ich muss hoffen, dass sie die Karte nicht noch einmal benutzen wird.

Ein paar Straßen weiter wähle ich über das Multimediasystem des Fahrzeugs eine Nummer an. Nach dem vierten Freizeichen meldet sich am anderen Ende der Leitung jemand.

»Wir müssen in den nächsten Wochen aufpassen«, erkläre ich nach der Begrüßung. »Delia ist argwöhnisch geworden.«

»Weswegen?«

»Eine ihrer Kreditkarten hat gestern nicht funktioniert.«

»Überzogen?«

»Ich habe Geld transferiert.«

»Stört das unsere Pläne?«

»Kommt darauf an. Ich werde ihr abends eine Geschichte auftischen und ihr die Karte wegnehmen. Na ja, es wird eh Zeit. Ich ertrage sie nicht mehr. Sie nervt mich schon, wenn sie nur atmet.«

Das daraufhin ertönende Lachen wirkt fast ein wenig zu gehässig. Kurz darauf beenden wir das Gespräch. Den Rest der Fahrt beschäftigen mich unzählige Gedanken. Ich suche nach Schwachpunkten in meinem Vorhaben. Fehler, die mich verraten können. Entweder bevor ich den Stein endgültig ins Rollen bringe oder direkt danach. Doch so sehr ich auch hin und her überlege, ich entdecke nichts, was ich in den letzten Wochen falsch gemacht habe. Mit einer Ausnahme: Die Summe, die ich von dem Kreditkartenkonto überwiesen habe, war wohl zu hoch gewesen. Wahrscheinlich ist eine von Delias Ausgaben verspätet abgerechnet worden, wodurch ich das genehmigte Limit überschritten habe. Ärgerlich, aber kein großes Problem.