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Unten im Präsidium trafen sie auf Ackermann, der mit den beiden Diensthabenden ein Schwätzchen hielt. Er unterbrach sich aber sofort, stürzte auf sie zu und fragte nach »Neuichkeiten«.

Während Toppe berichtete, beachtete van Appeldorn ihn gar nicht, sondern wandte sich an den Kollegen: »Wir brauchten mal eine örtliche Fahndung: Heinz Mülders.«

»Mülders?« wuselte Ackermann dazwischen. »Der sitzt doch inner Klapse!«

»Wie, Klapse?« drehte van Appeldorn sich um. »Und woher weißt du das?«

»Lieber Norbert«, meinte Ackermann mit Augenaufschlag, »ich hab’ meine Spione überall, weißte doch. Der Mülders hat am Samstach im satten Kopp ’ne Fensterscheibe von ’nem Juwelierladen eingeschlagen. War aber wohl nich’ haftfähich, oder wat. Jedenfalls ham se’n na’ Bedburg gesteckt.«

»Dann hab’ ich gleich Arbeit für dich«, legte ihm van Appeldorn die Hand auf die Schulter. »Ruf doch mal in der Klinik an und erkundige dich, wo der sitzt und ob der vernehmungsfähig ist.«

»Null Problemo«, meinte Ackermann aufgekratzt und hängte sich ans Telefon.

Van Appeldorn ging unterdessen zum Automaten auf dem Gang und holte zwei Becher Cola für Toppe und sich.

»Der Rambach kann sagen, was er will. Ich bin sicher, daß der van Velden erpreßt hat.«

»Klar, hat er«, meinte Toppe, »aber wie willst du ihm das beweisen?«

»KiB!« brüllte Ackermann von hinten. »Mülders sitzt im KiB.«

»Kipp, klar«, tippte sich van Appeldorn an die Stirn.

»Kriseninterventionsbereich«, erklärte Toppe, »das ist in der forensischen Sucht.«

»Wir können ihn vernehmen«, brüllte Ackermann weiter.

»Wir? Ich hör’ immer wir. Einer muß doch den Laden hier schmeißen. Wer könnte das besser als du?« sagte van Appeldorn und ging nach oben, um die Reiseschreibmaschine zu holen.

»Aber Breitenegger und Frau Steendijk sind doch da«, kam Ackermann zerknirscht zu Toppe.

»Ich glaube, zwei Leute sind bei so einer Vernehmung genug«, antwortete der und sah Ackermann nachdenklich an. »Sie sind schon merkwürdig. Ich glaube. Sie sind hier der einzige, der sich um Arbeit reißt.«

»Tu ich gar nicht! Bloß bei manchen Sachen. Hauptsache spannend. So wie Mord zum Beispiel.«

»Aber das hier sieht eher nach Totschlag aus; vielleicht sogar nur schwere Körperverletzung, wer weiß.«

»Is’ doch ganz egal. Bis jetzt war et jedenfalls klasse.«

Sie erkundigten sich beim Pförtner nach dem Weg und fuhren dann im Schrittempo bis zur forensischen Sucht.

Auf ihr Klingeln kam ein Pfleger herangeschlurft und schloß die Tür auf. Er sagte nichts, sah sie nur abwartend an.

Van Appeldorn zog seinen Dienstausweis. »Tach, van Appeldorn«, stellte er sich vor.

»Ou, bent U ok nederlands?« fragte der Pfleger.

»Nein«, stöhnte van Appeldorn, »ich heiße bloß so.«

»Wir wollen Heinz Mülders vernehmen«, sagte Toppe.

»Der sitzt im KiB. Kommen Sie mit auf Station, dann erwischen Sie noch den Doktor. Der macht gerade Visite.«

Sie trafen den Arzt auf dem Flur: ein schlanker, durchtrainierter Mann in den Vierzigern. Etwas steif stellte er sich vor: »Jean Nagel«, und fragte, zu wem sie wollten und warum. Er sprach korrektes Deutsch, allerdings mit sehr starkem Akzent.

»Sie sind Franzose«, stellte van Appeldorn fest.

Nagel zog die Brauen zusammen. »Nein, Belgier! Ja, also, Mülders ist am Samstag schwer intoxikiert hier angekommen. Im Moment hat er noch leichte Entzugserscheinungen, aber Sie können ihn wohl vernehmen. Ich habe ein wenig Zeit, ich werde Sie begleiten.«

Sie mußten über die ganze Station, auf der wohl hauptsächlich Junkies untergebracht waren.

»Hier stinkt’s auf einmal so«, hörten sie die Kommentare, »die starken Jungs sind da.«

Aus einem voll aufgedrehten Recorder auf einem Tisch in der Ecke dröhnten die »Böhsen Onkelz«. Zwei Männer, der eine ein schlanker Bruder von Qualtinger mit Irokesenschnitt, der andere dürr, bleich und tätowiert, saßen direkt daneben und tranken Kaffee. Qualtinger spuckte auf den Boden, als sie vorbeikamen.

»Die neue Herrenrasse«, sagte van Appeldorn laut. »Da kommt Hoffnung auf.«

Sie gingen durch eine Tür und standen im KiB. Alles hier war eng und düster. Rechts eine Theke, hinter der zwei Pfleger saßen und guckten. Geradeaus in dem Zimmer sei Mülders, meinte der Arzt.

,Zimmer’ war geschmeichelt; ein karger Raum, zwei Metallbetten mit Fixiergurten, ein Spind, ein Stahlwaschbecken, Gitterfenster mit Milchglas und, als Tribut an die Gemütlichkeit, zwei braune Sitzwürfel.

Heinz Mülders saß auf einem der beiden Betten. Sein grauer Trainingsanzug harmonierte perfekt mit seiner Gesichtsfarbe. Es ging ihm noch nicht allzu gut; er schwitzte und zitterte leicht.

Der Arzt wollte sich verabschieden. »Er kriegt noch Distra«, erinnerte er sie.

»Einen Augenblick«, hielt ihn van Appeldorn zurück. »Wo bewahrt ihr denn seine Privatklamotten auf?«

»Im Spind. Soll ich den aufschließen lassen?«

Toppe hatte sich inzwischen mit Mülders bekannt gemacht. Van Appeldorn stürzte grußlos ins Zimmer, knallte die Schreibmaschine auf einen der Sitzwürfel und wartete, bis der Pfleger den Spind aufgeschlossen, den Plastiksack mit der Kleidung herausgeholt hatte und gegangen war. Er durchwühlte naserümpfend den Sack und fischte schließlich befriedigt ein Paar ehemals weißer, abgetragener 42er Puma Schuhe heraus.

»Wat habbich mit Mordkommission am Hut?« fragte Mülders verwirrt. »Ich dacht’, ihr kommt von Einbruch.«

Toppe setzte sich auf das freie Bett. »Es geht um Montag, den 30.10. also Montag vor einer Woche. Was haben Sie an dem Tag gemacht?«

»Herr Kommissar, wie soll ich dat denn wissen? Habbich mit die Kumpels ein’ gesoffen, unten anne Torte.«

Van Appeldorn ließ sich auf einem der beiden Sitzwürfel nieder und stellte Mülders’ Schuhe neben sich.

»Den ganzen Tag gesoffen?« hakte Toppe nach.

»Ja! Wat sons?«

»Und wo haben Sie gewohnt?«

»Ich hab’ Platte gemacht.«

»Bei dem Sauwetter haben Sie Platte gemacht?« meinte Toppe zweifelnd. »Wo denn?«

Mülders zitterte jetzt stärker. »Scheiße! Weiß ich do’ nich’. Ir’ndwo auf ’m Neubau.«

Van Appeldorn sprang auf und pflanzte sich direkt vor Mülders’ Füße. »Jetzt paß mal auf, Jung. Ich habe keine Zeit, mir solchen Mist anzuhören. Du bist am Montag abend auf der Tiergartenstraße gesehen worden. Wo kamst du her? Wo gingst du hin?«

Mülders sah langsam an van Appeldorn hoch. »Weiß ich ni’ mehr.« Er zitterte wie verrückt.

»Erzähl keinen Quatsch«, sagte van Appeldorn. »Du bist gesehen worden auf der Tiergartenstraße. Wo kamst du her? Wo wolltest du hin?«

»Ach, Scheiße! Ich war bei dem Popen da unten anne Kavarinerstraße. Da sind wer doch öfters.«

»Und wo wolltest du hin?«

»Pennen!«

Van Appeldorn ging langsam zurück zu seinem Sitzplatz. »Und wo wolltest du pennen?«

Mülders stand ächzend auf und schlurfte zur Tür. »Kann ich wohl bitte ein Glas Wasser kriegen?« fragte er nach draußen, »Und eine Zigarette?«

Es dauerte eine Zeit, bis ihm beides gebracht wurde. Er wartete an der Tür.

»Also«, meinte van Appeldorn, »wo hast du Platte gemacht?«

»Ich muß ma’ ebkes pissen.«

Sie warteten über fünf Minuten, dann kam Mülders zurück, schlorrte zu seinem Bett und ließ sich fallen.

»Wo hast du Platte gemacht?« fragte jetzt Toppe. »Da unten gibt es überhaupt keine Neubauten.«

»Hinter die Muschel an Forstgarten.«

»Bist du direkt da hin?«

»Glaub’ wohl..«

Van Appeldorn stand wieder auf. »Wir können die Geschichte abkürzen. Hör zu, Mülders, wir wissen, daß du bei van Velden im Haus warst.«

»Wie? Wat?« Mülders war die personifizierte Verwirrung.

»Tja, wir haben deine Fingerabdrücke am Kühlschrank gefunden, wo du die Salami rausgeholt hast.«

»Kann ga’ nich’«, sagte Mülders empört. »Ich hab’ doch Handschuhe angehabt.«

Van Appeldorn grinste nett. »Außerdem haben wir Abdrücke von diesen Schuhen hinten im Garten. Du hättest dir besser ein Paar neue besorgt. Also, Mülders, am Kanthaken haben wir dich sowieso.«

»Is’ ja gut. Ich war im Haus. Hab’ Streichhölzer gebraucht.«

Toppe lachte. »Und wie bist du reingekommen?«

»Die Haustür stand los.«

»Und dann?«

»Dann bin ich inne Küche.«

»Küche?«

»Ich hatte Schmacht, Mann! Außerdem hat ich kein Feuer für meine Fluppen.«

»Hattest du keine Angst, daß dich einer erwischt?«

»Nö. Ich hab’ doch vorher hinten durch et Fenster gekuckt inne Werkstatt. Da war keiner. Un’ sons’ war alles dunkel. Un’ da denk ich: kuckste ma’ rein.«

»Alles klar«, schaltete sich van Appeldorn wieder ein. »Dann bist du in die Werkstatt gegangen. Und was war dann?«

»Wie ich reinkomm’, sitzt der Kerl da am Schreibtisch.«

»Wie? Ich denke, da war keiner.«

»War ja au’ nich’, wie ich durch et Fenster gekuckt hab’! Ich weiß au’ nich’, wo der auf ei’ma’ herkam. Die Bude war leer gewesen.«

»Saß der da einfach nur?«

»Nee, der war wat am schreiben,«

»Und dann?«

»Da stand so ’ne Flasche, un’ da hab’ ich dem die übergezogen. Nich’ doll!«

»Nicht doll? Der Mann ist tot!«

»Dat kann nich’! Ich hab’ doch extra bloß mit de Seite.. Die Flasche war ja nich’ ma’ kaputt. Die habbich doch no’ wieder auf ’n Tisch getan.«

»Tja, der Mann ist tot.«

»Tschuldigung! Muß ma’ pinkeln.«

Damit verschwand Mülders wieder.

Van Appeldorn packte die Schreibmaschine aus und spannte ein Blatt ein. Sie mußten sich die Aussage gleich unterschreiben lassen.

Toppe starrte vor sich hin. Ohne den Aufprall gegen die Wand hätte der Schlag mit der Flasche vielleicht nicht ausgereicht. Und ohne den Schlag mit der Flasche..?

Mülders kam wieder zurück. Er blieb an der Tür stehen und kratzte sich zwischen den Beinen. »Wat ich ja bis heut’ nich’ versteh’: ich hau’ dem eins über die Rübe, un’ keine zwei Minuten später sind die Bullen da.«

»Die Bullen?« fragte Toppe.

»Ja! Tatütata vor ’m Haus.«

»Was hast du gerade gemacht, als die kamen?«

»Ich war am Schrank am fummeln. Der war zu. Aber sons’ sah et da vielleich’ aus! Wie ’m Saustal!! Alles floch da rum, un’ Papier auf de Erde un’ Zeuch. Wie ich die Bullen hör’, bin ich abgehauen.«

»Hintenrum«, stellte Toppe fest.

»Ja, klar! Vorne ging do’ nich’. Aber umgebracht habbich den nich’, dat sach ich euch.«

»Wo hattest du eigentlich die Sektflasche her?«

»Außem Kühlschrank, aber ging nich’ mehr inne Tasche.«

Van Appeldorn fing an zu tippen.

»Ich hab’ den nich’ umgebracht. Kaltgemacht habbich den nich’«, wiederholte Mülders von Zeit zu Zeit und zitterte vor sich hin.

Toppe ging zum Fenster. Der obere Teil war durchsichtig. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man hinaussehen. Himmel, ein paar nasse, schwarze Baumkronen.

Er wollte nicht denken.

Ein Ratsch. »So, das hätten wir. Lies das durch und dann unterschreib hier!«

Mülders unterschrieb, ohne vorher zu lesen.

Jean Nagel stand immer noch bei den Pflegern am Tresen und wartete.

»Mülders steht unter Mordverdacht«, sagte Toppe.

»Also, paßt mal schön auf ihn auf«, setzte van Appeldorn grinsend hinzu.

»Und wieso nehmen Sie ihn dann nicht mit?« rief der Arzt ihnen hinterher.

»Der sitzt doch erst mal gut hier bei euch«, rief van Appeldorn zurück.

Dr. Nagel fluchte, laut und ausgiebig – auf Französisch.

»Belgier!« frotzelte van Appeldorn leise. »Haben ja angeblich die Pommes erfunden, aber sonst..!«

Toppe bemühte sich um ein Grinsen.

Im Präsidium herrschte helle Aufregung. Sie kamen kaum durch die Tür. Draußen stand ein orangefarbener Transporter von der Stadt. Ackermanns Stimme schallte bis auf den Parkplatz.

Van Appeldorn schob die Tür auf.

Auf dem Tresen lag der angeweste Kadaver einer Katze. Der Stadtgärtner hielt ihn noch am Hinterbein.

»Dat muß man sich ma’ vorstellen«, quietschte Ackermann. »Direkt vor unserer Nase. Wer tut denn so wat?«

»Und was mache ich jetzt damit?« fragte der Stadtgärtner.

»Ja, was machen wir jetzt damit?« echote der Diensthabende.

Toppe drängte sich durch die Leute.

»Versucht’s doch mal beim Abdeckdienst in Marl«, meinte er und ging zur Treppe.