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Ihr Mitleid wollte er nicht, wohl aber ihre Zärtlichkeit, und es fiel ihm schwer, ihre Hand auf seinem Arm zu ignorieren.

»Dann wollen wir mal sehen, was du alles für Schätze ausgegraben hast«, sagte er viel zu munter.

Sofort zog sie sich zurück, als habe er sie getadelt, griff zu ihrem Papierstapel und breitete einige Blätter vor ihm aus. Sie hatte die Artikel vorsortiert.

Zum einen waren da Berichte über van Veldens Ausstellungen und Vernissagen, über Preisverleihungen. Sie stammten größtenteils aus Rambachs Feder und waren von einer auffallenden Distanzlosigkeit. Dem Autor schien es stets darum zu gehen, seine eigene enge Beziehung zum Künstler zum Ausdruck zu bringen. Den längsten Text hatte er anläßlich der Verleihung des Großen Staatspreises 1989 für die,Holocaust-Plastik’ verfaßt, die vor dem Bundeshaus in Bonn installiert worden war.

Ein halbseitiges Foto der Plastik war mit Rambachs Kommentar versehen: Auf einzigartige, beklemmende Weise bearbeitet van Velden in dieser Plastik sein zentrales Thema: den Menschen. Ähnlich wie bei Henry Moore, der ihn stark beeinflußt hat, wachsen die Figuren aus Formen, die in einem Wechselspiel zwischen plastischer und ausgehöhlter Materie, teils rhythmisch, teils tektonisch gestaltet sind.

Besonders hervorgehoben wurde die Tatsache, daß eine Schülerin aus Kleve, Simona Lünterhoff, für eine der beiden Frauenfiguren der Plastik Modell gestanden hatte.

Astrid kam Toppes Anregung zuvor: »Ich würde diesen Bereich gern übernehmen, wenn du einverstanden bist. Ich denke, ich könnte einen Draht zu den Mädchen kriegen. Simona Lünterhoff weiß bestimmt ein paar Namen von den anderen, die bei diesen,Orgien’ dabei waren.«

»Ja«, sagte Toppe, »übernimm du erst mal diese ganze Geschichte mit den Pornofotos. Und sieh zu, daß du auch mit den Eltern der Mädchen sprichst.«

Er blätterte weiter in den Kopien. Da gab es zahlreiche Fotos, die van Velden bei offiziellen Anlässen zeigten, aber auch bei der Arbeit im Atelier: ein großer, muskulöser Mann mit einer augenscheinlichen Vorliebe für teure englische Kleidung. Das dunkle Haar war so kurzgeschoren, daß die Kopfhaut durchschimmerte und nicht von seinem auffallenden Gesicht ablenken konnte: ein unruhiges Gesicht, in dem die schmale Hakennase in starkem Kontrast zu den breiten, vollen Lippen stand. Die Augen vermittelten einen ernsten, oft verdrossenen Eindruck.

Beim zweiten Stapel, den Astrid ihm gab, ging es um die Restaurierung des Amphitheaters. Toppe blätterte ihn durch.

Die Kaffeemaschine zeigte mit einem lauten Gurgeln an, daß der Kaffee, den Astrid während Toppes Telefonat angesetzt hatte, inzwischen durchgelaufen war.

Astrid stand auf. »Du wolltest doch auch welchen?«

Er nickte nur.

Es hatte einen, wie Toppe fand, eigentlich recht harmlosen Wirbel in der Presse gegeben, als van Velden den Zuschlag für die Restaurierung der Anlage bekommen hatte. Rambachs Name tauchte nicht auf.

Zwei seiner Kollegen brachten in einigen kleinen Artikeln das allgemeine Befremden über diese Entscheidung der Stadt zum Ausdruck. Darüber hinaus gab es ein paar bitterböse Leserbriefe von ortsansässigen Architekten. Die Stadtverwaltung hatte sich, ungewöhnlich geschickt, zu dem Thema nicht öffentlich geäußert, so daß sich der ganze Wirbel nach vierzehn Tagen gelegt hatte – ein Sturm im Wasserglas. Van Velden selbst hatte keinen Kommentar abgegeben; vermutlich war er gar nicht befragt worden. Ein paar Pläne und Skizzen hatte man abgedruckt: Kleve früher – Kleve heute – Kleve, wie es sein könnte; allgemeiner Tenor: unsere Stadt soll historischer werden.

Astrid stellte den Kaffeebecher neben ihn und beugte sich von hinten über seine Schulter.

Toppe nahm deutlich ihr Parfüm wahr und spürte ihren warmen Atem im Nacken.

»Ich hab’s mir erspart, diese ganze Enteninsel-Diskussion abzulichten. Zum Thema van Velden hätte das sowieso nichts gebracht.«

»Hm«, nickte er. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang sich zurückzulehnen und räusperte sich anhaltend.

»Hast du was zu diesem Salmon Rosenberg gefunden?« fragte er, wie er hoffte, sachlich.

Sie ging schnell um den Schreibtisch herum und setzte sich wieder ihm gegenüber.

»Eine ganze Menge sogar.«

Dabei sah sie ihm viel zu lange in die Augen. Den Ausdruck konnte er nicht deuten.

Rund um den zentralen Bericht zur Gedenkfeier der ,Reichskristallnacht’ gruppierten sich Artikel über Rosenbergs Besuch in der Stadt, über Judenpogrome, bekannte jüdische Bürger der Stadt und van Veldens Vater. Rambach schien sich ein paar Wochen intensiv mit dem Themenkreis auseinandergesetzt zu haben.

Die Familie Rosenberg war schon seit 1795 in Kleve ansässig gewesen, berichtete Rambach, und hatte seit 1889 ein großes Kaufhaus auf der Hagschen Straße betrieben. Salmon Rosenbergs Vater Louis hatte das Geschäft 192l übernommen und es gemeinsam mit seiner Frau Hannah geführt. Sie hatten zwei Kinder, Rachel und Salmon.

Nachdem die Boykotte gegen die jüdischen Geschäfte in Kleve sich Mitte der Dreißiger Jahre immer mehr verschärften, hatte Louis Rosenberg die Auswanderung beantragt, deren Genehmigung jedoch verzögert worden war. Am 11.11.38 wurde das gesamte Geschäft verwüstet, die Familie brutal zusammengeschlagen, Louis Rosenberg inhaftiert. Man deportierte ihn nach Dachau, ließ ihn aber überraschenderweise im Januar 1939 schon wieder frei. Kurze Zeit danach gelang der Familie Rosenberg durch die Hilfe Antonius van Veldens die Flucht nach Holland, von wo aus sie dann in die USA auswanderte.

Rambach hatte 1988 mehrere Tage mit Salmon Rosenberg verbracht, an denen sie Wanderungen durch die Stadt unternahmen und über die Vergangenheit redeten. Die Artikel waren lebhaft gezeichnet und von einer erfreulichen Wärme.

Salmon Rosenberg mußte heute sechzig Jahre alt sein. Er lebte als Junggeselle in Chicago, wo er ein gutgehendes Bekleidungsgeschäft besaß. Seine Eltern waren vor einigen Jahren verstorben, und seine Schwester Rachel lebte seit 1950 in Israel. Toppe hatte sich festgelesen.

Der Artikel über die Gedenkfeierlichkeiten ging über vier Spalten. Rambach hatte sich nicht bemüht, die offensichtliche Erbärmlichkeit der ganzen Angelegenheit zu vertuschen. Erst vierzehn Tage vor dem eigentlichen Festakt hatte sich der Parkplatz auf dem Synagogengelände zu einer,Gedenkstätte’ gemausert. Man hatte in aller Hast Rollrasen ausgelegt, eine Plakette angebracht, ein nichtssagendes Schild aufgestellt. Etwa zur selben Zeit war den bedeutenden Herren eingefallen, man könne vielleicht einige Überlebende Juden zur Feier einladen, aber natürlich war die Zeit zu kurz gewesen, jetzt noch herauszufinden, wohin es sie verschlagen hatte.

Die ganze Sache war, wie erwartet, ohne Konzept über die Bühne gegangen. Zur eigentlichen Gedenkstunde hatte man in letzter Minute ein paar friedensbewegten Schülergruppen schulfrei gegeben und sie auf Stadtkosten angekarrt; die Kirchengemeinden hatten ein paar ihrer Sozialpädagogen und Mitarbeitet aus den Jugendheimen entsandt. Insgesamt waren höchstens fünfzig Leute anwesend gewesen, die alle nicht so recht wußten, was man von ihnen erwartete. Die Bevölkerung hatte von all dem nichts mitgekriegt, weil man es erst am Tag vorher geschafft hatte, eine winzige Notiz an die Zeitungen zu geben.

Rambach erwähnte noch kurz die nervliche Anspannung des einzigen jüdischen Gastes der Stadt, die vielleicht einige der Anwesenden befremdet haben mochte, ihm selbst aber einleuchtete. Außerdem beschrieb er das erste Zusammentreffen Rosenbergs und van Veldens und machte seinen recht guten Artikel mit einem schwülstigen Ende kaputt: … sicherlich einer der bewegendsten Momente im Leben dieser beiden so außergewöhnlichen Männer.

Astrid nahm sich das Buch, in dem Toppe gelesen hatte, als sie gekommen war. Nach einer Weile lachte sie. »Der Rambach hat das abgekupfert. Hier, guck mal, seinen Artikel über van Veldens Vater, den hat er sich bestimmt aus dem hier zusammengebastelt.«

Toppe nahm sich den Artikel vor. Sie konnte recht haben, zumindest schien Rambach dieselben mageren Informationen gehabt zu haben.

Antonius van Velden, ein kleiner Angestellter bei der damaligen Gemeindeverwaltung, war, als Niederländer nicht zum Wehrdienst eingezogen, während des Krieges als LKW-Fahrer bei der Margarinefabrik zwangsverpflichtet gewesen. Mit seinem LKW brachte er, unter Einsatz seines Lebens, in den Jahren 39 und 40 über fünfzig Juden aus Kleve heraus nach Holland und rettete ihnen so das Leben. Im Juli 1940 führten Denunziationen zu seiner Verhaftung. Man warf ihm vor, »deutschfeindlich« und ein »Judenfreund« zu sein. Zu seinem Glück fand man keinerlei stichhaltige Beweise, und so wurde er nach vierzehn Tagen Untersuchungshaft wieder freigelassen. Er starb beim Bombenangriff auf Kleve.

»Spannende Geschichte«, murmelte Toppe vor sich hin. »Ich möchte wissen, wie er die alle rausgeschmuggelt hat.«

Astrid sah ihn fragend an.

Er lächelte jungenhaft. »Ich weiß, ich weiß, mit unserem Fall hat das nichts zu tun. Ich bin einfach nur ein neugieriger Mensch.«

Er schob die Papiere zusammen.

»Das bringt uns nicht viel weiter, nicht wahr?« fragte Astrid.

»Wir werden sehen«, meinte Toppe vage und streckte sich. »Höchste Zeit, daß ich nach Hause komme.«

»Wirklich?« fragte sie und berührte ihn wieder am Arm.

Er zuckte zurück.

»Ich tu’ dir nichts«, schnappte sie ein.

Er hielt inne.

»Schade«, hörte er sich sagen und hatte Flugzeuge im Bauch.

Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, hatte aber auch das Poltern auf dem Gang gehört.

»Darauf komme ich zurück«, flüsterte sie.

»Ich bitte darum«, sagte er und war sich auf einmal ganz sicher.

Ackermann, die Ursache des Polterns an der Tür, stob herein und überschüttete sie beide mit seinem lärmenden Frohsinn.

»’n Abend zusammen. Ich stör’ doch nich’? Ich bin schon unten am Auto, da seh’ ich noch Licht an bei Ihnen, Chef, un’ denk’, kuckste ma’ ebkes auf ’n Sprung rein, wie die Aktien so stehen.«

Das alles brachte er in einem einzigen Atemzug und ließ sich dabei ganz selbstverständlich auf dem Besucherstuhl nieder.

»’n Abend, Herr Ackermann«, begrüßte ihn Toppe freundlich.

Astrid griff schnell nach ihrer Handtasche. »Ich bin dann weg, ja? Mir flimmert’s schon vor den Augen von all dem Zeitunglesen.«

Ackermann richtete sich häuslich ein. »Wie läuft et denn so?«

»Gar nicht gut.«

»Keine Neuichkeiten?«

»Kaum«, gab Toppe einsilbig zurück.

»Na, nu’ lassen Se ma’ die Flügel nich’ hängen. Dat kommt schon. Sie haben doch schon ganz andere Dinger geschaukelt, Chef.«

Er kramte seinen Javaanse Jongens und Blättchen aus der Hosentasche und drehte sich mit flinken Fingern eine Zigarette.

»Kucken Sie sich dat ma’ an«, hielt er Toppe seine Hand unter die Nase. »Kriech ich doch zum Verrecken nich’ ab!«

Seine Fingernägel trugen deutliche Spuren von grünem Lack. »Hab’ nämlich gestern mittach endlich den Kaninchenstall gestrichen.« Er lachte herzhaft. »Un’ dabei hättet fast noch ’ne Familientragödie gegeben. Sie wissen ja, wie Mütters so sind.« Toppe verstand nur Bahnhof.

»Nein? Ihre Frau nich’? Also meine, ich kann Ihnen sagen: die reinste Klucke. Also, der Heinz, dat is’ mein Nachbar, der ruft mich annen Zaun, un’ ich lech den Pinsel auf dat Dach vom Stall un’ geh ebkes rüber, un’ wir kommen so an’t keuern. Meine Mädkes waren de ganze Zeit mit de Karnikel dran. Un’ wie ich zurückkomm’, is’ der Pinsel weg. Ich dann gleich Zoff gemacht, von wegen Finger weg von Papas Werkeug. Da bin ich nämlich ganz eigen mir. Die können alles von mir kriegen, aber an mein Werkzeug sollen die nich’ ran, und dat wissen die auch. Un’ die dann gleich geheult, un’ wie gemein ich bin. Sons’ sind die wie Katz’ un’ Hund, aber wenn die sich gegen Papa zusammenrotten können, ich sach et Ihnen! Un’ meine Frau dann sofort in’t selbe Horn: Ich soll die Kinder nich’ immer so anschreien un’ so. Ich war ganz schön stinkich.«

Er holte einmal kurz Luft; Toppe war schon ganz schwindelig.

»Un’ war soll ich Ihnen sagen, find’ ich doch den Pinsel hinterm Stall im Gras! Un’ wissen Sie wat? Die Mädkes konnten echt nix dafür. War meine eigene Doofheit. Dat Dach is’ nämlich leicht schräch, von wegen Regenwasser, wa? Na, da konnten Sie aber war verspannen. Meine Frau war ganz schön geladen. Von wegen Klucke! Mehr so drachenmäßig, wa?«

Er lachte sich schief.

»Aber in solchen Fällen sach ich mir immer, Ackermann, sach ich, halt die Klappe, pack dein’ Kram zusammen un’ geh’ auf ’n Bierchen. Wenn de zurückkomms’, hat se sich wieder beruhicht. Und, wat sach’ ich Ihnen? Genauso war et.«

Toppe fixierte einen Punkt hinter Ackermann an der Wand.

Der rieb sich ein bißchen unsicher die Hände an der Hose ab, klemmte sich dann seine Zigarette in den Mundwinkel und stand auf. »Ich hab’ ganz den Eindruck, dat ich wohl doch stör’. Nee, nee, sagen Sie nix, Herr Toppe. Ich kenn’ dat doch, wenn Sie so kucken. Nix für ungut!«

Und genauso schnell, wie er hereingestürmt war, war er auch schon wieder verschwunden.

Toppe suchte eine Weile zwischen den Tatortfotos auf Breiteneggers Tisch.

Ganz richtig, es war gar kein Schreibtisch, an dem van Velden gesessen hatte. Es war ein Sekretär mit einer Platte, die leicht schräg war. Angenommen, van Velden hätte doch etwas geschrieben, als er den Schlag auf den Kopf bekam. Der Stift wäre ihm aus der Hand gefallen, in die Schublade gerollt, und die hätte van Velden im Vornübersacken mit seinem Körper zugeschoben. Zuviel Enid Blyton als Kind? Ja, vielleicht.

Trotzdem, er mußte das ausprobieren.

Und er wollte so schnell wie möglich mit diesem Salmon Rosenberg sprechen.