29
Die Schlagzeilen in der Niederrhein Post am Dienstag morgen hatten Toppe schon beim Frühstück mit grimmiger Freude erfüllt, und auch Ackermann winkte begeistert mit der Zeitung, als er ins Büro kam.
Van Melden – Opfer oder Ehrenmann? – Die Antworten des Polizeichefs werfen viele Fragen auf!
»Haben Sie dat hier schon gelesen?« flüsterte Ackermann feucht … »’n Satz mit x, dat wat wohl nix!«
Van Appeldorn drückte sich weniger verhalten aus, als er gegen neun aus Bayern anrief: »Da hat der Alte sich wohl selbst ins Knie gefickt.«
»Woher weißt du denn davon?« fragte Toppe verblüfft.
»Sag bloß, ihr habt die Bildzeitung noch nicht gelesen! Dann hör mal zu: Drogen, Sex und Tod (drei Ausrufezeichen). Klever Polizeichef verteidigt Pornokünstler.«
Toppe notierte die Schlagzeile und schob den Zettel Ackermann rüber. Der hielt sich die Hand vor den Mund.
»Irgendeiner von den Reportern muß Wind von der Sache gekriegt haben. Die sind ja nicht auf den Kopf gefallen«, meinte van Appeldorn. »Aber wenn du mich fragst, ich habe gar nichts dagegen. Paß mal auf: Meine schöne Dienstreise ist ein totaler Flop. Das Mädchen hab’ ich nicht zu Gesicht gekriegt. Als ich gestern hier ankam, lag die junge Dame im Krankenzimmer, und der Arzt ließ mich nicht zu ihr. Nervenzusammenbruch.«
»So, so, Nervenzusammenbruch. Und warum?«
»Entwicklungsbedingte Kreislaufschwäche, sensibel, überarbeitet, dem Leistungsdruck nicht gewachsen – blabla. Heute morgen bin ich sofort wieder hin. Und jetzt rate mal!«
»Keine Ahnung. Ist sie gestorben?«
»Das nun nicht gerade. Ihre Eltern haben sie mit Sack und Pack abgeholt und sind mit ihr in einen Kurzurlaub gefahren, zwecks Genesung. Ziel: unbekannt.«
»Hört sich nach Panik an.«
»Sicher. Denen geht der Arsch auf Grundeis. Aber ich komme noch heute zurück. Und ab morgen stehe ich regelmäßig bei denen auf der Matte. Irgendwann tauchen die schon wieder auf. Ich melde mich, wenn ich wieder in Kleve bin.«
Salmon Rosenberg war ein pünktlicher Mensch. Er selbst empfand das nicht als besondere Tugend, es war einfach ein Teil von ihm. So selbstverständlich wie sein tägliches frisches Hemd, cremefarben oder grau mit englischem Kragen, wie das allabendliche Putzen seiner Brillengläser, bevor er sie auf dem Nachttisch ablegte.
Um Schlag zehn öffnete er die Tür zu Toppes Büro.
Er entsprach dem Bild, das Toppe sich von ihm gemacht hatte, fast zu genau: ein feiner, älterer Herr in Anzug und Weste, dunkelblauem Cashmeremantel und Hut. Seine Stimme war eher leise, seine Gesten klein, aber all das zusammengenommen war von einer verblüffenden Eindringlichkeit.
Toppe begrüßte ihn, nahm ihm Hut und Mantel ab, bot ihm einen Platz an und staunte über Ackermann. Der erhob sich nämlich von seinem Stuhl, stellte sich – hochdeutsch – vor, verzog sich dann ganz hinten an Breiteneggers Schreibtisch und sagte fortan kein Wort mehr.
Toppe stellte den Cassettenrecorder auf den Tisch.
»Ich hoffe, Sie sind einverstanden, wenn ich unser Gespräch auf Band aufnehme. Es erleichtert hinterher das Berichteschreiben.«
»Ja, ich bin einverstanden. Warum nicht?«
»Prima. Ich möchte Ihnen erst mal erklären, wie wir überhaupt auf Sie gekommen sind.«
Er gab Rosenberg eine Kopie des Lageplans mit der Adresse am Rand. »Dies haben wir in van Veldens Atelier gefunden.«
Rosenberg sah sich den Plan gründlich an und nickte dann. »Ich habe diese Zeichnung zwar niemals gesehen, aber ich kann mir vorstellen, was es sein soll.«
Toppe schaute ihn nur fragend an.
»Die Katakomben«, sagte Rosenberg mit einem kleinen Fragezeichen in der Stimme. »Eine alte Geschichte. Der Vater von Roderik van Velden hat meiner Familie zur Flucht aus Nazideutschland verholfen. Sie wissen davon?« deutete er Toppes Gesichtsausdruck richtig.
»Leider viel zu wenig«, antwortete Toppe und sah auf die Zeichnung.
»Die Katakomben«, nickte Rosenbetg, »ein Wort, das mein Vater dafür gefunden hat, viel später. Es war so: Antonius van Velden hat uns eines Nachts mit seinem Lastwagen abgeholt. Aber er brachte uns nicht sofort über die Grenze, sondern versteckte uns erst einige Zeit in diesen Gewölben.«
»Kannten Sie die Gewölbe?«
»Nein. Ich habe noch immer keine Vorstellung, was oder wo das ist. Es könnte ein feuchter Keller gewesen sein, aber ich erinnere mich, daß wir über Erde und Gras gelaufen sind und daß es Bäume und Büsche gab, aber kein Haus, glaube ich.«
»Wir haben eine Vermutung, wo diese Gewölbe sein könnten.«
»Oh ja? Werden Sie es mir sagen?«
»Natürlich. Wir glauben, daß es sich um die alten Stollen der Heilquelle am Amphitheater handelt.«
Rosenbergs Gesicht blieb ausdruckslos.
»Unten am Forstgarten«, sagte Toppe.
»Ja!« antwortete Rosenberg, aber er schien noch immer nach einer Erinnerung zu suchen.
»Woher wußte Roderik van Velden von diesen Stollen?«
»Von mir, denke ich«, antwortete Rosenberg. »Ich sollte das erläutern. Man hatte mich 1988 in Ihre Stadt eingeladen, an einer Mahnstunde teilzunehmen für das erste große Pogrom. Ich war nicht sicher, ob ich kommen sollte, aber ich bin doch gekommen.« Er sprach langsam, so als suche er nach den richtigen Worten. »Es war eine absurde Situation: da kamen plötzlich meine Erinnerungen und trafen zusammen mit dieser Pseudorealität, verstehen Sie? Und da habe ich die Beherrschung verloren. Es war sehr peinlich für die anderen Menschen und für mich. Roderik van Velden hat die Situation gerettet, so erstaunlich das sein mag. Vielleicht hat er geglaubt, ich hätte über ihn gelacht. Ich weiß es eigentlich nicht.«
»Und er hat sie eingeladen.«
»Sie wissen auch davon, ja, natürlich.«
Toppe fühlte sich unbehaglich bei diesem Satz.
»Er lud mich ein, ja. Und ich sagte mir schließlich: warum nicht? Ich ging zu ihm, und er war sehr – fürsorglich. Und sehr wißbegierig. Er wollte alles erfahren über die Flucht, über die Katakomben, vor allem über seinen Vater. Und ich dachte wieder: warum nicht? Und so klärte ich ihn über seinen Vater auf.«
»Sie klärten ihn auf?«
»Das sagt man doch: aufklären? Antonius van Velden hat damals von meiner Familie und von allen anderen jüdischen Familien viel Geld für seine Hilfe bekommen, sehr viel Geld.
Er trug ein hohes Risiko, nicht wahr? Aber das Geld war ihm nicht genug. Er hat uns beraubt. Meine Eltern, auch die anderen Menschen, die mit uns waren, konnten nur wenige kleine Dinge mitnehmen auf die Flucht. Es war lange vorbereitet. Es waren Kostbarkeiten. Anfangskapital für eine neue Existenz in einem anderen Land.«
»Was meinen Sie mit Kostbarkeiten?«
Zum ersten Mal lehnte sich Rosenberg zurück. Er machte eine kleine, unbestimmte Handbewegung. »Ich denke, ich kann das nicht schätzen. Ich erinnere mich natürlich an einige Dinge, die ich als Kind um mich hatte, die mein Vater in den Koffer packte, die meine Eltern später manchmal erwähnten, aber der Wert..«
»Was waren das für Dinge?«
»Ich erinnere mich an eine kleine Landschaft von Watteau, die in der Bibliothek gehangen hatte.«
»Ein Watteau?« Toppe konnte es gar nicht glauben.
»Aber der ist heute..«
»… sehr viel Geld wert«, lächelte Rosenberg. »Das war er damals schon. Wir waren keine armen Leute. Der Watteau war ein Erbstück meines Großvaters, der sich sehr für Malerei interessierte. Wir hatten andere schöne Dinge: Meißener Porzellan, Silber. Meine Mutter hatte kostbaren Schmuck.«
Er stockte.
»Ja?« forderte Toppe ihn auf.
»Sie trug ihn in einem Beutel an ihrem Busen. Van Velden hat sie gezwungen, ihn herauszugeben.«
»Hat er sie..?«
»Physische Gewalt, meinen Sie? Nein, das war nicht notwendig.« Er sah Toppe direkt an. »Er ließ uns zwei Nächte und zwei Tage in den Katakomben, vielleicht länger. Dann kam er und nahm einfach. Was konnten wir tun? Es gab keine Wahl.«
Toppe fiel es schwer, sich auf die Fakten, auf seine Fragen zu konzentrieren. »Haben Sie niemals versucht, diesen Familienbesitz zurückzubekommen?«
Rosenberg schüttelte befremdet den Kopf.
»Aber er gehört Ihnen doch!«
»Ja?« fragte Rosenberg. »Gehört er mir? So wie das Haus auf der Großen Straße? Gehört mir das auch?«
Toppe stand abrupt auf, ging zum Fenster und sah hinaus. »Sie meinen, Geschichte kann man nicht zurückdrehen?«
»Das«, sagte Rosenberg, »das ist eine Frage, über die es lohnt nachzudenken. Wie wäre Ihre Antwort?«
Toppe drehte sich zu ihm um und hob die Schultern.
»Und diese ganze Sache haben Sie van Velden erzählt?« fragte er schließlich.
»Ja. So nach und nach. Als ich merkte, daß er tatsächlich nichts wußte.«
»Was ist mit den Sachen passiert, nachdem Sie im Ausland waren?«
»Wer kann das sagen? Roderik van Velden hat die Dinge niemals gesehen. Sein Vater starb beim Luftangriff auf Kleve.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Toppe und rieb sich die Stirn. »Soll ich uns einen Kaffee kochen?«
»Sehr gern, danke.«
Hatte Frau van Velden, Roderiks Mutter, Bescheid gewußt und die Sachen nach dem Krieg verkauft? Und gleichzeitig hatte sie ihren Mann zum Widerstandskämpfer hochstilisiert? Unwahrscheinlich! Wäre er, Toppe, an van Veldens Stelle gewesen, er hätte die Sachen in den Katakomben – das Wort paßte ihm gelassen, bis Gras über alles gewachsen war. War das auch Roderik van Veldens Gedankengang gewesen?
Während der Kaffee durchlief und Ackermann Tassen zurechtstellte, holte Toppe seinen zweiten Zettel: Menetekel.
»Haben Sie das geschrieben?«
»Ich? Nein, gewiß nicht.«
»Auch diesen Zettel haben wir in van Veldens Atelier gefunden.«
»Ja?« Salmon Rosenberg lachte. »Das paßt sehr gut, nicht wahr?«
»Wie oft haben Sie Roderik van Velden getroffen?«
»Nur dieses eine Mal 1988. Nicht wegen der alten Geschichte. Ich glaube, ich mochte ihn nicht sehr. Als Menschen, meine ich.«
»Aber Sie waren später noch einmal in Kleve.«
»Ja, vor etwa zwei Monaten. Ich habe eine alte Dame besucht, die ich früher gekannt habe. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich..« Er suchte nach einer Formulierung. »… ob ich meine Wurzeln finden will. Hier.«
»Wem haben Sie sonst noch von Antonius van Velden erzählt?«
»Was er wirklich getan hat, meinen Sie?«
»Ja«
»Keinem. Warum auch?«
Toppe holte den Kaffee und goß ein.
Ackermann winkte ab.
»Danke. Darf ich etwas fragen?« sagte Rosenberg. »Wie ist van Velden umgekommen?«
»Er wurde erschlagen.«
Rosenbergs Gesicht zeigte keine Bewegung.
»Bleiben Sie noch in Kleve?«
»Muß ich denn?«
»Nein, Sie müssen natürlich nicht. Aber vielleicht habe ich noch Fragen, wenn wir ein Stück weitergekommen sind.«
Rosenbergs Augen blitzten verschmitzt. »Ein paar Tage wollte ich noch bleiben. Ich habe festgestellt, es gibt ein paar Menschen, die ich wiedersehen möchte.«
»Ich werde die Stollen öffnen lassen«, sagte Toppe, als Rosenberg schon in Hut und Mantel war, sie sich schon die Hand gegeben hatten. Er spürte, wie Rosenberg einen Moment innehielt, dann aber zur Tür ging.
»Möchten Sie gern dabei sein, Herr Rosenberg?«
»Ja. Ich denke, das möchte ich.«
»Wo kann ich Sie erreichen?«
»Ich wohne im Hotel Schwanenhof.«
»Ich werde Sie benachrichtigen, wenn es soweit ist.«
»Vielen Dank. Sie sind sehr freundlich.«
»Ich bedanke mich bei Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen. Auf Wiedersehen, Herr Rosenberg.«
Ackermann übertraf sich selbst. Volle zwei Minuten hielt er den Mund, dann aber ging es mit ihm durch: »Ein feiner Mensch!« wobei er bei »feiner« die Stimme dramatisch senkte – »Mannomann, wat für ’ne Drecksau, der alte van Velden!«
Toppe hätte ihm das gerne bestätigt, aber er wollte noch nichts sagen, erst mal verdauen.
Ackermann ließ ihm keine Chance: »Denken Sie, wat ich auch denk? Der Alte hat die ganzen Schätze da unten gebunkert für schlechte Zeiten. Oder sag’n wer ma’ lieber für bessere Zeiten. Denn damals könnt’ er die ja wohl kaum versilbern, wa? Und der Herr Rosenberg hat unsern Pornokünstler auf dieselbe Idee gebracht, die ich jetz’ auch hab’. Ich sach Ihnen, der alte Geck wollt’ sich ma’ ebkes den ganzen unverhofften Segen unter ’n Nagel reißen. Glauben Se mir!«
Toppe war wieder mit dabei. »Und da Rosenberg keine Ahnung hatte, wo die Katakomben gewesen sein mochten, hat Roderik van Velden im Stadtarchiv und in der Bücherei angefangen, nach alten Plänen zu suchen.«
»Un’ sich dann, als er’t wußte, den Auftrach für’t Amphitheater an Land gezogen. Hab’ ich nich’ gleich gesacht, dat mit dem Amphitheater stinkt zum Himmel?!«
»Das paßt alles beinahe schon zu gut zusammen. Meinen Sie, van Velden hatte Mitwisser?«
»Da war’ er aber schön bekloppt gewesen!«
»Gesetzt den Fall, diese ganze phantastische Geschichte hat Hand und Fuß..«
».. wär’ dat nich’ schön, Chef? Endlich ma’ Karl May live. Wünsch’ ich mir schon ewich.«
»Ob der die Sachen schon gefunden hat?«
»Nää! Wat hätt’ der dann am Montach sons’ noch da rumgemurkst?«
»Na dann«, sagte Toppe und zog das Telefon heran. »Wo soll ich anrufen?«
»Bauamt«, tippte Ackermann, und dann: »Mann! Bin ich gespannt!«
Der Herr vom Bauamt verstand kein Wort. »Stollen? Wo soll denn das sein?«
Toppe erklärte es ihm.
»Davon habe ich in meinem Leben noch nichts gehört. Da gibt es auch gar keine Pläne, das wüßte ich.«
»Ich habe aber welche«, sagte Toppe spitz.
»So? Am Amphitheater, sagen Sie. Das ist Baudenkmal und Kultur. Das fällt dann nicht in unser Ressort. Wenden Sie sich an das Schul- und Kulturamt.«
Die Dame beim Schul- und Kulturamt hatte ebenfalls noch nie von den Stollen gehört, und sie versuchte, die Sache in gängiger Manier abzukürzen. »Dafür sind keinesfalls wir zuständig.«
»Sind Sie nicht? Wer ist denn zuständig?«
»Ja, ich weiß auch nicht. Wenn es diese – Stollen überhaupt gibt..«
»Es gibt sie«, unterbrach Toppe hitzig. »Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen!«
»Ach so. Dann warten Sie mal. Ich verbinde Sie mit unserem Kulturdezernenten.«
»Ganz reizend«, zischte Toppe, aber das hörte sie schon nicht mehr.
Es dauerte Ewigkeiten.
Ackermann wollte sich weglachen. »Die haben doch einen an der Mütze! Legen Se bloß auf. Ich ruf Rudi an. Dat is’ ’n Freund beim Ordnungsamt. Mit dem krieg’ ich dat schon gekungelt.«
Aber jetzt ließ sich der Herr Kulturdezernent doch persönlich herab.
»Stollen? Nie gehört. Am Amphitheater? Nun, dann ist das Sache des Landschaftsverbandes. Denkmalschutz, Sie verstehen? Da gibt es eindeutige Verordnungen.«
Bei dem Wort »Verordnung« kam Toppe die Galle hoch, aber bevor er was sagen konnte, schickte der Kulturdezernent noch »Ich muß auf jeden Fall Rücksprache mit dem Verwaltungschef nehmen« hinterher.
»Wissen Sie was?« sagte Toppe eisig. »Bemühen Sie sich nicht. Ich besorge mir eine gerichtliche Verfügung.«
»Nein, nein«, beeilte sich der Dezernent, »das wird nicht nötig sein. Wenn ich Sie in einer halben Stunde zurückrufen könnte..«
»Nein«, blaffte Toppe, »ich rufe Sie wieder an.«
Damit legte er den Hörer auf und atmete ein paarmal tief durch.
»Kommen Sie Ackermann, wir gehen in die Kantine.«
Toppe machte den bedauerlichen Fehler, sich das Tagesmenu zu bestellen: Wiener Schnitzel mit Kartoffelpüree und Gurkensalat. Das Fleisch ging noch so gerade, aber der Kartoffelbrei kam aus der Tüte und schmeckte nach nichts, der Gurkensalat war wässrig und schwamm in einer viel zu süßen Sahnesauce. Er stocherte in allem herum und schob schließlich angeekelt den Teller weg.
Ackermann hatte da überhaupt keine Probleme. Blind schaufelte er alles in sich hinein und schaffte es auch noch, dabei ohne Punkt und Komma zu reden. In seinem Bart klebten Kartoffeln und Salattunke.
Toppe hätte gern ein wenig in Ruhe nachgedacht, aber darauf bestand keine Aussicht. Ackermann ließ seiner, ohne Zweifel ausgeprägten Phantasie die Zügel schießen, spekulierte wild darüber, wie es wohl alles gewesen sein konnte und welchen Schatz sie wohl ausgraben würden.
Nachdem er sich noch zwei Schüsseln Erdbeerquark, »tun Se doch noch en bißken Sahne drauf, Elli«, einverleibt hatte, meinte er endlich: »Wirdet nich’ Zeit, den Jungs bei de Stadt noch ma’ auf die Füße zu treten?«
»Ich habe schon auf Ihren Anruf gewartet, Herr Toppe«, meinte der Kulturdezernent. »Es ist alles abgeklärt. Wir können die Stollen morgen öffnen. Sagen wir um zehn Uhr?«
»Sehr gut.«
»Ich werde selbst dabei sein, ebenso ein Sachverständiger vom Denkmalschutz. Aber da wären noch ein paar Dinge abzuklären. Wieviele Arbeiter werden benötigt, welches Werkzeug und so weiter? Könnten wir uns nicht kurz zu einem Ortstermin treffen?«
»Ich schicke Ihnen gleich einen Kollegen runter.«
»Fein. Übrigens wäre dem Stadtdirektor eine richterliche Verfügung lieber, schon um die Frage der Kostenübernahme zu klären.«
»Ich kümmere mich darum.«
Ackermann freute sich, daß er endlich was zu tun kriegte. Herumsitzen und Nachdenken lagen ihm nicht so sehr.
»Dafür hab’ ich zuviele Hummeln im Hintern«, verabschiedete er sich.
Toppe schrieb seine Berichte, sagte dem ED Bescheid, daß er ihn morgen früh um zehn brauchte, und hörte sich geduldig Berns’ Gejammer über all die Arbeit an. Er versuchte Rosenberg im Hotel zu erreichen, hatte aber kein Glück und hinterließ ihm eine Nachricht, nahm einen Anruf von Siegelkötter entgegen: »Bloß keine Presse morgen!«, trank Kaffee und dachte nach. Er schob gedankliche Puzzleteile hin und her, rauchte und trank noch mehr Kaffee.
Als Ackermann zurückkam, gab er sich beschäftigt, aber es nutzte ihm nichts. Er bekam den ganzen Sermon über »de Knallköppe bei de Stadt« trotzdem serviert und beschloß, für heute Schluß zu machen.
Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war Toppe pünktlich zu Hause.
Schon in der Diele duftete es nach seiner Lieblingssuppe. Er ging dem Geruch nach und fand Gabi in der Küche, die am Tisch stand und Pastetchen füllte.
»Du schon«, sagte sie ohne Begeisterung.
Er fühlte sich geohrfeigt. »Paßt dir das nicht?«
»Nicht besonders im Moment.«
»Wie bitte?«
»Mein Gott«, sagte sie und sah von den Pasteten auf, »so mein’ ich das doch nicht. Sei doch nicht immer so empfindlich. Meine Kolleginnen kommen zu Besuch. Wir wollen ab jetzt einmal in der Woche einen Frauentreffmachen.«
»Frauentreff!«
»Ja«
»Und dafür machst du all diese leckeren Sachen?«
»Hm. Willst du ein bißchen Suppe?«
»Nein. Ich will ja niemandem was wegessen.«
»Du spinnst doch«, meinte sie nur, legte die Deckel auf die fertigen Pasteten und dekorierte jede mit einem kleinen Dillzweig.
Er ging hinauf ins Schlafzimmer, zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett.
Gerade als er einnickte, schrillte das Telefon neben seinem Ohr. Fluchend nahm er den Hörer ab.
»Toppe!« bellte er.
»Ja, hier ist Astrid«, kam es kleinlaut.
»Oh! Hallo!« sagte er friedlicher und setzte sich auf.
»Ich wollte mich nur eben melden. Ich bin erst vor einer knappen Stunde zurückgekommen.«
»Und? Wie ist es gelaufen?«
»Erfolglos«, sagte sie müde. »Ich habe die beiden Mädchen noch nicht gefunden. Aber können wir nicht morgen darüber sprechen. Ich bin ziemlich kaputt.«
»Doch«, beeilte er sich, »natürlich. Ruh dich erst mal aus; war ja ein langer Tag für dich. Hast du schon was gegessen?«
»Nein, noch nicht. Warum?« Ihre Stimme veränderte sich.
»Ich dachte, ich könnte dich zum Essen ausführen«, hörte er sich sagen.
Sie zögerte nicht. »Ich hab’ mir gerade einen Auflauf in den Ofen geschoben. Komm doch zu mir. Das Essen reicht bestimmt für zwei.«
Er versuchte nachzudenken.
»Ja, gern. In einer halben Stunde?«
»Das kommt genau hin. Bis gleich dann., ich freu’ mich.«
»Ja, bis gleich.«
Er brauchte nur Minuten, sich zu duschen und abzutrocknen, aber eine Ewigkeit, sich anzuziehen, zu rasieren, Aftershave aufzulegen, sein Gesicht im Spiegel zu betrachten und sein Körperprofil.
Er strengte sich an, nicht zu denken, aber es fiel ihm schwer.
Von der Haustür aus brüllte er: »Ich muß noch mal weg« in Richtung Küche.
Sie hatte offensichtlich auch geduscht; ihr Haar schimmerte feucht, als sie ihm öffnete.
»Hallo«, lächelte sie leise, schloß die Tür und küßte ihn selbstverständlich auf den Mund.
Er blieb ungelenk stehen.
»Was ist?« fragte sie. »Bist du gekommen, um doch noch über Düsseldorf zu sprechen?«
»Nein!« Mitten in ihre Augen.
»Gut!« Sie drehte sich um und ging vor ihm her.
Sie kamen gerade eben noch bis ins Wohnzimmer.
Es war wild und hastig und dauerte nur wenige Minuten.
Da war keine Nähe hinterher, keine Wärme, nur Fremdheit, auch bei ihr.
Aber sie fing sich schneller, war weich und warm, küßte ihn auf den Hals, flüsterte: »So schnell bin ich noch nie gekommen«, was ihm schon wieder weiche Knie machte.
Er räusperte sich. »Tut mir leid.«
»Was?« Sie sah ihn entgeistert an.
»Es war ein bißchen rüde«, lächelte er und fuhr ihr mit dem Finger über die Lippen. Sie schnappte danach, sog ihn in ihren Mund. Ihre Augen funkelten.
»Na ja, für den Anfang..«
Dann suchte sie auf dem Teppich nach ihrem Höschen.
»Du hast hoffentlich richtigen Hunger.«
Sie hatte den Tisch für zwei gedeckt: ein leuchtendblaues Tischtuch, weißes Geschirr, zwei Kerzen in silbernen Leuchtern, Weingläser mit schwarzen Stielen – alles sehr edel, alles sehr Fabrikantentochter.
»Ich hatte ja nicht allzu viel Zeit«, entschuldigte sie sich, als sie seinen Blick bemerkte, und meinte das wirklich ernst. »Setz dich und gieß uns Wein ein.«
Er setzte sich und goß den Wein ein.
Sie kam mit dem Auflauf aus der Küche: Kartoffeln, Schweinefilet, Schafskäse, Knoblauch und Sahne. Es schmeckte ihm gut.
»Kochst du immer so aufwendig für dich selbst?«
Sie nickte mit vollem Mund. »Meistens. Aber ich hab’ auch oft Besuch.«
»Ja., klar.«
»Nicht, was du jetzt denkst«, grinste sie frech.
»Hab’ ich überhaupt nicht gedacht«, verteidigte er sich.
Sie lachten beide, und sie griff über den Tisch, nahm seine Hand und sah ihn fragend an.
Er nickte.
»Komm.«
Das Bett war aufgedeckt.
Diesmal ließ er sich einfach fallen in ihre Weichheit, ihre Nässe, hörte auf zu denken, war ganz mit ihr.
Sie hielt ihn.
»Bleibst du heute nacht bei mir?«
»Nein, ich..«
Sie nickte kindlich.
»Deine Frau«, sagte sie tapfer.
Er sah sie nicht an.
»Ja«, erwiderte er dann und küßte sie.