»Es sind deine Freunde, und deshalb würde ich mich nie darauf einlassen. Oder willst du, dass ich mit ihm schlafe?« »Nein!«

»Wie kannst du so etwas von mir denken?«

Ich presste mir die Hände an den Kopf. »Was soll ich denn denken, wenn du mir nicht hilfst? So stelle ich mir ja alles Mögliche vor! Die Wahrheit wird uns wieder Boden unter den Füßen geben, das weiß ich! Gibt es jemanden, den du mehr liebst als mich? Bin ich nur zweite Wahl?«

»Komm her, ich möchte dich in den Arm nehmen. Und hör gut zu. Ich erzähle das kein zweites Mal. Die Worte sind zu schwer.« Sie sagte:

»Manchmal kommt mein Vater nach Mitternacht in mein Zimmer und schläft mit mir.«

»Im Ernst?«

»Ja. Das tut er, Jamal.«

Ich nickte nur. Ich fühlte mich leer, starrte sie an. Dann fiel mir ein, dass ich noch mehr wissen musste. »Wie lange geht das schon?« »Wie meinst du das?«

»Lief das schon, bevor wir uns kennengelernt haben?« »Da hatte es gerade angefangen.«

»Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Wie denn? Ich war bis über beide Ohren in dich verliebt. Das hätte dich doch abgeschreckt. Vielleicht hätte es auch die Runde gemacht, und dann wäre mein Vater verhaftet worden. Oder sein Ruf wäre ruiniert gewesen.«

»Sein Ruf?«

»Die hiesige Gemeinschaft bedeutet uns sehr viel. Wenn wir uns gegen sie stellen, werden wir ausgegrenzt.«

»Hast du denn nie gedacht, es mir irgendwann erzählen zu müssen?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ja, was habe ich gedacht? Eigentlich nichts. Vielleicht habe ich gehofft, es würde aufhören und ich könnte die ganze Sache irgendwie vergessen. Mit so etwas habe ich keine Erfahrung. Liebst du mich jetzt nicht mehr? Findest du mich abstoßend und widerwärtig?«

Ich küsste sie auf den Mund. »Natürlich liebe ich dich noch. Sogar mehr denn je.«

»Ja?«, sagte sie. »Genau darum habe ich deinen Schutz so sehr gebraucht, Jamal. Genau darum habe ich das Gefühl gebraucht, geliebt zu werden. Und das habe ich von dir bekommen. Mein einzigster Liebster, du bist so gut zu mir gewesen.«

»Und du zu mir. Du bist mein Leben. Ich möchte dich heiraten.«

»Wirklich?« Sie verzog den Mund. »Ich dich auch. Aber im Moment wäre das wohl eher unpassend.«

»Wie hat die Sache mit deinem Vater angefangen?«, fragte ich.

»Nachdem Mutter nach Indien gereist war, kam Dad eines Nachts in mein Zimmer und hat sich zu mir ins Bett gelegt. Er hat mich geküsst, erotisch, mit der Zunge, und dann hat er sich auf meinem Bauch gerieben, bis er gekommen ist. Danach ist er verschwunden. Er war wie in Trance, wie einer dieser Geister bei Shakespeare - starrer Blick, ruckartige Bewegungen. Wie jemand, der hypnotisiert ist oder im Schlaf wandelt... In der nächsten Nacht hatte ich schreckliche Angst, dass er es noch einmal tun könnte, und deshalb bin ich wach geblieben, hatte Licht an und habe Musik gehört.«

»Und was ist passiert?«

»Er ist noch einmal gekommen. Er hat meine Tür geöffnet. Die Musik hat gedröhnt, und alle Lampen waren blendend hell! Ich trug zwei Schlüpfer, zwei Hosen, einen Pullover und einen Mantel. Ich habe geschwitzt und muss sehr merkwürdig ausgesehen haben. Ich hatte sogar einen dämlichen Hut auf, warum, weiß ich auch nicht. Du hättest mich sehen sollen! Er hat mich einmal angeschaut, dann ist er gegangen. Also habe ich mich ziemlich erleichtert ins Bett gelegt. Schlafen konnte ich allerdings nicht.

Ein paar Nächte ist er dann nicht mehr gekommen. Ich dachte schon, ich hätte ihn abgeschreckt. Bis es wieder passiert ist.« Sie sagte, es passiere immer noch. »Auch wenn ich eine Tonne Kleider tragen würde - er reißt mir alles vom Leib. Dadurch dauert es noch länger. Inzwischen drücke ich mir nur noch ein T-Shirt aufs Gesicht, damit ich ihn nicht sehen oder riechen muss.«

»Ajita, warum versperrst du nicht deine Tür?«

»Sie hat kein Schloss.«

»Das kann man problemlos einbauen. Wolf und ich können das erledigen - heute noch.«

»Nett von dir, aber das geht nicht«, sagte sie. »Meinen Vater aussperren? Er würde sich umbringen.«

»Was könnte besser sein?«

»Nein!«, schrie sie.

»Hast du denn einen triftigen Grund zu der Annahme, dass er es tun würde?«

»Er hat schon einmal damit gedroht. Er sagt, wenn der Streik die Fabrik ruiniert, müsse er seinem Leben ein Ende setzen. Er könne nicht noch einmal neu anfangen. Wenn er vor seiner Familie versagen würde, wäre die Schande zu groß für ihn.«

»Das ist glatte Erpressung, Ajita.«

»Ich muss mich um ihn kümmern.«

»Ja, aber nur als Tochter. Du bist doch nicht seine Frau, zum Teufel. Er ist ein Faschist und ein Ausbeuter.« »Du kennst ihn nicht.« »Er vergewaltigt dich jeden Tag.«

»Nein, er wendet keine Gewalt an. Und jetzt sei still. Ich ertrage das nicht.«

»Ich auch nicht.«

Zu ihrem Entsetzen schnappte ich mir meine Sachen und ging. Das musste ich erst einmal sacken lassen. Mit Mum konnte ich nicht darüber reden, denn sie würde in Panik geraten. Der einzige Mensch, der ausreichend Erfahrung hatte, um diese Angelegenheit zu verstehen, war Miriam. Aber ihre Launen waren unberechenbar und hingen stark von den Drogen ab, die sie gerade konsumierte.

Am nächsten Tag schnitt Ajita das Thema von selbst an. Sie sagte: »Siehst du, ich höre auf dich.« Sie konnte die Tür ihres Schlafzimmers zwar nicht verschließen, hatte aber einen Keil unter die Klinke gestellt. »Ich habe ihn gehört«, sagte sie. »Ich schlafe ja kaum noch. Du meinst, ich würde erschöpft aussehen, aber das Zubettgehen ist ein Albtraum. Ich habe wie üblich seine Pantoffeln vor der Tür gehört. Sie machen so ein klatschendes Geräusch, und deshalb weiß man immer, wo er sich gerade im Haus aufhält. Dann hat er an die Tür gepocht.

Je kräftiger er gestoßen hat, desto fester saß der Keil. Das hat ziemlich lange gedauert, dieses Stoßen und Drücken. Dann hat es aufgehört. Später habe ich ein Schnarchen gehört. Er schlief im Flur. Ich bin aus meinem Zimmer gegangen und habe ihn zugedeckt. Er hat gezittert. Er hätte dort sterben können ...«

»Red keinen Unsinn.«

»Er braucht meine Wärme.«

»Dafür hat er seine Frau.«

»Sie weist ihn ab. Sie hält ihn für einen Vollidioten.«

»Erwähnt dein Vater nie, was nachts passiert?«, fragte ich.

»Beim Frühstück ist er immer gleich, verkatert, wortkarg, hat schlechte Laune und will schnell wieder zur Fabrik. Er fragt uns höchstens, ob wir am College etwas lernen oder nur sein Geld verplempern. Oder er will wissen, wann wir endlich unser eigenes Geld verdienen.« Sie sagte: »Jamal, du darfst niemals, niemals einem anderen Menschen von dieser Sache erzählen. Versprich mir das - versprich es mir bei dem Leben deiner Mutter.« »Versprochen.«

Ich fand keinen Schlaf. Ich lag in meinem Bett und dachte an das, was Ajita mir erzählt hatte. Ich stellte mir ihren Vater vor, der wie in Trance durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer ging, die Tür öffnete, zu ihr ins Bett stieg und ihre Beine auseinanderdrückte. Manchmal hätte ich am liebsten onaniert, um dieses Bild loszuwerden, vor allem, da sie mir erzählt hatte: »Sein Penis ist so riesig. Er füllt mich aus.«

»Kommst du denn bei ihm?«, fragte ich sie. Wenn wir Sex miteinander hatten, sagte sie immer: Ich komme so gern; lass mich kommen; ich möchte die ganze Zeit kommen, ich bin immer feucht, wenn ich bei dir bin.

»Du bist wirklich ein beklagenswerter Idiot«, erwiderte sie. »Aber wer wollte dir das unter diesen Umständen vorwerfen? Es tut mir so leid, ich schäme mich so sehr und fühle mich so hilflos.«

Eines Nachts, als ich wieder einmal keinen Schlaf fand, stand ich auf. Ich zog mich automatisch an und verließ das Haus. Auch ich war wie in Trance, und die ganze Welt schien stillzustehen, sie war wie gefroren.

Ich kletterte über den schmiedeeisernen Zaun in den Park und ging durch die ruhigen Straßen zu Ajitas Haus, vorbei an den Autos und dunklen Häusern, bis ich schließlich den wohlbekannten Zaun erreichte.

Dort wusste ich nicht mehr weiter. Ich blieb draußen stehen, schaute zu den Fenstern auf und fragte mich, ob ich vielleicht gerade eine geisterhafte Gestalt gesehen hatte, die durch das Haus irrte. Was, wenn er in diesem Moment meine Freundin fickte und gleich beim Orgasmus aufschreien würde? Wenn ich an der Tür klingelte oder klopfte, würde ich ihn bei seinem teuflischen Vergnügen stören. Er würde vielleicht glauben, es wäre die Polizei, und das würde ihn aus seiner Trance reißen. Ich stand da, meine Faust schwebte dicht vor der Tür, ich war bereit, mit aller Kraft zu pochen und sofort abzuhauen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, auf diese Weise in ihr Leben einzubrechen. Vielleicht lenkte mich auch das Licht im Zimmer von Ajitas Bruder ab. Ich war überzeugt, dass er mich beobachtete, hinter dem Vorhang versteckt. Da ich Angst hatte, er könnte gesehen haben, wie ich mitten in der Nacht das Haus umschlich, und außerdem befürchtete, er würde es seinem Vater erzählen, der mich dann verprügeln oder verhaften ließ, ergriff ich die Flucht.

Im Laufe der nächsten paar Tage ging ich noch dreimal hin, war aber wie gelähmt.

Krank vor Schlafmangel, gesellte ich mich am College zu Ajita, immer in der Hoffnung, sie könnte auf einmal wieder die Alte sein. Ich wollte den gleichen Spaß mit ihr haben wie früher, doch der Makel konnte nicht getilgt werden. Wir redeten, wir schliefen miteinander und suchten die vertrauten Orte auf, aber wir hatten unsere Unschuld verloren. Wenn wir Sex miteinander hatten, fragte ich mich, ob sich das Gesicht ihres Vaters über das meine legte. War ich auch nur ein männliches Monster, das sich an diesem Mädchen verging? Wenn ich dies dachte, lief nichts mehr, und wir lagen hilflos nebeneinander. Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Aber vielleicht, dachte ich, gab es einen Weg voran. Daran arbeitete ich unbewusst, obwohl ich mir das noch nicht eingestehen mochte.

Ich nannte ihn »Hitler«. Der Mann, der nicht lockerließ. Der Mann, dem »alles« nicht reichte. Der Mann, der mich zu einem Terroristen machte. Das Böse war in mein Leben gestampft wie ein durchgeknallter Erzschurke. Es verlangte danach, dass man ihm die Stirn bot. Wir würden keine Opfer sein. Entweder er oder ich.

Als welche Art Mann würde ich mich am Ende erweisen?

VIERZEHN

Henry war mir von einem befreundeten Schriftsteller vorgestellt worden. Dieser hatte ein Stück von Genet übersetzt und wollte gern, dass es von Henry in Brüssel auf die Bühne gebracht wurde. Da ich einige Inszenierungen von Henry kannte, begleitete ich meinen Freund zu dem Treffen, das in der dämmrigen Bar eines Hotels im Zentrum von London stattfand - einem jener stillen, holzvertäfelten Orte, in denen man das Gefühl hat, gar nicht in London zu sein. Während Henry die Sache sacken ließ und überlegte, ob die Zeit reif dafür sei, dass Genet »unsere Welt wieder betrat« (er hielt die Zeit noch nicht für gekommen), machte er mich zu seinem Freund.

Ich drücke das so aus, weil diese Freundschaft gleichsam über mich hereinbrach. Wenn Henry jemanden wirklich mochte, ging er in die Vollen. Dann war er leidenschaftlich. Er rief mich mehrmals am Tag an, und wenn er über etwas reden musste, schneite er uneingeladen herein. Zwei- oder dreimal pro Woche verabredete er sich irgendwo mit mir.

Wenn ich Josephine ihre Trägheit vorwarf, wozu ich oft Gelegenheit hatte, wies sie mich gern darauf hin, dass Leute wie Henry weniger arbeiteten, sondern vielmehr beim Essen über ihre Arbeit redeten. Für solche Leute - in London auch die »schwatzende Schicht« genannt - bestand das Leben aus einem Reigen von zeitigen Frühstücken, späten Frühstücken, von Lunch, Teestunde und Dinner, aus einem Häppchen zwischendurch und weiteren Mahlzeiten zu später Stunde, und all das in den neuen Londoner Restaurants, die wie Pilze aus dem Boden schössen. Ich fand das großartig. Henrys Unternehmungsgeist gefiel mir. Außerdem brauchte er mich nicht als Spiegel seiner eigenen Persönlichkeit. Stattdessen ergänzten wir einander.

Wie ich bald herausfinden sollte, stand seine Frau, Valerie, von der er zwar getrennt war, mit der er jedoch regelmäßig Kontakt hatte, dem Kern der zahlreichen Gruppen, Cliquen, Freundeskreise, Familien und Dynastien Westlondons sehr nahe, die sich alle überlappten und untereinander heirateten, sich stetig erweiterten und gemeinsam eine endlose Folge von Partys, Wochenenden auf dem Land, Preisverleihungen, Skandalen, Selbstmorden und Urlaubsreisen absolvierten. Der Nachwuchs ging gemeinsam zur Schule, machte später gemeinsam Entzug, und noch später ehelichte man untereinander. Andere stellten sich gegenseitig ein, und ihre Kinder spielten zusammen.

Valerie stammte aus einer Familie, die seit mindestens hundert Jahren reich und angesehen gewesen war. Gelehrte, Kunstsammler, Professoren und Zeitungsherausgeber waren aus ihr hervorgegangen. Wenn es um ein völlig zugedröhntes schwarzes Schaf ging, sagte Henry immer: »Ach, ja, das ist Valeries angeheirateter Cousin zweiten Grades. Halt lieber die Klappe, sonst verdirbst du noch jemandem den Heiligen Abend.«

Er fügte hinzu: »Diese Familie ist so allgegenwärtig und verzweigt, dass ich sie als überdehnt bezeichnen würde.«

Valeries Familie war nicht nur wohlhabend, sondern hatte auch jede Menge soziales Kapital. Durch Freundschaft und Heirat war sie mit zahlreichen Guinnesses, Rothschilds und Freuds verbandelt. Das Wohnzimmer schmückte sich unter anderem mit einer Zeichnung von Lucian Freud, einem Porträt Valeries und Henrys von Hockney, einem Spot Painting von Hirst, einem Bruce McClean, einer netten Kleinigkeit von Antony Gormley und außerdem mit vielen alten und interessanten Dingen, über deren Geschichte man nachsinnen konnte, wenn man sie betrachtete oder zur Hand nahm. Das Haus war ein Familienmuseum oder glich, um eine andere Metapher zu bemühen, einem Körper, übersät von Beulen und Narben und gezeichnet von den Spuren der Vergangenheit, die jede neue Generation mitschleppen musste.

Henrys Truppe besuchte fast jeden Abend irgendeinen Umtrunk und aß danach im Restaurant. Das kostete richtig viel Geld - die Kleider, das Essen, die Drogen, Drinks und Taxifahrten. Aber Geld spielte für diese Leute keine Rolle. »Das ist ja wie ein Roman von Evelyn Waugh!«, sagte Lisa, die sich nach einer ersten Begegnung größte Mühe gab, diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. »Ah! Er ist einer meiner Lieblingsautoren«, erwiderte Henry. Man konnte dieser Truppe von Künstlern, Regisseuren, Produzenten, Architekten, Therapeuten, Popstars und Modedesignern zwar so manchen Vorwurf machen, aber auf keinen Fall den, träge oder unliberal zu sein.

Das war ein Privileg, und Henry war sich dessen bewusst. Abbüßen konnte man es nur durch Arbeit, und genau das taten die meisten. Langweilig waren sie nicht. Henry kannte sie einfach zu gut und behauptete, auf einer Party in Rio oder Marrakesch könnte man die gleichen Gesichter sehen und das gleiche Gefühl von Klaustrophobie und Déjà-vu haben wie wenn man in Urlaub fahre oder irgendeine Kunstmesse oder ein beliebiges Filmfestival besuche. Wenn er zu einem Dinner, einer Party oder Vernissage wollte, nahm er deshalb im Taxi gern einen neuen Bekannten mit oder verschwand mit jemandem, wenn ihm die Sache nach ein paar Minuten zu langweilig wurde. Mich schleppte er auch mit, und ich war neugierig. Außerdem interessierte mich, was er zu sagen hatte.

Henry war zwölf Jahre älter als ich, und er hatte sein ganzes Leben in London verbracht und dort gearbeitet. Er kannte »jede und jeden«. Nach dem Scheitern seiner Ehe hatte er zwei Jahre eine Analyse bei einem schweigsamen, strengen Typen der alten Schule gemacht, der ihm geistig unterlegen gewesen war. Henry interessierte sich für Therapie, zumal er behauptete, »ein total fertiges, abgefucktes Wrack« zu sein, doch sein Interesse war nicht so groß, als dass er sich einen neuen Analytiker gesucht hätte. Er benutzte mich, wenn er über seine Probleme reden wollte - er kam ohne Umschweife auf die intimsten und gewichtigsten Themen zu sprechen -, aber das war nicht alles, worauf unsere Freundschaft beruhte.

Zu Anfang meiner Laufbahn hatte ich natürlich nur wenige Patienten, die meisten davon Nervensägen, denn sie wollten sich nicht von mir kurieren lassen. Durch Karen hatte ich im Übrigen gelernt, dass das soziale Vorankommen in London langsam, quälend und frustrierend sein konnte, wenn man kein Prestige hatte. Wenn ich mit Henry unterwegs war, hatte ich manchmal den Eindruck, als könnten es alle anderen kaum erwarten, Begrüßungen und Küsschen auszutauschen, während ich in meinen besten Sachen in der Ecke stand und von den Kellnern geflissentlich ignoriert wurde.

Inzwischen beherzigte ich Tahirs Worte und mischte mich ohne Scham in jedes Gespräch ein. Ich war nicht mehr so schüchtern wie früher und versuchte ab und zu, eine Kellnerin aufzureißen, denn die Bediensteten waren immer wesentlich attraktiver als die Partygäste und ganz bestimmt besser gekleidet. Am schlimmsten waren die Dinnerpartys, bei denen ich regelmäßig neben den vernachlässigten Frauen stellvertretender Verlagschefs in der Falle saß, während alle anderen Gäste hochzufrieden mit ihren Busenfreunden oder größten Fans zusammenhockten.

Seit seinem Abschluss in Cambridge hatte Henry am Theater gearbeitet, und er hatte eigentlich keine Erfahrung darin, auf beißende Art herablassend zu sein. Ja, er glaubte sogar, dass eine solche Herablassung gar nicht existierte. Andererseits gab es Leute wie Angela Carter, die sehr offen waren, die Namen von Menschen behielten, denen sie nur ein einziges Mal begegnet waren, und die soziale Welt Londons nicht für eine brutale Version von Mensch ärgere dich nicht hielten. Henrys Frau, Valerie, nahm mich nach dem Beginn unserer Freundschaft kaum wahr, obwohl ich oft in ihrem Haus zu Besuch war. Ich hatte den Eindruck, als würde sie nicht ganz begreifen, wer ich war und warum ich dort war. Sie war seit langem für das berühmt, was man in London den »entzückten Blick« nannte. Einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand gestützt, konnte sie einem endlos lange in die Augen schauen, ohne mit der Wimper zu zucken, als wäre man das Faszinierendste auf der ganzen Welt. Angebern oder Angsthasen bot dies Anlass zu langen Monologen, doch bei unsicheren Menschen konnte es zum kompletten Zusammenbruch oder wenigstens zu schweren Selbstzweifeln führen.

Erst als ein prominenter Kritiker im Observer mein Buch Sechs Personen auf der Suche nach Heilung, meine erste Veröffentlichung, gut besprach, weiteten sich ihre Augen bei meinem Anblick, und sie rauschte auf mich zu, ergriff mich bei den Schultern, zog mit ihren Lippen blassrosa Schlieren über meine Wangen und nannte mich »Darling, Darling, Darling«. Damit war ich wahrgenommen worden und hatte die Eintrittskarte in der Tasche. Man konnte mich nicht mehr hinauswerfen.

Dieses plötzliche Umkippen ihrer Emotionen irritierte mich in keiner Weise, und ich wage zu bezweifeln, dass sie sich je die Mühe gemacht hatte, einen Blick in mein Buch zu werfen. Sie schluckte Prozac. Für sie war Freud genauso passe wie der Surrealismus oder die Zwölf-Tonnen-Waage. Aber das Buch dekorierte immerhin mehrere Wochen an prominenter Stelle ihren Wohnzimmertisch.

Sechs Personen hatte sich, wie mein Verleger es ausdrückte, »für ein solches Buch« recht gut verkauft, vor allem als Taschenbuch. Angeblich hatte es sogar auf dem Markt für Ratgeber eingeschlagen. Ein Großteil der Leser schien der Hilfe zu bedürfen. Offenbar wollten die Leute ihren Geist genauso trainieren wie ihren Körper; sie verwechselten das Gehirn mit einem Muskel und hielten Neurosen mit weit zurückreichender Vorgeschichte für leicht zu behebende mentale Fehlfunktionen.

Ich hielt Vorträge über diese Dummheit. Man bat mich, über Freuds »Scharlatanerie« zu debattieren, und ich war erfreut, dass er immer noch provozieren konnte. Ich trat ein paar Mal im Radio und einmal im Fernsehen auf, wo von mir erwartet wurde, meinen Job möglichst knapp »auf den Punkt« zu bringen. Ich wurde zu Konferenzen ins Ausland

eingeladen und hielt »Grundsatzreden«. Ich signierte mein Buch wie ein richtiger Schriftsteller in Buchhandlungen. Ich las auf Literaturfestivals, wo ich von Henry interviewt wurde und in einem halb leeren, zugigen Zelt Fragen beantwortete. In der engeren Wahl für mehrere Preise und nervlich zerrüttet, musste ich eine zu enge Smokingjacke und Krawatte tragen, meine Schuhe auf Hochglanz polieren und an grauenhaften Festessen teilnehmen.

Aber es lohnte sich: Meine letzte Ex, Karen, meldete sich wieder bei mir. Ich weiß nicht genau, welchen Eindruck ich damals auf sie gemacht hatte - wahrscheinlich den eines hoffnungslosen Falls -, denn sie war überrascht und bezaubert vom Etikett des »jungen, hippen Analytikers«. Sie rief mich an, und wir begannen, uns zum Lunch zu treffen. Nach ihr, gegen Ende der Achtziger, hatte ich in einem Rausch der Libido viele andere Frauen vernascht, manche komisch, manche lustig und manche peinlich, bevor ich schließlich die unselige Kur für meine Rastlosigkeit fand - Josephine. Karen und ich hatten uns mit tiefer Bitterkeit getrennt, und ich war sogar traurig gewesen. Aber sie hatte jemand anderen gefunden und machte einen fast glücklichen Eindruck.

Und was Valerie betraf: Sobald Henry ihr ein Exemplar meines Buches gegeben hatte und sie meinen Namen auf dem Cover sah und ausrufen konnte: »Den kenne ich, der ist ja oft hier!«, wurde ich für sie zu einer greifbaren Person - zu einem Namen mit gesellschaftlichem Rang, den sie anderen gegenüber erwähnen konnte.

Valerie war im Umgang klug und angenehm, vorausgesetzt, man machte sich nichts aus ihrem ständigen Name-Dropping - ungewöhnlich vulgär für jemanden mit ihrem Hintergrund -, bei dem man das Gefühl hatte, als würde sie einem Steine in die Taschen stopfen. Ihre Tragödie bestand darin, dass sie trotz ihrer Fick-dich-Schuhe und Fick-mich-Titten nicht sehr hübsch war und deshalb nicht anders konnte, als jüngere und schönere Frauen zu verabscheuen, außer sie waren berühmt. Doch sie war ihren eigenen Weg gegangen und hatte als Filmproduzentin bewiesen, was in ihr steckte, indem sie die Rechte von »netten, unterhaltsamen« Romanen erwarb, einen Regisseur besorgte und das Geld für die Verfilmung auftrieb.

Ihr Büro befand sich im Keller des Hauses, und es gefiel ihr so gut, Sam um sich zu haben, dass sie ihm einen Fernseher mit Plasma-Bildschirm kaufte, damit er auch ganz bestimmt bei ihr blieb. Als er schließlich wieder bei ihr einzog, tat er das mit der Begründung, er habe Henry ertappt, als dieser »etwas echt Ekelhaftes mit einer tätowierten Frau« gemacht habe. Valerie, immer zufrieden mit dem Einblick in Henrys Leben, den sie gerade bekam, hatte etwas erwidert wie: »Immerhin war es eine Frau. Warum regst du dich so auf? Dad ist ein Künstler, und er macht, was er will. So sind sie alle, völlig verrückt. Hast du neulich nicht die Sendung über Toulouse-Lautrec gesehen?«

Sie war klug genug, nicht über Miriam herzuziehen, von der sie als »Jamals Schwester« sprach und auf die sie jene Achtung übertrug, die sie mir zollte. Valerie glaubte keinen Moment, von einer anderen Frau ersetzt werden zu können. War eine Mutter ersetzbar? Würde eine andere Frau weiter die Miete für Henry bezahlen?

Nach dem Beginn meiner Freundschaft mit Henry dauerte es eine Weile, bis ich zu ihren Dinnerpartys eingeladen wurde. Zum Teil durfte ich daran teilnehmen, weil ich ein Buch veröffentlicht hatte, zum Teil, um Henry Gesellschaft zu leisten, der sich in »Valeries Haus«, wie er es nannte, fremd und fehl am Platz fühlte. Er lebte schon seit einigen Jahren nicht mehr wirklich dort, denn er hatte viel im Ausland gearbeitet oder sich gemeinsam mit Freunden oder Frauen irgendwo anders aufgehalten. Seine Kleider ließ er allerdings bei Valerie, und manchmal kam er vorbei, um die Kinder zu sehen, in seinem Zimmer zu arbeiten oder einfach herumzuhängen. Valerie machte sich selbst und anderen vor, dass Henry Zeit und Ruhe für seine Kreativität brauche. Daran merkte er, wie viel Angst sie davor hatte, ihn zu verlieren, oder, anders gesagt, wie sehr sie ihn vergötterte - er konnte tun, was er wollte, und sie würde es akzeptieren, ohne ein Wort über ihre Unzufriedenheit zu verlieren, weil sie befürchtete, er könnte dies als Anlass nehmen, sich für immer von ihr abzuwenden.

Diese berühmten Partys wurden stets unten in der großen Küche veranstaltet, wo Glastüren zum von Kerzen erhellten Garten hinausgingen. Valerie engagierte viele Helfer, die das Essen seit dem frühen Morgen vorbereiteten, denn manchmal saßen dreißig Gäste am Tisch und tranken Champagner und teuren Wein. In London gab es Legionen von reicheren Leuten, aber kaum jemand war auf so elegante Art extravagant oder imstande, so angesagte Leute um seinen Tisch zu versammeln. Für manche Londoner war es förmlich furchterregend, zu einem ihrer Dinner eingeladen zu werden - sie kamen dann herein, als würde ihnen das Rigorosum der Doktorarbeit bevorstehen -, und andere waren tief enttäuscht, wenn sie nicht auf der Gästeliste standen.

Henry und Valerie hatten sich gütlich scheiden lassen. Sie waren so vernünftig gewesen, wie es reiche Menschen in solchen Fällen sein können, manchmal jedenfalls. Die Sache ging ohne Anwälte und Prozess über die Bühne. Man hatte den Eindruck, als wüssten beide, dass sich die Ehe in eine Freundschaft verwandeln würde. Valerie langweilte Henry zwar, und sie meckerte und schimpfte, aber seinen guten Namen beschmutzte sie nie, und sie riskierte es auch nicht, ihn zu vergraulen. Solange er abnahm, wenn sie anrief, war es ihr egal, was er trieb. Eines betrüblichen Tages würde sie seine Beerdigung organisieren und beim Gedenkgottesdienst als Erste das Wort ergreifen. Dann würde sie ihn wieder als ihren Mann beanspruchen. Bis dahin würde sie darauf bestehen, neben ihm her zu leben, ob es ihm oder seinen Geliebten passte oder nicht. Sie besuchte alle Vorpremieren der von ihm inszenierten Stücke, unterhielt sich mit seinen Freunden und behielt sein Liebesleben im Auge, das nach ihrer Überzeugung so unbefriedigend für ihn bleiben würde, wie es immer schon gewesen war. Immerhin hatte sie ihm geholfen, sein Talent zu formen und zu erweitern, hatte ihn gedrängt, sich in der Gesellschaft zu bewegen, und ihm gesagt, mit seiner Begabung könne er in London treffen, wen er wolle - und wen sie wolle. Er war das Ticket, das ihr zur gesellschaftlichen Mobilität der Schönen verhalf. Früher war er ein langhaariger, schmuddeliger, antibürgerlicher, schüchtern-zorniger Junge gewesen, und sie hatte ihn in jemanden verwandelt, der gesellig war und ein Landhaus mit Swimmingpool besaß, wo Freunde zu Besuch kamen. Sie hatte dafür gesorgt, dass er in Paris, New York und Australien arbeitete, Termine einhielt und zu Interviews, Rundfunk- und Fernsehsendungen erschien.

Im Laufe der Ehe hatte er Affären gehabt - meist emotionaler Art -, und schließlich hatte er sie verlassen. Das hatte ihr wehgetan, doch sie nahm seinen Hass gelassen hin, weil sie wusste, dass dieser am Ende nicht viel Gewicht hätte. Sie musste einfach nur dranbleiben. Wenn er ihre Anrufe nicht beantworten wollte - vielleicht war er ja in den Flitterwochen -, wartete sie, bis er wieder zurück war. Wenn er Hunger hatte, ging er zum Essen zu ihr; wenn er einen Rat oder eine Meinung brauchte, fragte er sie; und natürlich hatten sie die Kinder.

Henry wusste, wie froh Valerie war, als Sam wieder bei ihr einzog, vor allem, da Lisa, die Tochter, immer zickig und trotzig gewesen war und ihre Eltern für ihren Reichtum, ihre Privilegien und ihre soziale Unbeschwertheit verachtet hatte. Lisa hatte immer behauptet, dass sie nur reiche Leute kennen würden, von den zahlreichen Angestellten einmal abgesehen: Putzfrauen, Bauhandwerker, Gärtner, Kindermädchen, Au-pair-Mädchen. Als Sozialarbeiterin hatte Lisa die Welt der Unterschicht kennengelernt und identifizierte sich damit; sie weigerte sich, Geld von ihrer Mutter anzunehmen, und sah sie kaum. Einmal hatte sie die Sozialarbeit aufgegeben, um in kleinen Hotels und Bed-and-Breakfasts als Putzfrau zu arbeiten, wurde aber gefeuert, weil sie sich über die Löhne und Arbeitsbedingungen beschwerte und versuchte, die Angestellten gewerkschaftlich zu organisieren.

Lisa hatte all ihren Ehrgeiz in den Versuch gesteckt, auf der sozialen Leiter abzusteigen, arm zu sein - das Einzige, was niemandem aus ihrer Familie je in den Sinn gekommen war. Anders als die echten Armen konnte sie aber im Notfall zu ihrer Mutter gehen, um sich einen Scheck über zehntausend Pfund abzuholen, die sie nicht zurückzahlen musste. Ja, ihre Eltern wären sogar hocherfreut gewesen, wenn sie um Hilfe gebeten hätte, und vor ein paar Jahren hatte sie genau das getan. Den Scheck, der sich auf mindestens fünftausend Pfund belief, reichte sie an eine palästinensische Flüchtlingsorganisation weiter. Zu ihrer Mutter sagte sie: »Aber anderen Leuten wird nicht einfach so Geld gegeben! Das trennt mich von ihnen. Warum hast du Angst vor der Gleichheit?«

Henry und Lisa sprachen momentan kaum miteinander. Er war stets Sozialist gewesen, und da London auf vulgäre Art immer reicher wurde, rückte er noch weiter nach links, aber dafür hatte Lisa nur Hohn und Spott übrig. Sie hielt das für oberflächlich. Nach Sams Auszug war Henry schlecht drauf. Er wollte sich nicht eingestehen, dass der Junge nicht mehr zu ihm zurückkehren würde, und er verhinderte, dass er seine Sachen abholen konnte. Sam wollte seinen Computer und seinen iPod, doch als er vorbeikam, war alles weggesperrt worden, und Henry sagte, er bekomme die Sachen nur, wenn er wieder zu ihm ziehe. Der Junge weigerte sich natürlich und drohte, er werde zurückkommen und in der Wohnung so lange alles kurz und klein schlagen, bis er sein Zeug wiederhabe. Henry waren die Drohungen des Jungen und die ständigen Anrufe der Mutter egal, weil er auf diese Weise wenigstens weiter Kontakt zu Sam hatte.

Schwer zu sagen, warum sich Henry wie ein verschmähter Liebhaber aufführte, zumal er kaum zu Hause war. Wenn ich jetzt Miriam besuchte, war meist Henry da, kochte, wusch ab, saß herum und unterhielt sich mit Miriams Kindern und ihren Freunden, die einen Menschen wie ihn noch nie gesehen oder gehört hatten. Tagsüber kümmerte er sich um eine Truppe von Filmstudenten, mit denen er gearbeitet hatte, und er unterrichtete automatisch jeden, der gerade in seiner Nähe war. Er war ein guter Lehrer, der sich hervorragend in Kultur, Politik und Geschichte auskannte und mit Theorien und Namen, auch den von Bewegungen, nur so um sich warf. Er regte sich gern über

die Unkenntnis seiner Schüler auf, als müssten diese alles wissen. Ein Egozentriker war er ganz bestimmt, ein Narzisst aber nicht.

Henry war bei jeder neuen Erfahrung Feuer und Flamme und erweckte den Eindruck, als hätte es so etwas noch nie gegeben. Er betonte immer wieder, dass der Club, den er mit Miriam besuchte, »demokratischer ist als jeder Ort, an dem ich je gewesen bin. Ficken ist ja immerhin ein soziales Ereignis. Du kannst da alle möglichen Typen treffen.«

»Wie im National Theatre?«, fragte ich.

»Die Bandbreite ist noch größer!«, erwiderte er. »Dort gibt es Friseurinnen, Bankangestellte, Ladenbesitzer, Fernfahrer. Leute, die draußen vor der Stadt billig zur Miete wohnen. Einerseits ist die Sache absurd und banal. Andererseits weiß man, dass Menschen, egal ob reich oder arm, ihre geistige Gesundheit, ihren Besitz, ihre Ehe und ihren Ruf riskieren, um sich zu befriedigen. Und wir wissen auch, dass unsere Kinder irgendwann diese Welt der verrückten Lüste betreten werden. Ist schon ein komischer Gedanke, dass dieser Irrsinn den Kern des menschlichen Daseins bildet.«

Er sagte, Miriam und er seien nicht gelangweilt voneinander, und sie würden immer noch normal miteinander schlafen. Sie seien nicht wirklich bis ins Extrem gegangen. Manche Männer waren der Meinung, dass beim Sex idealerweise ein anderer Mann dabei sein sollte - meist ein enger Freund -, der die Frau befriedigte, wenn man dies nicht selbst schaffte. Allerdings hatte Miriam genug Erfahrung, um am Ende auch ganz sicher befriedigt zu sein.

Einmal zogen sie sich bei mir um wie ein Teenager-Pärchen, das sich für eine Party schick machte: Laute Musik von den Rolling Stones -»Hey, sollten wir nicht zu ihrem Konzert gehen? Sie spielen doch in London, oder?« - und jede Menge Schweiß. Sie boten wirklich einen reizenden Anblick: Henry in enger Vinylhose, ärmelloser Lederweste und in schweren Stiefeln. Miriam in kurzem Rock, mit hochhackigen Schuhen und Strapsen. Als Top trug sie ein hauchdünnes Baby-Doll-Teil.

»Das behalte ich sowieso nicht lange an«, sagte sie.

Ich konnte mir nicht verkneifen zu erwidern: »Ich hoffe, in eurem Club ist es finster.«

»Auf zur Fick-Therapie«, sagte Henry, als sie sich in Bushys Taxi zwängten.

»Warum kommst du nicht mit?«, fragte Miriam in der Tür.

»Ja, genau«, sagte Henry. »Du wirst auf keinen Fall einem deiner Patienten begegnen. Diese Leute machen heute Abend ihre Therapie!«

»Ich werde mitkommen«, sagte ich. »Aber nicht heute Abend, sondern ein anderes Mal. Ist das okay?«

»Ja«, sagte Miriam und gab mir einen Kuss.

Sobald ich wieder drinnen war, vermisste ich ihren Lärm und ihre Freude. Die Wohnung kam mir leer vor. Da war ich und las zum wiederholten Mal dasselbe Buch - versteckte meinen Penis zwischen den Deckeln.

Ich setzte mich an den Schreibtisch. Höchste Zeit, mir die Ereignisse jener Nacht vor Augen zu führen, in der ich es nicht mehr ausgehalten hatte, jener Nacht, in der ich mich zum Handeln entschlossen hatte. Ich musste sie mir vergegenwärtigen, ich konnte nicht anders, und ich wusste, dass ich dies zwanghaft bis an mein Lebensende tun würde, immer und immer wieder.

FÜNFZEHN

Fast Mittemacht. Wolf, Valentin und ich saßen in einem Leihwagen, der neben der Garage parkte.

Ich war ganz leer - in meinem Inneren herrschte völlige Stille.

Wahrscheinlich hatte ich das Gefühl, als wären die Uhren stehengeblieben, aber wir saßen auf jeden Fall schon zwei Stunden dort, schweigend, angespannt, reglos und wagten kaum zu atmen. Trotzdem rauchten, seufzten und flüsterten wir, rutschten auf den Sitzen herum, und wie üblich war das Kokain alle, versteht sich.

Je länger wir warteten, desto unruhiger wurde ich. Ich hoffte sogar, dass Ajitas Vater nicht nach Hause käme, dass er bei seiner Geliebten wäre, falls er eine hatte. Vielleicht wäre all das besser als ein Stelldichein mit uns dreien. Ja, es wäre genau die richtige Nacht für ihn, um diese imaginäre Frau zu besuchen, denn sein Sohn und seine Tochter - meine Liebste - hielten sich bei Freunden in Wembley auf.

Vor zwei Abenden hatte Wolf mich gefragt: »Was ist denn los, mein Freund? Deine Stirn ist ja schon wieder so düster umwölkt.«

»Du würdest das gleiche Gesicht ziehen, wenn jemand deine Freundin fickt.«

»Glaubst du, das läuft immer noch? Stimmt es denn wirklich? Aber wer könnte es sein, Mann? Und wann trifft sie sich mit ihm?«

»Das darf ich dir nicht sagen. Sie hat mich gebeten, die Sache für mich zu behalten. Es ist bitterernst, Wolf.«

»Dann weißt du also, wer es ist?«

»Ja, ich weiß Bescheid. Ich habe es endlich erfahren.«

»Echt? Dann musst du es uns erzählen. Immerhin sind wir deine Freunde und Kumpel«, sagte Wolf. »Sie ist ein tolles Mädchen. Sie kommt hierher. Sie kocht für uns. Wir lieben sie wirklich. Wenn du nicht mit ihr zusammen wärst, würde ich mich an sie heranmachen - einfach so.« Er schnippte mit den Fingern.

Sie überredeten mich zu einem Bier im Pub, wo ich ihnen berichtete, was Ajita mir erzählt hatte.

»Mann, das ist ja wirklich übel«, sagte Wolf.

»Ich kann nicht zulassen, dass sie das noch eine Nacht mitmacht«, sagte ich. »Wir müssen etwas tun. Wenn es ein Film wäre, würden wir einfach in sein Haus eindringen und ihn abknallen. Und zwar mit Vergnügen.«

»Du hast recht. Wir sollten diesem Vater eine Lektion erteilen«, sagte Wolf. »Er braucht ganz dringend eine kleine, höfliche Warnung. Wäre doch ein Kinderspiel.«

»Warum nicht?«, erwiderte ich. »Er kennt euch ja nicht. Er wird nicht zur Polizei gehen, weil dann alles herauskommen würde. Was meinst du dazu, Val?«

Valentin war nicht so scharf darauf, denn eigentlich war er ein sanfter Typ und fand ein fast priesterliches Vergnügen an Leid und Selbstverleugnung. Doch er wollte seine besten Freunde nicht im Stich lassen. Nach einer Weile sagte er, wir würden das moralisch Richtige tun; das, was im Sinne von Sokrates das »Gute« sei. Und wenn es für Sokrates gut genug war, dann war es wohl auch gut genug für mich.

Meine Freunde standen bereit. Die Lektion würde erteilt werden, sobald ich das Zeichen gab. Ich wartete darauf, dass Ajita mir sagte, wann sie das nächste Mal außer Haus war. Ich wusste, dass es in den nächsten Tagen geschehen musste, denn sonst würde unser Enthusiasmus verfliegen. Die Sache wäre kinderleicht, wenn wir genau wussten, was die Familie tat. Und als Ajita mir erzählte, dass sie und Mustaq nicht zu Hause seien, planten wir sorgfältig unsere »Überraschung«.

Wir schliefen fast oder waren schon halb katatonisch, als wir ein Auto hörten. In diesem Viertel gab es kaum Verkehr. Ich drehte mich nach dem Fahrzeug um.

»Das ist er«, flüsterte ich.

»Dann los«, sagte Wolf. »Ganz ruhig. Ist rein geschäftlich.«

Wir rutschten auf unseren Sitzen nach unten.

Sobald Ajitas Vater eingetroffen war, ging alles sehr schnell. Das Garagentor öffnete sich, und er fuhr hinein. Nun, da er uns nicht mehr sehen konnte, glitten wir aus dem Auto und betraten die Garage durch die Seitentür, gleich bei der Küche.

Wir waren drin. Ich schloss die Tür hinter uns. Valentin hatte eine Taschenlampe mitgenommen, die er angeknipst auf eine Bank legte. Es war gerade so hell, dass wir unser Opfer sehen konnten. Wir umringten ihn, als er aus dem Auto stieg.

Wolf gab ihm zwei Ohrfeigen, damit er wusste, dass wir da waren. Valentin trat vor und schlug ihn überraschend heftig in den Bauch.

Ich zischte derweil wütend: »Lass deine Tochter in Ruhe, fass sie nie wieder an, sie ist dein Kind, und du wirst keinen Sex mehr mit ihr haben, kapiert - sonst schneiden wir dir die Eier ab.«

Er versuchte zu nicken, während er um Atem rang. Er war erschrocken, so tief erschrocken, dass er offenbar gar nicht wahrnahm, was ich sagte oder was wir wollten.

Dann tat er etwas Seltsames. Val hatte ihn gegen das Auto geschlagen, und dort fummelte er an etwas herum. Einen Augenblick lang - warum, weiß ich nicht - glaubte ich, es könnte eine Pistole sein. Dann begriff ich, dass er seine Uhr abgenommen hatte. Er reichte sie mir mit zitternden Händen, und ich ließ sie in meine Tasche gleiten.

Als ich ihn beim Jackenaufschlag packte, um meine Warnung noch einmal aus größerer Nähe auszusprechen, versuchte er, mir seine Brieftasche zu geben.

»Was wollt ihr von mir?«, wiederholte er. »Ich kenne dich! Ich habe dich schon gesehen! Wie heißt du gleich? Was tust du hier? Hilfe! Polizei!«

Ich konnte die Brieftasche nicht nehmen, denn inzwischen war ich wild entschlossen, ihn endlich zum Schweigen zu bringen, damit er mir richtig zuhörte - und ich zog eines der Küchenmesser meiner Mutter aus der Jacke. Ich wollte, dass ihn die Angst zur Besinnung brachte. Und er hatte Angst.

Als er das Messer erblickte, begann er zu hyperventilieren und keuchte so sehr, dass er kein Wort mehr hervorbringen konnte. Er hielt mein Handgelenk gepackt. Ich musste seine Finger regelrecht loseisen.

Er zitterte, umklammerte seine Brust und seinen Arm, stieß grauenhafte Laute aus und bettelte um Hilfe, als er auf die Knie fiel. Schließlich brach er zusammen und rollte auf die Seite. Ich trat zurück und wollte ihn gegen den Kopf treten, als Valentin sagte: »Das reicht!« Er zog mich weg.

Wir nahmen die Taschenlampe und gingen.

Bevor ich die Tür schloss, hörte ich, wie der Vater erstickt keuchte und röchelte. Aber das bildete ich mir vielleicht auch nur ein. Ich bin mir allerdings sicher, dass Wolf sagte: »Ist erledigt«, und meine Hand schüttelte. »Dieses miese Schwein hat sein Fett weg.«

»Er hat seine Lektion gelernt«, sagte Valentin.

Wolf ließ einen Lederhandschuh auf den anderen klatschen. »Wir haben es ihm heimgezahlt. Rein geschäftlich.«

Wir fuhren los, ohne einander anzuschauen. Niemand sagte etwas. Wir waren nicht aus dem Häuschen oder high, sondern erschöpft und verängstigt. Immerhin war der Job getan. »Rein geschäftlich.«

Wolf und Val setzten mich ab und fuhren nach London weiter. Ich lief lange durch die Gegend, oft im Kreis, folgte meinen eigenen Spuren und kehrte in mehreren Pubs auf ein Bier ein. Ich konnte mich nicht normal bewegen; meine Gliedmaßen schienen die Verbindung untereinander verloren zu haben.

Zu Hause wusch ich das Messer im Badezimmer - obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab -, trocknete es ab, tat es wieder in die Schublade und wandte mich zu meiner Mutter um, die die kleine Küche betreten hatte. Diesmal freute ich mich, sie zu sehen.

Abends trug sie unter dem Hausmantel immer ein knallrosa Nachthemd aus Nylon, das sich statisch auflud, wenn sie vor dem Fernseher saß, und das beim Aufstehen knisterte. Damals begriff ich nicht, wie sie dort sitzen konnte, nüchtern und mit leuchtenden Augen, Stunde um Stunde und Jahr für Jahr völlig aufgesogen von dieser Leidenschaft - für das Fernsehen oder besser: für die Gestalten, die auf dem Bildschirm hin und her zuckten.

Vor den Neun-Uhr-Nachrichten aß sie gern Sahnecracker mit Käse und Gurken. An mindestens drei Abenden in der Woche war ich bei ihr zu Hause, hörte Musik und las, aber irgendwann leistete ich ihr immer im Halbdunkel Gesellschaft.

Doch an diesem Abend war ich überzeugt dass sie mich aufmerksamer betrachtete als sonst. Vermutlich wirkte ich wie auf der Hut; gut möglich, dass ich rot wurde oder mein Blick flackerte.

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Ich will mich ein bisschen zu dir setzen«, sagte ich. »Was läuft im Fernsehen? Soll ich dir eine Tasse Tee bringen?«

Auch wenn ich unnatürlich klang, würde Mum nie auf die Idee kommen, dass ich kurz vor meiner Ankunft den Vater meiner Freundin niedergeschlagen hatte. Dass meine Paranoia trotzdem rasant wuchs, war allerdings keine Überraschung. Mein Körper erinnerte mich immer wieder daran, dass etwas nicht stimmte, und als ich Mum den Tee brachte, hielt ich Tasse, Untertasse und Löffel mit beiden Händen, weil ich Angst hatte, sie könnten klappern.

Das Messer blieb natürlich bei Mum. Sie besaß es noch Jahre später. Vielleicht hat sie es immer noch.

An diesem Abend betastete ich die Uhr in meiner Tasche jedes Mal, wenn Werbung lief. Später versteckte ich sie in meinem Schlafzimmer. Nach ein paar Monaten holte ich sie regelmäßig heraus, betrachtete sie und dachte über die Ereignisse nach. Ich begann sogar, sie im Haus zu tragen, und sagte Mum, ich würde sie schick finden und hätte sie gegen ein paar Platten eingetauscht. Ich trug sie auch mehrmals außer Haus. Ich tauschte das Armband aus. Ich nahm sie mit in meine neuen Studentenbuden und hasste und brauchte sie zugleich.

Am Morgen nach dem Überfall wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich war seit fünf Uhr früh durch das Haus geirrt. Um neun Uhr ging ich in den Garten. Schließlich beschloss ich, zum College zu fahren. Vielleicht war Valentin dort.

Ich wollte gerade los, da klingelte das Telefon. Ich rannte wieder hinein, um abzunehmen.

»Dad ist tot«, sagte Ajita. »Ich bin im Krankenhaus.«

»Wer hat ihn ermordet?«, fragte ich.

»Die Streikenden. Sie sind ins Haus eingedrungen, während wir fort waren, und haben ihn zu Tode erschreckt. Sein Herz war schon schwach - er hatte sich gerade untersuchen lassen.«

Ein kurzes Schweigen trat ein. Wahrscheinlich erwartete ich, dass sie irgendwie freudig oder erleichtert klang. Hatte ich ihr denn keinen Gefallen getan?

»Als Mustaq und ich ihn gefunden haben«, sagte sie, »hat er gar nicht so friedlich ausgesehen, wie es bei Toten angeblich der Fall ist. Sondern verängstigt, verrenkt und panisch, mit Wunden am Kopf und blutender Nase. Wie kann man einem Mann nur so etwas antun?«

»O mein Gott«, sagte ich.

»Ich muss gleich heulen.« Sie schluchzte schon. »Das wird schrecklich, das willst du bestimmt nicht hören«, sagte sie und legte auf.

Ich rief in der Pension an und berichtete Wolf und Valentin, dass der Mann tot sei. Mehr sagte ich nicht, weil ich am Telefon nichts weiter verraten wollte. Ich wollte mich später wieder bei ihnen melden.

Als Ajita am Abend des gleichen Tages noch einmal anrief, erzählte sie mir, ihr Vater sei von Leuten der Gewerkschaft ermordet worden, die seine Adresse herausgefunden und ihn überfallen hätten. Laut ihren Worten hatte man bereits zwei Leute verhaftet. Sie bezeichnete sie als Rassisten. »Wer würde schon so etwas tun?«

»Einbrecher?«

»Aber man hat nichts gestohlen. Seine Brieftasche lag zwar auf dem Fußboden, aber es war noch alles da.«

Ob man Wolf und Valentin verhaftet hatte, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Ich rief mehrmals bei ihnen an, doch entweder ging niemand ans Telefon, oder die Vermieterin sagte, sie seien unterwegs. Als ich noch einmal anrief, teilte sie mir mit, dass die beiden ausgezogen seien. »Gut, dass ich sie los bin. Sie bezahlen die Miete nicht.«

Am gleichen Abend rief mich Wolf aus einer Telefonzelle an »der Küste« an. Es war ein R-Gespräch, und er erzählte mir im typischen Flüsterton, dass sie ihre Sachen gepackt und die Pension verlassen hätten, um mit dem alten Porsche, den sie vom Erlös des Diebstahls gekauft hatten, nach Südfrankreich zu fahren. Er halte es für angebracht, sagte Wolf, eine Weile abzutauchen. Sie hatten nur auf eine Ausrede gewartet, um verschwinden zu können.

Beruflich waren sie nicht besonders erfolgreich gewesen. Also machten sie sich aus dem Staub, ohne verfolgt zu werden - außer von ihrem Gewissen, vielleicht jedenfalls. Von meinem Standpunkt aus gesehen verschwanden sie allerdings für immer.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Papa nicht mehr wiederkommt«, erzählte Ajita mir am nächsten Tag.

»Immerhin kannst du jetzt ruhig schlafen.«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Aber ich tue kein Auge zu! Die Rassisten machen jetzt Jagd auf uns, Jamal. Wir schweben hier alle in großer Gefahr.«

Das war nicht nur paranoid. Damals wusste niemand, welche Wendung das sogenannte Rassenproblem nehmen würde. Mein Vater hatte oft behauptet, »die Verfolgung« könne jeden Tag beginnen. Wenn sie losgehe, würde er kommen und uns holen.

»Danke, Dad«, sagte ich nur.

»Aber wo sollen wir denn leben?«, fragte ich Ajita. »Kann ich mitkommen?«

»Mein Onkel passt auf mich auf. Wir bleiben in Kontakt, Liebster.«

Das Nächste, was ich von Ajita hörte - sie rief vom Flughafen an -, war, dass sie, Mustaq und der Onkel in Begleitung der Tante, die mit im Haus gewohnt hatte, den Leichnam des Vaters zur Beerdigung nach Indien überführen wollten. Das Haus stand zum Verkauf.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie. Und bevor ich fragen konnte, wann sie zurück sei, fügte sie hinzu: »Warte auf mich und vergiss nie, dass ich dich immer lieben werde.« Dann legte sie auf.

Ich verfolgte den Fall in den Nachrichten und studierte alle Zeitungen, die es in der College-Bibliothek gab. Die Anklagen gegen die angeblichen Mörder wurden nach einer Weile fallengelassen. Es gab viele Spekulationen über einen rassistisch motivierten Überfall weißer Verbrecher, und die Linke warf der Polizei vor, die Übergriffe von Rassisten nicht ernst genug zu nehmen. Doch es fehlten jegliche Hinweise. Abgesehen von der Uhr hatten wir nichts mitgehen lassen; es gab weder Fingerabdrücke noch Blut.

Die Fabrik wurde geschlossen; die Streikposten trollten sich. Die Unfähigkeit der Polizei, mich aufzuspüren, verblüffte mich. Vermutlich hätte ich schnell gestanden, aber es gab ja keine Beweise, die mich mit dem Toten in Verbindung hätten bringen können.

Als Resultat dieses raffinierten Schurkenstücks sah ich Ajita nie wieder. Sie war nach Indien geflogen, und wie sollte ich sie dort finden? Ich wartete und sagte Mum, sie solle sich die Nummer notieren, falls sie anrief, aber sie meldete sich nicht bei mir.

Ajita war weg. Dass es ein endgültiger Abschied sein sollte, war mir nicht klar. Ich hatte nicht vor, jung zu heiraten. Was blieb, war das Schweigen. Jene drei Menschen, die meine engsten Freunde gewesen waren - Valentin, Wolf, Ajita -, waren verschwunden.

Ich stand auch aus einem anderen Grund unter Schock: Ich hatte den Vater zwar nicht mit meinen Händen getötet, aber ohne mein Zutun wäre er am Leben, vielleicht sogar noch heute.

Ich hatte ihn umgebracht, und von da an nannte ich mich im Stillen einen »Mörder«.

SECHZEHN

Das Flugzeug dürfte gegen drei Uhr früh gelandet sein.

Ich musste Miriam rütteln und schütteln, damit sie endlich aufwachte. Sie hatte in Brixton in einer besetzten Wohnung gelebt, aber unbedingt von dort verschwinden wollen. Vor kurzem hatte es in dem Viertel Krawalle mit der Polizei gegeben, und Miriam war eine ganze Woche auf den Beinen gewesen, hatte Beamte mit Backsteinen beworfen und war im Rechtsbeihilfe-Zentrum eingesprungen. Das aktuelle Graffito gab den guten Rat: »Helft der Polizei - schlagt euch selbst zusammen.«

Miriam hatte natürlich etwas für ihre Nerven genommen - Hustensaft, glaube ich, eines ihrer Lieblingsmittel, das sie immer knapp am Nirwana vorbeischlittern ließ. Ich hatte ihre Sachen gemeinsam mit ihr in ein paar Hippie-Beutel gestopft, und dann hatte ich sie mit in die Dritte Welt geschleift. Dort wäre man bestimmt beglückt über sie.

Es war noch dunkel, wurde aber langsam wärmer. Im Chaos draußen vor dem Flughafen rotteten sich Scharen zerlumpter Bettler bedrohlich dicht um uns zusammen; die Frauen fielen vor Miriams roten Doc Martens auf die Knie und küssten das Leder.

Um zu entkommen, sprangen wir in das erstbeste Auto, das sich anbot, uns mitzunehmen. Ich war nervös, weil ich nicht wusste, wie wir uns hier zurechtfinden sollten, doch Miriam, die null Bock hatte, für irgendetwas eine Verantwortung zu übernehmen, schloss wieder die Augen. Hätte es nicht mehr Probleme verursacht als gelöst, dann hätte ich sie einfach am Straßenrand abgeladen.

Wir waren noch keine Stunde im Land unserer Vorfahren - Pakistan -, da fuchtelte der Taxifahrer schon mit einer Pistole vor unserer Nase herum. Er und sein Begleiter, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der sich zum Schutz vor der Kälte in eine schmuddelige Decke gewickelt hatte, waren bis dahin freundlich gewesen, und als wir bei scheibenklirrend lauter Bollywood-Musik vom Flughafen zu Papa aufgebrochen waren, hatten sie gesagt: »Kassette gut? Gut Sitz, bequem, he? Ein bisschen Paan? Ihr wollt Kissen?«

»Voll groovy«, murmelte Miriam und schloss die Augen. »Ich glaube, ich bin schon auf Kissen gebettet.«

Es waren die frühen Achtziger. Ich hatte meinen Abschluss gemacht. Man hatte Lennon ermordet, und die Revolution war endlich über uns hereingebrochen - ihre Leitfigur hieß Margaret Thatcher. Miriam und ich saßen in einem uralten Morris Minor, der flächendeckend mit aufgefädelten Glasperlen und Glöckchen geschmückt war. Offenbar glaubte Miriam, wir wären zu irgendeiner Art von spirituellem Idyll unterwegs und würden jeden Moment über Mia Farrow, Donovan und George Harrison stolpern, die vor einem murmelnden Inder meditierten.

Der Fahrer war scharf links von der Straße abgebogen, zwischen ein paar Bäumen durchgebrettert und über jede Menge Dreck gerumpelt. Dort hielt er schließlich an. Er stieg aus, rannte zur Hintertür, zerrte uns heraus und befahl uns mitzukommen. Wir gehorchten. Er schwenkte seine Pistole vor unseren Gesichtern. Das hier war nicht Dads Haus; das hier war das Ende. Ein jäher, gewaltsamer Tod zur frühen Morgenstunde - am ersten Tag im Vaterland. Ein Tod, jenem nicht ganz unähnlich, den ich vor nicht allzu langer Zeit verursacht hatte. Das wäre Gerechtigkeit, die ehrliche und fast sofortige Erfüllung des Karmas, oder? Ich fragte mich schon, ob man zu Hause über uns berichten und ob Mum den Zeitungen Fotos von uns geben würde.

Allerdings waren Miriam und ich nicht allein. Ich konnte in der Nähe Leute sehen, die in Zelten und Baracken hausten. Manche hockten sich hin, um uns zu beobachten, andere - magere Kinder und Erwachsene - standen einfach nur da. Hier sah es aus wie bei einem immerwährenden Open-Air-Festival: zerfetzte und vermodernde Zeltplanen, verrostetes und verbogenes Metall, Feuer, Hunde und herumlaufende Kinder, und allmählich wurde es immer heller und heißer. Niemand würde uns helfen. Wir versuchten, uns dem Mann mit der Waffe verständlich zu machen - und wie! Meine Schwester und ich schrien, wir sprangen auf und nieder und brüllten wie verrückt, sodass der Räuber recht verwirrt aus der Wäsche schaute. Offenbar kapierte er allmählich, dass wir kein Geld hatten. Dann kam die in Extremsituationen erfahrene Miriam auf die glorreiche Idee, ihm die Dosen mit Corned Beef zu geben.

»Das ist ihnen doch nicht heilig, oder?«, fragte sie.

»Corned Beef? Nein, ich glaube nicht.«

Sie war ganz aus dem Häuschen. Offenbar war sie der festen Überzeugung, dass diese Leute dringend Corned Beef in Dosen brauchten, vielleicht, weil gerade eine Hungersnot geherrscht hatte. Und sie wollten wahrhaftig Corned Beef. Der Räuber entriss uns die schwere Tasche, ohne einen Blick hineinzuwerfen, und der andere Mann fuhr uns zurück zur Straße und im Anschluss zu Papas Haus. In Karatschi sind sogar die Raubüberfälle von Taxifahrern exzentrisch.

»Dann bekommt Papa also keine nagelneue Tasche«, sagte ich, als wir auf die Hauptstraße abbogen. Miriam stöhnte, als wir an Eselkarren, BMWs, Kamelen, einem Tankwagen mit chinesischen Symbolen und an psychedelisch bunten Bussen vorbeikurvten, von deren Dächern die Leute hingen wie Glasperlen von einem Vorhang.

Zum Glück hatte ich ein paar Dosen Corned Beef zu den von Papa bestellten Reggae-LPs in meine eigene Tasche getan. Papa war nicht enttäuscht, denn er bekam ja, was er wollte. Miriam hatte er zwar erzählt, das Einzige, was er an Großbritannien wirklich vermisse, sei das Corned Beef, aber wahrscheinlich brauchte er keinen ganzen Koffer voll davon. Man konnte allerdings sehen, dass ihm das Zeug schmeckte, und wenn er an seiner Schreibmaschine saß, aß er es direkt aus der Dose und spülte es mit Wodka hinunter, den er von einem befreundeten Polizisten bekommen hatte. »Könnte schlimmer sein, die Ernährungslage«, sagte er gelegentlich. »Zur Abwechslung gibt es immerhin Ziegenhirn-Curry.«

Mutter hatte uns zu diesem Besuch gedrängt. Sie hatte die Nase voll davon, sich Sorgen um Miriam zu machen, wenn diese nicht zu Hause war, und mit ihr zu streiten, wenn sie aufkreuzte, um Stunk zu machen. Zeitweise war Mutter auch wütend auf Vater. Wir hatten ihr die Hölle heiß gemacht, und sie hatte keine Hilfe bei unserer Erziehung gehabt. Es würde uns allen guttun, wenn wir eine Weile bei ihm waren, sahen, wie er lebte, und erfuhren, wie er tickte und dachte. Sogar Miriam stimmte dem zu.

Sie hatte sich wie viele andere »Ethnos« schon lange vor unserem Besuch in Pakistan mit ihren Wurzeln beschäftigt. Sie war eine Pakistanerin und gehörte in Großbritannien zu einer Minderheit, aber es gab noch etwas anderes, zu dem sie eine tiefe spirituelle und mystische Verbindung hatte, fast im Sinne des Sufismus. Um sich auf die Reise vorzubereiten, hatte sie sich einer Truppe wirbelnder Derwische in Notting Hill angeschlossen. Als sie mir das Gewirbel in Heathrow vorführte, kam es mir recht zahm vor und erinnerte mich an eine Tanztee-Variante. Doch wir würden schon noch merken, wie spirituell Pakistan in Wahrheit war. In dieser Hinsicht hatten wir eine Waffe an der Schläfe.

Papas Diener machte uns schon bald Tee und Toast. Papa, nicht nur dünn, sondern so zerbrechlich wie eine Plastik von Giacometti - und dennoch würdevoll in seinem weißen Salwar Kameez und seinen Sandalen -, teilte uns mit, dass wir nicht bei ihm, sondern bei unserem Onkel Yasir wohnen würden, seinem älteren Bruder. Um ehrlich zu sein, war das eine Erleichterung.

»Was zum Teufel ist das hier? Ein besetztes Haus?«, fragte Miriam, als wir allein miteinander waren.

Wie sich herausstellte, lebte Vater, den all jene, die er in England zurückgelassen hatte, für einen Aristokraten hielten, in einem Loch von Wohnung mit Wänden, von denen der Putz platzte, bloßliegenden Kabeln und abgewrackten Möbeln, die so willkürlich in der Gegend herumstanden, als müsste erst noch ein Platz für sie gefunden werden. Durch die Fenster wurde Staub hereingeweht und lagerte sich auf den wirren, auf dem Fußboden raschelnden Zeitungsstapeln und auf den Packen weißen, unbenutzten Papiers ab, das sich in der Hitze zu wellen begann.

Am späten Vormittag sagte Papa, er müsse seine Kolumne schreiben, und ließ uns von seinem Diener zu Yasir fahren. Dieser besaß ein großes, einstöckiges Haus, das an eine Villa in Beverly Hills erinnerte, wie man sie aus dem Kino kannte. Es gab einen leeren Swimmingpool voller Laub, durch das Ratten und anderes Getier huschten.

Miriam war sauer, weil wir nicht bei Dad wohnten, aber ich genoss das Abenteuer. Als Vorstadtkind, das in mehr oder weniger mittellosen Verhältnissen aufgewachsen war, wusste ich einen gewissen Luxus zu schätzen. Und bei Yasir gab es Luxus.

Es war ein Haus der hirschkuhäugigen Schönheiten. Vier davon gab es bestimmt. Ich nannte sie das »Raj-Quartett«. Natürlich trauerte ich immer noch Ajita nach, und ich ging auch weiter davon aus, dass wir wieder zusammen wären, wenn sie nach London zurückkehrte. Ich hatte sie nie ganz abgeschrieben. Zu einem passenden Zeitpunkt würde ich ihr erzählen, was mit ihrem Vater passiert war. Sie wäre zwar schockiert, würde mir aber vergeben, weil sie einsehen musste, dass es notwendig gewesen war. Wir wären einander näher als je zuvor; wir würden heiraten und Kinder bekommen.

Zwischenzeitlich, dachte ich, könnte mich dieses Quartett dunkelhäutiger, langhaariger Frauen, die uns aus einer Tür anstarrten -Onkel Yasirs Töchter -, über den Schmerz hinwegtrösten.

Ich betrachtete die Mädchen und stand vor der Qual der Wahl - etwa so wie eine Katze, der man eine Kiste mit gefangenen Mäusen anbietet -, als es plötzlich einen Aufruhr gab. Allem Anschein nach war ein tollwütiger Hund auf dem Dach. Wir rannten hinaus, um zuzuschauen, wie er von Dienern mit langen Stangen gejagt wurde. Die Diener verpassten ihm ein paar saftige Schläge, und der Hund lag verletzt draußen auf der Straße und winselte erbärmlich. Als wir später wieder nach draußen gingen, war er tot. »Ihr mögen unser Land?«, fragte der Wächter des Hauses.

Wie Miriam erfuhr, musste sie nicht nur ein Zimmer mit zwei ihrer Cousinen teilen, sondern auch mit einer ganzen Schar Kinder und unserer Großmutter, allem Anschein nach eine Prinzessin. Diese alte Frau sprach kaum ein Wort Englisch und wusch ständig ihre Hände und Kleider. Den Rest ihrer Zeit verbrachte sie mit Beten und dem Studium des Korans.

Das Haus war groß, aber die Frauen blieben in ihrem Bereich und waren wie zusammengeschweißt. Also wurden Miriam und ich getrennt, und genau wie zu Hause beschäftigten wir uns jeden Tag auf unterschiedliche Art. Ich las gern in den Büchern, die ich mitgenommen hatte, und Miriam ging mit den Frauen auf den Markt und kochte

danach mit ihnen. Abends kam Dad mit seinen Freunden vorbei, oder ich fuhr mit ihm dorthin.

Wenn Papa seine Kolumne schrieb, womit er frühmorgens begann, saß ich in seiner Wohnung und lauschte den Helden von Ska und Blue Beat, während mich sein Diener rasierte. Papa arbeitete angeblich an einem Artikel über Familien mit dem Titel: »Auch der Schwiegersohn bekommt seine Chance«. Er plagte sich damit herum, denn nachdem er den Text ganz offen zu Papier gebracht hatte, musste er den Inhalt in eine Art poetischen Code übertragen, damit ihn die Leser, nicht aber die Behörden verstanden.

Dads wöchentliche Kolumne beschäftigte sich mit diversen Themen, die alle latent politisch waren. Warum waren die Hauptstraßen Karatschis nicht von mehr Blumen gesäumt? Denn je mehr Farbe es geben würde - und Farbe stand für Demokratie -, umso lebendiger wäre doch alles, oder? Sein Essay darüber, dass die Leute prägnantere Persönlichkeiten wären, wenn sie sich nicht so oft waschen würden also dreckiger wären und ehrlicher ihre Meinung sagten spielte auf den Wassermangel an. Ein Essay, in dem es vordergründig um die subtile Schönheit des Dunkels und die samtenen Vorhänge der Nacht ging, handelte in Wahrheit von den täglichen Stromausfällen. Er bat mich, seine Texte kritisch zu lesen, und ich schrieb sogar ein paar Absätze - meine ersten Veröffentlichungen.

Wenn er mittags mit der Arbeit fertig war, drehten wir die Runde in der Stadt, besuchten Dads Freunde - meist alte Männer, die die ganze Geschichte Pakistans miterlebt hatten - und landeten schließlich in seinem Club.

Abends gingen wir auf Partys, wo die Männer Krawatte und Sakko und die Frauen Schmuck und hübsche Sandalen trugen. Die Manieren waren gut, es wurde schwer getrunken, und in den Gesprächen betrieb man Selbstdarstellung und gab mit der Gunst an, die man genoss, mit seinem Status und dem materiellen Besitz: Autos, Häuser, Kleidung.

Anders als Miriam erwartet hatte, war Karatschi überhaupt nicht spirituell, sondern so materialistisch wie kaum ein anderer Ort, den wir kannten. Der Ansporn dazu war die Entbehrung. Ich hätte die Freunde meines Vaters also durchaus für vulgär und oberflächlich halten können, aber ich war es, dem man das Gefühl gab, klein und schäbig zu sein. Diese provinziellen Großbürger behandelten mich wie jemanden, der seine gute Chance in England verpatzt hatte, und machten sich milde über mich lustig, während mich mein Vater im Auge behielt, um zu sehen, wie ich mich schlug. Als welche Art Mann - halb von hier, halb von dort - hatte ich mich entpuppt? Hier war ich ein ebenso schräger Vogel wie damals in der Schule.

Trotzdem brachte er mir etwas bei, erzählte von Pakistan und redete die ganze Zeit über Teilung, Islam, Liberalismus und Kolonialismus. Ich mochte ein verzogener, englischer Junge mit trotzkistischen Bekannten und einer Vorliebe für The Jam sein, aber allmählich begriff ich, wie sehr Dad seine liberalen Freunde brauchte, die Reagan und Thatcher guthießen. Diese waren mir ein Greuel, doch in Pakistan, das immer stärker islamisiert wurde, standen sie für die Freiheit. Dads Freunde fühlten sich schon jetzt genauso fremd wie er in diesem jungen Staat, und er war der Meinung, dass mit wachsender Theokratie alles noch schlimmer werden würde. Wie Dad sagte: »Ein paar ehrliche Männer gibt es hier noch. Gut möglich, dass ich der einzige bin! Wen wundert es da, dass manche Leute eine Republik der Tugend errichten wollen.«

Viele Freunde meines Vaters wollten mir einreden, dass ich, als ein Vertreter der »aufstrebenden« nächsten Generation, alles tun müsse, um die Freiheit in Pakistan zu bewahren. »Wir gehen hier ein. Du musst uns helfen, bitte.« Nach dem Abzug der Briten war ein Vakuum entstanden, und nun ergriffen die Barbaren die Macht. Man schaue sich an, was im Iran passiert sei: Die »geistige« Politik der Revolution sei schließlich zu einer bösartigen, angeblich von Gott gewollten Diktatur mit permanenten Amputationen, Steinigungen und Hinrichtungen geworden. Wenn das dortige Volk einen so mächtigen Mann wie den Schah vom Thron hatte stoßen können, was würde dann in anderen muslimischen Staaten passieren?

Ich stellte fest, dass mein Vater ein beeindruckender Mann war, wortgewandt und amüsant, und dass man ihn für seine Artikel bewunderte. Er wäre fast im Gefängnis gelandet und war nur durch »Vitamin B« davor bewahrt worden. Er war immer widerspenstig gewesen, aber nie dumm. Ich las seine Texte, die schließlich in einem nur in Pakistan erhältlichen Buch zusammengefasst wurden. In einem so korrupten Staat stand er für Unabhängigkeit, Autorität und Integrität.

Da er so viel Lebenserfahrung zu besitzen schien, dauerte es nicht lange, bis ich ihm jene Frage stellte, vor der ich mich am meisten gefürchtet hatte. Warum war er nicht bei uns geblieben? Wieso war er hierhergekommen? Weshalb waren wir nie eine richtige Familie gewesen?

Er wich der Frage nicht aus, sondern ging sie so direkt an, als hätte er sie seit Jahren erwartet und wäre darauf vorbereitet. Abgesehen von den »Problemen«, die er mit Mutter hatte - das übliche Zeug zwischen Mann und Frau, zu dem ich nur ernst mit dem Kopf nicken konnte, als würde ich kapieren -, habe es eine Beleidigung gegeben, sagte er. Er habe Mum gemocht, ja, er achte sie immer noch, sagte er. Ich fand es komisch, dass er von ihr sprach wie von einer Verflossenen, die ihm nach all den Jahren nichts mehr bedeutete.

Ich erfuhr allerdings, dass er parallel zu Mum für kurze Zeit eine weitere Freundin gehabt hatte, deren Eltern ihn zum Dinner in ihr Haus in Surrey eingeladen hatten. Als sie beim Essen saßen, sagte die Mutter: »Oh, Sie können mit Messer und Gabel umgehen? Ich dachte, Leute wie sie würden die Finger benutzen.«

Das sagte sie zu einem Mann, der während der Kolonialzeit in einer reichen, liberalen indischen Familie aufgewachsen war. Vater war unter allen Geschwistern der Prinz gewesen, Erbe der besten Eigenschaften der Familie. »Ist er nicht ein großartiger Mann?«, fragte mich Yasir. »Dein Großvater hat mir eingeschärft, immer gut auf ihn achtzugeben.«

Dad hatte sein Studium in Kalifornien absolviert, wo er sich im Debattierreigen der Colleges bald einen Namen als Redner und raffinierter Frauenverführer erworben hatte. Er glaubte, das Talent und die Klasse für ein Ministeramt in der indischen Regierung, einen Botschafterposten in Paris oder New York, für eine Position als Zeitungsherausgeber oder zum Kanzler einer Universität zu besitzen. Dad erzählte mir, dass er die Ressentiments, wie man das damals nannte, nicht mehr ertragen habe. Er war »ausgestiegen« und in das Land heimgekehrt, das er nie gekannt hatte, um bei der Geburt des neuen Staates dabei zu sein und das Abenteuer zu erleben, ein »Pionier« zu sein.

Wenn wir durch Karatschi fuhren - er wirkte winzig hinter dem Lenkrad -, begann er zu weinen, dieser saubere Mann in weißem Salwar und Kameez, mit Sandalen und einer Fahne, an die ich mich bald gewöhnte, ja, die ich irgendwann sogar mochte. Er bedauere es, sagte er, dass wir nie als Familie zusammengelebt hätten und dass er seine Pflichten als Vater nicht habe erfüllen können. Mutter wolle nicht in Pakistan leben, und er halte es in England nicht aus.

Wenn er uns in Großbritannien gelassen habe, fügte er hinzu, dann sowohl um seinet- als auch um unseretwillen. Es liege ja auf der Hand, dass wir dort bessere Chancen hätten. Im Grunde genommen, sagte er, hätte seine Familie niemals von Indien nach Pakistan ziehen dürfen. Sein Herz gehöre Indien, seiner wahren Heimat. Dort seien er und Yasir und alle seine Brüder und Schwestern aufgewachsen, in Bombay und Delhi, und dort hätten wir zu ihnen stoßen können.

Inzwischen hatte er begriffen, dass er seine Ideale eher in Bombay als in Karatschi hätte verwirklichen können, egal wie verrückt jene Stadt auch sein mochte. In Pakistan hatte man alles vermurkst. Er gestand, dass man dies nach einer flüchtigen Lektüre der Geschichtsbücher hätte vorhersagen können. Jeder Staat mit einer religiösen Grundlage - dem Glauben an einen alleinigen Gott - war irgendwann zu einer Diktatur geworden. »Voltaire hätte das vorhergesehen, Junge. Du kannst ihn aufschlagen, wo du willst, und du wirst es lesen.«

Er fuhr fort: »Liberale wie ich sind hier die Ausnahme. Man nennt uns die >Generation Suff-und-Zoff<. Besoffen sind wir ziemlich oft, aber Zoff zu machen ist hier fast unmöglich. Wir laufen durch die Stadt, um einander zu suchen und zu reden. Alle jungen Leute, die etwas auf dem Kasten haben, wandern aus. Deine Cousins werden nie eine Heimat haben, sondern für immer durch die Welt irren. Und derweil werden die Mullahs die Macht ergreifen. Darum baue ich meine Bibliothek auf.«

Mehrmals in der Woche trafen Bücherpakete aus England und den USA in Papas Wohnung ein. Dad packte nicht alle aus, doch wenn er dies tat, stellte ich fest, dass er viele der Bücher bereits besaß, allerdings in älteren Ausgaben. Papa richtete mit Yasirs Geld eine Bibliothek im Haus eines wohlhabenden Anwalts ein. Auf das Land war eine solche Dunkelheit niedergegangen, dass der Bewahrung jeder Art von kritischer Kultur eine entscheidende Bedeutung zukam. Später wollten Studenten oder Frauen, wie er es formulierte, vielleicht Zugang zu der kleinen Bibliothek haben, in der die Bücher nach seinem Tod sicher verwahrt wären.

Dad bestand darauf, dass ich seine große Schwester kennenlernte, eine Dichterin und Universitätsdozentin. Bei unserer Ankunft lag sie im Bett, denn sie litt seit zehn Jahren an Arthritis. »Ich habe dich erwartet«, sagte sie und kniff mir in die Wange. »Du musst etwas sehen, auch wenn das nicht ganz einfach für mich ist.«

Wir halfen ihr aus dem Bett und begleiteten sie zur Universität, die sie mir unbedingt zeigen wollte, obwohl sie wegen >Unruhen< geschlossen war. Gemeinsam mit Dad und mir schlurfte sie, auf ihren Rollator gestützt, durch die Flure und offenen Räume, und wir betrachteten die Reihen der Holzbänke und die schmucklosen, verfallenden Wände.

Sie lehrte englische Literatur, Shakespeare, Austen, die Romantiker. Allerdings war die Universität kürzlich von radikalen Islamisten angegriffen worden, und danach war niemand zu den Vorlesungen und Seminaren zurückgekehrt. Die Literatur, die sie unterrichtete, galt als »haram«, verboten. Unterdessen richtete Präsident Zia sogenannte »Madrasses«, also »Bomben-Schulen«, ein. Dorthin schickten viele arme Familien ihre Kinder, weil diese nur dort Bildung und Essen bekamen.

Als ich fragte, was es für meine Tante bedeute, Menschen, die nie in England gewesen seien, an einem solchen Ort die englische Literatur nahezubringen, sagte sie: »Die Briten sind weg. Der Kolonialismus hat den radikalen Islam gebändigt, und die Briten haben uns immerhin ihre Literatur und ihre Sprache hinterlassen. Eine Sprache gehört niemandem ganz allein. Jeder darf sie benutzen, genau wie die Luft, die man atmet. Doch in politischer Hinsicht ist ein Loch zurückgeblieben, das nun von anderen mit Steinen gefüllt wird. Die Amerikaner - die CIA - fördern den Aufschwung des Islamismus, damit die Kommunisten im Mittleren Osten nicht Fuß fassen. Das ist etwas, was wir Englischdozenten als Ironie der Geschichte bezeichnen.« Sie fuhr fort:

»Doch die größten Sorgen mache ich mir um die Frauen, die jungen Frauen, die hier aufwachsen. Keine Ideologie auf der Welt ist frauenfeindlicher als diese. Diese Fanatiker werden alle Fortschritte rückgängig machen, die während der sechziger und siebziger Jahre erreicht worden sind.«

Sie wollte an die Universität zurückkehren, sobald es wieder möglich war, bezweifelte aber, dass dies noch zu ihren Lebzeiten geschehen würde. »Ein Student hat mir gesagt: >Wir werden zehntausend Leute opfern, um die Institutionen dieses Landes zu zerstören und eine Revolution anzuzetteln. Danach könnten wir Afghanistan angreifen und noch weiter vordringen ... Es wird nur noch Gläubige oder Tote geben. Der Westen kann vielleicht den Kommunismus besiegen, nicht aber den Islam - denn die Menschen glauben an den Islam<«.

Derweil war meine Tante zufrieden, in ihrem Zimmer zu bleiben und Gedichte zu schreiben. Sie hatte auf eigene Kosten fünf Gedichtbände veröffentlicht, zweisprachig, in Urdu und Englisch. Sie vergötterte Derek Walcott, der für sie eine Lichtgestalt war. »Sein Vater war bestimmt ein Angestellter der Kolonialverwaltung, wie so viele unserer Gebildeten.« Von ihm hatte sie gelernt, dass sie von ihrer Warte aus schreiben konnte - »kulturübergreifend«, wie sie es nannte -, und zwar sinnvoll. In ihrem Haus trafen sich andere lokale Dichter, die ihre Werke vortrugen und diskutierten. Sie wären weder die ersten noch die letzten Autoren, die im Untergrund arbeiten mussten.

»Wie ich die Vögel beneide«, sagte sie. »Sie können singen. Niemand verbietet ihnen den Schnabel oder wirft sie in das Gefängnis. Sie leben hier als Einzige in Freiheit.«

Sprache; Dichtung; Rede; Freiheit. Das Land war gebeutelt, aber manche der Menschen, zur Ernsthaftigkeit gezwungen, waren großartig. Dad wusste bestimmt, welche Wirkung dies auf mich haben würde.

Unsere Leben waren immer durch eine breite Kluft getrennt: Wenn Dad in England war, besuchte er weder unsere Schule noch unser Haus. So etwas wie alltägliche Zuneigung hatte es nie gegeben. Doch auf den Fahrten durch Karatschi fragte er mich, was ich denn nun in Wahrheit mache, als wollte er das Geheimnis erfahren, das ich den hartnäckigen Fragestellern auf den Dinnerpartys verschwiegen hatte.

Darauf konnte ich nur wenig antworten. Ich sagte, ich wolle eine Dissertation über Wittgensteins Spätwerk schreiben. Das erzählte ich jedem, der mich nach meinen beruflichen Zielen fragte, also auch Papa. Er konnte sich mit mir brüsten oder den Fragestellern wenigstens den Mund stopfen. Immerhin hatte ich meinen Abschluss in Philosophie mit »summa cum laude« gemacht - was immer das heißen mochte.

Dies diente allerdings nur dem Abwiegeln von Fragen, und das wusste Dad. Unter vier Augen bezeichnete er mich ab und zu als »Trottel«, und wenn er besonders stark betrunken war, fügte er noch Wörter wie »nutzlos« oder »faul« hinzu: »Fauler, nutzloser Trottel.« Ich versuchte, mich zu verteidigen. Ich wollte der Familie keine Schande bereiten. Ich wollte irgendwie intellektuell tätig sein und hatte sogar erwogen, einen M. A. zu machen. Die Philosophie war für mich nur die Grundlage intellektuellen Engagements, ein Werkzeug der Kritik und nichts, was sich um seiner selbst willen zu verfolgen lohnte. Wem fiel schon einen britischer Philosoph mit Rang und Namen ein? Später interessierte mich die Psychoanalyse weit mehr, denn sie war dem Menschlichen näher.

Papa fand all das zu schwammig, und er beschimpfte mich weiter als »Trottel«. Er sagte manchmal: »Was tun denn deine anderen Cousins? Sie studieren auf Arzt, Anwalt, Ingenieur. Sie werden auf dieser Welt arbeiten können. Wer zum Teufel braucht einen Doktor der Philosophie? Yasir war genau wie du, hat die Hände in den Schoß gelegt und in Pubs gesessen. Dann hat ihm unser Vater während eines Besuches in England in den Hintern getreten, und Yasir hat Fabriken und Hotels gegründet. Also: Du darfst dies als Tritt in den Hintern verstehen!«

Wie konnte ich das Vergnügen der Pflicht vorziehen? Was war ärgerlicher und beneidenswerter? Papa hatte mir einen Tritt in den Hintern gegeben. Wohin hatte er mich getreten? Ich fühlte mich wertlos und war froh, dass er nicht in London gelebt hatte, denn vermutlich hätte einer von uns den anderen umgebracht. Während ich über die ernstzunehmenden Seiten von Papas Schelte nachdachte und mich fragte, was ich mit mir anfangen sollte, irrte ich durch Yasirs Haus. Ich hatte bereits erfahren, wie schwierig es war, in diesem Land für sich allein zu sein. Der Preis für eine weitläufige, starke Familie bestand darin, dass man einander ständig prüfte und beobachtete; jedes Wort und jede Handlung wurden diskutiert, meist missbilligend.

Eines Tages entdeckte ich, dass auch mein Onkel eine Bibliothek besaß. Auf jeden Fall gab es ein Zimmer namens »Bibliothek« mit einer Bücherwand, einem langen Tisch und mehreren Stühlen. Der Raum roch moderig, war aber sauber. Wie die zur Straße gelegenen Wohnzimmer in den Vororten wurde auch er nie benutzt.

Ich nahm die Bücher in Augenschein, allesamt gebunden. Dichtung, Prosa, viel linke politische Literatur, das meiste davon bei Victor Gollancz erschienen. Einer meiner Onkel hatte die Bücher in London gekauft und nach Pakistan verschiffen lassen. Dieser Onkel, der in Yasirs Haus wohnte, inzwischen jedoch »den ganzen Tag auf Achse war«, hatte eine Schizophrenie entwickelt. Mit Anfang zwanzig war er ein brillanter Student gewesen, doch er hatte geistig immer weiter abgebaut.

Ich ließ mich am Tisch der Bibliothek nieder und schlug das erste Buch auf, dessen Seiten sogleich zerfielen und auf den Boden rieselten, als hätte ich eine Tüte Mehl verkehrt herum geöffnet. Ich versuchte es mit anderen Bänden, doch am Ende beschränkte sich meine Lektüre auf das Studium der örtlichen Würmer. Wie es der Zufall wollte, gab es ein Buch, dem die Würmer weniger zugetan waren. Es war eine Hogarth-Press-Ausgabe von Das Unbehagen in der Kultur, ein Buch, das ich noch nicht kannte. Gleich nach dem Beginn der Lektüre dachte ich, dass sein Inhalt für die Gesellschaft, in der ich mich gerade aufhielt, viel relevanter war als für die britische. Wie dem auch sei: Ich war von der ersten Seite an gebannt, auf der Freud über »die wahren Werte des Lebens« schreibt ...

Ja, was waren die wahren Werte des Lebens? Wer hätte das nicht gern gewusst? Am liebsten hätte ich die Seiten herausgerissen, um den Inhalt zu verinnerlichen. Natürlich trieb es mich in den Wahnsinn, dass ganze Sätze dem Hunger des lokalen Getiers zum Opfer gefallen waren, und einer der Gründe, weshalb ich unbedingt nach London zurückwollte, war der, dass ich dieses Buch ganz lesen wollte. Am Ende konnte ich meine Leselust nur dadurch befriedigen - falls ich meinen Vater nicht um Bücher bitten wollte, und das wollte ich nicht -, dass ich immer wieder die gleichen Seiten las.

Mein schizophrener Onkel war oft meine einzige Gesellschaft. Er saß am Kopfende des Tisches und brabbelte vor sich hin, oft amüsant und in einem Redefluss á la Joyce. Die Bedeutung dessen, was er erzählte, blieb zwar rätselhaft, aber ich mochte ihn gern und wollte ihn näher kennenlernen. Aber ich kam nicht an ihn heran; ich war schon so dicht an ihm dran, wie es überhaupt möglich war.

Als ich mich in meiner täglichen Routine einrichtete und die mittelalterlichen Pergamentseiten alter Bücher umblätterte, bemerkte ich eine Bewegung vor der Tür. Ich sagte nichts, konnte aber Najma erkennen, meine jüngste Cousine, die mich beobachtete. Sie wartete lächelnd, bis ich fertig war, und verbarg jedes Mal ihr Gesicht, wenn ich ihr einen Blick zuwarf. Ich hatte als Kind mit ihr in London gespielt. Wir hatten uns mindestens einmal im Jahr gesehen und spürten, dass uns etwas verband.

»Bring mich ins Hotel, bitte«, sagte sie. »Heute Abend.«

Ich war verrückt vor Erregung. Der Trottel bekam eben auch seine Chance.

Die heterosexuelle Episode, die sich hier anzubahnen schien, erstaunte mich, obwohl mir bewusst war, dass muslimische Gesellschaften vor Sinnlichkeit knisterten: Die Frauen etwa, die gemeinsam in einem Zimmer schliefen, liebkosten einander ständig und streichelten sich gegenseitig das Haar, die Jungen hielten stets Händchen, tanzten und kicherten in irgendeinem Schlafzimmer und spielten auf homoerotische Art miteinander. Oft war die Rede von der Lüsternheit der alten Männer, besonders der Koranlehrer, und davon, dass man in ihrer Gegenwart gut auf seinen Arsch aufpassen müsse. Natürlich waren viele meiner Lieblingsschriftsteller in muslimische Länder gereist, um dort Sex zu haben. Ich erinnerte mich an Flauberts Briefe aus Ägypten. »Diese rasierten Mösen boten einen eigentümlichen Anblick - das Fleisch so hart wie Bronze, und mein Mädchen hatte einen großartigen Hintern.« »In Esna gab es einen Tag, an dem ich fünfmal abspritzte und dreimal blies.« Und was die Jungen betraf: »Wir hielten es für unsere Pflicht, uns in dieser Art der Ejakulation zu ergehen.«

Ich wurde jungen Männern meines Alters vorgestellt und ging ein paar Mal mit ihnen aus, stand in buntgeschmückten Kebabund Hamburgerläden herum und unterhielt mich über Mädchen. Doch anders als diese Jungen machte ich mir nach der Sache mit Ajita keine großen Hoffnungen mehr. Ich fand sie zu jung, fühlte mich fremd und wusste nicht, wohin ich nun gehörte, wenn überhaupt irgendwohin. Ich musste mir einen eigenen Ort schaffen. Oder jemanden finden, mit dem ich reden konnte.

Najma brauchte drei Stunden, um sich schön zu machen. So lange hatte ich noch nie auf ein Mädchen gewartet, und ich hoffe inständig, nie mehr so lange warten zu müssen. Leider erinnerte mich auch dies an Ajita, die immer zu spät zu den Vorlesungen erschien und dies mit der grandiosen Ausrede begründete, sie wolle nicht, dass der Dozent sie mit wirren Haaren sehe.

Najma erschien in flammenden Farben. Sie trug einen glitzernden Salwar Kameez mit Goldstickereien, silberne Armreife an den Handgelenken, und ihre Handrücken waren mit braunen Schriftzeichen verziert. Ihr Haar kam mir vor wie ein hin und her schwingender schwarzer Teppich, und das Make-up, das sie aufgelegt hatte, kannte ich in dieser Fülle nur von einem Junkie-Transvestiten, einem Freund Miriams. Eigentlich hatte Najma so viel Schminke gar nicht nötig, denn sie war jung, und ihre Haut glich der Oberfläche einer Tasse guten Kaffees.

Ich ging davon aus, dass wir zum Ficken ins Hotel fuhren. Ich glaubte, Najma hätte nichts Besseres zu tun. Mir war nicht klar, dass die Hotels die schicksten Orte in Karatschi waren und von angehenden Brautpaaren aufgesucht wurden. Die radikalen Muslime drohten immer damit, diese Hotels in die Luft zu jagen - was sie gelegentlich auch taten -, aber da es in der Stadt keine Bars und nur wenige Restaurants gab, konnte man, von den Privathäusern abgesehen, nirgendwo anders hin.

Als ich dort in meinem abgerissenen schwarzen Anzug saß - ich konnte mich durch ein Loch in der Arschritze kratzen - und nichts stärkeres als einen salzigen Lassi trank, dachte ich vor allem mit Sorge an die Höhe der Rechnung und fühlte mich genauso fehl am Platz wie auf der Straße. Doch auf der Heimfahrt im Auto fragte sie mich, ob sie mir einen blasen solle. Ich hielt das für eine hervorragende Idee, zumal ich bezweifelte, mich durch all ihre Kleiderschichten wühlen zu können.

Sie hielt irgendwo an. Als ich mit den Fingern durch Najmas schwarzes Haar fuhr, dachte ich, dass es auch Ajita hätte sein können - im Nachbarland -, die mich befriedigte. Schließlich sagte sie zu mir: »Ich liebe dich, mein Gatte.«

Gatte? Das hielt ich für eine poetische, der Leidenschaft zu verdankende Übertreibung. Najma und ich verbrachten viel Zeit miteinander, und nachdem wir zum ersten Mal Sex gehabt hatten, sagte sie mir klipp und klar, dass sie mich liebe. Das gefiel mir an ihr, denn ich verliebte mich auch immer zu schnell. Man erblickt ein Gesicht, und sofort kommen die Phantasien in Gang, als hätte man gegen die magische Laterne getippt.

Sie schmähte den Westen gern für dessen »Korruption« und »Liederlichkeit«; es sei ein schmutziger Ort, aber sie könne es nicht erwarten, dorthin zu kommen, um der Sackgasse zu entfliehen, die Pakistan darstelle - die wachsende Gewalt, die Macht der Mullahs, die Politiker ohne Rückgrat. Ich sollte ihre Fahrkarte sein.

Ich las, und Najma lag da, den Kopf in meinem Schoß, und erzählte. Andere Frauen, die das Haus besuchten, ließen sich zu Ärztinnen und Flugzeugpilotinnen ausbilden, doch die an Gestalten von Tschechow erinnernden Frauen meiner Familie wollten einfach nur weg, entweder nach Amerika oder nach Großbritannien - auch »Inglestan« genannt -, nur, dass sie dazu einen einigermaßen ehrgeizigen Ehemann brauchten. Jene, die zurückblieben oder darauf warteten, abhauen zu können, sahen sich Bollywood-Videos an, besuchten Tanten und Freundinnen, schwatzten und gingen einen Kebab essen, waren davon abgesehen jedoch zur Untätigkeit verdammt, obwohl sie sich weiter lustvollen und ausufernden Phantasien hingaben.

Ich wollte nicht, dass sie aufhörte, mir einen zu blasen. Denn das mochte ich sehr. Außerdem war sie eine große Liebhaberin der Marktwirtschaft. »Nein, kein Mercedes, Darling«, sagte ich, wenn sie wieder einmal davon träumte, in einem Auto jener Marke mit mir durch London zu brausen. »Lieber einen Jaguar.« Einen Jaguar und einen Rolls sei ich schon gefahren, sogar einen Bentley, diesen aber nur eine Woche, dann hätte ich ihn reklamiert. Mit Mercedes hätte ich jede Menge Ärger gehabt, behauptete ich, diese Kisten würden ständig schlappmachen, und immer würde jemand den Stern abbrechen, Himmel nochmal.

Dann behauptete ich, New York würde sie bestimmt nicht zufriedenstellen. Wir müssten schon nach Los Angeles und Hollywood, wo die Swimmingpools erste Sahne seien, und vielleicht könnte sie Filmschauspielerin werden, das richtige Aussehen habe sie ja schon.

»Nächste Woche?«, fragte sie.

»Vielleicht«, antwortete ich und beeilte mich hinzuzufügen, dass ich gerade etwas knapp bei Kasse sei. Ich hätte gut Geld gehabt, und wenn ich erst wieder arbeiten würde, wäre meine Brieftasche in null Komma nichts prall gefüllt. Für jemanden mit meiner Gehirnkapazität sei es doch wohl ein Kinderspiel, ein Vermögen zu machen.

Zur Erklärung muss ich hinzufügen, dass ich Najma anfangs nicht mit diesen Spinnereien veralbern wollte. Sie war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich längst reich war und, genau wie ihre Cousins, in naher Zukunft noch reicher werden würde. Sie war oft in England gewesen, hatte aber keine Vorstellung, wie es dort wirklich aussah. Allem Anschein nach glaubten die meisten Leute, dass Miriam und ich stinkreich waren. Die Alternative konnte nämlich nur darin bestehen, dass wir dumm oder geistesschwach waren. Einmal erwischte ich einen jungen Diener von Yasir in meinen Schuhen und meiner Anzughose, die ihm viel zu klein war. Als ich ihn deswegen ermahnte, grinste er nur.

»Aber Sie sind reich«, erwiderte er in nicht ganz astreinem Englisch.

»Zieh die Sachen aus«, sagte ich, »oder ich erzähle es Yasir.« Er reagierte, als hätte ich ihn geschlagen. »Bitte, ich flehe Sie an, nein, nein«, rief er. »Er feuert mich.«

Und er verschwand in meinen Kleidern. Was sollte ich tun? Sein Lohn tendierte gegen null. Miriam, immer großzügig und findig, ersann eine Möglichkeit, die ihn unterstützte und uns zugleich nützte. Sie überredete ihn, uns Joints zu bringen, die wir dann auf dem Dach rauchten. Bald darauf erfuhr ich von Najma, dass Papa uns »Les enfants terribles« nannte. Seine eigenen Kinder!

Andererseits versuchten wir natürlich auch, hinter seine Fassade zu schauen und mehr über ihn zu erfahren. Ich wusste wenig über sein Liebesleben, falls er überhaupt eines hatte. Ich hielt das für eher unwahrscheinlich, denn er hatte ja seine Routine, seine Sorgen und seine Bücher.

Immerhin gab es seine zweite Frau, die eine Frauenzeitschrift herausgab. Miriam und ich besuchten sie in ihrem Büro. Sie war sehr abgeklärt, höflich, neugierig und intelligent. Sie war klein, hatte feine Gesichtszüge und sprach ein Oberschicht-Englisch mit jener schwungvollen, indischen Sprachmelodie, die ich seit meiner Begegnung mit Ajita so gern mochte. Ich merkte, dass Miriam auf sie abfuhr. Doch sie ließ sich nicht emotional auf uns ein. Sie sprach weder von Papa noch von unserem Leben ohne ihn. Miriam rief noch ein paar Mal bei ihr an, bekam jedoch immer nur zu hören, dass sie nicht da sei.

Danach ging die Sache den Bach hinunter. Einmal wartete Najma wie immer draußen vor der Tür, während ich in der Bibliothek saß. Ich ging zu ihr, sah mich nach ungebetenen Zuschauern um, küsste ihre glänzenden Lippen und begann, sie zu berühren, doch sie war abweisend und stieß mich fort. Anschließend schwieg sie eine Weile, um mir klarzumachen, dass sie tief verletzt sei, und begann mich dann auf Urdu zu verfluchen. Schließlich kam ihr Vater dazu, rasend vor Zorn. Sie debattierten lange auf Urdu. Ich ergriff die Flucht. Alles begann zusammenzubrechen.

Wie sich herausstellte, war Najma zu Miriam gegangen und hatte ihr alles erzählt: Wir liebten einander, wollten heiraten und in einem Mercedes - oder war es ein Jaguar? - nach London, New York oder Hollywood fahren.

Miriam steckte ihr, dass sie das vergessen könne. Jamal werde niemanden heiraten. Er sei nicht einmal mehr ein Student. Er habe zwar seinen Abschluss, natürlich, aber den habe in London jeder Idiot und Halbirre. Den Jaguar solle sie besser abhaken, denn vielleicht könne ich fahren, habe aber noch keinen Führerschein, und in England würde man mich gar nicht auf die Straße lassen. »Wenn er wirklich heiraten will«, beschloss sie ihre Worte, »dann hat er mir nichts davon erzählt, und er erzählt mir alles, weil er sonst nämlich eins auf den Deckel bekommt.«

Ich hätte Miriam am liebsten den Kopf abgerissen. Warum hatte sie das getan? Weil sie das Mädchen möge, erwiderte sie, und nicht wolle, dass sie auf meine Lügen und dummen Geschichten hereinfalle.

Und sie? Was tat sie selbst?

Man setzte voraus, dass ich Papa tagsüber begleitete - und ich lernte viel dabei -, und man setzte ebenso voraus, dass Miriam mit den anderen Frauen im Haus blieb. Dort sollten sie über »Frauensachen« reden. Doch Miriam hatte offenbar die Nase voll davon, ihre Zeit mit den Frauen zu verbringen. Stattdessen fuhr sie in Onkel Yasirs Auto durch die Gegend, oft genug ohne Kopftuch. Auf die Frage, wo sie gewesen sei, antwortete sie: »Sehenswürdigkeiten anschauen.« Mir schwante schon, worin diese Sehenswürdigkeit bestanden, als sie mir erzählte, dass sie in Karatschi am liebsten zum Strand fahre, wo sie sich unter eine Palme bette, eine Kokosnuss spalte und diese mit einer halben Flasche Gin fülle. Meist betrachtete sie Sehenswürdigkeiten, wenn sie in den Armen des Verlobten einer unserer Cousinen lag. Er war Pilot und Besitzer einer Strandhütte. Seine Heirat mit unserer Cousine sollte später im Jahr stattfinden, aber die Gelegenheit, sich mit einer ihrer Verwandten näher vertraut zu machen, ließ er nicht ungenutzt verstreichen. Er hatte sich mit Miriam auch in einem Zimmer jenes Hotels getroffen, das ich mit Najma besucht hatte, denn er kannte den Manager.

Doch die beiden waren gesehen worden. Wenn in Karatschi irgendetwas rasch die Runde machte, dann Gerüchte. Der Pilot war davon ausgegangen, dass englische Mädchen willig seien, und seine Begegnung mit Miriam bestätigte diese Theorie voll und ganz. Ich hatte mich schon gefragt, von wem sie so viele Details über das Land erfahren hatte. Unsere Cousine rastete natürlich aus und drohte, Miriam zu erdolchen. Miriam war in der Unterzahl, und ich weigerte mich, ihr beizustehen.

Miriam hatte geglaubt, wir könnten eine Weile in Pakistan leben, einen Job bekommen, ein bisschen Geld sparen, auf dem Strand abhängen, mit Hasch dealen und so weiter. Aber schon nach einem Monat zeigte sich, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Wir waren zu fremd und passten einfach nicht in diese Gesellschaft. Hier gab es zwar amerikanische und britische Ehefrauen, doch sie hatten sich assimiliert, trugen die entsprechenden Kleider, sprachen den Akzent und versuchten, die Sprache zu lernen, um mit den Bediensteten reden zu können.

Wenn Miriam draußen ohne Kopftuch unterwegs war, zischte und pöbelte man sie an; ja, man kniff sie sogar. Sie schnappte sich Obst von den Ständen und bewarf die Leute damit. Ich hatte große Angst, dass sie in eine Schlägerei oder etwas noch Schlimmeres geraten könnte. Ich passte mich an, doch Miriam, eine moderne Frau der extremsten Art, zeigte allen, was eine Harke war. Unsere Großmutter, die Prinzessin, hatte sie bereits aufgesucht, ihr eine Hand auf den Kopf gelegt und gesagt: »Ich werde nun ein kurzes Gebet sprechen, das den Teufel und die bösen Geister austreiben wird, von denen du besessen bist. Weiche von ihr, Satan! Schenke uns den Sieg über die Ungläubigen!« Am folgenden Morgen ließ sie zwei Schafe schlachten. Das Fleisch wurde an die Armen verteilt, die man im Gegenzug bat, für Miriams rasche Genesung zu beten.

Die Sache eskalierte eines Vormittags in Papas Wohnung, als ich im Wohnzimmer Lärm hörte. Es wurde geschrien. Dann schien ein großer Gegenstand auf den Fußboden zu krachen. Ich vermutete, dass es sich bei diesem großen Gegenstand um Papa handelte. Als ich ins Zimmer rannte, den Diener auf den Fersen, saß Miriam rittlings auf Papa, genau wie früher auf mir, und brüllte ihn an. Er versuchte sowohl, sein Gesicht zu schützen, als auch sie zu schlagen. Doch Miriam war kräftig und nicht so leicht abzuschütteln, und außerdem wollte sie ihm etwas sagen.

»Er hat mich missbraucht!«, sagte sie, als wir sie ergriffen und ihr die Arme auf den Rücken zu drehen versuchten. Papa klopfte sich den Staub ab. Dann merkte ich, dass Miriam ihn angespuckt hatte, denn er hatte Speichel im Gesicht. Er wischte ihn mit dem Taschentuch ab.

»Er sagt, ich würde den Weißen den Arsch küssen! Er nennt mich ein >verludertes Mädchen< und eine >dreckige Schlampe<, die sich nicht benehmen kann! Obwohl er uns in London im Stich gelassen hat! Er hat sich aus dem Staub gemacht! Was könnte schlimmer sein!«

»Raus«, rief Papa mit schwacher Stimme. Er ging in ein Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich.

Wir sollten ihn zum letzten Mal gesehen haben.

Offenbar hatte Dad mit Yasir geredet. Sobald wir in dessen Haus zurückgekehrt waren, teilte man uns mit, dass wir in Kürze abreisen würden, gegen ein Uhr früh. Man ließ uns keine Wahl. Die Diener packten schon unsere Sachen. Niemand verabschiedete sich von uns oder winkte; wir durften den Mädchen nicht auf Wiedersehen sagen.

Amüsant war, dass wir auf dem Flughafen Miriams Geliebten erblickten, den Piloten, als dieser durch die Crew Lane ging. Später, wir hatten längst abgehoben, holte er sie ins Cockpit. Offenbar steuerte sie das Flugzeug. Eine vollbesetzte Boeing 747 mit Miriam am Steuerknüppel, auf dem Knie des Piloten sitzend und ohne jeden Zweifel mit einer Hand in seinem Hosenstall.

Mutter hatte gewollt, dass wir Vater »in seinem eigenen Umfeld« kennenlernten. Sie hatte geglaubt, das wäre lehrreich für uns. Und das war es. Eine Idealisierung war nun nicht mehr möglich. In vieler Hinsicht war er schlimmer dran als wir. Er konnte weder uns retten, noch konnten wir ihn retten. Er konnte auch nicht der Vater sein, den wir uns gewünscht hatten. Wenn ich einen Vater haben wollte, musste ich mir einen besseren suchen.

Wieder zurück in London, sprachen Miriam und ich kein Wort mehr miteinander. Ich hasste sie und wollte sie nie mehr sehen. Ich hatte keine Lust mehr, den kleinen Bruder zu spielen. Meist bin ich ziemlich passiv, oft sogar ausweichend; ich laufe mit, weil ich abwarten will, was passiert, und die Sache nicht noch weiter verschlimmern möchte, indem ich meinen eigenen Senf dazugebe. Doch beim Verlassen von Papas Wohnung sagte ich Miriam ganz offen, dass sie die Reise meiner Meinung nach komplett versaut habe.

»Kein Wunder, dass Papa dich für eine Idiotin und Nutte hält«, erklärte ich. »Du hast dich ja keine fünf Minuten unter Kontrolle! Diese Leute haben ihre eigene Lebensweise, und du hast einfach darauf geschissen! Auf dieser Welt gibt es ganz bestimmt kaum jemanden, der noch selbstsüchtiger wäre als du!«

Sie war so mürrisch und baff - traumatisiert, wie ich vermute -, dass sie mir nicht einmal eine langen konnte. Mir kam der Gedanke, dass sie sich entweder selbst etwas antun oder wieder zum Heroin greifen würde.

Wir fuhren mit der U-Bahn nach London. Die kleinen Häuser und adretten Gärten dort draußen in der Kälte wirkten ruhig, ordentlich, hübsch. Wir sagten nichts, hassten alles und hatten beide Wut in den Augen. Dies war unser Land, und hier mussten wir leben. Wir hatten nur die Wahl, unser Leben fortzusetzen - oder nicht. In der Victoria Station trennten wir uns ohne ein Wort. Ich kehrte nach Hause zu Mum zurück, und Miriam wollte zu jemandem, der in North Kensington in einer Sozialwohnung lebte.

Ich wusste, dass ich einen Job brauchte, egal, was mir noch bevorstand. Zum Glück hatte ich an der Universität einen Freund, der in der British Library arbeitete, und er meinte, er könne mir dort etwas besorgen.

Wenn ich jemanden nie mehr wiederzusehen glaubte, dann Najma. Aber zwei Jahre später tauchte sie in England auf und erkundigte sich telefonisch bei meiner Mutter nach mir. Einen Moment lang glaubte ich in meiner Verwirrung und wegen der unklaren Ausdrucksweise meiner Mutter - »eine Inderin hat angerufen« -, es wäre Ajita gewesen, und ich begann vor Erleichterung zu weinen; sie hatte mich nicht vergessen; sie kehrte zurück.

Najma hatte einen Pakistaner geheiratet, der nach England gekommen war, um Ingenieurswesen zu studieren, und das Paar lebte mit Zwillingen in Watford. Dort besuchte ich sie einige Male. Ein Kind litt an Fieber, das andere war offenbar geistig zurückgeblieben. Das Paar war rassistisch beschimpft worden, kannte niemanden, und der Mann war den ganzen Tag außer Haus. Najma kochte für mich. Sie wusste, wie sehr ich ihr Essen mochte, und wenn wir keusch beisammen saßen, zählte sie alles auf, was sie »an ihrer Heimat« vermisste. In der Fremde gestrandet, verfluchte sie den Westen zwar nach wie vor für seine Unmoral, warf ihm aber zugleich vor, ihrer Familie nicht rasch genug den Wohlstand zu verschaffen, von dem sie immer geträumt hatte. Ich lud ihren Mann auf einen Drink ein und musste mir seine Klagen über die sündhaft teuren britischen Prostituierten anhören.

Ich konnte nur erwidern, dass sich England als wesentlich kostspieliger erweisen könnte, als er geglaubt habe.

SIEBZEHN

Henry hatte Ärger am Hacken, und dieser Ärger schlug Wellen und drohte, uns alle zu überschwappen.

Ich hatte eine Nachricht von seiner Tochter Lisa auf meinem Anrufbeantworter. Schon bald waren es zwei Nachrichten. Sie wolle sich zwar nicht mit mir treffen - aber sie müsse sich mit mir treffen. Da sie genauso dickköpfig wie der Rest ihrer Familie war, erwartete sie, ihren Willen zu bekommen. Ich hatte eigentlich genug mit meinen Patienten und mit Rafi zu tun, lud sie aber aus naiver Neugier zum Tee ein. Ich hatte gern Henrys Berichten über ihre Abenteuer gelauscht, und im Laufe der Jahre war ich ihr immer wieder durch Zufall begegnet, meist, wenn sie mit ihrem Bruder auf Achse gewesen war. Als Kind war sie stets von Künstlern und Politikern umgeben gewesen, hatte 1986 vor dem Gebäude der Sunday Times in Wapping Streikposten gespielt und ihre Wochenenden stets auf dem Greenham Common verbracht. Sie hatte eine teure Schulausbildung erhalten, bevor sie dann an der Universität von Sussex Soziologie studierte.

Doch was konnte sie bei einer solchen Herkunft anderes tun, als ihr Studium kurz vor dem Examen abzubrechen und auf einem Baum zu leben, der einer geplanten Autobahnstrecke weichen sollte? Henry konnte wenig dagegen sagen, denn hatte er sie nicht mitgenommen, als er damals mit E. P.Thompson und Bruce Kent gegen Atomwaffen demonstriert hatte? Als Lisa von dem Baum herunterkam, ging Henry trotzdem davon aus, dass sie wieder ein »normales« Leben führen würde. Er oder Valerie würden einen ihrer Freunde anrufen, und Lisas Karriere würde beginnen.

Doch sie wurde Sozialarbeiterin auf der untersten sozialen Stufe, besuchte auf ihrem Fahrrad verrückte alte Säufer und Säuferinnen und weigerte sich, die Menschen »einzustufen«, weil dies eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie bedeutet hätte. Sie zog von zu Hause in eine Sozialbausiedlung für drogenabhängige, alleinerziehende Mütter. Ihre Wohnung, mit weitem Blick auf den Richmond Park, befand sich im obersten Stock, und sie nahm massenweise Palästinenser und Flüchtlinge bei sich auf. Bei anderen Gelegenheiten bewarf sie Filialen von McDonald's mit Farbe oder durchforstete Läden nach Pornographie und stopfte ganze Beutel mit dem Zeug voll. »Ich kann nur hoffen, dass es den Arbeitslosen zugute kommt«, murmelte Henry.

Solche Taten galten sogar unter jungen Bohémiens, für die unkonventionelles Verhalten Pflicht war, als abgedreht, und Henry sah in seiner Tochter eine gelungene Fortentwicklung seiner eigenen Person. Trotzdem machte er sich Sorgen und sagte: »Lisa ist nach wie vor einer jener Charaktere, die am liebsten als menschliches Schutzschild fungieren würden. Wie kommt sie nur dazu, sich alle Sünden dieser Welt aufzuladen? Warum diese Schuldgefühle und dieser Masochismus? Solange sie ihre Wut gegen sich selbst richtet, braucht wohl niemand Angst zu haben. Aber wenn sie sie auf andere loslässt, muss man höllisch aufpassen!«

Sie kam direkt aus ihrem Schrebergarten auf einem Fahrrad bei mir an. Ihr dickes Haar fiel bis über die Schulterblätter, war dramatisch wirr und natürlich ungekämmt, was mir auf eine verdrängte Weiblichkeit hinzudeuten schien. Nicht, dass ich sie für lesbisch gehalten hätte, obwohl sie sich darin wie viele andere vergeblich versucht hatte.

Sie trug drei Rucksäcke auf einmal und sah aus wie eine aufrecht gehende Schnecke. Ihre Fingernägel waren dreckig, ihre Stiefel verschlammt und ihre Naturtextilien in Auflösung begriffen. Sie hatte weder Make-up noch Schmuck; die Adern in ihrem Gesicht waren geplatzt, weil sie sich gern rauem Wetter aussetzte, und sie sah so müde aus, als würde sie seit Wochen ihren Garten umgraben.

Vor nicht allzu langer Zeit, im Februar 2003, war sie gemeinsam mit Henry, mir und zwei Millionen anderen Menschen auf einer Anti-Kriegs-Demo durch den Hyde Park marschiert. Nun, zwei Jahre später, befanden wir uns mitten in einem heuchlerischen, endlosen Konflikt, der niemandem bessere Laune bescherte, auch ihr nicht. Als ich ihr einen Brennnesseltee kochte, stimmten wir überein, dass unser Land von einem Neurotiker regiert werde, der an einen evangelikalen, imperialistischen Wahnsinnigen gekettet sei. Höchstwahrscheinlich war Lisa die letzte Marxistin im ganzen Westen, doch ich mochte ihre Leidenschaft. Leider war das der einzige Punkt, in dem wir zu einer Übereinkunft gelangen sollten.

Sie sagte: »Gestern habe ich Henry besucht. Es war gegen Mittag. Sam war völlig durch den Wind, weil er ausziehen musste. Du weißt ja, warum.«

Ich beugte mich vor. »Ich habe davon gehört, ja.«

»Und Henry hat sich kindischerweise geweigert, Sam seine Sachen zurückzugeben. Die Kleider sind nicht so wichtig, aber den Computer braucht er für die Arbeit. Ich habe ihm gesagt, ich werde das Ding holen, koste es, was es wolle. Ich musste Henry unbedingt sprechen.«

Einer der anderen Mieter, von einer Frau wie Lisa in Angst und Schrecken versetzt, hatte ihr die Haustür geöffnet. Wie die Pantoffel-Frau festgestellt hatte, schloss Henry seine Wohnung nie ab. Um ihn zu finden, musste Lisa nur dem Gestank folgen.

»Er lag mehr oder weniger im Koma. Das ganze Waschbecken war vollgekotzt, er hätte sterben können. Auf dem Fußboden habe ich Fetischklamotten und andere Dinge gefunden. Sogar eine Ledermaske. Ich habe ihn gefragt, was das soll.«

»Und?«

»Er hat gesagt: >Früher hat man solche Masken bei den feierlichen Tänzen wichtiger sozialer Rituale getragene« Ich musste mich auf die Fingerknöchel beißen, um nicht laut aufzulachen. Lisa fuhr fort: »Ja, klar, noch so einer seiner Witze. Er war in einem Club gewesen. Als ich wissen wollte, was er genommen hatte, sagte er >E< und Viagra - beides auf einmal!«

Henry war zu fertig, um auf die Beine zu kommen. Laut seinen Worten wollte Bushy später Miriam vorbeibringen, die ihm helfen würde.

»Bei seinem Gestöhne dachte ich, dass man die Titanic leichter heben könnte als ihn«, sagte Lisa und sah mich vorwurfsvoll an. »Dann habe ich mich neben das Wrack meines Vaters gesetzt.«

»Wie abgewrackt war er denn?«

Offenbar hatte Valerie berichtet, Karen habe ihr im Nacken gesessen und gedroht, dass sie den Dokumentarfilm über die Schauspieler kippen werde, wenn Henry ihn nicht fertig stelle. Und nicht nur das: Da sie, Karen, bereits in finanziellen Schwierigkeiten stecke, müsse Valerie für mögliche Verluste aufkommen. Lisa hatte von ihrer Mutter erfahren, dass Henry, der nur noch Unterricht gab, auch andere Aufträge abgelehnt hatte, weil er »im Ruhestand« sei und angeblich »nichts mehr zu sagen« habe.

»Ich habe ihn gefragt, ob ich einen Arzt rufen soll«, sagte Lisa.

»Ging es ihm denn richtig schlecht?«

»Wenn er imstande war, etwas zu sagen, klang er fröhlich. Vielleicht lag es ja an den Drogen. Da ich meinen Körper nie mit diesem Scheiß verpestet habe, kann ich das nicht beurteilen. Hast du etwa Drogen genommen?« Dazu schwieg ich. »Aber«, fuhr sie fort, »du weißt ja, dass er einen Herzinfarkt gehabt hat. Er wäre fast gestorben. Wie kann es deine Schwester nur zulassen, dass er Amphetamine nimmt? Will sie ihn umbringen?«

»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte ich. »Henry hat einen Dickschädel, oder? Er stellt seine eigenen Regeln auf. Das mögen wir so an ihm.«

»Ich glaube, ich bin deiner Schwester bei irgendeinem Fest begegnet. Ich habe nichts gegen sie. Aber eine Frage muss ich dir stellen. Was treiben die beiden zusammen?«

»Nun, ja - Miriam ist eine alleinerziehende, muslimische Mutter mit einer langen Missbrauchsgeschichte. Tabus sind ihr weitgehend fremd, und sie erkennt immer gleich den Kern der Sache. Dein Dad - ein ungebundener Single - liebt genau das an ihr.«

Lisa saß auf der Kante meiner Analysecouch und wartete auf das Ende meiner banalen Ausführungen, um mit der Anklage fortfahren zu können, die sie einstudiert hatte.

»Wir wissen besser als jeder andere, was gut für Henry ist. Deine Familie hat sich doch um nichts gekümmert.« An diesem Punkt schien sie zu zögern, aber ich wusste, dass sie gerade erst mit ihrer Tirade begonnen hatte. »Was gehen dich unsere Probleme überhaupt an? Schließlich denkst du die meiste Zeit über die furchtbaren Qualen von Filmstars und Berühmtheiten nach. In der Zeitung hat man dich doch den Therapeuten der Stars genannt, oder?«

»Du weißt, dass das Unsinn ist. Aber ich muss gestehen, dass ich immer wieder gezielt mit Menschen gearbeitet habe, die mich interessieren. Gerade heute Vormittag habe ich mich gefragt, ob Kate Moss mich vielleicht aufsuchen möchte. Wie sollte man mich nicht darum beneiden? Im Übrigen kenne ich diesen Zeitungsartikel gar nicht. Hast du ihn gelesen?«

»Natürlich nicht.«

Im Laufe der Jahre hatten mich mehrere Athleten aufgesucht. Nachdem sie viel Mühe aufgewendet hatten, um ihre Körper zu begreifen, waren sie davon ausgegangen, auch ihren Geist auf Gehorsam drillen zu können. Erst, wenn das nicht klappte - wenn sie neugierig auf das Verhältnis zwischen Körper und Geist wurden -, suchten sie bei mir um Hilfe nach.

Der Vorfall, auf den Lisa anspielte, betraf einen Fußballer, der ein paar Mal zu mir gekommen war. Man war ihm zu meiner Praxis gefolgt. Die Zeitungen hatten Fotos von ihm gedruckt, auf denen ihm Maria meine Tür öffnete. Man machte sich allenthalben über sein Unglück lustig; er wurde als verrückt beschimpft.

»Die kleinen Probleme berühmter Leute sind ganz bestimmt die Hölle«, sagte sie. »Aber mein Vater trifft sich nicht mehr mit seinen alten Freunden. Offenbar haben sie ihn schon seit Jahren angeödet. Dabei sind es berühmte Leute, die es in ihrem Bereich bis an die Spitze geschafft haben. Aber sie sind natürlich nicht gepierct. Er hat zwei Vorstandsämter niedergelegt. Und was diese Orte betrifft, die er gemeinsam mit Miriam aufsucht ...«

»Orte?«

»Na, diese Fetisch-Clubs. Sie sind ekelhaft, und die Leute sind doch regelrecht verseucht. Glaubst du etwa, die Frauen würden freiwillig dort hingehen? Das ist Vergewaltigung, nichts weiter, sie werden von ihren Männern zum Sex mit Dutzenden von Leuten gezwungen.«

Ich fragte mich, welche der Töchter König Lears sie war und wie lange ich der Versuchung widerstehen konnte, ihr eine verbale Maulschelle zu verpassen.

»Du machst dir Sorgen über deinen Vater«, sagte ich. »Er hat sich ein bisschen verändert. Er hat sich bald wieder im Griff.«

»Dieses arrogante Analytikergewäsch ist doch für den Arsch.«

»Gewäsch?«, fragte ich.

Sie betrachtete eine Postkarte mit dem Konterfei Freuds, die auf meinem Schreibtisch stand. Ein begeisterter Patient hatte sie mir geschickt. »Freud ist doch auf ganzer Linie entlarvt worden. Patienten-Neid ...« Sie unterbrach sich. »Penis-Neid, meine ich, Herrgott nochmal.«

Sie musste sich selbst zum Trotz lachen.

»Zu viel Lug und Trug mit Schwänzen, meinst du?«, fragte ich und stimmte in ihr Lachen ein.

»Jamal, mein Vater liebt dich. Er hört sogar auf dich. Valerie auch. Aber mein Vater ist nicht in bester Verfassung, und du musst eine gewisse Verantwortung für ihn übernehmen.«

Dieses Wort. Verantwortung. Wenn ich Miriam bei ihren Fernseh-»Torturen« zuschaue, stelle ich immer fest, dass es, vom »Ich« abgesehen, das am häufigsten benutzte Wort ist. Sich zu den eigenen Taten bekennen. Sich selbst mehr als Schauspieler denn als Opfer sehen. Ich bin auf jeden Fall für Verantwortung, wer wäre das nicht? Wir sind alle für uns selbst verantwortlich. Nur - was ist das, unser Selbst? Wo beginnt es, und wie weit erstreckt es sich?

»Ja«, erwiderte ich. »Er ist verantwortlich für das, was er tut. Nicht ich. Und ganz bestimmt nicht du. Nur er allein. Du und ich«, sagte ich, indem ich aufstand und zur Tür ging, »sind hier ohne Belang. Wir sollten uns mit ihnen darüber freuen, dass sie einander glücklich machen. Hoffen wir mal, dass sie heiraten - oder wenigstens zusammenleben.«

»Heiraten? Zusammenleben? Bist du verrückt? Die beiden? Wie kommst du darauf? Ist das irgendwie wahrscheinlich?«

Ich provozierte sie, denn sie fing an, mich zu nerven. Mir blieb nur die Wahl, sie zur Weißglut zu treiben.

»Ich mag es, wenn andere zufrieden sind«, sagte ich.

Sie suchte schon ihre Sachen zusammen. Sie fragte mich, ob sie den Teebeutel mitnehmen dürfe, der in ihrer Tasse gesteckt hatte. Sie wollte ihn in ihren Komposteimer tun. Bevor sie ihn in eine Seitentasche ihres Rucksacks steckte, drückte sie ihn aus.

In der Tür sagte sie zu mir: »Ich werde nicht zulassen, dass man meinen Vater zerstört.«

Sie hatte den Fußboden mit ihren schlammigen Stiefeln eingesaut. Außerdem »vergaß« sie einen ihrer Rucksäcke. Meine Patienten ließen oft Schirme und Mäntel da und auch Kleingeld, Feuerzeuge, Kondome, Tampons und anderen Krimskrams, der aus ihren Hosentaschen auf die Couch fiel. Das war sowohl eine Form der Bezahlung als auch eine Art, eine Beziehung herzustellen. Mir war sonnenklar, dass Lisa wiederkommen würde.

Zwei Tage später stand sie erneut vor der Tür.

»Danke, dass du mich erträgst«, sagte sie, als hätte ich eine andere Wahl. Sie setzte sich auf die Couch und schob sich den Rock über die Stiefel, noch so ein buntes Ethno-Teil und mir nicht ganz unähnlich. Sie betrachtete abwechselnd ihre Beine und mich und lächelte dabei. »Wusstest du, dass Valerie eine Zeichnung von Ingres in ihrem Schlafzimmer hängen hat? Zwischen den Familienfotos und den anderen Dingen, von denen manche richtig wertvoll sind, nimmt man sie gar nicht wahr - aber sie hängt dort. Das ist wahre Achtlosigkeit. Hast du eine Ahnung, was das Bild wert ist?« Ich schwieg, als sie mich ansah. »Valerie bezeichnet dich als eine Sphinx ohne Geheimnis. Bist du nicht derjenige, der >Bescheid wissen< sollte?« Sie verstummte kurz. »Eben hast du genickt, aber sag mir doch mal: Wie kannst du immer so gelassen sein, Jamal - du bist einfach nur da. Hast du das gelernt?«

»Bewusst nicht, nein.«

»Du rutschst oder fummelst nie herum, und deine braunen Augen schauen immer so ruhig drein. Sanft, aber gnadenlos. Und dein stilles Giaconda-Lächeln scheint zu besagen, dass du alles weißt, weil du alles hörst... Du könntest ein Mädchen glatt davon überzeugen, dass sie ihre Seele murmeln hört. Ich wette, alle deine Patienten wollen wie du sein.« Sie lächelte mich an. »Ich könnte eine Ewigkeit hier mit dir sitzen, zwischen all diesen Büchern, CDs und diesen wunderbaren Bildern.«

»Sie stammen alle von Freunden.«

»Auch die Skizzen?«

»Von meiner Frau, Josephine.«

»Und dann noch die Bilder deines Sohnes - so viele Fotos von ihm! Die Freunde meiner Mutter stellen ihre Macht oder ihren Reichtum zur Schau, du aber nicht.« Sie schwieg. »Ich weiß, dass du eigentlich keinen Rat geben darfst«, sagte sie. »Ihr Schamanen wollt ja nicht einmal zugeben, dass ihr heilen könnt - falls ihr überhaupt dazu imstande seid.«

»Der Unterschied zwischen Therapie und Analyse besteht darin, dass der Therapeut zu wissen glaubt, was gut für den Patienten ist«, sagte ich. »In der Analyse muss man das selbst herausfinden.«

»Was würdest du sagen, wenn du einen Patienten hättest, der sich selbst zerstören will?«

»Ich würde ihn warnen.«

»Jamal«, sagte sie, »darf ich dich bitte besuchen? Als Patientin, meine ich.«

Ich erwiderte, ich könnte ihr gute Analytiker empfehlen, würde sie aber nicht als Patientin annehmen. Ich würde sie anrufen und ihr ein paar Vorschläge machen. Wenn es ihr eilig sei, könne ich auch sofort ein paar Telefonnummern heraussuchen.

»Warum weigerst du dich, mir zu helfen?«, fragte sie. »Ich habe deine zwei Bücher von meiner Mutter ausgeliehen und gelesen. Ich habe mir deine Essays im Internet angeschaut. Wie alle guten Künstler gibst du mir das Gefühl, nur für mich zu schreiben.« Sie fuhr fort: »Kannst du mir Folgendes beantworten? Was ist los, wenn man das Gefühl hat, dass die Gespräche, die man führt, eigentlich die falschen Gespräche mit den falschen Leuten sind?«

Während ich mein Adressbuch durchblätterte und nach Stift und Papier kramte, merkte ich, dass sie ihre Beine auf die Couch gewuchtet und sich hingelegt hatte.

»Lisa.«

»Aber ich muss dir erzählen, was passiert ist.« »Passiert? Was und wann?«

»Nachdem ich mich mit Henry am Telefon zum Mittagessen in einem Restaurant in der Nähe der Riverside Studios verabredet habe. Sie war schon da, als ich ankam.«

»Wer?«

»Na, deine geliebte Schwester. Zwar uneingeladen, aber was soll's. Sie fängt sofort an zu quasseln. Über den Steinbock, der gerade aufsteigt oder absteigt, was weiß ich. Über ihre Begegnungen mit Zauberern. Bauchtanz-Unterricht. Posh Spiee als Goldfisch. Botox und wie man es billig bekommt. >Big Brother<. Ununterbrochen. Die wandelnde Regenbogenpresse. Und er lauscht andächtig jedem Wort. Ich dachte: Weiß er überhaupt, was >Big Brother< ist? Sie nimmt es für ihn auf. Echt süß! Und weißt du, was er dann macht?«

»Nein. Was?«

»Er zeigt mir seine Karten für die Rolling Stones.« »Hat er mir auch eine besorgt?«

»Was tut Dad da? Ist das eine Regression in die Pubertät? Sie hat ihn mir geraubt. Er hat meine Kindheit versäumt, weil er lieber mit interessanteren Leuten zusammen war. Aber in den letzten zwei Jahren sind wir einmal die Woche mittags zusammen essen gegangen. Jetzt trifft er sich nicht mehr mit mir, er braucht meinen Rat nicht mehr. Und

wenn ich mich endlich mit ihm verabrede, sitzt diese Frau da! Ja, natürlich, er entschuldigt sich; er kapiert, was ich meine. Er will sich gern mit mir treffen. Aber dann redet er wieder nur von ihr, von der Arthrose in ihren Fingergelenken, ihren Schmerzen. Und er sagt so schreckliche Sachen wie: >Aber Miriam hat mich von meiner grauenhaften bürgerlichen Sozialisation befreit. Fast alles, woran ich geglaubt habe, war dumm, falsch, sinnlos!<« »Für dich gibt es also keinen Platz mehr?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich etwas unternehmen werde, wenn er diese Sache nicht klärt!«

»Hier«, sagte ich, als sie sich zum Aufbruch bereit machte. »Nimm diese Nummer. Der Therapeut ist ein Freund, und er kann gut schreiben.«

Sie betrachtete den Zettel, faltete ihn zusammen und steckte ihn ein. »Du hast erstaunlich viel Vertrauen zu diesen Leuten.«

»Die frühen Analytiker haben sehr genau über die Struktur des menschlichen Geistes nachgedacht«, erwiderte ich. »Sie haben überlegt, was es heißt, ein Kind zu sein, eine Sexualität zu haben, mit anderen Menschen zusammen zu sein - als geschlechtliches Tier in einer Gesellschaft oder Zivilisation zu leben - und am Ende zu sterben. Sie wussten, dass jede vergangene Stunde, wie Proust es ausdrückt, dem Körper eingeschrieben ist - ja, der Körper besteht sogar aus diesen Stunden. Etwas Wichtigeres oder Faszinierenderes kann es doch nicht geben, oder?«

Ich zog die Biographien von Melanie Klein und Anna Freud aus dem Regal und gab sie ihr. »Das sind großartige Frauen - Pioniere. Radikale Intellektuelle.«

»Danke«, sagte sie. »Ist lange her, dass mir jemand den Weg gewiesen hat. Meine Eltern haben immer nur erwartet, dass ich erfolgreich bin.« Sie fuhr fort: »Bevor unsere >Klienten< zu mir kommen, gehen sie zum Arzt, und der gibt ihnen ein Medikament, das sie dann möglicherweise jahrelang nehmen müssen.«

»Wenn sich jemand von seiner Freundin trennt, verschreibt man ihm irgendein pharmakologisches Gebräu, als wäre der Schmerz etwas Unnatürliches.«

»Ärzte haben keine Zeit, sich eine Geschichte anzuhören«, erwiderte sie. »Sie kümmern sich im Zehn-Minuten-Takt um ihre Patienten. Also höre ich genau zu, denn ich bin ja den ganzen Vormittag da. Doch am Ende komme ich in die Bredouille, weil ich zu langsam bin.«

»Freuds Revolution bestand darin, dass er die Menschen nicht mit Drogen vollgepumpt, hypnotisiert oder beraten hat, weil sie das wieder zu Kleinkindern gemacht hätte«, sagte ich. »Er hat zugehört und ihre Geschichten notiert.«

Bei meiner nächsten Begegnung mit Henry erzählte ich ihm, dass Lisa mich aufgesucht hatte.

»Du musst mir wirklich glauben, dass ich mich gern mit Lisa treffe«, sagte er beunruhigt. »Sie bezeichnet mich als >Hurenbock auf dem Holzweg<. Bin ich ein Idiot, weil ich möchte, dass sich alle gut verstehen? Natürlich weiß ich, dass ich dabei die grundlegende menschliche Natur missachte.«

Wir wollten beide über andere Dinge sprechen, und das taten wir, doch die Sache war noch nicht vorbei. Ich bezweifelte zwar, dass Lisa zu dem von mir empfohlenen Therapeuten gehen würde, ahnte aber nicht, wie tief die Krise war, in der sie steckte.

Am folgenden Tagen fuhren Rafi und ich zu Miriam. Als Rafi gemeinsam mit den anderen Kindern verschwand, um sich Klingeltöne aus dem Internet herunterzuladen, sah ich zu Miriam, die am Tisch saß, und merkte, dass ihre Hände zitterten.

»Was bedrückt dich, Schwesterherz?«

»Lisa ist vorbeigekommen. Sie ist eine schreckliche Zicke, wirklich. Aber weil sie Henrys Tochter ist, versuche ich, ruhig zu bleiben.«

»Wie ruhig?«, fragte ich besorgt.

Ich wollte eigentlich essen und entspannen, doch Miriam gab mir ein ziemlich ungutes Gefühl. Schließlich schenkte sie mir einen Drink ein. »Wo ist Lisa jetzt?«, wollte ich wissen.

»Notfallambulanz. Vermutlich flattern ihre Eltern um sie herum wie aufgescheuchte Hühner.«

»Und warum ist sie dort - in der Notfallambulanz?«

»Was glaubst du denn?«, erwiderte Miriam. Ich stand auf und wollte gehen, doch sie hielt mich fest. »Bitte bleib hier, Bruder. Du weißt doch, dass ich dich heute Abend brauche.«

Nach ihrem zweiten Besuch bei mir hatte Lisa bei Miriam angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen dürfe. Während Miriam noch überlegte, ob das eine gute Idee sei und ob sie nicht besser erst mit Henry darüber reden sollte, kam Lisa zur Tür herein. Offenbar hatte sie mit ihrem Fahrrad auf der Straße gestanden.

Sie kam direkt in Miriams Küche und setzte sich - »Genau vor meine verdammte Nase - genau da!« Lisa, die Bushy anschaute und zur Tür zeigte, sagte, sie müsse mit Miriam unter vier Augen reden. Also schlurfte Bushy hinaus, um mit seinem Auto herumzugurken, doch sein Instinkt sagte ihm, dass er besser in der Nähe blieb.

Lisa entschuldigte sich erst einmal für ihr Eindringen und war anfangs recht höflich. Aber schon nach kurzer Zeit forderte sie Miriam auf, ihren Vater in Ruhe zu lassen. Sie flehte; sie weinte; sie ließ auch den Herzinfarkt nicht unerwähnt. Dann beging sie ihren ersten schweren Fehler, denn sie bot Miriam Geld an. Wenn Miriam Henry nie mehr wiedersehen würde, wollte sie ihr zweitausend Pfund geben.

Miriam wollte wissen, warum Lisa glaube, dass sie ihr Geld nötig habe.

Lisa, die jeden Tag die Armen und Besitzlosen besuchte, sah sich - darin ihrer Mutter nicht unähnlich - mit einiger Geringschätzung im verfallenden Haus um, das von Tieren und Kindern aus allen Nähten zu platzen drohte. Ich wusste, was Miriam meinte, und bei ihren Worten durchzuckte sogar mich der Blitzschlag eines ziemlich schlechten Karmas, und ich schmeckte Galle auf der Zunge.

Lisa begann, Miriams Geduld zu strapazieren - immer ein Fehler. Laut Miriam war Lisa verschwitzt und haarig und hatte vermutlich Dreck zwischen den Zehen. »Ich hätte sie bitten sollen, im Garten Unkraut zu jäten.«

Auf jeden Fall irrte sich Lisa in Miriam, wenn sie glaubte, leichtes Spiel mir ihr zu haben. Und sie ging noch weiter. Sie sagte, Miriam sei nur am Ruhm und am Geld ihres Vaters interessiert. Wäre Henry ein Niemand, dann würde er Miriam gar nicht interessieren. Damit unterstellte sie Miriam, eine Art Groupie, vielleicht sogar eine Nutte zu sein.

Miriam begann zu brodeln. Doch sie liebte Henry, sie hatte nie einen Mann so verehrt wie ihn, und sie wollte nicht, dass diese Situation eskalierte. Immerhin war Lisa seine Tochter, und dieser Streit würde ihm das Herz zerreißen. Ich muss das Drecksweib einfach vor die Tür setzen, dachte sie bei sich, mehr ist nicht nötig.

Sie befahl Lisa, das Haus zu verlassen. Das sagte sie laut und mit Nachdruck, und sie gab ihr eine Minute Zeit. Andernfalls, drohte sie, werde sie die Hunde auf sie hetzen, die draußen bereits bellten, aber Lisa hatte ihren Dickschädel und wollte das Gespräch unbedingt fortsetzen.

Nun war Miriam keine dieser geschwätzigen Mittelschicht-Tussen, die reden und reden, bis alle gelähmt sind. In ihrem kochenden Kopf war der Siedepunkt überschritten.

Ihre Finger kriechen zu einem ihrer zahlreichen Handys, und bevor sie sich versieht, saust es durch die Luft. Sie hat auf Lisas Gesicht gezielt, und wundersamerweise landet sie einen Volltreffer, der den Wangenknochen der Tochter ihres Liebsten lädiert. Dann wirft Miriam mit anderen Sachen - Arzneiflaschen und Astrologiebüchern -, die Lisa an diversen Stellen des Kopfes treffen.

Lisa fährt herum und geht auf Miriam los. Sie hat Kraft; sie rudert und macht Frauenboxen. Die Kinder kreischen, denn Miriam ist geliefert. Lisa dreht durch, Karate kann sie auch, sie stellt sich in Positur, und ihre Fäuste sausen durch die Luft. An diesem Punkt geht Bushy dazwischen und stoppt das Gerangel, wirft sich zwischen die beiden, bevor die Messer gezückt werden, er weiß, was zu tun ist.

Er schafft Lisa umgehend nach draußen, bevor Schlimmeres passieren kann - wirft sie auf die Straße in Richtung ihres Fahrrads, das inzwischen, da es sich nicht gerade um die allerbeste Wohngegend handelt, nur noch das Skelett eines Rades ist, ohne Sattel und Reifen. Dann schnappt sich Bushy einen Knüppel, den er drohend hebt, er verteidigt das Haus! Miriam steht mit einem Messer hinter ihm und droht, Lisas selbstzufriedene Mittelschicht-Visage zu zerschlitzen, weil diese mit ein paar Luftlöchern mehr wesentlich besser aussehen würde!

Diese Sache nahm mich so mit, dass ich am ganzen Körper bebte, und dann klingelte mein Handy. Es war Henry, für dessen Anrufe ich an diesem Tag nun wirklich keine Zeit hatte. Ich konnte ihn kaum verstehen: Er war fertig mit den Nerven, zugedröhnt mit Dope und Beruhigungsmitteln, und zu allem Überfluss hatte er auch noch die Karten für die Stones verlegt. Er hatte seine ganze Wohnung auf den Kopf gestellt und wusste nicht mehr, was tun. Lisa hatte ihn angerufen und geschrien, sie sei im Krankenhaus und danach werde sie bei der Polizei Anzeige erstatten. Sie wollte, dass man Miriam wegen Beleidigung, grober Tätlichkeit und versuchten Mordes verhaftete, und Henry versuchte, sie wieder auf den Teppich zu bringen.

Immerhin verstand ich, dass Lisa zu Henry gesagt hatte: »Du bringst mich um!«

»Ich bringe dich um?«

»Ja!« Und sie fügte hinzu: »Es würde dir bestimmt nicht gefallen, mich zu finden, wenn ich eines Abends mit einem Strick um den Hals von der Decke baumele!«

Im Verlauf des Tages hatte Miriam Henry gesagt, dass ihr die Sache auch über den Kopf wachse. Sie liebe ihn, wolle ihn aber erst wiedersehen, wenn er seine Tochter beruhigt habe. Es tue ihr zwar leid, dass Henry zwischen zwei Frauen in der Klemme sitze, aber sie habe gerade das Gefühl, dass eine Trennung das Beste wäre. Sie könne nicht zulassen, dass diese Verrückte einfach so in ihr Haus komme und die Kinder und Tiere erschrecke.

Außerdem wisse sie, dass sie dumm und hässlich, fett und wertlos sei und keinem Mann mehr den Kopf verdrehen würde, aber eine weitere Zurückweisung könne sie nicht ertragen, und sie wolle nicht noch einmal von Lisa beleidigt werden. Sie habe zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl gehabt, geliebt zu werden, und nicht die Kraft, um Lisas Hass zu überleben.

Am anderen Ende der Verbindung weiß Henry zwar nicht, wo er gerade ist, doch er weiß, was er will - nämlich, dass man ihr nicht wehtut, dass sie zusammenbleiben und das gerade begonnene gemeinsame Leben weiterführen. Er beginnt zu weinen und zu flehen, kann sich aber nicht verständlich machen, und dann ist die Verbindung tot.

Während ich darauf wartete, dass Rafi seine Schuhe fand und sein Haar neu gestylt hatte, sah ich die Champion's League im Fernsehen und versuchte, das Vorgefallene zu verdauen. Plötzlich kam Henry hereingestürmt, so wild und zerzaust, als wäre er unterwegs in einen Sturm geraten.

Er lag sofort in Miriams Armen, und sie schluchzten und entschuldigten sich, drückten sich gegenseitig den Hintern, und Henry jaulte: »Aber ich werde dich nie zurückweisen, nie! Das weißt du doch! Du bist meine Süße, meine Seele, mein Augenstern! Um deinetwillen würde ich mich ächten lassen - sogar von meiner Familie! Wie kannst du nur glauben, dass ich dich im Stich lassen würde, wenn ich möchte, dass wir für immer zusammenbleiben!«

»Du willst mich doch nur aufheitern ...«

»Nein, nein ...«

Rafi kam herein und starrte die beiden verdutzt an.

Es dauerte nicht lange, da telefonierten sie in der Gegend herum, um in Erfahrung zu bringen, wohin sie an diesem Abend »zum Spielen« gehen konnten.

»Ach, übrigens«, sagte Henry zu mir, als ich gehen wollte, und klopfte auf seine Taschen, »ich habe die Karten für die Stones gefunden. Wir gehen auf jeden Fall!«