Hanif Kureishi

Das sag ich dir

Roman

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

»Something to tell you«

»I went down to the crossroads

Fell down on my knees.«

Robert Johnson

TEIL EINS

EINS

Meine Währung sind die Geheimnisse: Ich lebe davon, mit ihnen zu handeln. Die Geheimnisse des Begehrens und die Geheimnisse dessen, was die Menschen wirklich wollen und wovor sie sich am meisten fürchten. Die geheimen Gründe dafür, warum Liebe schwierig ist, Sex heikel, das Leben eine Qual und der Tod so nah und so fern zugleich. Wie kommt es, dass Lust und Strafe so eng miteinander verwandt sind? Wie sieht die Sprache unserer Körper aus? Weshalb machen wir uns krank? Wieso will man scheitern? Warum ist Freude so unerträglich?

Eben hat eine Frau mein Behandlungszimmer verlassen. In zwanzig Minuten kommt die nächste. Ich ordne die Kissen auf der Analysecouch und entspanne mich in meinem Sessel bei einer anderen Art des Schweigens, trinke Tee, denke über Bilder, Sätze und Worte des letzten Gesprächs nach, aber auch über die Sprünge und Brüche.

Wie so oft in diesen Tagen beginne ich, mir Gedanken über meine Arbeit zu machen, über die Probleme, mit denen ich mich herumschlage, und wie es dazu kam, dass ausgerechnet dieser Job mein Broterwerb wurde, meine Berufung, meine Freude. Noch verwirrender ist der Gedanke, dass diese Arbeit erstens mit einem Mord ihren Anfang nahm - heute ist sein Jahrestag - und zweitens damit, dass Ajita , meine erste Liebe, für immer verschwand.

Ich bin Psychoanalytiker. Mit anderen Worten: ein Deuter von Seelen und Zeichen. Man nennt mich auch Gehirnklempner, manchmal einfach nur Scharlatan oder Hochstapler, und wirft mir vor, im Dreck zu wühlen. Wie ein auf dem Rücken liegender Mechaniker die Unterseite eines Autos abklopft, klopfe ich die Unterseiten von Geschichten ab: Phantasien, Wünsche, Lügen, Träume, Albträume - die Welt unter der Welt, die wahren Worte unter den falschen. Ich nehme die aberwitzigsten und wirrsten Dinge ernst; ich begebe mich an Orte, die die Sprache nicht erreicht oder vor denen sie haltmacht - das Unbenennbare -, und das sogar recht früh am Morgen.

Bei mir spricht das Leid, und ich höre von Schuldgefühlen und Gelüsten, die die Menschen terrorisieren, ich höre von Geheimnissen, die ein Loch in das Selbst brennen und den Körper deformieren oder gar verkrüppeln, von den Wunden der Erfahrungen, die wieder aufgerissen werden, damit die Seele gesunden kann.

Im tiefsten Inneren sind die Leute verrückter, als sie glauben möchten. Man wird feststellen, dass sie sich davor fürchten, gefressen zu werden, und dass sie über ihre Lust erschrecken, andere zu fressen. Im Laufe eines ganz gewöhnlichen Tages stellen sie sich außerdem vor, dass sie gleich explodieren oder implodieren, sich auflösen oder Opfer einer feindlichen Übernahme werden. Ihr Alltag wird von Ängsten beherrscht, die unter anderem ihren Liebesbeziehungen gelten, aber auch dem Umgang mit Kot und Urin.

Bevor all dies seinen Anfang nahm, habe ich immer Klatsch und Tratsch genossen, eine grundlegende Voraussetzung für diesen Job. Inzwischen höre ich jede Menge davon, und Tag für Tag, Jahr um Jahr strömt ein Fluss menschlichen Mülls in mich hinein. Wie viele andere Vertreter der Moderne maß auch Freud dem Abfall einen besonderen Rang zu; vielleicht war er der erste Künstler, der mit >objets trouves< arbeitete und dem eine Bedeutung abgewann, was in den allermeisten Fällen einfach weggeworfen wird. Dem allzu Menschlichen so nahe zu kommen ist eine schmutzige Arbeit.

Inzwischen gibt es noch etwas in meinem Leben, im Grunde fast einen Inzest, und wer hätte das gedacht? Miriam, meine große Schwester, und Henry, mein bester Freund, haben ihre Leidenschaft füreinander entdeckt. Diese erstaunliche Liaison hat unsere Leben verändert, ja regelrecht aus den Angeln gehoben.

Ich sage »erstaunlich«, weil es zwei sehr unterschiedliche Menschen sind, die man sich nie als Paar vorgestellt hätte. Er ist Theater- und Filmregisseur, ein eingefleischter Intellektueller, dessen Leidenschaft Gesprächen, Ideen und allem Neuen gilt. Sie hingegen könnte unintellektueller nicht sein, obwohl sie stets als »klug« gegolten hat. Sie kennen sich schon seit vielen Jahren; Miriam hat mich manchmal in seine Inszenierungen begleitet.

Wahrscheinlich hatte meine Schwester schon lange gehofft, dass ich sie ausführen würde, aber ich brauchte eine Weile, um das zu kapieren. Obwohl es eine Anstrengung für sie bedeutete - ihre Knie sind kaputt und können ihr wachsendes Gewicht nicht mehr tragen -, tat es Miriam gut, das Haus, die Kinder und die Nachbarn für eine Weile los zu sein. Meist war sie sowohl tief beeindruckt als auch gelangweilt. Am Theater mochte sie alles außer den Stücken. Die Pausen hatte sie am liebsten, weil es dann Alkohol, Zigaretten und frische Luft gab, und das kann ich gut verstehen: Ich habe viele lausige Inszenierungen erlebt, aber manche davon hatten großartige Pausen. Henry selbst schlief mit schöner Regelmäßigkeit innerhalb von fünfzehn Minuten nach dem Beginn eines Stückes ein, besonders, wenn der Regisseur ein Freund war; sein struppiger Kopf sank auf die Schulter seines Sitznachbarn, dem er ins Ohr gurgelte wie ein verschmutzter Bach.

Miriam wusste, dass Henry ihre Urteile nie im Leben ernst nehmen würde, doch sie ließ sich von seiner Person und von seinem pompösen Auftreten nicht ins Bockshorn jagen. Was Henry, vor allem jedoch seine Arbeit, betraf, so war es traurig, dass man ihn loben musste, bis man vor Scham errötete, weil man erst danach richtig mit ihm reden konnte. Miriam lobte allerdings selten. Wozu auch? Manchmal provozierte sie Henry sogar. Einmal, es war im Foyer nach einer Aufführung von Ibsen oder Molière, vielleicht auch nach einer Oper, erklärte sie, das Stück sei zu lang.

Allen Umstehenden stockte der Atem, bis Henry schließlich mit seiner Brummstimme aus den Tiefen seines grauen Bartes erwiderte: »Das, fürchte ich, ist haargenau die Zeit, die das Stück vom Anfang bis zum Ende braucht.«

»Tja, ich meinte ja auch nur, dass Anfang und Ende etwas näher beisammen sein könnten«, lautete Miriams Antwort.

Und jetzt läuft etwas zwischen den beiden - die viel enger sind als je zuvor.

Die Sache spielte sich ab wie folgt.

Wenn Henry nicht probt oder lehrt, kommt er mittags bei mir vorbei. So auch vor einigen Monaten, als er zuerst bei Maria klingelte. Maria, träge, freundlich, schnell schockiert, oft sogar zu Tode erschrocken -ursprünglich meine Putzfrau, doch inzwischen jemand, auf die ich mich fest verlasse -, kochte unten das Essen, das ich gern auf dem Tisch habe, wenn der letzte Patient des Vormittags gegangen ist.

Ich freue mich immer, Henry zu sehen. In seiner Gesellschaft kann ich abschalten und muss nichts Wichtiges tun. Eine Muße, der alle Analytiker stundenlang frönen, egal was sie sagen. An manchen Tagen kommt der erste Patient um sieben Uhr morgens, und der letzte geht um ein Uhr nachmittags. Danach entspanne ich, mache Notizen, esse etwas, gehe spazieren oder schlafe ein wenig, ehe ich bis zum frühen Abend wieder zuhören muss.

Ich konnte ihn schon hören, bevor ich in der Nähe der Küche war, seine Stimme dröhnte draußen vor der Hintertür. Seine Monologe sind eine Qual für Maria, die das, was die Leute erzählen, zu ihrem Unglück immer für bare Münze nimmt.

»Wenn Sie mich nur verstehen würden, Maria, und begreifen könnten, dass mein Leben eine schreckliche Demütigung ist, ein Nichts.«

»Aber das ist doch nicht wahr, Mr Richardson, ein Mann wie Sie muss ...«

»Ich versichere Ihnen: Ich krepiere an Krebs, und meine Karriere ist die komplette Katastrophe.«

(Später kam sie dann zu mir und flüsterte verängstigt: »Hat er wirklich Krebs?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Ist seine Karriere eine Katastrophe?«

»Es gibt kaum jemanden, der bedeutender wäre.«

»Warum sagt er dann so etwas? Das sind wirklich komische Vögel, diese Künstler!«)

Er fuhr fort: »Maria, meine letzten beiden Inszenierungen, Cosi und meine Fassung von Der Meister und Margarita in New York, haben mich zu Tode gelangweilt. Sie waren Erfolge, ja, aber nicht schwierig genug für mich. Ich musste weder kämpfen noch das Risiko der Auslöschung eingehen. Aber genau das will ich!«

»Nein!«

»Dann schleppt mein Sohn eine Frau in meine Wohnung, schöner als Helena von Troja! Die ganze Welt hasst mich - Fremde spucken mir in den offenen Mund!«

»O nein! O nein!«

»Werfen Sie doch einen Blick in die Zeitung. Ich bin noch verhasster als Tony Blair, und das ist ein Mann, den die ganze Welt verabscheut.«

»Ja, er ist schrecklich, das sagt jeder, aber Sie haben doch keine Invasion befohlen oder erlaubt, dass in Guantanamo gefoltert wird. Man liebt Sie!«

»Ich will nicht geliebt werden. Ich will begehrt werden. Liebe bedeutet Sicherheit, aber die Lust ist riskant. >Gebt mir im Überfluss davon...< Die grausame Wahrheit ist doch die: Je unfähiger man zum Sex ist, desto fähiger ist man zur Liebe, dem reinen Gefühl. Sie sind der einzige Mensch, der mich versteht. Meinen Sie, dass es zu spät für mich ist, noch schwul zu werden?«

»Ich finde nicht, dass das eine Alternative wäre, Mr Richardson. Aber sie müssen mit Dr. Khan darüber reden. Er kommt sicher gleich.«

Die Türen zu meinem kleinen Garten mit seinen drei Bäumen und der kleinen Rasenfläche standen offen. Am Tisch draußen, auf dem Blumen standen, saß Henry mit seiner wuchtigen Wampe, auf der er bequem die Hände ablegen konnte, wenn er sich nicht gerade kratzte. Auf seinem Knie lag meine graue Katze, Marcel, die Miriam mir geschenkt hatte, eine Katze, die alles beschnüffelte und die ich immer wieder aus dem Zimmer werfen musste, in dem ich meine Patienten empfing.

Henry, der bereits eine halbe Flasche Wein geleert hatte - »Ich glaube nicht, dass Weißwein auch nur ein Quäntchen Alkohol enthält!« -, sprach mit sich selbst oder assoziierte auf dem Umweg über Maria wild herum, die sich einbildete, es wäre ein Gespräch.

Ich wusch mir in der Küche die Hände. »Ich will mich besaufen«, hörte ich ihn rufen. »Ich habe mein Leben damit vergeudet, ehrbar zu sein. Inzwischen bin ich in einem Alter, in dem sich die Frauen in meiner Nähe in Sicherheit wiegen! Der Alkohol wird mich wieder in Schwung bringen - er bringt jeden in Schwung.«

»Wirklich? Aber beim Hereinkommen haben Sie mir erzählt, dass man Sie an die Pariser Oper holen will.«

»Die nehmen doch jeden Dahergelaufenen. Maria, ich weiß, dass Sie der Kultur viel gewogener sind als ich. Sie sind Stammgast auf den billigen Plätzen, und Sie lesen jeden Morgen im Bus. Aber die Kultur besteht aus Eiscreme, Pausen, Sponsoren, Kritikern und den immer gleichen angeödeten, überkultivierten Diven, die sich wahllos alles anschauen. Zum einen gibt es die Kultur, und sie ist nichts, und zum anderen gibt es das Ödland - Sie müssen nur London verlassen oder den Fernseher einschalten, und da ist es. Hässlich, puritanisch, lüstern und dumm, mit Leuten wie Blair, die behaupten, moderne Kunst nicht zu verstehen, oder unserem zukünftigen König, Charles, dem Gearschten, der mit Vollgas in die Vergangenheit rast. Früher habe ich geglaubt, beides könnte sich überlappen, das Heilige und das Profane. Was meinen Sie dazu? Ach, Maria, spätestens, als ich mit Wasserfarben zu malen begann, wusste ich, dass alles aus und vorbei war ...«

»Immerhin müssen Sie keine Toiletten schrubben, um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Hier, probieren Sie mal diese Tomaten. Mund weit öffnen und nicht spucken.«

»Oh, wie köstlich. Wo haben Sie die her?«

»Von Tesco. Nehmen Sie eine Serviette. Sonst sauen Sie sich den Bart ein. Sie locken ja die Fliegen an!« Sie wedelte mit der Serviette vor seiner Nase.

»Habt Dank, Mutter«, sagte er. Als ich mich setzte, hob er den Kopf. »Jamal«, rief er, »hör auf zu kichern und verrat mir: Hast du in letzter Zeit das Symposion gelesen?«

»Still, Sie böser Mann, lassen Sie den Doktor in Ruhe essen«, sagte Maria. »Er hat ja noch nicht einmal einen Bissen Brot im Mund.« Einen Moment lang glaubte ich, sie würde ihm einen Klaps auf die Hand geben. »Dr. Khan hat heute Vormittag schon genug Gerede gehört. Er ist so freundlich, diesen Leuten sein Ohr zu leihen, obwohl man sie eigentlich alle im Irrenhaus anketten müsste. Wie frech manche sind!

Wenn ich die Tür öffne, belästigt mich jeder mit Fragen nach dem Doktor. Wo macht er Urlaub? Wo steckt seine Frau? Ich schweige wie ein Grab.«

Wir aßen. Man musste Henry zugutehalten, dass er einfach nicht den Mund halten konnte. »>Wir reisen mit einer Leiche im Gepäck.< Damit meint Ibsen, dass die Toten - tote Väter, sozusagen die lebenden Toten -genauso mächtig, ja sogar noch mächtiger sind als die leibhaftigen Väter.«

»Wir bestehen aus anderen«, murmelte ich.

»Aber wie bringt man einen toten Vater um die Ecke? Und selbst dann wären die Schuldgefühle grauenhaft, oder?« »Ich denke schon.«

Er fuhr fort: »In diesem Stück ist Ibsen ein absolut realistischer Autor. Wie soll man die Geister darstellen? Oder ist das überflüssig?« Henry griff quer über den Tisch, um sich etwas von meinem Teller zu angeln. Das tat er gern. »Diese freundliche Aggression dürfte wohl besagen«,

verkündete er und hielt eine Bohne hoch, »dass sich ein Mann gern deine Frau mit dir teilen würde, richtig?« »Völlig richtig. Nur zu.«

Falls das Reden der Geschlechtsverkehr der Bekleideten ist, dürfte sich Henry prächtig amüsiert haben. Und für mich waren diese ausufernden, theatralischen Monologe zur Mittagszeit sowohl genussvoll als auch entspannend. Henrys Überdrehtheit ließ erst nach, wenn Maria abwusch und wir gemeinsam die Sportseiten studierten oder das Spalier sanft im Wind nickender Sonnenblumen betrachteten, die mein Sohn Rafi vor der rückwärtigen Mauer meines kleinen Gartens gepflanzt hatte.

»Ich weiß, dass du während der Mittagszeit nicht arbeitest. Du isst deinen Salat, du trinkst deinen Wein, und wir reden Blödsinn, jedenfalls ich. Du diskutierst über Manchester United und darüber, wie die Spieler und Manager ticken, und dann drehst du deine Runde. Hör mir trotzdem zu.

Du weißt, dass ich das Alleinsein hasse. In der Stille drehe ich durch. Zum Glück lebt mein Sohn Sam jetzt seit einem Jahr bei mir. Als er beschlossen hat, die Begleichung von Mieten oder Rechnungen unerträglich zu finden, war das ein Durchbruch in unserer Beziehung. Dieses Gör hat eine der besten Schulbildungen erhalten, die man für das Geld seiner Mutter kaufen konnte.

Er hat während seiner ganzen Kindheit vor elektronischen Apparaten gehockt, und ich habe dir vielleicht schon erzählt, dass er sich bei diesem Trash-Sender glänzend macht und für eine Firma arbeitet, die sich auf Beiträge über plastische Chirurgie und Verstümmelungen spezialisiert hat. Wie heißt das noch - Verkehrsunfall-Fernsehen? Weißt du, was er mir neulich gesagt hat? >Die Ära der Hochkultur ist vorbei, Dad, das müsste dir doch klar sein.<«

»Glaubst du ihm?«

»Junge, das war vielleicht ein heftiger Schlag, mitten in den Kern meiner Existenz. Ein Schlag gegen alles, woran ich je geglaubt habe.

Wie kommt es nur, dass meine beiden Kinder die Hochkultur verabscheuen? Lisa ist eine Meisterin der Tugendhaftigkeit und lebt ausschließlich von einer Diät aus Bohnen und gefiltertem Wasser. Ich bin mir absolut sicher, dass sogar ihre Dildos ein biologisches Gütesiegel haben. Ich habe sie einmal mit ins Opernhaus geschleift, und als wir mit einem Seufzer auf den Samt gesunken sind, schwirrte ihr der Kopf, und sie fühlte sich deliriös, weil alles so nach Rokoko aussah. Ich habe mit mir gewettet, wie lange es dauert, bis sie das Wort >elitär< benutzt. Sie musste in der Pause gehen. Und mein anderes Kind betet den Kitsch an!« »Aha?«

»Immerhin ist der Junge gesund, lebenslustig und nicht so blöd, wie er einem weismachen will«, fuhr er fort. »Er ist bei mir eingezogen, und wenn seine Freundin in London ist, übernachtet sie bei uns. Aber er hat auch andere Freundinnen. Wenn wir ins Theater oder in ein Restaurant gehen, findet er noch mehr Freundinnen - direkt vor meiner Nase. Du weißt ja, dass ich mit dem Gedanken an eine Inszenierung - in ferner, unvorstellbar ferner Zukunft - des Don Giovanni gespielt habe. Ich liege mit Kopfhörern im Bett, im Zimmer neben dem von Sam, ich beschwöre den Don, ich versuche, ihn herbeizurufen. Sam schläft fast jede Nacht mit einem Mädchen - bei Anbruch der Nacht, mitten in der Nacht und auch am Morgen, da auf gut Glück. Ich kriege alles mit, es lässt sich nicht vermeiden, ich kann diesem hingehauchten Gestöhne nicht entkommen. Die Musik der Liebe, aber ohne den Schrecken und die überstürzten Ejakulationen, die ich als junger Mann, ja sogar noch als Mann in den besten Jahren erleben musste.

Dann, beim Frühstück, sehe ich die Mädchen und versuche, die Schreie mit den Gesichtern in Deckung zu bringen. Die eine, jene, die am häufigsten da ist, arbeitet als Autorin für Modezeitschriften und steckt ihr blondes Haar immer locker auf dem Kopf zusammen. Sie trägt Pantoffeln und einen Bademantel aus roter Seide, und jedes Mal, wenn ich gerade den Löffel in mein Ei stoßen will, fällt ihr Mantel auf. Für einen einzigen Kuss eines solchen Geschöpfes würde man doch St. Markus im Meer versenken oder hundert Vermeers verbrennen, falls es überhaupt hundert gibt. Das«, sagte er, »ist wirklich die Hölle, selbst für einen reifen Mann wie mich, der es gewohnt ist, Schläge einzustecken und danach wie ein echter Krieger der Künste weiterzukämpfen.« »Durchaus verständlich.«

Als wäre er Analytiker und ich ein Patient, fragte er mich mit komischer Anmaßung: »Welche Gefühle weckt das in dir?«

»Ich würde mich am liebsten totlachen.«

»Um zu kapieren, was da los ist, lese ich diese Bücher, die es heutzutage gibt. Ich würde nicht im Traum daran denken, sie zu kaufen, aber die Verlage schicken sie mir, und darin geht es nur um Sex. Und zwar um perverse Abarten, mein Freund, mit Transvestiten und so weiter, mit Leuten, die sich gegenseitig bepinkeln oder militärische Kluft tragen und so tun, als wären sie serbische Freischärler oder Schlimmeres. Du glaubst ja nicht, was diese Leute da treiben. Aber tun sie das wirklich? Na, das wirst du mir bestimmt nicht verraten.«

»Sie tun das, wirklich, das tun sie«, sagte ich und lachte leise.

»O mein Gott. Was ich brauche«, sagte er, »ist ein bisschen Dope. Früher habe ich geraucht, aber ich habe aufgehört. Mit den Lastern sind auch meine Freuden verschwunden. Ich kann nicht schlafen, und ich habe die Schnauze voll von diesen Pillen. Kannst du mir nicht etwas besorgen?«

»Henry, ich muss nicht unbedingt Dealer werden - ich habe einen Beruf.«

»Weiß ich, weiß ich ... Aber ...«

Ich lächelte und sagte: »Na, los, drehen wir eine Runde.«

Wir gingen gemeinsam die Straße hinauf, er einen Kopf größer als ich und dreimal so breit. Mit meinen raspelkurz geschnittenen Haaren, dem Sakko und dem Hemd sah ich aus wie ein braver Angestellter. Henry schlurfte im schlabberigen T-Shirt dahin. Er wirkte stets, als wäre alles an ihm lose und locker. Unterwegs schien er seine Einzelteile zu verlieren. Er trug keine Socken in den Schuhen und heute ausnahmsweise keine Shorts. Mit den Büchern unter den Armen -bosnische Romane, die Tagebücher polnischer Theaterregisseure, amerikanische Lyriker und Zeitungen, die er in der Holland Park Avenue gekauft hatte, Le Monde, Corriere della Sera, El Pais - kehrte er zu seiner Wohnung am Fluss zurück.

Henry, der seine eigene Atmosphäre mit sich herumtrug, wuchtete sich durch sein Viertel, als wäre es ein Dorf - er war in einem Weiler in Suffolk aufgewachsen -, rief quer über die Straße immer wieder Leuten etwas zu und stellte sich oft zu ihnen, um über Politik und Kunst zu diskutieren. Das Problem, dass in London offenbar kaum noch jemand flüssig Englisch sprach, löste er, indem er die jeweiligen Sprachen lernte. »In diesem Viertel kommt man nur noch zurecht, wenn man Polnisch kann«, verkündete er kürzlich. Er sprach auch genug Bosnisch, Tschechisch und Portugiesisch, um sich ohne Gebrüll in den Geschäften und Bars verständlich machen zu können, und außerdem beherrschte er noch einige andere europäische Sprachen, sodass er sich in seiner eigenen Stadt bewegen konnte, ohne sich ausgegrenzt zu fühlen.

Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben auf der gleichen Seite des A to Z verbracht. In der Mittagszeit laufe ich wie alle anderen Arbeitstätigen zweimal um die Tennisplätze. Ich habe einmal gehört, wie jemand diese Gegend zwischen Hammersmith und Shepherd's Bush als »einen von Elend umringten Kreisverkehr« beschrieb. Ein anderer schlug Bogota als Partnerstadt vor; Henry bezeichnete die Gegend als »großartige nahöstliche Stadt«. Mit Sicherheit ist es dort immer »eisig« gewesen: Im siebzehnten Jahrhundert wurden die Leichen derer, die man in Tyburn, bei Marble Arch, gehängt hatte, nach Shepherd's Bush Green gebracht und dort zur Schau gestellt.

Inzwischen war die Gegend eine Mischung aus ziemlich reichen und armen Leuten, diese meist frisch eingetroffene Immigranten aus Polen und dem muslimischen Afrika. Die Wohlhabenden lebten in fünfstöckigen Häusern, die noch schmaler wirkten als die georgianischen Häuser in North London. Die Armen lebten in den gleichen Häusern, nur dass man diese in Einzelzimmer aufgeteilt hatte, und sie stellten Turnschuhe und Milch auf die Fensterbank.

Die neuen Immigranten, die ihren Besitz in Plastiktüten mit sich führten, schliefen oft im Park, und nachts durchstöberten sie gemeinsam mit den Füchsen die Mülleimer nach Essen. Alkoholiker und Spinner stritten und bettelten ständig auf der Straße. An den Ecken warteten Drogendealer auf Fahrrädern. Es eröffneten immer mehr Delis, Grundstücksmakler, Restaurants und außerdem Schönheitsstudios, für mich ein positives Signal, das darauf hindeutete, dass die Preise für Häuser stiegen.

Wenn ich etwas mehr Zeit hatte, ging ich bis zum Shepherd's Bush Market. Dort parkten reihenweise Autos mit Chauffeur neben der Goldhawk Road Station. Nahöstliche Frauen im Hijab kauften auf diesem Markt ein, wo man dicke Rollen bunter Stoffe, Krokodillederschuhe, kratzige Unterwäsche und Schmuck, raubkopierte CDs und DVDs, Papageien und Koffer sowie dreidimensionale Bilder von Mekka und von Jesus kaufen konnte. (In der alten Stadt Marrakesch fragte man mich einmal, ob ich je etwas Vergleichbares gesehen hätte. Ich konnte nur erwidern, dass ich den ganzen weiten Weg gekommen war, nur um an den Shepherd's Bush Market erinnert zu werden.)

In der Goldhawk Road konnte niemand wirklich glücklich sein, doch in der zehn Minuten entfernten Uxbrige Road sah die Sache anders aus. Dort, am vorderen Ende des Marktes, kaufte ich immer eine Falafel und trat dann auf eine dieser breiten Straßen Westlondons, in der die Läden Leuten aus der Karibik, aus Polen, Kaschmir und Somalia gehörten. Gleich neben der Polizeiwache stand die Moschee, wo man durch die offene Tür Spaliere von Schuhen und betenden Männern sehen konnte. Dahinter befand sich das Fußballstadion der Queen's Park Rangers, wo Rafi und ich uns gelegentlich Spiele anschauten, aber meist enttäuscht wurden. Einer der Läden war kürzlich beschossen worden, und vor nicht allzu langer Zeit wurde Josephine von einem vorbeiradelnden Jungen das Handy entrissen. Davon abgesehen war das Viertel allerdings bemerkenswert ruhig, wenn auch sehr betriebsam, denn die meisten Leute waren emsig mit Pläneschmieden und Verkaufen beschäftigt. Dass es nicht mehr Gewalt gab, erstaunte mich, weil die Mischung der Menschen durchaus Zündstoff bot.

Mein bislang unerfüllter Wunsch war es, im ärmsten und ethnisch buntesten Teil der Stadt ein luxuriöses Leben zu führen. Jedes Mal, wenn ich dort spazieren ging, bekam ich gute Laune. Das hier war ja kein Ghetto; die Ghettos waren Belgravia, Knightsbridge und Teile von Notting Hill. Nein, das hier war London als Weltstadt.

Bevor sich unsere Wege trennten, sagte Henry: »Du weißt ja, Jamal -wenn man als Schauspieler auf die Bühne kommt und nicht aufgeregt, sondern nur angeödet ist, dann ist das eine Katastrophe. Dann wäre man gern anderswo, aber man muss ja noch die Szene mit dem Sturm hinter sich bringen. Die Worte und die Gesten sind hohl, und wie soll man das vertuschen? Ich muss dir etwas beichten, obwohl es mir schwerfällt und mir ziemlich peinlich ist: Ich hatte reichlich One-Night-Stands - fremde Körper sind einfach toll, oder? -, aber ich habe seit fünf Jahren nicht mehr wirklich mit einer Frau geschlafen.«

»Wie? Länger nicht? Die Lust wird sich wieder einstellen, das weißt du.«

»Nein, der Zug ist abgefahren. Wenn ein Mensch nicht mehr zur Liebe und zum Sex imstande ist, kann er auch nicht mehr leben. Stimmt doch, oder? Ich stinke schon nach Tod.«

»Das ist der Duft deines Mittagessens. Dein Appetit ist längst wieder da. Darum bist du auch so rastlos.«

»Wenn das nicht stimmt, trete ich ab«, sagte er und zog einen Finger über seine Kehle. »Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.«

»Ich schaue mal, was ich tun kann«, erwiderte ich, »in beider Hinsicht.«

»Du bist ein echter Freund.«

»Überlass das Entertainment mir.«

ZWEI

Früher Abend, und mein letzter Patient ist weg, nachdem er versucht hat, seine Last bei mir abzuladen.

Nun tritt jemand gegen die Haustür. Mein Sohn Rafi hat sich angekündigt. Der Junge wohnt ein paar Straßen weiter bei seiner Mutter, Josephine, er ist mit dem City-Roller gekommen, den wir bei Argos gekauft haben, im Rucksack seine Playstation Portable, Sammelkarten und Fußballhemden. Um den Hals trägt er eine dicke Goldkette mit Dollarzeichen. Er hat mir einmal erzählt, dass er sich müde fühle, wenn er nicht die richtigen Klamotten trage. Sein Gesicht ist glatt, an manchen Stellen etwas verschmiert, und rund um den Mund kleben Essensreste; seine Mutter hat ihm das Haar mit dem Rasierer gestutzt. Wir klatschen die Fäuste aneinander und tauschen den typischen Mittelschicht-Gruß aus: »Yo bro - dog!«

Bei meinem Anblick versucht der Zwölfjährige, den Kopf zu verstecken, denn er hat genau die richtige Größe, um gepackt zu werden, aber wo soll man seinen Kopf verstecken? Ich möchte ihm einen Kuss geben und ihn in den Arm nehmen, den kleinen Wirbelwind, und sein Jungenfleisch riechen, ihn zu Boden ziehen und mit ihm ringen. Sein Kopf zuckt wild hin und her, und er zieht Grimassen und windet sich, weil sich sein Vater so freut, ihn zu sehen, und hoffnungsvoll sagt: »Hallo, mein Junge, ich habe dich vermisst, wie war dein Tag?«

Er stößt mich weg. »Verpiss dich, fass mich nicht an, bleib mir vom Leib, Alter - lass das!«

Wir werden losziehen, um etwas zu essen und Gesellschaft zu haben, und seit ich Single bin, muss ich dafür zu Miriam fahren.

Rafi kommt herein, um ein Glas Saft zu trinken, und wir tauschen CDs. Auf dem Weg zu Miriam kommen wir dann an Josephines Haus vorbei - von dort ist er gerade zu mir aufgebrochen - und werden langsamer. Josephine und ich sind seit achtzehn Monaten getrennt. Die gemeinsame Freude am Kind war der Kitt unserer Ehe. Außerdem graute mir vor einsamen Abendessen vor der Glotze, und manchmal hatte uns auch das Problem gefallen, das wir füreinander waren. Aber schließlich war der Punkt gekommen, an dem wir nicht einmal mehr durch die Straße gehen konnten, sie auf der einen Seite, ich auf der anderen, ohne uns quer über die Fahrbahn Vorwürfe zuzubrüllen. »Du hast mich doch gar nicht geliebt!« »Du warst grausam!« Das Übliche. Sie wollen ganz bestimmt nichts davon hören, aber das werden Sie, das werden Sie.

Ich bezweifelte, dass sie zu Hause war. Vermutlich war noch nicht einmal Licht an, denn inzwischen war sie wieder liiert. Das hatte ich messerscharf aus der Tatsache geschlossen, dass Rafi vor einigen Wochen in einem neuen Arsenal-Shirt mit dem Schriftzug »Henry« hinten darauf bei mir erschienen war. Er wirkte zerknirscht, und ich musste ihn nicht extra darauf hinweisen, dass mein Sohn mit einem solchen Shirt niemals die Schwelle meines Hauses überschreiten durfte. Wir hatten ehrenwerte und absolut einleuchtende Gründe dafür, Fans von Manchester United zu sein - davon später mehr -, und er tauschte das Shirt gegen ein annehmbareres Giggs-Hemd ein, das er in seinem Zimmer gelassen hatte. Keiner von uns beiden erwähnte je wieder das Arsenal-Shirt, und es kamen auch keine neuen Fan-Artikel dieses Clubs hinzu. Der Junge liebte seinen Vater zwar, aber fraglich blieb, ob er der Versuchung widerstanden hätte, gemeinsam mit einem fremden Kerl, der scharf auf seine Mutter war, einen Ausflug nach Highbury zu unternehmen. Wir würden ja sehen.

Wir wussten beide, dass seine Mutter ihn aus dem Weg haben wollte, um ihren Freund treffen zu können. Das waren die Momente, wenn wir uns verlassen und heimatlos fühlten. Ich vermute einmal, dass wir beide

überlegten, was sie wohl tat, wenn sie bei ihrem neuen Liebhaber war, und dass wir beide an die Hoffnung und das Glück dachten, das nichts mit uns zu tun hatte.

Wie hätten wir es uns da verkneifen können, im Vorbeifahren einen Blick zu riskieren? Ich habe sie immer vor Augen, wie sie auf der Treppe des Hauses steht, hochgewachsen, reglos und unnahbar, als hätte sie ihr Ich an einem sehr fernen Ort versteckt, wo es niemand finden konnte. Als wir uns damals kennenlernten, war sie dreiundzwanzig, und meine Leidenschaft und ihre jugendliche Schönheit machten mich verrückt. Damals sah sie aus wie ein Teenager, und genau das war sie auch geblieben. Unruhe und Umtriebe der Welt waren ihr so gleichgültig, als hätte sie all das längst erlebt, als hätte sie alles so lange ausprobiert, bis es nichts mehr zu tun gab, nichts mehr gab, woran man noch hätte glauben können.

In erster Linie war sie mit »Wehwehchen« beschäftigt - mit Krebs, Tumoren, Krankheiten. Ihr Körper war permanent in der Krise und stand immer kurz vor dem Zusammenbruch. Sie betete die Ärzte an: Ein Esel mit einem Abschluss in Medizin war ein Zuchthengst für sie. Im Grunde ging es ihr jedoch darum, die Ärzte zu frustrieren, wenn nicht gar in den Wahnsinn zu treiben, wie ich zu meinem eigenen Leidwesen erfahren musste. Ihre Berufung war die aussichtslose Suche nach Therapien. Anfänglich behandelte Freud hysterische Frauen, und eine der ersten Erkenntnisse, die er über sie gewann, lautete wie folgt: »Es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, wie der Gesunde sie wohl auch im Traume bildet.« Josephine träumte im Wachen, aber auch ihre Abenteuer als Schlafwandlerin waren bizarr - auf den Ausflügen, die sie aus dem Haus in die Nacht unternahm, rannte sie mit dem Kopf gegen Bäume. Wenn man einen Menschen liebt, dem es schlecht geht, muss man sich natürlich immer wieder fragen: Liebe ich sie, oder liebe ich ihre Krankheit? Oder anders: Bin ich ihr Liebhaber oder ihr Medizinmann?

»Okay?«, fragte ich, als Rafi gesehen hatte, dass sie schon weg war. »Ja.«

Die Fahrt zu meiner großen Schwester dauerte zwanzig Minuten. Rafi, viel geschickter mit der Technik als ich, holte im Auto eine silberne CD aus seiner Tasche und legte sie ein. Ausgerechnet mexikanischer Hip-Hop. Sam, Henrys Sohn, nahm Musik für ihn auf, Henry brachte sie vorbei, und Rafi und ich hörten sie dann gemeinsam. (»Dad, was ist eine >Ho<?« »Frag deine Mutter.«) Rafi hatte das Glück, zweisprachig zu sein: Zu Hause redete er meist wie die Mittelschicht, auf der Straße und in der Schule benutzte er seine andere Sprache, Gangsta. Er hatte den Vorteil, beide einsetzen zu können. Unterwegs checkte Rafi im Spiegel des Beifahrersitzes seine Frisur und warf sich Kusshändchen zu - »Pimp, du bist hip!« -, dann zog er sich eine schwarze Kapuze über den Kopf. Ich merkte, dass er wieder das teure Parfüm seiner Mutter aufgelegt hatte, was einen Gefühlssturm in mir auslöste, doch es gelang mir, den Mund zu halten. Es mag unglaublich klingen, aber wir hatten den gleichen Musikgeschmack, und oft gefielen uns auch die gleichen Filme. Ich trug seine T-Shirts und wollte sie nicht mehr hergeben, und er zog meine Kapuzenjacken und Converse All-stars an, die zwar groß, aber nicht zu groß für ihn waren. Ich freute mich schon auf die Zeit, wenn ich mir keine Jeans mehr kaufen musste, weil ich dann seine tragen konnte.

Miriam wohnte in einem rauen, mehrheitlich weißen Viertel in einer Gegend, die früher Middlesex geheißen hatte - vor kurzem zu Großbritanniens unbeliebtester Grafschaft erkoren -, obwohl London allmählich alles schluckte. Der Schmutz der Stadt breitete sich immer weiter aus.

Typische Gestalten auf der Straße waren junge Männer mit grüner Bomberjacke, Jeans und auf Hochglanz polierten Stiefeln, gefolgt von spärlich bekleideten Teenagern mit straff nach hinten gebundenem Haar (»Croydon-Face-Lift« genannt), die einen Kinderwagen schoben. Außerdem hingen dort mürrische Mädchen in Micro-Minis herum, umschwirrt von Jungs auf Fahrrädern, die Alkopops mit Wodka tranken und die Flaschen in die Gärten warfen. Zwischen all diesen Saufnasen, Schuldnern und Fettklößen waren muslimische Frauen mit Kopftuch unterwegs, die eilig ihre Kinder hinter sich herzogen.

Vor Miriams einzeln stehendem Sozialbau drückte Rafi auf die Hupe. Eines ihrer hilfsbereiten Kinder schoss heraus und fuhr das Auto weg, sodass ich vorne auf dem Hof parken konnte, direkt neben den zwei verkohlten Armsesseln, die schon seit einem Vierteljahr dort standen.

Sie hatte, glaube ich, fünf Kinder von drei Männern. Oder waren es drei Kinder von fünf Männern? Ich war nicht der Einzige, der den Überblick verloren hatte. Immerhin wusste ich, dass die beiden Ältesten nicht mehr zu Hause wohnten: Das Mädchen war bei der Feuerwehr, und der Junge arbeitete in einem Übungsstudio für Bands. Beide hatten ihr Leben im Griff. Nach dem Wahnsinn ihrer Kindheit und Jugend hatte sich Miriam ganz der Aufgabe verschrieben, ihre Kinder großzuziehen, und sie war stolz darauf, es geschafft zu haben.

Die Gegend war von Gangs verseucht, und rechte politische Parteien fanden viel Unterstützung. Sie hatten die Muslime im Visier, die sie häufig auf der Straße überfielen und deren Schicksal vor allem von den Nachrichten des jeweiligen Tages abhing. Wenn ein Kandidat der Rechten irgendwo in der Nähe von Miriams Haus Wahlwerbung für sich zu machen versuchte, sprang sie von ihrem Stuhl, rannte vor die Tür und schrie: »Ich bin eine alleinerziehende Muslim-Mutter und eine durchgeknallte Paki-Schlampe! Wenn jemand was dagegen hat, soll er das sagen!« Dabei schwang sie einen Kricketschläger über dem Kopf, und ihre Kinder und Bushy, ihr »Assistent«, versuchten, sie wieder ins Haus zu zerren.

Doch mit Miriam mochte sich niemand anlegen. Sie hatte sich die Achtung der Leute erworben, oft sogar ihre Zuneigung. Heute klingt das vielleicht schräg, doch als Teenager war sie ein Hell's Angel. Diese Phase dauerte, wenn ich mich nicht irre, nur einen guten Monat, weil sie bald zu der Einsicht gelangte, dass großspurige Jungs aus Kent

eigentlich zu brav für sie waren. »Muskelpakete in Lederkluft«, nannte sie diese Typen. »Keine echten Biker.« Kein Wunder, dass ich ein Intellektueller wurde.

Außerdem trug sie im Pub vor Ort Faustkämpfe aus, sowohl mit Männern als auch mit Frauen. »Wenn ich stinksauer bin, geht es mir am besten«, erklärte sie mir einmal. Sie wurde immer die Halbinderin oder die Halbidiotin genannt. Die Promenadenmischung. Damals wünschte ich mir regelmäßig, dass ihr mal jemand so richtig die Fresse polierte, weil ich hoffte, dass sie das in jemanden verwandeln würde, den ich mochte oder wenigstens verstand. Es war schon eine Leistung und etwas, worauf ich stolz war, dass wir - obwohl wir den Kontakt, wenn auch zögerlich, immer gehalten hatten - im Laufe der letzten zwei Jahre enge Freunde geworden waren. Inzwischen besuchte ich sie regelmäßig zu Hause.

Ich brauchte lange, um Miriam etwas abgewinnen zu können, vor allem, weil sie Mama und natürlich auch mich so oft in haareraufende und köpf schwirrende Verzweiflungsanfälle gestürzt hatte. Ich kann allerdings nicht leugnen, dass das Chaos, das sie hier und in Pakistan anrichtete - davon wird noch zu berichten sein -, halb so schlimm war wie jenes Verbrechen, das ich begangen habe.

Ich lebe jeden Tag mit einem Mord. Einem echten. Ich, ein Mörder. Schön - ich habe es gesagt. Es ist heraus; und jetzt ist alles anders. Bis ich diese Worte niedergeschrieben habe, wusste nur eine andere Person Bescheid. Falls sich die Sache herumspricht, könnte das meiner Karriere als Seelendoktor schaden. Es wäre schlecht fürs Geschäft.

Die Hintertür von Miriam war wie immer offen. Rafi rannte ins Haus und verschwand nach oben. Er wusste, dass sich dort eine kleine Schar von Kindern die neuesten X-Box-Spiele anschaute oder DVDs mit thailändischen Untertiteln brannte, die man in einem Kino in Bangkok direkt von der Leinwand raubkopiert hatte. Ich war froh, dass sich mein Sohn in den Lärm und das Gewirr begab. Die Kinder hier in der Gegend wirkten älter und nicht ganz so naiv wie er, obwohl sie im gleichen Alter waren. Für sie war die Schule vor allem lästig.

Doch Miriams Kinder und auch Miriam selbst ließen es nicht zu, dass die Nachbarn Rafi drangsalierten. Wenn er wieder herunterkam, waren seine Augen jedes Mal überanstrengt und er war fast stumm, hatte aber meist viele neue Begriffe aufgeschnapt, zum Beispiel »voll krass«, »das schockt«, »hektisch«, »chillig bleiben« und, zu meiner Überraschung, »radikal«, ein Wort, das ich stets mit Hoffnung und dem ersehnten Bruch der Routine verbunden hatte, Assoziationen, von denen es inzwischen getrennt worden war. Rafi hasste es allerdings, wenn ich seine neuen Begriffe bewunderte. Sagte ich zum Beispiel: »Radikalhektisch, Mann!«, dann murmelte er immer: »Voll peinlich. Trüber, fetter, kahler, alter Mann fast tot. Besser Klappe halten.«

Meine Frau, Josephine, hatte Miriam immer gemocht. Zu Anfang hatte sie sich sogar sehr um sie bemüht, dann aber gemerkt, dass ihr meine Schwester schnell zu anstrengend wurde. Sie beneidete Miriam um

deren »Egotismus«, sagte aber auch, dass Miriam in der Hoffnung rede und rede, auf etwas Erzählenswertes zu stoßen, und verglich ihren nicht abreißenden Redefluss mit dem langsamen Ersticken unter einer Plastiktüte.

Josephine kommunizierte lieber durch ihre Wehwehchen, und sie war neidisch und misstrauisch, wenn jemand zu beredt und wortgewandt war. Gleichzeitig hatte sie ein beachtliches Interesse an Gesprächen -oder Büchern - über Migräne, Krebserkrankungen und Verdauungsstörungen, Viren, Infektionen und Albträume, Beschwerden, die sie mit Karotten, Bananensäften und schweißtreibenden Yogaübungen zu kurieren versuchte. Sie schluckte so viel Aspirin, dass ich mit der Zeit argwöhnte, sie würde es für ein Vitamin halten.

Angeblich wusste Josephine immer sofort, dass Rafi bei Miriam gewesen war: Seine Sprache sei dann derber als sonst, sagte sie. Wie es wohl alle Eltern zwangsläufig tun, hatten wir uns heftig darüber gestritten, was dem Kind zuzumuten sei. Bei mir konnte er fernsehen, essen, was er wollte, und auch Schimpfworte benutzen, je phantasievoller, desto besser. Ich bezeichnete das als« mit der Sprache und ihren Möglichkeiten vertraut werden«. Eine Weile sprach er mich nur mit Mr Mösenfotz an. »Na, und?«, sagte ich zu Josephine. »Immerhin nennt er mich >Mister<, das zeugt von Respekt.« Aus ihrer Sicht war ich lasch, lax, laisser-faire. Was nützte ein Vater, der keine Grenzen ziehen konnte? In den wütenden und quälenden Debatten mit Josephine ging es stets um die grundlegendsten Dinge - um unsere Vorstellung davon, was ein guter Mensch war und wie er reden sollte.

Kürzlich hatte ich Rafi ein neues Fahrrad gekauft. An den Wochenenden marschierte ich strammen Schrittes nach Barnes oder Putney, und er radelte neben mir her. Oder er überredete mich, mit ihm in ein Einkaufszentrum zu gehen - seltsamerweise sein Lieblingsort -oder zur Kunsteisbahn am Queensway, damit er in der dortigen Arkade Killer- und Ego-Shooter-Spiele spielen konnte. Manchmal schlitterten wir auch schreiend über das graue Eis. Ich beobachtete gern die Teenager, die schwatzten oder Billard spielten, die Mädchen aufgemotzt und von den Jungen angeglotzt. Von allen Menschen war ich am liebsten mit meinem Sohn zusammen, aber seit kurzem verspürten wir beide eine Einsamkeit oder Leerstelle in unserem Leben.

»Hey, Jungs!«, sagte Miriam, als wir eintraten, und bat eines ihrer Kinder, uns etwas zu essen zu holen. »Gib mir einen Kuss, Jamal, kleiner Bruder.« Sie hatte sich zurückgelehnt und beide Arme ausgebreitet. »Niemand küsst mich mehr.«

»Aus Angst, durchbohrt zu werden?«

Ich wurde an das Gesicht meiner Schwester gezogen, doch ein Kuss war riskant. Man musste sich stets die Position der vielen Ringe und Stifte vergegenwärtigen, die Augenbrauen, Nase, Lippen und Kinn zierten. Manche Abschnitte ihres Gesichts ähnelten einer Vorhangstange. »Hüten Sie sich vor Magneten«, war der einzige Kosmetiktipp, der mir dazu einfiel. Ich hasste es, mir vorzustellen, was passieren würde, wenn sie in ein Flugzeug steigen wollte - am

Flughafen würden sämtliche Alarmanlagen schrillen, obwohl Piercings nicht unbedingt ein Erkennungsmerkmal von Terroristen waren.

In einer Ecke der Küche packte Bushy, der Fahrer, Zigaretten in einen Koffer. Überall im Haus lagen schwarze Säcke mit Schmuggelware herum wie die Losung eines Riesen. Vor seinem Job als Caddie war Bushy Einbrecher gewesen. Er nannte mich »Kumpel«, seit ich ihm gebeichtet hatte, als junger Mann zwischen einer akademischen Karriere und einer als Einbrecher geschwankt zu haben. Ich hatte sogar einmal bei einem Einbruch mitgemacht, für den ich mich immer noch schämte.

Gelegentlich traf ich Bushy im Cross Keys, einem nahen Pub, in dem es ziemlich rau zuging. Dort war ich oft, um einen zu trinken, vor allem während der endlos langen und zermürbenden Tage vor und nach der Trennung von Josephine, als sie immer noch abstritt, eine Affäre zu haben, und das Traumbild zerstörte, das ich von ihr hatte, obwohl ich ihr wiederholt versicherte, ich wisse längst, was Sache sei. Keiner meiner Freunde konnte diesem Pub etwas abgewinnen, aber alle fanden Josephine sympathisch und nett und meinten, dass sie viel unter meinen Launen und meinem ausweichenden Verhalten zu leiden gehabt hätte. Nach der Trennung von Josephine konnte ich merkwürdigerweise wochenlang keine Musik mehr ertragen, und das Einzige, was ich hörte, waren die Scheiben, die im Cross Keys liefen.

»Na, was ist los, Doc?«, fragte Bushy. Er sah sich vorsichtig um, bevor er flüsterte: »Wie wär's mit ein bisschen Viagra? Ein Mann ohne Viagra ist wie ein Motor ohne Saft.«

»Du weißt doch, dass ich nichts verschreiben kann, Bushy. Außerdem hat ein Kerl wie du das gar nicht nötig.«

»Ich wollte«, erwiderte er, »eigentlich wissen, ob du eine Dröhnung brauchst. Ich kann dir eine nagelneue Lieferung dieser geilen blauen Sorte bieten. Das Zeug sorgt dafür, dass du tagelang geladen bist wie eine Haubitze - garantiert echte erste Sahne.«

»Und wozu soll er geladen sein, wenn er nichts mehr hat, worauf er feuern kann? In seinem Fall wäre das reine Verschwendung«, rief Miriam. Dafür, dass sie gern behauptete, taub zu sein, bekam sie ziemlich viel mit.

»Stimmt das?«, fragte Bushy, der mich einigermaßen verdutzt anschaute.

»Voll und ganz«, antwortete ich.

»Junge!«, sagte er. »Wo kommen wir denn hin, wenn nicht einmal mehr ein niedergelassener Arzt seinen Schwanz anfeuchten kann?«

Miriam hatte sich auf ihren Platz am langen Küchentisch gesetzt. Dort verbrachte sie tagsüber und abends sehr viel Zeit auf einem stabilen Holzstuhl, von dem aus sie bequem an ihre zahllosen Tabletten und auch an ihre Vitamine, ihre Zigaretten und ihr Dope kommen konnte. Sie konnte ohne hinzuschauen ihre drei Handys orten, eine Tasse Tee, ihr Adressbuch, ihre Tarotkarten, den großen, von Dope überquellenden Karton, diverse Katzen und Hunde und außerdem Packungen mit halb aufgegessenen Keksen, einen Haschischkuchen, die Fembedienung für den Fernseher, einen Taschenrechner, einen Computer und einen Hausschuh, den sie entweder warf - dies für die Hunde - oder dazu benutzte, um ihre Kinder abzuwatschen, wenn diese das Pech hatten, an ihr vorbeizulaufen, wenn sie gerade auf hundertachtzig war.

Ihr Laptop lief immer, obwohl sie ihn meist abends benutzte. Die unbegrenzte Anarchie des Internets war ein Glücksfall für Verrückte wie sie. Sie konnte sich unzählige Identitäten mit unterschiedlichen Geschlechtern erschaffen. Fotos von körperlosen Genitalien wurden ausgetauscht, nachdem diese frei im Cyberspace flottiert waren. »Und wem gehören diese Eier?«, wollte ich wissen. »Sie sehen etwas merkwürdig aus mit dem Gesicht, das man daraufgekratzt hat.«

»Wen interessiert das? Die gehören vermutlich irgendeinem Mann, oder?«

Sie saß nur selten allein in der Küche. Entweder stand eines ihrer Kinder da und wartete auf eine Gelegenheit, zu Wort zu kommen, oder es war mindestens eine Nachbarin anwesend, meist mit Baby, der Miriam gute Ratschläge gab, in erster Linie medizinischer, juristischer, hellsichtiger oder religiöser Art. Der Tisch diente also in gewisser Weise als »Praxis«. Bushy Jenkins, der Mini-Cab-Fahrer, ihre rechte Hand, war von unbestimmbarem Alter, konnte aber eigentlich nur jünger sein, als er aussah - und er sah aus wie der todgeweihte Dylan, nicht Bob, sondern Dylan Thomas: rotbackig, puttenhaft und mit einer Haut, deren Textur und Farbe stellenweise an ein Tabakblatt erinnerte.

Bushy kannte ich nur im grauen Anzug, und man konnte wohl getrost davon ausgehen, dass er ihn nie auszog, geschweige denn reinigen ließ. Vielleicht wischte er hin und wieder darüber, wie man über eine Arbeitsplatte in der Küche wischt. Bushy verbrachte viel Zeit bei Miriam, er aß und trank bei ihr, nahm Anteil an dem, was mit den Kindern los war, den Tieren, darunter auch ein Piranha, und manchmal, wenn Miriam vom Stuhl gekippt war, legte er sich zum Schlafen auf den Fußboden.

Tatsächlich hatte Bushy kein Zuhause. Die meisten seiner Besitztümer bewahrte er im Auto auf. Er blieb bei Miriam, hatte dort aber weder Zimmer noch Bett. Ich bin immer daran interessiert, wie sich die Menschen auf ihr Traumleben und ihr Zubettgehen vorbereiten und wie ernst sie dies nehmen - sich hinzulegen und zu träumen. Doch Bushy schlief auf dem Küchenfußboden, gemeinsam mit den Katzen. Ich hatte ihn dabei gesehen, schnarchend und mit einen Sack unter dem Kopf. Miriam hatte oft behauptet, Bushy sei eine Art Genie auf der Gitarre, er spiele besser und ungewöhnlicher als jeder, den sie live gehört habe. Allerdings erzählte mir Bushy - als ich ihm vorschlug, er solle unsere Sorgen mit einer Melodie vertreiben -, dass er kein Instrument mehr angerührt habe, seit er nichts mehr trinke. Nüchtern könne er nicht spielen. Ich erwiderte, dass Menschen oft nichts richtig gut machen könnten, wenn sie sich nicht verloren genug fühlten, wenn sie nicht das Gefühl hätten, »verlassen« zu sein. »Ich bin verlorengegangen«, sagte er. »O ja. Und verlassen.«

»Dann wird dein Talent neu erwachen«, sagte ich.

»Weiß nicht, weiß nicht«, erwiderte er. »Meinst du echt?«

Die meiste Zeit kurvte Bushy Miriam und ihre Mannschaft durch die Gegend. Er fuhr Miriam - meist in Begleitung einer ganzen Karawane von Nachbarinnen, Kindern und Tieren - zu ihrer Wahrsagerin und zu ihrem Physiotherapeuten, ihrer Auraleserin und ihrem Zigarettenschmuggler, zum Tierarzt, zur Bowlingbahn oder zum Tätowierer. (Keines ihrer fünf Kinder durfte sich tätowieren lassen, doch aufgrund eines flüchtigen Interesses an der Pornographie - früher für kurze Zeit mein Job - wusste ich, dass Scarlett, die älteste und inzwischen schwangere Tochter, einen fliegenden Fisch auf der Innenseite eines Oberschenkels hatte.) Seit Miriam sich nicht mehr piercen ließ, war sie allerdings selbst zu einer wandelnden Illustration oder einem Wandgemälde auf zwei Beinen geworden, vor allem, da sie immer mehr in die Breite ging. »Mehr Bilder als die Täte«, pflegte ich zu sagen, wenn sie mir wieder einen neuen Fisch oder eine neue Flagge unten auf ihrem Rücken vorführte.

Bushy kutschierte Miriam auch zu den von ihr so genannten »Torturen«, den tagsüber laufenden TV-Shows, in denen sie oft auftrat und ihrer Meinung nach eine gewisse Berühmtheit genoss. Wenn es um Torturen ging, hatte sie ein dickes und kunterbuntes Portfolio von Klagen parat. Sie konnte an jeder Sendung teilnehmen, in der es um Gewichtsprobleme, Drogensucht, Missbrauch in der Familie, Tätowierungen, Teenager, Vergewaltigung, Wut, Rassenhass oder lesbische Liebe ging - oder um jede beliebige Kombination dieser Themen.

Wenn man wollte, oft auch, wenn man nicht wollte, zeigte sie einem Videos dieser Sendungen. Man hatte nicht den Hauch einer Chance, sich darüber lustig zu machen. Wenn ich über die ersten Verfasser von Bekenntnissen sprechen wollte, die ich als junger Mann gelesen hatte, etwa den heiligen Augustinus, Rousseau, De Quincy oder Edmond Gosse, bezeichnete Miriam ihre Torturen als zeitgemäße Therapie für die ganze Nation. Die Menschen, die in diesen Sendungen auftraten, würden das Gleiche tun wie ich, nur, dass es allen nütze, öffentlich und gar nicht versnobbt und auf jeden Fall amüsanter sei.

Seit kurzem, »weil man überall Krieg macht«, suchte Miriam einen weisen Wolf auf. Bushy fuhr sie zu einem Heiligtum, wo sie sich zu einem weisen Wolf setzte, manchmal auch zu dessen Angehörigen. Sie glaubte, dass diese Tiere nicht mit jedem Zwiesprache hielten. Man musste »den Geist« besitzen. Und niemand konnte bezweifeln, dass sie vor allen anderen Menschen mit diesem Geist gesegnet war.

Wie gesagt: Ich weiß nicht, wie Bushy vom Taxifahren leben konnte, aber vermutlich zahlte Miriam ihm einen bestimmten Prozentsatz ihrer Einkünfte. Wenn er von jemandem auf die typisch englische Art gefragt wurde, was er tue, antwortete er stets: »Nichts ohne Kohle.« Doch Miriam und ich wussten, dass Bushy etwas von der Genialität unseres Großvaters besaß, und vielleicht mochten wir ihn deshalb. Sie hatte aber auch etwas davon: Miriam schob immer irgendwelches Geld hin und her, und Bushy war ein bewährter Assistent bei ihren zahlreichen kleinen Geschäften: Geschmuggelte Fernseher, Computer, iPods, Telefone, Zigaretten, Pornos, dazu Alkohol und Hasch und außerdem noch Lederjacken und DVDs. All das erwarb und verscherbelte sie mit seiner Hilfe und der ihrer älteren Kinder in der Nachbarschaft, meist jedoch im Cross Keys.

Vor einiger Zeit hatte sie einem polnischen Bauhandwerker zweihundert gestohlene Levis-Jeans abgekauft. Nachdem sie festgestellt hatte, dass alle Größe 46 waren, verbrachten wir ein ganzes Wochenende mit dem Abtrennen der Etiketten, damit sie so tun konnte, als würde es sich um verschiedene Größen handeln. Sie wusste, dass die Leute, geblendet vom Schnäppchenpreis, die Hosen beim Verkauf aus dem Auto nicht anprobieren würden. Sie erwarb auch eine ganze Ladung Turgeniew-Wodka, der sie 5000 £ kostete. Ich half ihr mit einem Kredit aus, und schon bald überschwemmte der billige Fusel die örtlichen Pubs und Clubs. Sollten die Leute doch Magenblutungen bekommen, egal, wir hatten, wie Miriam sich ausdrückte, »einen guten und ehrlichen Gewinn gemacht«.

Miriam war in krimineller Hinsicht viel begabter als meine früheren Kumpel und Komplizen Wolfgang und Valentin, ja, sie war so hochbegabt, dass ich sie gern als Unternehmerin bezeichnete, aber dafür hatte sie nur Hohn und Spott übrig. Immerhin stimmte es, dass sie ihr Geschäft über viele Jahre hinweg aufgebaut hatte. Dazu waren Gerissenheit, Wagemut und die Fähigkeit erforderlich, andere Menschen einschätzen zu können, und sie konnte sich und ihre Familie sowie einige Nachbarn damit über Wasser halten - eine durchaus beachtliche Leistung. Mit Recht und Gesetz stand sie daher nicht auf gutem Fuß, sondern eher auf Kriegsfuß. Recht und Gesetz bedeuteten nackte Gewalt, und beides musste gemieden und ignoriert werden. Sie behauptete gern, noch nie in einem Regierungs-Computer gespeichert gewesen zu sein, und es klang immer so, als wäre das eine Befreiung für sie.

Obwohl sie mich großherzig »Seelendoktor« nannte, war ich in ihren Augen nicht so ehrenwert, als dass mein feuchter und enger Keller nach meiner Scheidung und meinem Umzug in die zwei Stockwerke jener Wohnung, die ich als Büro und Praxis benutzte, nicht von Plastiktüten mit heißer Ware überquoll, die Bushy gebracht hatte. Außerdem hatte sie Rollen Luftpolsterfolie bei mir deponiert, für die sie weder Platz noch Käufer hatte. Doch im Grunde war ich froh, weiter die Grenzen des Erlaubten überschreiten zu dürfen, und sei es in einer so niederen Funktion. Wenn ich die Zeit fand, packte ich Rafis alte Halb- und Fußballschuhe mit der Luftpolsterfolie ein, damit sie nicht feucht wurden - zum Gedenken an seine entschwindende Kindheit.

Als Jugendlicher hatte auch ich mich mit Popstars und Filmen beschäftigt, um hipper zu werden, war aber stets der stille, brave Bücherwurm geblieben. In unserem Haus war kein Platz für zwei Selbstdarsteller, und außerdem glaubte ich, insgesamt gesehen weniger Ärger zu bekommen, wenn ich mich benahm und nicht aufmuckte. Vater hatte mich nie beschützt. Er hatte nur kurz bei seiner englischen Frau, unserer Mutter, und uns - seinen zwei Mischlingskindern - gelebt und war dann auf den heimischen Subkontinent zurückgekehrt, um sich in Pakistan niederzulassen, von ihm »das neue Land« genannt. Er wohnte in Karatschi und fand vorübergehend eine neue Frau, reiste aber meist als Journalist durch China, Amerika oder Mexiko.

Mutter und Miriam waren so wütend ineinander verstrickt wie ein Ehepaar. Da ich nicht gegen Miriam anstinken konnte, hatte ich ihr immer zugehört. Mit der Zeit hatte ich allerdings kapiert, dass ich einfach loslegen musste, wenn ich etwas sagen wollte, laut und ohne Rücksicht auf Verluste. Was zur Folge hatte, dass wir weiterhin gleichzeitig redeten, so als würde Mutter, die ja immerhin zwei Ohren besaß, immer noch versuchen, uns zuzuhören. Zum Glück hatte Mutter, nicht nur quicklebendig, sondern auch bei bester Gesundheit, inzwischen Besseres zu tun, als uns ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Schon als Teenagerin, eine Zeit, in der sie meist schwanger und auf irgendeinem Trip gewesen war - Janis Joplin war ihr Vorbild -, hatte Miriam nie schlechte Laune gehabt. Ihrer Meinung nach lag es an unserem überhitzten Blut, dass wir so viel quasselten, rastlos waren und den Leuten gern etwas an den Kopf warfen, dies im wörtlichen Sinn. Mutter war rothaarig und hatte irgendwann einmal zur Boheme gehört. Als Kinder waren wir daher eine krause muslimisch-christliche Mischung, hatten eine alleinerziehende Mutter, damals noch eine Seltenheit, und wohnten in einem weißen, gutbürgerlichen Viertel.

Als ich mich jetzt an den Tisch meiner Schwester setzte, seufzte ich zufrieden. Eines der Kinder brachte mir Dal, Reis und Bier. Onkel, nannten sie mich voller Hochachtung. Ich schlug die Zeitung in der Hoffnung auf, etwas über das Sexualleben anderer Leute zu entdecken -vor allem über das von Politikern. Zuerst hatte ich erwogen, an diesem

Abend mit Rafi ins Kino oder in ein Restaurant zu gehen, aber hier war ich am liebsten, denn es war das einzige Familienleben, das ich noch hatte.

Manchmal aß Bushy mit mir. »Das reiß ich mir jetzt untern Nagel, Scheiße nochmal!«, schrie er dann und fiel über eine Schweinspastete her wie ein ausgehungerte Kobold, der soeben aus der Erde gekrochen war. Jetzt stand er allerdings mit seinem Beutel vor der Hintertür und sagte: »Hey, Jamal, ich hatte einen echt merkwürdigen Traum von einer Gitarre, einem Hund und einem Trampolin. Und...«

Miriam unterbrach ihn: »Gib Ruhe. Der Doktor behandelt keine durchgeknallten Träume - ohne Bezahlung.«

»Was muss ich denn blechen, um einen Traum gedeutet zu kriegen? Oder meinst du, es wäre billiger, den Mist einfach abzuhaken?«

»Gute Frage«, erwiderte ich.

»Ist auch nicht lang, der Traum.« Auf die Idee, pro Traum bezahlt zu werden und dann auch noch entsprechend der Länge, war ich noch nie gekommen. Vielleicht würde bei einer vorteilhaften Deutung ein Trinkgeld herausspringen. Er sagte: »Oder machst du das nur für die oberen Zehntausend?«

»Bushy, wenn ich Zeit habe, höre ich mir mal einen deiner Träume an, okay?«

»Tausend Dank, Boss, wäre großartig. Ich haue mich jetzt besser aufs Ohr.«

»Zisch endlich ab, Bushy«, sagte Miriam.

Dass sie mich in Schutz nahm, überraschte mich, denn in gewissen Gemütsverfassungen fand Miriam meine Arbeit eher lächerlich als amüsant. (Sie hatte mir einmal gesagt, der einzige Schriftsteller, den sie kenne, sei der Postzusteller.) Sie hielt meine »Verrückten« für Trottel, die mich dafür bezahlten, dass ich alles abnickte oder »Ach, ja?« sagte.

Wenn sie noch einen daraufsatteln wollte, waren es für sie ausschließlich Egotisten und moralische Wracks, die jede Menge Geld dafür berappten, ihre Schwierigkeiten in mein geneigtes Ohr gießen zu können. Allerdings hatte Miriam mich auch ermutigt, von meinen reichen Patienten mehr zu verlangen, damit ich es für andere billiger machen konnte. In die Gesetze des Marktes habe ich mich nie eingemischt, auch wenn das all jene erbosen mag, die noch Ideale haben. Die meisten Menschen finden es furchtbar, dass ihnen Geld so wichtig ist; sie sträuben sich gegen das, was sie sich wünschen. Wenn Miriam beschloss, einen ihrer Berater aufzusuchen, ging es ihr um knallharte Fakten. So teilte ihr zum Beispiel ein bestimmter »Kristall-Heiler« mit, ob es am Sonntag, für den sie einen Flohmarkt plante, Dauerregen oder »Hoffnung« geben würde. Anders gesagt: Ob sie gute Preise für ihre Luftpolsterfolie und die neue Kollektion der Wrap-around-Sonnenbrillen erzielen würde, die sie verhökerte.

Ich für meinen Teil pflegte im zeitgemäßen freudianischen Stil lieber Bescheidenheit. Ich würde nie behaupten, etwas »heilen« oder gar vorhersehen zu können. Wenn ich voreilig war, benutzte ich manchmal den Begriff »modifizieren« oder sprach etwas großspuriger davon, »die Fähigkeit des Patienten zur Freude durch den Abbau von Hemmungen zu vergrößern«. Doch unter dem Strich glaubte ich an die Wirksamkeit des Gesprächs - alles, was Freud von seinen Patienten verlangte, waren ungezähmtere Worte; sie sollten gar nicht anders leben - als eine Möglichkeit, verborgene innere Konflikte bloßzulegen.

Trotzdem raunte mir Bushy wie ein Geheimnis ins Ohr, dass Miriam zu mir aufschaue. Was möglicherweise daran lag, dass ihre Nachbarn inzwischen zu mir kamen, wenn sie Probleme mit ihren Kindern hatten -Ausschlag und Sucht, Phobien und Depressionen. Die Arbeiterklasse ist, was die seelische Gesundheit betrifft, immer am benachteiligtsten gewesen. Doch ich war gerührt, denn offenbar konnte ich Miriam wider Erwarten beeindrucken.

Als Kind war Miriam die Pest gewesen, cholerisch, herrisch, kreischend. Ein Mädchen, das behauptete, vernachlässigt zu werden, obwohl es im Mittelpunkt des Hauses stand und mich beiseitedrängte, oft handgreiflich. Eine Weile hatten wir uns allerdings gut verstanden.

Und zwar als Kinder, wenn wir im Schlafzimmer, das wir teilten, bis Miriam zehn Jahre alt war, Verschwörungen ausheckten. Mutter war nach oben in eine Abstellkammer gezogen, die wir »den Sarg« nannten. Miriam und ich spielten den Nachbarn Streiche, klauten Äpfel und durchstreiften auf der Suche nach Zoff gemeinsam die Felder. Wenn wir uns in die Wolle bekamen, nahm der Streit allerdings meist apokalyptische Ausmaße an, und sie zerkratzte mir wild das Gesicht. Selbst als Teenager war ich noch von Kratzern und Schnitten gezeichnet, und damals begann ich Miriam zu hassen, obwohl ich bei ihren Unternehmungen längst nicht mehr mitmachen konnte, weil sie zu erwachsen für mich waren.

Nun schien ich für Miriam also eine Art symbolischer Autorität zu sein. Glücklicherweise war diese Rolle wie die mancher Präsidenten rein formal und beinhaltete vor allem, dass ich mich setzte: In ihrem Haus war die Welt mein Sofa. Bis Henry auf der Bildfläche erschien, war Miriam immer nur mit dummen, brutalen oder drogensüchtigen Kerlen zusammen gewesen. Andererseits gab es in dieser Gegend nur wenige anständige Männer und überhaupt keine, die so sprachbewusst waren und so viel lasen wie ich. Wo steckten sie? Im Pub? Im Knast? Die Frage, wieso die Frauen und Mädchen dieses Viertels ständig schwanger waren, gab mir Rätsel auf. Diese Frauen, die eine Gesellschaft der Mütter und Babys bildeten, waren offenbar der Ansicht, die Männer ein für alle Mal loswerden zu müssen. Sie hätten sie mitsamt dem Sex, der für so viele Probleme sorgte, am liebsten abgehakt und komplett vergessen.

Hier hingen viele angeödete Halbstarke herum, mit weißen Sportschuhen, hochgegelter, glänzender Borstenfrisur und mit Metallreifen, die ihre Arme von den Ellbogen bis zu den Handgelenken bedeckten. Diese Reifen hatten sie zweifellos bei Miriam erworben, und wenn sie weiter mit Metall handelte, konnte sie bald ebenso gut eine Ritterrüstung tragen.

Gelegentlich glich ihre Küche einem Wartezimmer. Jungen, die sich in ihrer Gang sicher fühlten, aber keine Autoritäten kannten, die ihnen klarmachten, was gut und was schlecht war, warteten dann darauf, mit mir reden zu können, einem Teilzeit-Patenonkel aus der Vorstadt. Sie scharrten mit den Füßen, ihr Blick zuckte unruhig umher, sie brachten kaum ein Wort hervor: »Sir, wenn das okay ist, ich würd Ihnen gern sagen, die Tusse da ist schwanger ...« »Mister, ich hab da richtig fetten Mist gebaut...«

»Ich habe mit Dad geredet«, ließ Miriam mich wissen.

»Und? Wie geht es ihm?«

»Er braucht ein bisschen menschliche Wärme.« »Ist ziemlich einsam im Himmel, wie?«

»Manchmal schon. Weißt du, die Leute haben eine falsche Vorstellung davon.«

Da Miriam ihm auf dieser Welt nicht nahegekommen war, hoffte sie, in der »anderen« Dimension mehr Glück zu haben, und versuchte, dort Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wir hatten beide unter recht absurden und unguten Umständen Abschied von ihm genommen, und sie wünschte sich immer noch seine Vergebung und sein Verständnis.

Miriam war zwei Jahre älter als ich. Vor ihrer Emigration in die Extrembereiche der Exzentrizität war sie intelligenter, flinker und lustiger gewesen als ich, hatte bei schwierigen Themen die raschere Auffassungsgabe gezeigt und sich als weit weniger nervös und scheu erwiesen. Sie hielt es für Zeitverschwendung, dass ich so viel las. Was bedeutete ein Buch schon im Vergleich mit echter Erfahrung? Mum und ich saßen zu Hause und lasen, doch Miriam, unserem Vater ähnlicher, war immer mit anderen zusammen, quasselte, trat Leuten auf die Zehen und führte wilde Dramen auf.

Derzeit dachte sie allerdings über wenig nach, das neu oder nicht alltagsgebunden war. Sie war ausgelaugt. Am liebsten hätte ich ihr vorgeschlagen, eine Reise zu unternehmen, an das Meer oder nach Venedig, an einen Ort, wo wir reden, ausspannen und die Batterien wieder auffüllen konnten, aber ich war auch erschöpft - die Trennung belastete mich, es war so ungeheuer anstrengend zu hassen! -, und im Grunde hatte ich keine Kraft für eine Reise.

Nachdem ich den Dal aufgegessen hatte, bat ich Miriam, Rafi zu rufen. Beim Klang ihrer Stimme sprang er immer auf wie von der Tarantel gestochen. Sobald er unten war, begann er zu quengeln, weil er über Nacht bleiben wollte. Nachts machten die Kinder oft wilden Radau, und wenn es ruhig war, konnte man ziemlich sicher sein, dass sie Dumb and Dumber oder, um vier Uhr früh, Blade 2 schauten. Rafis Leben, das sich bei seiner Mutter und mir abspielte, war viel zu geordnet, aber ich konnte ihn zur Frühstückszeit nicht bei Miriam abholen. Mein erster Patient kam um sieben Uhr, und mir fehlte die Zeit, um seine Schultasche zu packen, ihm ein Pausenbrot zu schmieren und seine Fußballsachen zusammenzusuchen.

Bevor wir aufbrachen, fiel mir ein, dass ich Miriam ja um Dope bitten wollte.

»Einer meiner Freunde braucht es«, sagte ich. »Ich verrate dir allerdings nicht, um wen es sich handelt.«

»Also Henry. Gut, wenn er es ist, muss ich wohl aufstehen«, sagte sie und ließ das Zeug, das sie auf dem Tisch in einem Schuhkarton aufbewahrte, links liegen. »Das hier erspare ich dir. Da wäre es besser, wenn du dir Hefeextrakt in den Joint stopfst.«

Als sie aufstand und sich beim Umhergehen auf die Möbel stützte, fiel mir auf, wie schwer sie geworden war, und sie nahm immer noch zu.

Während sie in diversen Schubladen und Beuteln kramte, prüfend schnüffelte und drückte und nach dem inzwischen abgezwitscherten Fahrer rief: »Bushy, Bushy! Wo ist denn das gute Kraut?«, erzählte ich ihr, dass Henry eine Produktion von Ibsens Geister ins Auge gefasst habe. Vor vielen Jahren hatte ich Miriam in eine Aufführung kurzer Stücke von Beckett mitgenommen, die Henry gemeinsam mit Studenten inszeniert hatte. Diese zum Semesterabschluss aufgeführten Stücke mit angehenden Schauspielern, die Henry alle paar Jahre auf die Bühne

brachte, waren hoch angesehen, und im Publikum saßen sehr viele andere Regisseure, Autoren und sogar Kritiker. Die damalige Aufführung schien Miriam beeindruckt zu haben, jedenfalls glaubte ich das, denn sie war verstummt. »Was hat Henry denn für einen Job?«, fragte sie am Ende. »Kann man noch mehr Stücke von diesem traurigen Beckett sehen?«

»Okay?« Nachdem sie kapiert hatte, dass Bushy in das Cross Keys verschwunden war, hielt sie nun ein Stück Hasch von der Größe eines Würfels hoch. »Warum will dein Freund das Zeug?«

»Offenbar hat Henry auf seine alten Tage die Ausschweifung entdeckt«, antwortete ich. »Er trinkt auch mehr als früher. Wein hat er immer gemocht, aber jetzt geht es ihm um den Affekt.«

»Darf es noch etwas sein?«, fragte sie.

»Woran denkst du?«

»Will er vielleicht Pornos?« Sie musste kichern. »Weißt du noch, wie du mal in der Branche gearbeitet hast?«

»Danke, dass du mich daran erinnerst. Ich wünschte, ich hätte dir nie davon erzählt.«

»Erzählst du mir denn nicht alles?«

»Ich versuche, manches für mich zu behalten.«

»Aber du hast nicht die Drehbücher geschrieben, oder?«

»Nein, die Drehbücher nicht«, antwortete ich.

»Damit hättest du richtig Kohle gemacht. Und du hast auch nicht in Pornos mitgespielt?«

»In Gottes Namen, Miriam, wie würde ich mich wohl als Schauspieler machen, vor allem ohne Hose?«

»Erzählst du deinen Patienten von deiner anrüchigen Vergangenheit?«

»Die bleibt außen vor. Für meine Patienten muss ich eine leere Leinwand sein. Und was Henry betrifft«, fuhr ich fort, »er behauptet, zu alt für Sex zu sein, und meint, sein Körper gleiche einer Portion Spaghetti - oder einem Erdrutsch. Sein Sohn geht unter anderem mit einer Modejournalistin. Wenn sie durch Henrys Wohnung tigert, trägt sie Hausschuhe und ein rotes Seidenkleid, und das fällt manchmal auf und enthüllt seinen verblüfften Augen schimmernde Reizwäsche und noch Grauenhafteres. Stell dir mal vor, wie quälend das für ihn ist. Er glaubt, diese Pantoffel-Schönheit würde sich das nur erlauben, weil sie ihn nicht für einen Mann, sondern für einen impotenten Greis hält.«

»Der arme Kerl.« Ihr Blick bohrte sich in mich hinein. »Aber sie gefällt dir auch, diese Frau, oder? Dieses Pantoffel-Luder? Hast du dich mit ihr getroffen?«

»Ja.«

»Was ist gelaufen?«

Ich zögerte. »Du merkst aber auch alles. Ich habe mich mit ihr verabredet. An einem Abend, als Henrys Sohn unterwegs war, sind wir am Fluss spazieren gegangen und haben bei mehreren Pubs haltgemacht, um Whisky Macs zu trinken. Am Ende war ich völlig blau. Ich muss gestehen, dass ich für niemanden je so starke Gefühle

entwickelt habe, nicht einmal für Ajita. Danach bin ich eine Woche lang jeden Morgen mit dem Gedanken an sie aufgewacht. Das war ein Delirium. Als hätte man mich in ein Fass mit Wahnsinn getaucht.« »Und?«

»Nichts >und<. Sie hat die Sache ganz anders gesehen. Hätte sie mir mit einem Wort Hoffnung gemacht, dann wäre ich ihr überall hinterhergelaufen. Aber ich hatte nicht das zu bieten, was sie wollte.«

»Ach, Jamal. Und der arme Henry.« Sie kramte wieder herum. »Falls ihm der Sinn nach Pornos steht - sie sind in deinem Keller, in einem Pappkarton.«

»Echt wahr?«

»Bedien dich und gib ihm auch ein paar. Kennst du Jordania?« »Da bin ich nie gewesen.«

»Nicht >Jordanien<, du Idiot, sondern >Jordania<. Sie ist ein Pornostar. Sie spielt in einigen Filmen mit. Zusammen mit Schwarzen. Kennst du sie etwa nicht?«

»Du hältst mich für einen Intellektuellen, aber da liegst du falsch. Am liebsten ergötze ich mich am Fernsehprogramm des späten Abends.« Ich fügte hinzu: »Habe ich dir erzählt, dass Henry das Angebot ausgeschlagen hat, zum Offizier des Order of the British Empire ernannt zu werden?«

»Warum hat er abgelehnt?«

»Die Anständigkeit seiner Generation kotzt ihn an. Früher waren sie alle Hippies mit langer Mähne, heute sind sie alle Schuldirektoren mit Glatze. Blair ist ja auch eine Mischung aus Pfadfinder und Mrs Thatcher. Henry hat beschlossen, die Fahne der Dissidenten hochzuhalten.«

Miriam schloss die Schublade, in der sie gewühlt hatte. »Ist doch unter Henrys Niveau, Eurer-scheiß-Majestät entweder in den Arsch zu treten oder hineinzukriechen. Da wird man genauso blöd wie die Leute hier in der Gegend.«

»Du hast ihn immer gemocht, ich weiß.«

»Ja, stimmt. Er hat nicht wie du auf mich herabgeschaut. Er hat mir immer bereitwillig erklärt, was er tut, obwohl ich eine fette und verrückte Philis ... - na, du weißt schon, was - bin.«

»Philisterin«, sagte ich. »Nächste Woche kommt er zum Lunch zu mir.«

»Ich besorge das Zeug und lasse es dir vorbeibringen.« Sie gab mir einen Kuss. »Ich liebe dich so sehr, Bro.«

Auf dem Heimweg spielte Rafi Beethovens Neunte auf seiner jaulenden Mundorgel, was mich immer zum Lachen brachte. Aber hinterher lobte ich ihn für sein Spiel. Dann gab er sein Gespräch zwischen einem Iren, einem Jamaikaner und einem Inder zum Besten, und wir bauten fast einen Unfall.

Als wir um die Ecke bogen, huschte etwas über die Straße, das wie eine Sammlung brauner Ellbogenflicken aussah.

»Ein Wolf!«, sagte Rafi. »Ob er uns angreift?«

»Das ist ein Fuchs«, erwiderte ich. »In dieser Gegend gibt es keine Wölfe, die menschliche Art ausgenommen.«

Wir waren im Haus. Da es ein warmer Abend war, öffnete ich die Türen zum Garten. Zuerst würde ich Rafi zu Bett bringen, dann würde ich mich mit einem Glas Wein und dem Rest des gestrigen Joints nach draußen setzen. Es war noch so hell, dass ich die Katzen hinten auf der Mauer sehen konnte. Nicht meinen grauen Kater - der lag auf dem Bett, den Kopf in meiner Umhängetasche vergraben -, sondern die schwarze Katze von nebenan mit rotem Halsband und weißem Gesicht und den getigerten Kater, den Schrecken der Nachbarschaft, fauchend und zu jeder Schandtat bereit, mit gesträubtem Fell und gefährlich funkelnden Augen. Eben sah es so aus, als schlügen sie sich gegenseitig mit den Pfoten ins Gesicht.

»Hey, Rafi, sieh dir das an. Ich glaube, diese Katzen werden gleich heiraten«, sagte ich. »Die Mauer sieht allerdings nicht sehr gemütlich aus.«

Rafi behielt sowohl seinen Gameboy als auch die Szene im Garten im Auge, die sich rasant entwickelte. Die Katzen sprangen auf den kleinen Rasen, wenige Schritte von uns entfernt. Der Kater schlug der Katze die Zähne in den Nacken, warf sie zu Boden und schob sich auf sie. Gut sah das nicht für ihn aus, sondern eher so, als würde man die Finger in eine Tüte mit Nadeln stecken.

»Ist das eine Vergewaltigung?«, fragte Rafi.

»Ich fürchte, es gefällt ihr.«

»Sind sie glücklich?«

»Ja, weil sie sich für kurze Zeit vergessen können.« Ich zog die Tür zu, um sie nicht zu stören. »Gestern haben sie es am gleichen Ort gemacht. Aber der Sex ist grob. Man sollte nicht glauben, dass es hier im Viertel so wild zugeht.«

Die Katze lag auf dem Rücken, und der Kater hockte auf ihr, ganz aufs Stoßen konzentriert, ruckelte sich in eine bessere Position, stieß heftiger, eine Pfote auf ihren Bauch gedrückt. Sie spuckten und fauchten einander an.

»Ekelhaft«, sagte Rafi und zog ein Gesicht. »Dieses neue Spiel ist schwierig«, fügte er wichtig hinzu, und der Gameboy gab ein schwaches Piepen von sich.

»Bei dem amerikanischen Dichter Robert Lowell heißt es in etwa: >Doch die Natur ist sonnentrunken von Sex.<« »Aha?«, erwiderte Rafi.

»Offenbar sind Menschen die einzigen Tiere, die beim Sex keine Zuschauer mögen. Außerdem sind sie die einzigen Tiere, die ihre Toten begraben.« Ich fügte hinzu: »Hast du gewusst, dass die Klitoris 1559 von Columbus entdeckt wurde - Renald Columbus von Padua? Er nannte sie >die Süße der Venus<.«

»Aha?«

»Das stimmt«, sagte ich.

»Das kenne ich doch alles schon, die Tatsachen des Lebens und so weiter. Aus einem Schulbuch. Findest du, dass ich intelligent für mein Alter bin?«

»Ja. Und ich?«

»Ja.«

»Das liegt daran, dass ich als Kind so viel gelesen habe«, sagte ich.

»Oh, Mann, hattest du nichts Besseres zu tun?«

Der Katzensex zog sich in die Länge, und Rafi öffnete die Türen, um besser zuschauen zu können, nahm sich einen Stuhl und setzte sich, kicherte und staunte. Obwohl er sich redlich Mühe gab, ließen sich die Katzen nicht stören. Als sie fertig waren, feierte die Katze die Begattung, indem sie sich auf dem Rücken räkelte und streckte, und der getigerte Kater saß erst auf den Hinterbeinen und sah ihr zu, dann begann er, seine Genitalien zu lecken. Schließlich liefen sie in einen anderen Garten. Sie hätten wohl Händchen gehalten, wenn sie welche gehabt hätten. Rafi wollte seine Mutter anrufen, um ihr zu erzählen, was er gesehen hatte. Hätte er ihr die Szene geschildert, dann hätte sie mich mit Sicherheit angeblafft, weil ich ihm nicht die Augen zugehalten hatte, doch ihr Telefon war aus. Mit größter Wahrscheinlichkeit versuchte sie sich auch endlich wieder am Sex. Eltern und Schule können sehr hinderlich, ja sogar katastrophal sein, wenn es um Unterricht in der Kunst des Genießens geht. Ich betrachtete den Jungen und musste an meinen Vater denken, der mir so gut wie kein Wissen über Sex, geschweige denn über den Stellenwert vermittelt hatte, den die Lust seiner Meinung nach im Leben eines Menschen hatte. In meinen Zwanzigern war ich sauer auf ihn, weil er nie versucht hatte, mir das zu erklären, was ich damals »die Wahrheit über Sex« nannte.

Aber hätte es mir gefallen, wenn mich ein Vater oder gar eine Mutter aufgeklärt hätte? Wie konnte man Sex definieren, und worauf durfte sich mein Sohn freuen? Ich weiß noch, dass ich mir diese Frage einmal gemeinsam mit Josephine gestellt hatte. Ich hatte sie nach den möglichen Spielarten sexueller Erfahrung gefragt und danach, welche ihr gefallen könnten. »Solange es nett und liebevoll bleibt...«, hatte sie ganz reizend erwidert. Wohl wahr; doch wie La Rochefoucauld über Geister und Liebe bemerkt hat: »Alle reden davon, aber niemand kann mit Gewissheit sagen, sie jemals gesehen zu haben.«

Ihre Worte ließen mich damals kurz verstummen. Ich wusste, dass mein Sohn bald merken würde, wie viele verschiedene Ausdruckssformen der Sexualität existierten. Promiskuität, Prostitution, Pornographie, Perversion, Telefonsex, One-Night-Stands, Aufreißen, S/M, Internet-Dating, Sex mit einer Ehefrau oder einem Ehemann, Sex mit der Ehefrau oder dem Ehemann einer dritten Person. Die Speisekarte war lang, fast so lang wie eine Novelle. Was würde ihm munden? Freud, der bekennende Monogamist, begann die berühmten Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie mit seinen Gedanken zu Fetischismus, Homosexualität und Exhibitionismus, zu Sadismus, Bestialität und Analverkehr, Bisexualität, Masochismus und Voyeurismus. Mir fiel ein Witz ein: Wie normal wären Sie gern? Neurotisch normal, psychotisch normal oder pervers normal?

Vielleicht würde mein Sohn eines Tages am liebsten einem Fremden in einer Toilette einen blasen, vielleicht würde er sich auch gern den Arsch versohlen lassen, während ihn ein schwarzer Transvestit fellationierte. Die Lust kennt viele Abarten, und dazu kommen noch die ästhetischen Aspekte: Riechen, Hören und Schmecken. Und Reden. Das Reden ist beim Sex mehr als die halbe Miete, denn Wörter wecken Lust. Wenn das Reden eine erotische Kunst ist, was könnte da erotischer sein als Geflüster? Allerdings ist die Wiederholung eine sehr beständige Form der Liebe: In Marquis de Sades Philosophie im Boudoir versichert uns Madame de Saint-Ange, dass ihr Mann in den zwölf Jahren ihrer Ehe jeden Tag um das Gleiche gebeten habe - dass sie seinen Schwanz lutsche und ihm dabei in den Mund scheiße.

Ich könnte noch hinzufügen, obwohl es zynisch klingen mag und etwas ist, das ich Josephine gegenüber nie erwähnt hätte, dass es die sexuelle Lust nie auch nur einen Deut gesteigert hat, wenn man jemanden liebt oder mag. Im Gegenteil: Wenn man jemanden nicht mag, verabscheut oder gar hasst, kann es viel lustvoller sein. Man denke nur an die Aggression - ja, Gewalt -, die zu gutem Sex gehört.

Worin also bestand der Genuss, und wer konnte dafür garantieren? Sollte ich Rafis Zug der Lust auf das höchste, wenn auch fast tyrannisch zu nennende ideale Ziel dessen hinlenken, was Freud etwas zu optimistisch »volle genitale Sexualität« nannte? Oder sollte ich ihm raten, an anderen Bahnhöfen auszusteigen oder eine der Abzweigungen zu nehmen? Wie der große Wiener Satiriker Karl Kraus bemerkte - ein von Freud als »verrückter Schwachkopf« charakterisierter Mann -, gibt es nichts Tragischeres auf der Welt als einen Fetischisten, der nur einen Schuh will, aber die ganze Frau bekommt.

Eine der »Wahrheiten« über Sex, die auch Rafi herausfinden würde -vermutlich schon bald -, bestand darin, dass er sehr problematisch ist, von vielen Menschen gehasst wird und ungeheuer viel Scham, Wut und

Peinlichkeit auslösen kann. Henry und seine Generation haben viel getan, um uns über das Wesen der Lust aufzuklären, aber ganz gleich, für wie frei wir uns halten - die Schrecken religiöser Moralität sind wir vermutlich los -, unser Körper wird uns immer mit seinen unvermuteten Begierden und perversen Weigerungen plagen, als hätte er seinen eigenen Willen und als würden wir einen Fremden in uns tragen.

Josephine gefiel es, wenn jemand mit ihr flirtete, doch sie blendete alles aus, was zwischen den Zeilen gesagt wurde. Für engagierte Eltern gab es viele Gelegenheiten für Freuden dieser Art. Mehrere unserer Nachbarn hatten anstrengende Beziehungskisten rund um den Schulalltag organisiert, und Liebhaber konnten sich zweimal pro Tag am Schultor treffen. Die Kinder hatten viel miteinander zu tun, natürlich, die Eltern aber noch viel mehr, wie Josephine bald erfahren musste. Der Spielplatz war ein emotionales Minenfeld, und dazu kam, dass die Kinder aus muslimischen Familien die Häuser der Weißen nicht betreten durften. Im Bett, jedenfalls in der Zeit, als wir noch eines teilten, erzählte mir Josephine den Tratsch, und mir fiel ein Buch dazu ein, Updikes Ehepaare, das Dad mir vererbt hatte und das mir damals mit all seinen alltäglichen Betrügereien herrlich verdorben vorgekommen war. Zu der Zeit waren es die Betrügereien - und die daraus entspringenden Geheimnisse -, die für mich die schönsten Verstöße darstellten.

Die seltsamste aller Perversionen ist das Zölibat, denn es hasst die Lust und versucht, sie auszulöschen. Nicht, dass man die Lust ein für alle Mal loswerden könnte. Sie kehrt immer wieder zurück wie die Toten oder wie schlechtes Essen - denn sie ist unverdaulich. Rafis Mutter hatte auf ihrer Unschuld beharrt, ja, sie hatte sich sogar daran geklammert. Der Verdorbene war immer ich. Von ihrem Standpunkt aus war das eine sehr sinnvolle Arbeitsteilung. Allerdings begriff sie nicht, dass die Unschuldigen zwar alles haben - Integrität, Respekt, moralische Tugend -, doch den Genuss kennen sie nicht. Genuss: Strudel und Abgrund - das, was wir zugleich fürchten und begehren. Zu genießen heißt, sich Hände und Geist schmutzig zu machen und sich Gefahren auszusetzen; da gibt es Angst, Ekel, Selbsthass, moralisches Scheitern. Genuss ist harte Arbeit, und nicht jeder - vielleicht sogar fast niemand - kann ihn vertragen.

Die Sex-Show war zu Ende. Der Junge warf seine Kleider ab und ging zu Bett. Durch die offenen Türen konnte ich sehen, wie er schlief. Er hatte Kopfhörer auf, und die Musik war so laut, dass ich 50 Cent auf eine Weise genießen durfte, die ich mir lieber erspart hätte. Sobald Rafis lange Wimpern wie die Flügel eines landenden Schmetterlings immer schwächer flatterten, stellte ich die Musik aus.

Ich setzte mich an den Tisch und genoss die Lieblingssünde meines Vaters, sozusagen mein Erbteil: ein Glas fast gefrorenen Wodkas und eine Packung Vanilleeis von Häagen-Dazs. Ich löffelte und schlürfte abwechselnd, und die Katze saß auf meinen Papieren - ich war bereit. Zuerst würde ich mit meinem Füllfederhalter schreiben und danach alles in meinen neuen Apple G4 tippen. Ich konnte sogar Musik damit hören, und wenn ich mich langweilte, sah ich mir die Fotos und Bilder an, die mich derzeit interessierten. Da ich nicht schlafen konnte und immer wieder von Energieschüben heimgesucht wurde - etwas ganz Neues für mich -, hatte ich über die Zeile von Ibsen nachgedacht, die Henry zitiert hatte: »Wir reisen mit einer Leiche im Gepäck.«

Aus irgendeinem Grund erinnerte sie mich an den Vers, der mir schon früher eingefallen war und der mir nicht mehr aus dem Kopf ging: »Sie war meine erste Liebe, aber ich nicht die ihre.«

Oh, Ajita, wenn du noch lebst, wo steckst du jetzt? Ob du je an mich denkst?

DREI

Gut, dann muss ich wohl mit dieser Geschichte innerhalb der Geschichte beginnen.

Eines Tages tat sich eine Tür auf, und ein Mädchen kam hereinspaziert.

Das war Mitte der siebziger Jahre.

Zum ersten Mal sah ich Ajita in unserem Unterrichtsraum im College, einer Höhle mit stickiger, trockener Luft, die sich in den Tiefen eines neuen Gebäudes am Strand verbarg, nicht weit entfernt vom Trafalgar Square. Ich studierte Philosophie und Psychologie an der Universität in London. Ajita war sehr spät dran für die Diskussion über die

Handlungspfeile des heiligen Anselm. An dem Tag war der Kurs fast gelaufen, und außerdem hatte er schon vor zwei Monaten begonnen. Wenn sie die Leute davon überzeugt hatte, sie zu einem so späten Zeitpunkt noch am Kurs teilnehmen zu lassen, musste sie triftige Gründe gehabt haben.

In den Unterrichtsräumen des College war es so heiß wie in einem Krankenhaus, und Ajita war rot im Gesicht und wirkte unsicher, als sie eine halbe Stunde nach Beginn des Kurses hereinkam und Autoschlüssel, Zigaretten, Feuerzeug und mehrere Hochglanzmagazine ablegte, von denen keines das Wort >Philosophie< im Titel führte.

Am Kurs nahm ein gutes Dutzend Studenten teil, die meisten abgerissene Hippies, fleißige Akademikertypen - jene Leute, die mein Sohn »Streber« nennen würde -, ein Grufti und ein paar Punks mit Sicherheitsnadeln und Bondage-Hosen. Die hippen Jugendlichen wurden Punks; ich war mit einigen von ihnen zur Schule gegangen, und wenn ich mit meinem Freund Valentin unterwegs war, sah ich sie immer noch im Water Rat oder Roebuck und manchmal auch im Chelsea Potter in der King's Road. Aber ich fand sie schmutzig, roh und deprimiert, und außerdem rotzten sie ständig in der Gegend herum. Die Musik war zwar wichtig, aber niemand mochte sie hören.

Ich war immer ein ordentliches Kind gewesen, und Unbegabtheit - zu der sich die Punks aus Prinzip bekannten - fand ich uninspirierend. Ich wusste, dass ich begabt war - zu was auch immer -, und mein Stil waren damals schwarze Anzüge und weiße Hemden. Das passte nicht zu den Hippies und war zu geleckt für die Punks, hätte aber als New Wave durchgehen können. Einen William Burroughs hätte man doch nie im Leben mit Glasperlen oder Sicherheitsnadeln ertappt.

Das indische Mädchen saß auf einem dieser Stühle mit ausklappbarer Schreibunterlage. Sie riss sich den Hut vom Kopf, wickelte sich aus dem Schal und wollte beides auf die glatte Unterlage legen. Die Sachen rutschten hinunter. Ich hob sie auf und legte sie wieder hin, aber sie rutschten ein zweites Mal hinunter. Es dauerte nicht lange, da lächelten wir beide darüber. Sie zog ihren Mantel aus, dann ihren Pullover. Aber wohin mit dem Zeug? Die Sache war ihr unangenehm, sie zog sich in die Länge, und alle sahen zu. Wie viel Kleidung, Parfüm, Haar, Schmuck und anderen Schnickschnack konnte es auf der relativ kleinen Oberfläche eines Mädchenkörpers geben? Ziemlich viel.

Auf einmal kamen mir die Philosophie und die Suche nach Wahrheit, die ich bis dahin angehimmelt hatte, idiotisch vor. Der Professor mit Grimassengesicht, ausgeleiertem Pullover und Cordhose - für uns ein Greis, von heute aus betrachtet mein Alter, vielleicht sogar jünger - kam mir vor wie ein valiumbenebelter Clown, der darauf bestand, uns Wissen einzubimsen. Immer wenn er mit Nachdruck »Cunt«, also »Fotze« sagte, laut seiner Beteuerung die korrekte Aussprache von Kant, machte ein heimliches Grinsen die Runde. Man darf nicht vergessen, dass die Unis noch vor kurzem die Zentren von politischen Theorien, Kritik, ja sogar der Revolution gewesen waren!

Wahrheit war die eine Sache, doch Schönheit, die nun neben mir saß, war eindeutig eine andere. Obwohl dieses Mädchen schwer beladen gewesen war, hatte sie nicht einmal etwas so Banales wie ein Notizbuch oder einen Stift dabei. Ich musste ihr Schreibpapier und meinen Kugelschreiber borgen, der einzige, den ich dabeihatte. Ich flunkerte, ich hätte noch ein paar in der Tasche. Ich hätte ihr sämtliche Kugelschreiber und Bleistifte gegeben, die ich besaß, ja, absolut alles, worum sie mich bat, Körper und Seele eingeschlossen, aber das kam erst später.

Nach dem Seminar saß sie allein in der Mensa. Ich brauchte meinen Stift, aber hätte ich den Mut, sie anzusprechen? Ich höre lieber zu. Tahir, mein erster Analytiker, sagte oft: Die Leute reden, weil es Dinge gibt, die sie nicht hören wollen, und sie schweigen, weil es Dinge gibt, die sie nicht sagen wollen. Nicht, dass ich damals geglaubt hätte, eine Begabung zum Zuhören zu besitzen, und ich kam auch nicht auf die Idee, dass man diese zu seinem Beruf machen könnte. Verbal war ich eine Niete. (Natürlich redete ich die ganze Zeit, aber nur mit mir selbst. Da konnte nichts schiefgehen.)

Jahrelang verblüffte ich Frauen mit meiner Angewohnheit des Zuhörens. Einige standen nach einer Weile am Rande des Nervenzusammenbruchs, weil sie ununterbrochen nach etwas gesucht hatten, das mich endlich zum Reden brachte. Ich weiß noch, dass ein Mädchen schreiend aufsprang und zur Tür rannte, nachdem ich ihr einen ganzen Nachmittag gelauscht hatte: »Ich fühle mich wie ausgesaugt! Du hast mich ausgeplündert!«

Um auf Zeit zu spielen, vielleicht auch in der Hoffnung, dass sich Ajita in Luft auflösen würde, ging ich mir einen Kaffee holen. Als ich mich umdrehte, musste ich allerdings feststellen, dass mir mein bester Freund, der gutaussehende, coole Valentin, in die Mensa gefolgt war. Er hatte sich mit seinem Kaffee direkt neben sie gesetzt. Der Himmel weiß, wie der Kaffee damals geschmeckt hat. Vermutlich war er löslich, genau wie der Kartoffelbrei und die Puddings, die wir in uns hineinschaufelten.

Einfach Wasser hinzufügen und fertig. (Das wurde damals gekauft, man stelle sich vor!) Von diesem Zeug abgesehen, dürfte kaum etwas in den Regalen gestanden haben, aber Wasser gab es. Mein Vater, der als Kind in Indien die britische Besatzungsmacht erlebt hatte, wies gern darauf hin, dass sich Großbritannien, obwohl der Krieg dreißig Jahre zurückliege, immer noch von einer fast tödlichen Krankheit erholen müsse - Machtverlust, wie ich annehme, Richtungslosigkeit und Depression. Man nannte unser Land »Den kranken Mann Europas«. Das britische Kolonialreich ging nicht tragisch, sondern kläglich unter.

Für mich war es ein Glück, für Valentin aber ungewöhnlich, dass er an diesem Vormittag da war. Er besuchte nur wenige Lehrveranstaltungen. Für seinen Geschmack begannen sie viel zu früh, vor allem, wenn er nachts zuvor im Kasino gearbeitet hatte. Irgendwann schlug er dann im College auf, um ein paar Mädchen und mich zu treffen, vor allem aber, weil das Mensaessen billig war. Valentin war Bulgare. Ich bat ihn oft, mir seine Flucht aus Bulgarien zu schildern, und jedes Mal kamen neue Details hinzu. Ich kenne keine andere »wahre« Lebensgeschichte, die so spannend wäre. Er hatte seinen Wehrdienst abgeleistet und als Radrennfahrer an den Olympischen Spielen teilgenommen, und fechten und boxen konnte er auch. Er hatte sich so wunderbar angepasst, dass er bei der bulgarischen Fluggesellschaft Steward werden durfte, einer der wenigen Jobs im Ostblock, bei denen man reisen konnte. Er hatte ein Jahr bei der Gesellschaft gearbeitet, ohne seine Fluchtpläne zu verraten, aber irgendjemand hatte Lunte gerochen. Er hatte in die USA fliehen wollen, doch sein letzter Flug ging nach London. Als er das Flugzeug mit dem Rest der Besatzung für den Rückflug nach Sofia bestieg, machte er kehrt und spurtete los, rannte blindlings durch den Flughafen, bis er auf einen Polizisten stieß. Verschiedene Flüchtlingsorganisationen halfen ihm. Eine Frau, die für eine dieser Organisationen arbeitete, war mit einem Professor für Philosophie verheiratet. Dort ging er hin, und so kam es, dass er in meinem College-Kurs auftauchte.

Valentin konnte nicht nach Hause zurückkehren, und seine Eltern, Geschwister und Freunde würde er nie wiedersehen. Dieses Trauma torpedierte den Erfolg, den er hätte haben können. Anstatt wie geplant in England zu studieren, gammelte er herum und hielt - meist mit mir und unserem deutschen Kumpel Wolf - Ausschau nach reizvollem Zoff und Streit.

Durch Valentin war es mir möglich, mich zu Ajita zu setzen. Ich ertrug es sogar, dass er wie üblich damit angab, wie nah sein Zimmer beim College sei und dass er nur fünf Minuten bis zu einer Vorlesung brauche. Ich dagegen musste erst mit dem Bus und dann mit Zug und U-Bahn fahren. Das dauerte anderthalb Stunden, aber dank der Verspätungen von British Rail konnte ich mich in Wittgensteins Philosophische Untersuchungen und Freuds Die Traumdeutung vertiefen. In dieser Zeit begann ich zum ersten Mal ernsthaft zu lesen, und mir war, als hätte ich eine Liebhaberin gefunden, die mich rundum zufriedenstellte und von der ich nie mehr lassen würde.

Mit Valentins Hilfe kamen Ajita und ich ins Gespräch. Sie war Inderin, und wie sich herausstellte, lebte sie ganz in der Nähe von Miriam, Mum und mir in den Vororten. Ajitas Mutter hatte England nicht gutgeheißen, sondern für einen »dreckigen Ort« voller kaputter Familien befunden, für sexuell pervers, korrupt und drogenverseucht. Vor einem halben Jahr hatte sie ihre diversen Koffer gepackt und war nach Bombay entschwunden, dem Geburtsort meines Vaters. Ihren Mann und die zwei Kinder hatte sie unter der Obhut einer Tante zurückgelassen, der ältesten Schwester des Vaters. Ajitas Mutter passte es nicht, ohne Diener und Freunde in den weißen Vororten zu leben. In Bombay logierte sie im Haus ihres Bruders. Er war Hotelbesitzer; es wimmelte nur so von Filmstars; Hilfe war billig.

Ajita sagte: »Dort ist es, als hätte man die ganze Zeit Urlaub. Aber mein Vater ist ein stolzer Mann. Er würde nie Geld von anderen nehmen.« Ajita schien zu vermuten, dass ihre Mutter Liebhaber hatte, deutete jedoch an, dass sie zurückkehren könnte, falls die Umstände eher nach ihrem Geschmack waren. Also bemitleidete Ajita ihren einsamen Vater, der einen Ausbeuterbetrieb im East End besaß und selten zu Hause war.

Nach dem Kaffee bot Ajita mir an, mich in die Vororte mitzunehmen. Obwohl ich gar nicht zurückwollte - ich war ja gerade erst in London eingetroffen und hatte eigentlich vor, den Rest des Tages mit Valentin und Wolf zu verbringen -, wäre ich überall mit ihr hingefahren. Dieses Mädchen hatte viele Vorzüge: Geld, ein Auto - einen goldfarbenen Capri, in dem sie den neuesten Funk hörte -, ein großes Haus und einen reichen Vater. Als Valentin sie fragte: »Und was macht dein Freund so?«, antwortete sie: »Ach, eigentlich habe ich gar keinen.« Was wollte man mehr?

»Sie gehört dir«, flüsterte Valentin, als ich ging. »Danke, mein Freund.«

Er war eben großzügig. Andererseits wurde er von so vielen Frauen umschwirrt, dass eine mehr oder weniger den Kohl auch nicht fett machte. Für ihn waren sie eine Selbstverständlichkeit. Möglich auch, dass ihm die meisten zwischenmenschlichen Interaktionen gleichgültig waren. Er konnte stundenlang nahezu reglos dasitzen, rauchen und ins Leere starren, ohne wie ich ständig ängstlich auf dem Stuhl herumzurutschen oder von Sehnsuchtsanfällen gebeutelt zu werden.

Eine solche Gefestigtkeit war vermutlich von Vorteil. Am Vorabend hatte ich mich mit einem Freund unterhalten, der Drehbücher schrieb und gerade an einem Film über »harte Kerle« arbeitete, in dem es um die Frage ging, wieso Männer auf Gangster abfuhren. Starke Typen machten sich nichts aus Feinheiten, sie blieben ungerührt, Schuldgefühle kannten sie nicht. Im Grunde waren sie Narzissten und, was ihre Rechte betraf, gnadenlos wie Kinder. Ich fand sie so selbstgenügsam, in sich ruhend und undurchschaubar wie jemand, der für alle Ewigkeit ein Buch liest.

So wollte ich also sein. Warum? Wahrscheinlich, weil ich als Kind, wenn Miriam und ich miteinander gerangelt oder wenn sie mich gekitzelt hatte - sie war schwerer, zupackender und auch viel fieser als ich; es gefiel ihr, mich zu boxen oder mit Stöcken zu verprügeln, was, wie mir jetzt einfiel, auch Josephine gern getan hatte -, nicht das Gefühl losgeworden war, dass ich das Mädchen und sie der Junge war. Wie viele andere stellte auch ich fest, dass der Körper, der mir gegeben worden war, mit meinem Geschlecht nicht übereinstimmte. Da ich dünn, zart und breithüftig war, glaubte ich, den Körper eines kleinen, schwachen, noch nicht geschlechtsreifen Mädchens zu haben. Mutter nannte mich nicht gutaussehend, sondern »schön«. Ich litt unter schlimmen Gefühlsausbrüchen - schrie innerlich - und lag danach leer, verzweifelt und heulend auf dem Bett. Ich träumte oft, der Michelin-Mann zu sein, mit Luft gefüllt statt mit Gewicht und Gewichtigkeit, und eines Tages würde ich einfach davonsegeln, weil mich keine Männlichkeit verankerte. Was machten Männer denn? Sie waren Gangster, sie bahnten sich wild entschlossen und heißblütig ihren Weg durch die Welt. Ob ich so mit Ajita sein konnte?

Ajita und ich redeten während der ganzen Fahrt durch Südlondon. Je näher wir unserem »Anwesen« kamen, wie wir es damals nannten, desto nervöser wurde ich. Ich war erleichtert, als sie mich fragte, ob ich mit zu ihr kommen wolle.

»Da sind wir«, sagte sie wenig später und machte den Motor aus.

Ich fand Ajitas Haus immer amerikanisch, und zwar deshalb, weil es in einer neuen Straße stand, einer Sackgasse, und weil es jene Art von Haus war, die man in der Serie I Love Lucy sehen konnte.

Das Gebäude war nicht sehr hoch, hell, offen und großflächig verglast. Auf der einen Seite stand eine breite Garage, und davor erstreckte sich ein soldatisch kurz gehaltener und von einem niedrigen Lattenzaun umgebener Rasen. Im Haus gab es indische Teppiche, Wandbehänge und Gobelins, hölzerne Elefanten, Schalen und Korbmöbel. Das war auch schon so ziemlich alles. Sie hätten das Haus genauso gut gemietet haben können, mitsamt der folkloristischen

Einrichtung, aber sie hatten es vor vier Jahren gekauft, nachdem sie mit ein paar Habseligkeiten aus Uganda geflohen waren.

Ajitas Haus gefiel mir, und ich wollte nicht nur wegen ihr dort sein, sondern auch, weil die meisten Häuser, die ich aus den Vororten kannte, alt waren: Die Möbel stammten aus der Zeit vor dem Krieg. Sie waren schwer und dunkelbraun, und als Kind kratzte ich mit den Fingernägeln den Lack ab. Mein Großvater mütterlicherseits - er hatte Mum das Haus vererbt - hatte ein Geschäft für gebrauchte Möbel gehabt, einen von Miriam und mir so genannten Ramschladen, aus dem fast alle Möbel in unserem Haus stammten. Kamingitter, Uhren, die tickten und schlugen, Rüschengardinen, Bilderrahmen, Querbehänge, Nachttöpfe und schmale Betten, die Mutter, nachdem sie Dad kennengelernt hatte, gleich dutzendweise mit fernöstlichen Bildern, lackiertem Nippes und Stoffen mit verschlungenen Mustern dekoriert hatte.

In meiner Kindheit und Jugend passte oft mein Großvater auf mich auf. Er trug den damals obligatorischen Hut, lange, weiße Unterwäsche, Krawatte, eine weite, von Trägern gehaltene Hose und mächtige Stiefel, die er mit Rasierklingen aufschnitt, damit seine Hühneraugen »Luft« hatten. Er überlegte nie, was mir Spaß machen könnte, sondern nahm mich einfach mit. Als er noch die Läden besaß, spielte ich dort den ganzen Tag und rammte Schraubenzieher in die Uhren. Später saß ich sehr oft über Mittag mit ihm im Pub - für ihn Club und Büro -, wo er sich in den Zeitungen über die Gebräuche der Gegenwart informierte, Guinness trank, Selbstgedrehte rauchte und ein Steak-and-Kidney-Pie aß, meist alles gleichzeitig.

Damit mir nicht langweilig wurde, reichte er mir Daily Express oder People, und meine Sucht nach Zeitungen hat seither nicht nachgelassen. Aber das war längst nicht alles: Wir fuhren nach Epsom zu den Pferderennen, nach Catford zu den Hunderennen und mit dem »Ausflugsomnibus« nach Brighton, um Taubenzüchter zu treffen. Samstags suchten wir die Fußballplätze in der näheren Umgebung auf. Der nächste war Crystal Palace, aber Millwall - »Die Löwengrube« - war der gefürchtetste. Auf dem Weg durch das Viertel zeigte mir Opa Stellen, wo manche seiner früheren Schulfreunde durch Bomben getötet worden waren, und Bunker, in denen er mit Mama Schutz gesucht hatte, als diese noch ein Kind gewesen war.

Die Pubs hatten für mich immer etwas wie von Dickens Überzeichnetes, vor allem, wenn jemand Klavier spielte: Aufgetakelte und schwer parfürmierte Wirtinnen kniffen einen in die Wange und spendierten Chips und Limonade; in den »privaten« Bars saßen Männer mit roten Gesichtern und Krawatte, zwischen Opa und irgendeiner Kellnerin knisterte immer eine leise Verheißung von Lust, und jedes Mal fragte ich mich, wann ich wohl damit an der Reihe wäre.

Man könnte meine späte Vorliebe für die Unterschicht für aufgesetzt halten, aber ich besuchte fast täglich einen Pub, weil ich hoffte, dort die Charaktere aus meiner Kindheit wiederzufinden, die ursprüngliche weiße Arbeiterklasse Londons.

Wenn ich mit Großvater unterwegs war, ging ich mehr oder weniger als weiß durch. Manchmal fragten mich die Leute, ob ich ein Südländer sei, aber in unserer Gegend gab es fast keine Leute aus Asien. Die meisten Weißen hielten die Asiaten für minderwertig, für weniger intelligent und in jeder Hinsicht für weniger gut. Nicht, dass man uns damals als Asiaten bezeichnet hätte. Ich glaube, offiziell wurden wir Immigranten genannt. Später galten wir aus »politischen« Gründen als Schwarze. Wir selbst sahen uns allerdings stets als Inder. In Großbritannien bezeichnet man uns immer noch als Asiaten, obwohl wir genauso wenig Asiaten sind wie die Engländer Europäer. Es dauerte lange, bis wir als Muslime bekannt wurden, ein neues Etikett und wiederum eines, das »politische« Gründe hatte.

Weil ich bis dahin der einzige dunkelhäutige Student im Philosophie-Seminar gewesen war, fand ich, dass Ajita und ich prima zusammenpassten. Sie war klein und schmal und hatte einen knackigen, jungenhaften Körper, meinem nicht ganz unähnlich. Ihr Haar war lang und dunkel, und sie trug teure Kleider und Schmuck, Handtaschen und hochhackige Schuhe. Ja, sie war Inderin, aber sie kleidete sich wie ein italienisches Mädchen, mit goldenem Flitter, und sie liebte Fiorucci, dessen Laden nicht weit von Harrods entfernt war. Jeden Samstag machte sie mit ihren Cousinen einen Einkaufsbummel.

Ajita war kein wildes Mädchen und weder Feministin noch Hippie oder Mod. Ich fand, dass sie auch eine Firma hätte leiten können, aber wie ich bald an ihren Seufzern, hilflosen Blicken und ihrer gelegentlichen Trübsinnigkeit merkte, tat sie sich schwer mit der Metaphysik. Ich bildete mir ein, ihr dabei helfen zu können, ebenso bei der Erkenntnistheorie, Ontologie, Hermeneutik, Methodik und Logik, vielleicht sogar bei anderen Dingen - allerdings nicht in dem Maße, in dem sie mir helfen konnte, wie ich glaubte.

Außerdem fand auch ich langsam Geschmack an Geld, denn aus den Medien wusste ich, wie nutzbringend Popstars ihren Reichtum einzusetzen wussten. Ajitas Familie war offenbar wohlhabend, während wir immer knapp bei Kasse waren. Wenn Mum uns ein Geschenk kaufte, wussten wir, welche Mühe damit verbunden gewesen war, und wir versuchten, es so lange wie möglich zu benutzen, auch wenn wir längst das Interesse daran verloren hatten. Angeblich hatte mein Vater in Pakistan Fahrer, Koch und Leibwächter. Doch er schickte uns kein Geld; das kam ihm gar nicht in den Sinn.

Ajita ging ein paar Platten holen, und an diesem Tag, dem ersten, den ich mit ihr verbrachte, schlenderte ich durch die Zimmer und sah mich dabei so prüfend um, als wollte ich die Bude kaufen und neu einrichten lassen. Vater und Bruder von Ajita waren nicht da, doch ich konnte Zwiebeln riechen, die mit Öl und Gewürzen gedünstet wurden, und ich erhaschte durch einen schmalen Türspalt einen Blick auf eine Nase und ein braunes Auge, wahrscheinlich Eigentum der verhärmten Tante.

Als Ajita die Musik auflegte, sagte sie mit plötzlicher Nervosität: »Wenn dich jemand fragt, bist du ein Freund meines Bruders. Du wolltest ihn hier besuchen.«

»Wie heißt dein Bruder?« Ajita murmelte etwas. »Bitte?«, fragte ich, weil ich kein Wort verstand. »Was hast du gerade gesagt?«

»Er heißt Mustaq. Bei uns wird er manchmal Mushy genannt - oder Mushy Peas. Ich glaube, ihr beide werdet euch sehr mögen. Du willst ihn doch mögen, oder? Er hat es gerade so dringend nötig, gemocht zu werden.«

»Ich werde mir Mühe geben.«

»Du brauchst nicht zu flüstern. Sie spricht kein Englisch.«

»Meine Familie ist ganz ähnlich«, sagte ich begeistert. »Viele meiner Tanten, Cousins und Cousinen kommen im Sommer nach London. Alle anderen haben Pakistan nie verlassen.«

»Warst du noch nie dort?«

»Dad hat uns eingeladen, und Mum ist der Meinung, dass Miriam und ich hinfliegen sollten. Aber Miriam schafft es kaum bis ans Ende der Straße, ohne irgendwo anzuecken. Das wirst du merken, sobald du sie

kennenlernst. Ajita, könnten wir beide nicht gemeinsam nach Pakistan reisen?«

»Unmöglich. Außer wir heiraten.« »So überstürzt?«

»Die Leute dort sind ziemlich altmodisch. Außerdem grast meine Mutter ganz Indien nach einem Ehemann für mich ab. Mein Bruder bepisst sich schon vor Lachen. >Na, was macht dein toller neuer Gatte?<, fragt er mich immer. Komm, Jamal, möchtest du eine Runde mit mir tanzen, mein neuer Freund?«

Wir tanzten zu ihren liebsten Discoplatten, den Blick auf die Füße des jeweils anderen gesenkt, hielten Händchen und strichen uns gegenseitig über das Haar. Später, nachdem wir uns geküsst hatten und ich beim besten Willen nicht wusste, was ich als Nächstes tun sollte - ich fand uns zu hastig, etwa so, wie wenn man eine ganze Tafel Schokolade auf einmal verschlingt -, sagte ich: »Möchtest du vielleicht Der letzte Tango in Paris sehen oder zum Spazierengehen nach Keston Ponds fahren? Wir könnten auch zu mir nach Hause gehen. Dauert nur zehn Minuten.« »Zu dir nach Hause.«

Unterwegs steckte ich den Kopf in der Hoffnung aus dem Fenster, dass mich irgendwelche Bekannten zusammen mit einem Mädchen im Auto sehen würden. Aber sie waren bei der Arbeit, in der Schule oder Uni. Immerhin wollte Ajita mein Haus sehen; sie wollte mich kennenlernen. Miriam musste auch unbedingt erfahren, dass ich eine richtige Freundin hatte, damit sie endlich einen Erwachsenen und keinen kleinen Bruder mehr in mir sah.

Trotzdem beunruhigte mich der Gedanke, dass die beiden sich begegneten. Nicht, dass ich gewusst hätte, ob meine Schwester zu Hause war. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war immer verschlossen, und Miriam hatte mir angedroht, meine Eier in einen höchst unangenehmen Kontakt mit einem Käsehobel zu bringen, wenn ich mich auch nur ansatzweise dagegenstemmte. Häufig konnte man nur herausfinden, ob Miriam zu Hause war, wenn man sich hinkniete und die Nase an den Türspalt legte, um nach Selbstgedrehten, Joints oder Räucherstäbchen zu schnüffeln. Wenn ich mutig genug war, schlich ich mich in ihr Zimmer, nachdem sie aus dem Haus gegangen war, und zog ein paar Platten aus den Hüllen - am besten gefielen mir Blood on the Tracks und Blue and Split, aber Miles mochte ich auch. Danach hörte ich die Platten so lange in meinem Zimmer, bis ich das Gefühl hatte, die Musik verinnerlicht zu haben.

Bei Miriam konnte man auch auf einen College-Dozenten stoßen, ein paar Jungen aus der Nachbarschaft, einen Typen, den sie aufgegabelt hatte, oder auf ihre neueste Freundin. Wenn Miriam überhaupt einmal da war, lag sie im Bett, bis Mum um siebzehn Uhr von der Arbeit zurückkam. Damals arbeitete Mutter in einer Bäckerei, wo sie eine kleine, weiße Bäckermütze trug. Wir hatten immer jede Menge zu essen, auch wenn es manchmal etwas fad schmeckte.

Doch an jenem Tag schafften Ajita und ich es gar nicht bis zu mir nach Hause. Stattdessen parkten wir in der Nähe in einer ruhigen Straße und küssten uns im Auto, etwas, das wir sehr, sehr gern taten. Wir konnten nicht genug davon bekommen, es war, als hätte man uns zusammengeleimt.

Am folgenden Vormittag fuhren wir zu einem nahen Wald, nicht weit von meiner alten Schule, und dort hatten wir zum ersten Mal Sex. Ajita trug allerdings eine so enge Jeans und so enge Stiefel, dass wir eine Weile glaubten, jemanden um Hilfe rufen zu müssen, der mit anpackte. Danach schliefen wir im Auto in einer einsamen Straße ganz in der Nähe ihres Hauses miteinander.

Etwas Bedeutsames nahm seinen Anfang. Sie gehörte mir, fast jedenfalls. Sie war nicht meine erste Freundin, aber sie war meine erste Liebe.

VIER

Von da an sahen wir uns sehr oft, meine Liebste und ich. Meist in London, am College oder in Soho. Oder wir trafen uns in der Nähe unseres Hauses an einer Bushaltestelle und fuhren gemeinsam in die Stadt.

Ich habe wohl nie aufgehört, London durch die Augen eines kleinen Jungen zu sehen. Das London, das mir gefiel, war die Stadt der Exilanten, Flüchtlinge und Immigranten, all jener, für die die Metropole nicht von dieser Welt war und die die englischen Codes nicht zu knacken vermochten, Leute, die nirgendwo zu Hause waren und nicht wussten, wo sie sich befanden. Die Stadt, wie sie durch die Augen meines Vaters ausgesehen hatte.

Valentin, mein bester Freund, war Bulgare, und sein bester Freund, Wolf, war Deutscher. Keiner der beiden sah auch nur im Entferntesten aus wie ein Durchschnittsstudent. Sie waren keine zu groß geratenen Public-School-Bubis. Wolf war zehn, Valentin mindestens fünf Jahre älter als ich. Mein Vater hatte viele ältere Brüder, die ich allesamt idealisierte. Ich stellte mir vor, dass Dad immer jemanden gehabt hatte, der sich um ihn kümmerte, und genau das wollte ich auch haben. Wolf, der weder irgendwo arbeitete noch studierte, hatte im gleichen Haus wie Valentin ein Zimmer gemietet. Dort waren sich die beiden begegnet, und dort lernte auch ich ihn kennen. Wolf trug einen Regenmantel ála Bogart, derbe, schwarze Schuhe und schwarze Lederhandschuhe. Seine Handschuhe zog er offenbar nur aus, wenn er auf den öffentlichen Plätzen im Brook Green Tennis spielte, nicht weit entfernt von meinem jetzigen Wohnort. Rafi nimmt dort bei einem geschmeidigen, südafrikanischen Tennislehrer Unterricht, und ich bringe ihn immer hin.

Valentin und ich saßen auf Bänken vor dem Pub gegenüber und lachten laut, wenn Wolf jemanden vom Platz fegte. Anders als Valentin oder ich fand Wolf weder sich noch den Rest der Welt absurd und lachhaft. Hätten wir uns darin alle geähnelt, so wäre das wohl auch langweilig gewesen.

Wir fanden es höchst amüsant, dass Wolf stets eine elegante Aktentasche aus Leder dabeihatte, die er sich an die Brust presste, damit auch ja niemand hineinschauen konnte, und die er mit einem Schlüssel öffnete. Was bewahrte er darin auf? Knarren, Geld, Drogen, Messer, Heftklammern? Er öffnete sie halb und warf einen misstrauischen Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass ihm niemand zusah, aber da er die Neugier der Leute geweckt hatte, gab es natürlich jedes Mal Zuschauer.

Wolf und Valentin hatten Zimmer in einer maroden Pension in der Gwendre Road, einer Seitenstraße der North End Road, Westlondon, die einer alten Witwe gehörte. Valentin, der angeblich zum Vergnügen Kierkegaard und Simone Weil las, sagte gern mit einem Zwinkern zur Witwe: »Raskolnikow hätte sich hier wohlgefühlt.«

Wir mussten lachen, und sie erwiderte stets: »Hier fühlt sich jeder wohl.«

Rund um den Küchentisch versammelt, debattierten wir über philosophische Fragen, redeten über Sport, tranken Bier und rauchten Hasch. Der Linoleumbelag löste sich vom Boden, und es stank nach Gas und Katzenpisse; in einer Ecke stand ein Eisenofen, die wackeligen Tische waren mit Wachstuch bespannt, die Lehnstühle sahen schmierig aus, das Sofa war allem Anschein nach unermesslich tief. Auf die Klospülung war nicht immer Verlass, die Fenster schlossen nicht richtig, und meist war es kalt. Und da die Ölöfen zwar stanken, aber nicht heizten, trugen wir bald auch drinnen Mäntel.

Am liebsten unterhielt ich mich mit Valentin über moralische Imperative und Theorien über Nihilismus und Mord, die er bei Balzac, Nietzsche, Turgenjew und Dostojewski entdeckt hatte, sowie über die Frage, ob und wann es legitim sei, die Welt von schwachen, dummen oder bösen Elementen zu befreien, damit sich andere Menschen frei entfalten konnten. Hatte man das Recht zu töten? Denn schließlich waren es nur die hirnrissigsten Pazifisten, die das Töten auf gar keinen Fall zulassen wollten. Als Ergänzung zu diesen Spekulationen sahen Valentin und Wolf im Fernsehen Krimis und Filme mit Sylvester Stallone, und Streifen, in denen Steve McQueen mitspielte, waren ein Muss für sie. »Berufsberatung« nannte ich das. Ajita sah immer eine Weile zu, aber irgendwann rief sie dann: »Zu viele elektrische Stühle!«, und verließ überstürzt das Zimmer.

»Darauf wird er später mal sitzen«, murmelte ich Valentin zu und nickte in Richtung Wolf. Valentin, der abends immer im Kasino arbeitete, sah mit seinem dunklen Anzug, der Fliege und den polierten Schuhen todschick aus. Wahrscheinlich, fällt mir jetzt ein, hatte ich meinen Stil mit den schwarzen Anzügen von ihm abgeschaut. Val war Osteuropäer, und er war als Kommunist erzogen worden. Er hatte gute Manieren und war weltgewandt, dem westlichen Hippie-Humbug weit überlegen.

Wolf war ein Abenteurer, und seine Geschichten - er wollte mit Stewardessen und Kellnerinnen gevögelt und Playboy-Häschen gefickt haben - fand ich jedes Mal packend. Ich bewunderte seinen Pfadfinder-Stil: Er hatte im Arsch versteckte Diamanten aus Südafrika geschmuggelt, Idi Amin und Kim Philby - zusammen - in Tripolis gesehen, bevor er verhaftet worden war, weil man ihn für einen Amerikaner gehalten hatte. Er hatte Drogen nach Mexiko befördert und sich bei einem Arztbesuch durch eine dreckige Nadel eine Vergiftung eingehandelt. Außerdem diskutierte er gern über die Qualität der Bordelle im brasilianischen Ipanema. Man hielt ihn selten für einen Kriminellen, aber häufig für einen Bullen, und das war viel schlimmer!

Wie so viele Gangster war auch er etwas - nein, sogar sehr -psychotisch. Er war nicht neurotisch wie ich oder die meisten Leute, die ich kannte, sondern überdurchschnittlich, rational, leidenschaftlich, überzeugend und ein großer Lügner. Er war zeitig wach und bereitete für alle das Frühstück zu. Oder wir ertappten ihn dabei, wie er Liegestütze machte oder Gewichte stemmte. Er war hochgradig organisiert und liebte es, Pläne zu schmieden und alle mit einzubeziehen. Im Gegensatz dazu war Valentin jemand, der sich gern amüsierte. Er war attraktiv, ja man könnte sogar sagen: elegant oder schick, vor allem, wenn er ein dunkles Polohemd und eine schwarze Jacke trug. Doch er hatte etwas von Kierkegaards Düsterkeit, und wegen seiner seelischen Wunden fehlte ihm, was Wolf auszeichnete: ein sympathisches Selbstvertrauen, Prahlerei, Ernsthaftigkeit.

Wie gern trieb ich mich mit diesen beiden unangreifbaren Männern herum. Ich war das eifrige, kleine Kind, und sie schauten gönnerhaft auf mich herab, wenn ich ihnen mit Witzen, Gassensprache und harten Sprüchen zu gefallen versuchte. Wolf und Valentin unterhielten sich oft auf Französisch oder Deutsch, aber das machte mir nichts aus, denn ich war es gewohnt, von Menschen umgeben zu sein, deren Sprache ich nicht verstand. Wenn Vater in London war - er kam mindestens zweimal pro Jahr und blieb immer ein paar Wochen -, traf er sich nur selten allein mit Miriam und mir. Seine vielen Freunde oder »Chumchas«, die Urdu und Punjabi sprachen, Anzüge oder Salwar Kameez trugen, tranken und politische Witze erzählten, hielten sich immer bei ihm in den »Etagenwohnungen« in der Nähe von Marble Arch oder Bayswater auf, die er samt Dienstpersonal mietete.

Manchmal ging er einfach abends mit uns essen, und dann sprach er über Politik. Er war links, vermutlich Kommunist, ein Antiimperialist - naturgemäß - und ein Unterstützer Maos, der Vietcongs und der Studenten. Wie Vater erklärte, waren ihm die Bauern in den indischen Dörfern als Kind genauso fremd gewesen wie die Bewohner eines englischen Dorfes. Aber da er von seinem Vater, einem Hauptmann der Armee, malträtiert worden war, hatte er sich immer ein Stück weit mit jenen Menschen identifiziert, die man damals die »Unterdrückten« nannte.

Später am Abend, wenn Miriam und ich daran dachten, mit dem Zug in die Vororte zurückzufahren - oder jedenfalls ich, denn sie ging oft in London zu Partys und blieb dann gleich mehrere Tage in der Stadt -, kreuzten Dads Freundinnen auf, atemberaubende Schönheiten, die noch dazu etwas im Kopf hatten.

Ich freute mich immer, Vater zu sehen, ob er nun allein war oder nicht, doch Miriam, entweder auf Tranquilizer oder Speed oder beidem, war oft furchtbar enttäuscht. Sie malte sich immer aus, stundenlang allein mit unserem Vater zu sein und Geheimnisse und Herzeleid auszutauschen. Ihr Vater wollte sie doch bestimmt kennenlernen; er musste fasziniert sein, es ging gar nicht anders. Ein paar nette Worte von ihm, und sie würde aufhören, über die Stränge zu schlagen. Er habe es nicht nur versäumt, sie vor Rassismus zu schützen, sondern er habe sie mitten hineingestürzt, behauptete sie.

Also wartete sie darauf, dass Dad den Mund aufmachte, um ihr zu sagen, wie stolz er auf sie war. Aber diese Art von Beziehung konnte er zu einem Mädchen gar nicht aufbauen. Nachdem wir gegangen waren, schlenderten wir durch die King's Road, und ich stellte ihr jedes Mal Fragen, deren Antworten ich schon kannte. »Was hat Dad gesagt?« »Nichts.« »Echt?« »Absolut gar nichts.« »Hast du ihm erzählt, dass du schwanger bist?« »Nö.« »Hat er dich gefragt, was du machst?« »Ja.« »Was hast du ihm erzählt?« »Wenig.«

Meine Eltern hatten sich an der London School of Economics kennengelernt, wo mein Dad Internationale Beziehungen studiert hatte. Eine Freundin - Billie - hatte Mum zu einem Tanz dorthin mitgenommen, weil sie glaubte, Mum wäre mit einem Intellektuellen besser bedient. Sie gingen alle zusammen essen im India Club an der Strand. Mum sagte, sie sei nie jemandem begegnet, der einen so mit seinen Geschichten habe bezaubern können wie Dad. Sie erzählte selten von ihm, aber wenn man zum passenden Zeitpunkt hartnäckig genug nachbohrte, konnte manchmal etwas aus ihr herausplatzen wie: »Oh, Jamal, du bist ihm so ähnlich.« »Wie denn?« »Ach, du weißt schon. Abfällig. Er konnte so herrisch und unhöflich sein, dass einem der Mund offenstand. Er war es gewohnt, bedient zu werden und Frauen zu Dienerinnen zu machen. Er konnte einem das Gefühl geben, dumm und langweilig zu sein.« Bei anderen Gelegenheiten sagte sie: »Du ahnst ja nicht, was für ein wunderbarer Mann dein Vater in seinen jungen und anständigen Jahren war. Gutaussehend, intelligent und mehr als geistreich. Er hatte Klasse - sagt man das so? Ja, er hatte etwas Zauberhaftes.« Mit einem Blick auf mich sagte sie: »Du hast durchaus etwas von seiner Arroganz, das wird man dir später bestimmt bestätigen. Aber anders als du war er sich dessen voll und ganz bewusst. Und weißt du was? Es hat ihn einen Scheißdreck interessiert!«

»Ich war wie geblendet«, sagte sie, und ich fragte mich, ob sie ihn immer noch liebte. Dann fügte sie den wunderbaren Satz hinzu: »Er war wie ein Stern, der einem in die Augen strahlte. Gott allein weiß, was er an mir gefunden hat. Ich war ein Mädchen aus der Vorstadt und fühlte mich ihm gegenüber immer unterbelichtet. Wenn er mich nicht gerade geküsst hat, hat er mich in Restaurants mitgenommen, um mir seine Brüder und Freunde vorzustellen. Ich habe die Pakistaner den Engländern immer vorgezogen. Ich mochte ihr Essen und ihre guten Manieren. Ich war nie eine dieser Feministinnen - das konnte ich mir gar nicht leisten -, aber wenn sie erwartet haben, dass ich kochen, abwaschen und in der Küche stehen würde, habe ich mich gewehrt. Meine Eltern haben nie ein schlechtes Wort über deinen Dad verloren. Ich hatte ihnen erzählt, er wäre ein indischer Prinz.«

Während Dad in London studierte, verfrachteten seine acht Brüder den Rest der Familie von Indien nach Pakistan, weil sie glaubten, das neue Land - wie als Nachgedanke brutal vom alten abgetrennt, als die britischen Vandalen flohen und dabei zu einem letzten Schlag ausholten - würde ihnen einen Neuanfang ermöglichen. Während dieser Zeit lebte Dad zwar bei der Familie, die er gegründet hatte, in den Randbezirken von London, hatte aber das Gefühl, weder eine Heimat noch eine Bestimmung zu haben.

Wie Mum sagte: »Diese Vororte waren nichts für ihn. Wir wohnten im Haus meiner Eltern; wir hatten uns verlobt; wir heirateten; wir bekamen Kinder. Aber er war immer noch auf der Durchreise. Und was hat er getan? Im Pub gehockt. So oft wie möglich in Kent Kricket gespielt.

Wenn ich euch beide gefüttert habe, hat er unaufhörlich über Politik, Sport und seine Familie gesprochen. Schließlich habe ich gesagt: >Ist doch für die Katz, wenn du mir das erzählst. Schreib es auf! Pack es in eine Kolumne!< Genau das hat er getan. Er begann, für Zeitungen in Indien und Pakistan zu schreiben. Er merkte, dass er dort sein musste, mitmischen wollte. Er war bereit zu arbeiten. Er wollte dabei sein.«

Also kehrte er auf den Subkontinent zurück. Eine offizielle Trennung gab es nicht, aber Mum vermutete, dass ihn »etwas aufgeregt hatte«..

Wenn wir zu Hause vor dem Fernseher saßen und Vesta-Currys aßen - näher konnten wir dem Subkontinent nicht kommen -, sagten wir Dinge wie: »Was du da tust, würde Dad nicht passen«, oder: »Darüber würde Dad jetzt lachen«, um das Gefühl zu haben, er wäre bei uns. Er wurde zu einem Phantasie-Vater, zu einer Collage, die aus den Bruchstücken seiner wahren Person bestand. Jeder von uns hatte seine eigene Vorstellung oder sein Bild von ihm, während er im Schatten stand wie Orson Welles in Der dritte Mann, immer kurz davor, in unser Leben zu treten - wie wir hofften. Wenn Mutter mit Worten wie »dieser Kerl« oder »euer verdammter Vater« von ihm sprach, sorgte das immerhin dafür, dass wir ihn im Bewusstsein behielten. Gelegentlich konnte er aber auch für ungute Zwecke herhalten.

Als Miriam einmal stinksauer auf Mutter war, sagte sie: »Du behauptest, dass Dad ein Alkoholiker war und fies und verletzend sein konnte, aber er hat ein erfolgreiches Leben gehabt. Was hat es denn je gebracht, für andere zu sorgen?«

»Als erfolgreich würde ich ihn nicht unbedingt bezeichnen«, antwortete Mum. »Seine Familie im Stich zu lassen ist nicht erfolgreich.«

Miriam erwiderte: »Dad musste dich verlassen.«

»Was soll das heißen?«

»Weil du so ekelhaft, dumm und faschistisch bist!« Mutter ging Miriam daraufhin an die Kehle. Wenn sie handgreiflich wurden, rannte ich immer aus dem Haus und setzte mich im Park in den Schuppen, rauchte, träumte von der Zukunft und stöhnte vor mich hin: »Ich muss doch irgendwie abhauen können ...«

Ich hatte nie genau gewusst, was ich später werden wollte. Dad hatte in dieser Hinsicht weder Wünsche noch Verbote geäußert. Wahrscheinlich hatte er einfach keine Lust, Miriam zu sagen, wie sie sein sollte. Mir schenkte er mehr Aufmerksamkeit, zog mich oft an sich und küsste mich auf die Wangen, zerraufte mein Haar, zeigte seine Bewunderung ganz handfest und sagte, ich würde mir zu viele Sorgen machen. Ich konnte ihn überreden, mir Klamotten und Bücher zu kaufen; ich wusste, wie ich ihn einwickeln konnte. Unsere Liebe füreinander war leidenschaftlich und zärtlich. Vermutlich hatte Miriam unsere Mutter, und ich hatte gelegentlich unseren Vater, fühlte mich aber schuldig, weil er mich vorzuziehen schien.

Dad gab mir noch etwas, und dafür habe ich mich nie bei ihm bedankt. Einmal ging ich allein zu seinem Hotel, und als ich in seinem Stockwerk auf den Fahrstuhl wartete, sah ich eine Frau, klein, Mitte dreißig und so schlicht gekleidet wie für ein Bewerbungsgespräch - keine der üblichen umwerfenden Schönheiten. Dads Tür war noch nicht ganz zu, und ich huschte in sein Zimmer und stellte fest, dass er schlief oder einfach hinüber war. Der Duft ihres Parfüms hing noch in der Luft.

Ich rannte nach unten auf die Straße und rief ihr nach. Sie zögerte, bevor sie reagierte. Ich dachte, sie würde sofort verschwinden, doch sie blieb stehen und sah mich überrascht an. Sie ging mit mir auf einen Drink in den Pub gegenüber, nervös und enttäuscht, eine Jean-Rhys-Heldin in schäbigen Schuhen, verhärmt und vom Gin gezeichnet. Ich stellte ihr eine Frage, dann noch eine, bis sie mir mit leiser, krächzender Stimme ihre Geschichte erzählte. Als uns der Gesprächsstoff ausging, war ich so dreist, ihr eine ganz naive Kinderfrage zu stellen: Wie viel sie verlange? Sie lachte und nannte mir einen Preis. Ich hatte natürlich weder so viel Geld bei mir, noch konnte ich sie mit auf ein Zimmer nehmen. Ich konnte nicht mit Dad mithalten. Wenn ich dreister gewesen wäre, hätte ich sie vielleicht um einen Familienrabatt gebeten. Trotzdem entwickelte ich damals eine Vorliebe für Huren - wie es so schön in der Werbung heißt: Wenden Sie sich im Zweifelsfall an einen Experten -, obwohl man genau wie bei ganz gewöhnlichen Mädchen immer auf die Richtige wartet, auf eine, die man mag und von der man gemocht wird.

Vater hatte mir einmal erzählt, dass er eigentlich Arzt hatte werden wollen wie sein Vater, und dass er nichts dagegen hätte, wenn ich diesen Beruf ergreifen würde. Anders als viele frühe Freudianer, die Mediziner gewesen waren, hatte ich keine Begabung für Medizin oder Chemie, aber wie ich feststellte, hinderte mich das nicht daran, ein Arzt der Seele zu werden.

»Egal, was du später machst«, sagte Dad auf seine scheue, wohlmeinende Art, »enttäusch mich nicht und erweis dich nicht als Trottel.« Analytiker zu werden löste wohl viele meiner Probleme. Auf jeden Fall bot sich mir dadurch die Gelegenheit, viel Zeit mit Leuten zu verbringen, die mich darüber nachdenken ließen, was den Menschen ausmacht.

Ajita und ich konnten viel Zeit miteinander verbringen, weil man ihrer Tante weisgemacht hatte, das College sei ein Vollzeitjob mit gelegentlichen abendlichen Vorlesungen. Ihr Vater war selten zu Hause. Er kam sechs Tage in der Woche um zehn Uhr abends aus seiner Fabrik zurück und ging in aller Frühe aus dem Haus. Am Sonntag besuchte die Familie Verwandte in Wembley, und Ajita tanzte im Schlafzimmer mit ihren Cousinen.

Das war eine sehr angenehme späte Jugend. Die Universität war damals eine Mischung aus verlängerten Ferien und den Abschlussprüfungen an der Schule. Doch anders als in der Schule gab es weder Druck noch Büffelei, und die heutigen Sorgen um Geld oder Karriere waren uns weitgehend fremd. Es war mir egal, welche Zensuren ich bekam, denn niemand fragte mich danach.

Ich las mehr als je zuvor, und das mit einer Leidenschaft, die neu und überraschend für mich war. Ich glich jemandem, der bis vor kurzem gelähmt gewesen war und auf einmal merkte, dass er springen und rennen konnte. Einer meiner Dozenten sagte: »Schreiben Sie über irgendetwas, das Sie interessiert.« Ich arbeitete über den ersten meiner Wiener Lieblingsdenker, über Wittgenstein und seine Theorie der »privaten Sprache«. Seine Fragen waren befriedigend fremdartig. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich wirklich bei Freud angekommen war.

Wenn wir keine Seminare oder Vorlesungen besuchten, und das war meist so, nahm ich Ajita mit zu Valentin und Wolf. Sie kaufte ein und kochte uns Steak mit Pommes frites; wir waren eine kleine Familie. Wenn ich sage, dass sie meine erste Liebe war, so meine ich damit, dass sie die erste Frau war, die ich nicht einfach vergessen konnte, die mir im Kopf herumspukte, wenn ich nicht bei ihr war, und an die ich immer denken musste. Wenn sie gegangen war, belastete mich das sehr.

Wir schliefen in Valentins Bett miteinander, während die Jungen draußen rauchten. »Na, los, legt euch flach«, sagte Wolf immer, »ihr zwei könnt ja nicht die Finger von euren Ärschen lassen.«

Allmählich stellte sich bei mir eine merkwürdige sexuelle Erfahrung ein. Liebesspiel und Orgasmus verschmolzen miteinander. Das Erbeben, das Kribbeln, das Kommen waren auf einmal ganzkörperliche Erfahrungen und fanden nicht nur in meinen Genitalien, sondern auch in meinem Inneren statt, sodass ich mehrere Orgasmen hatte. Sie endeten nicht mit einem Paukenschlag - waren nicht abrupt vorbei -, sondern schienen fortlaufend zu sein: eine ganze Reihe heftiger Schüsse oder Explosionen, deren Wucht immer weiter abnahm.

Was ist ein Krimineller? Jemand, nach dem die Polizei fahndet - der gesucht wird. Ich wurde noch nicht von der Polizei gesucht. Und meine Freunde? Ich weiß nicht genau, ob Valentin und Wolf irgendwelche »Verbrechen« begingen, und wenn ja, welche. Sie erzählten von Schlägereien oder davon, wie Wolf jemandem einen Stuhl über den Schädel gezogen hatte, von korrupten Polizisten und Anwälten und wie einfach es sei, einen Richter zu bestechen oder sich einen gefälschten Pass zu besorgen.

Mit Wolf zog ich durch die vielen Läden für Antiquitäten und Trödel, die es in der Gegend gab. Ich kannte mich damit aus und konnte ihm helfen, Schnäppchen zu finden. Einfach war das nicht, denn sobald Wolf einen solchen Laden betreten hatte, begann er, Fünfpfundscheine an die Angestellten zu verteilen. Das machte Eindruck, keine Frage, und man flitzte mit frischer Energie los und schleppte Vasen an. Ob sich dieses Trinkgeld jedoch in anderer Hinsicht auszahlte - es trieb die Preise eher in die Höhe -, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht reichte Wolf die Unterwürfigkeit. Mir reichte sie. Damals wollte ich immer noch Akademiker werden und die kriminellen Geschichten nur nebenbei betreiben. Mir gefiel der Gegensatz: Platon, der Dieb.

Einmal hatte Valentin allerdings ein extremes Erlebnis. Im Water Rat begegnete er einem Typen, der ihn bat, seine Frau zu vögeln, während er sich einen runterholte. Val, der das Geld gut gebrauchen konnte, ließ sich ein paar Mal dafür bezahlen. Die Frau schien die Sache nur mäßig interessant zu finden und wollte lieber allein mit Val essen und im Anschluss ins Theater gehen. Auch sie wollte ihn dafür bezahlen. Dann kam der Typ wieder zu Valentin und bot ihm noch mehr - erheblich viel mehr -, wenn er die Frau fesseln und sie »ein bisschen schlagen und durch die Gegend treten« würde. Diese Vorstellung widerte Valentin an, obwohl Wolf und ich fanden, dass er eine super Sache am Laufen hatte und den Preis, da offenbar Geld vorhanden war, noch weiter in die Höhe treiben sollte. Dummerweise streckte Valentin den Mann mit einem Faustschlag nieder, nachdem dieser seine Bitte vorgetragen hatte. Valentin war bereits depressiv und verfiel immer wieder in katatonische Starren, und diese Sache machte alles noch schlimmer, denn er wollte sich weder prostituieren noch gewalttätig werden, und warum passierte so etwas immer ihm? Seltsam, aber damals schlug ich ihm vor, eine Therapie zu machen, obwohl ich so gut wie keine Ahnung davon hatte, aber er meinte, wenn er reden wolle, würde er sich im Pub mit mir unterhalten. Ein Mann machte so etwas mit sich selbst ab.

Da war es also wieder, das Reden, und die meisten Menschen reden viel. In meiner Familie waren Geschichten sehr beliebt. Meine Großmutter, die vor ihrem Umzug in eine nahe gelegene, kleine Wohnung bei uns gelebt hatte, verschlang die Bücher von Agatha Christie und Catherine Cookson. Sie lagen stapelweise unter dem Bett, in der Ecke und neben dem Klo. Meine Mutter sah Soaps, und Dad las im Flugzeug Henry Miller. Ich himmelte James Bond an.

Doch die Worte in Büchern waren nicht so gefährlich wie jene, die irgendjemand unvermittelt sagen konnte - etwa die Worte, die Ajita eines Tages zu mir sagte, Worte, die ich fast überhört hätte, die mir aber im Gedächtnis blieben und mich immer wieder heimsuchten wie das Geflüster des Teufels. Sie war zu spät zu der Philosophie-Vorlesung gekommen, bei der wir uns treffen wollten. Sie studierte zwar Jura, brauchte aber noch ein »Modul«, um ihren Kurs zu vervollständigen. Sie liebte die Philosophie nicht so sehr, wie ich gehofft hatte. Sie konnte keinen Sinn darin sehen, amüsierte sich aber über meine Versuche, ihr die Sache zu erklären.

»Es geht um Lebensweisheit und darum, was richtig und was falsch ist, oder?«, fragte sie immer.

»Wäre schön«, erwiderte ich dann. »Dafür müsstest du wohl zur Psychologie wechseln, aber ich glaube nicht, dass du jetzt noch umsatteln kannst. Für mich hat Philosophie mit der Idee des Aristoteles zu tun, dass der Wunsch nach Glückseligkeit den Kern des menschlichen Daseins bildet. Wenn man uns die Philosophie beibringt, geht es aber leider immer nur um Konzepte. Zum Beispiel darum, wie wir die Welt wahrnehmen. Oder darum, was Wissen ist - woher wir wissen, was wir wissen. Oder darum, was wir an Sinnvollem über die Natur des Wissens sagen können.« Nachdem ich mich auf diese Weise außer Puste geredet, aber immerhin ihre Verblüffung geerntet hatte, wurde ich persönlicher. »Ich will wissen. Alles über dich. Aber wie soll ich je wissen, ob ich alles über dich weiß?«

»Du würdest mich überhaupt nicht durch und durch kennen wollen«, sagte sie barsch. »Warum nicht?« »Das würde dich abschrecken.« »Woher willst du das wissen?« »So wäre es, glaub mir.« »Hast du Geheimnisse?« »Frag mich lieber nicht.«

»Jetzt muss ich dich fragen, Ajita. Ich brenne vor Neugier.«

Sie lächelte mich an. »Neugier kann tödlich sein, oder?«

»Aber ohne Neugier geht gar nichts, findest du nicht auch? Das liegt in unserer Natur - wenn wir unsere Neugier nicht befriedigen, kommen wir nicht voran.«

»Ja, aber manchmal ist die Neugier nicht gut, mein Süßer.«

»Was gut ist und was nicht«, sagte ich, »weiß man im Voraus nie so genau.«

»In diesem Fall wäre es nicht gut. Und jetzt hör auf damit!«

Ich musterte sie eindringlich, denn ihr Trotz verblüffte mich. Sie war fast immer zärtlich zu mir, und wenn wir sprachen, küsste und streichelte sie mich. Dieses Gespräch fand hinter ihrer Garage statt, wo es einen kleinen, ungenutzten Garten mit einer ansehnlichen Rasenfläche gab, den man vom Haus aus nicht sehen konnte. Sobald es im Frühling wärmer wurde, war das unser geheimer Ort, wo wir uns hinlegten und Radio One hörten, bevor wir zum Abendessen nach London fuhren.

Obwohl wir so dunkelhäutig waren, dass wir im Viertel mit schöner Regelmäßigkeit rassistisch beschimpft wurden, oft aus vorbeifahrenden Autos, begannen wir, Geschmack daran zu finden, nackt in der Sonne zu baden, zumal wir an alles herankommen konnten, was wir brauchten - Musik, Drinks, das Essen von Ajitas Tante. Ajita nahm oft einen Beutel mit Kleidern mit in den Garten. Liebe geht durch die Augen: Sie lehrte mich die Erotik des Hinschauens. Damals mochte sie ihren Körper, und sie zeigte ihn auch gern, posierte mit offenen oder geschlossenen Kleidern oder mit losen Fesseln um die Fußknöchel, den Hals oder die Handgelenke.

Für mich war die Zeit, die wir draußen verbrachten, ein Fest. Wir hatten die Mühsal unserer Kindheit überstanden - Eltern, Schule, ständigen Gehorsam, Schrecken -, und das hier war unser Urlaub, bevor wir den Schritt ins Erwachsenendasein taten. Wir waren immer noch Kinder, und wir verhielten uns wie Kinder. Wir jagten und kitzelten einander und zogen uns gegenseitig an den Haaren. Wir sahen einander beim Pinkeln zu, veranstalteten Spaghetti-Wettessen und Wettläufe mit Löffel und Ei, die Hose um die Knöchel. Danach brachen wir immer lachend zusammen und schliefen wieder miteinander. Wir hatten die Kindheit überstanden. Oder doch nicht?

Hätte Ajitas Tante uns beobachtet - und ich fragte mich oft, ob sie nicht irgendwo linste; ich hatte das dumpfe Gefühl, als würde uns jemand zuschauen -, dann hätte sie gesehen, wie Ajita mit geschlossenen Augen dalag, die Lippen genussvoll geöffnet, während ich auf den Knien hockte und ihren Körper von oben bis unten mit Küssen bedeckte. Ich spielte den ganzen Tag auf ihrer Haut, bis ich glaubte, ihren Körper mit verbundenen Augen unter hundert Frauen erkennen zu können.

Ajitas Tante und die Art, wie sie mit ihrem Kopftuch durch das Haus schlich, stellte mich immer wieder vor Rätsel. Wenn ich jünger gewesen wäre, hätte sie wohl irgendwie mit mir kommuniziert. Meine indischen Tanten hatten bei ihren Besuchen in London immer viel Tamtam um mich gemacht, als ich noch klein gewesen war, hatten mich geküsst und ständig an sich gedrückt, jedenfalls mehr als meine Mutter. Mit wem, fragte ich mich, unterhielt sich diese Tante? Ganz bestimmt nicht mit Ajita oder ihrem Bruder. Sie wusch und kochte für die beiden, aber sie aß nicht mit ihnen. Meist hielt sie sich allein in ihrem Zimmer auf und wirkte eher wie eine Dienerin als eine Familienangehörige. Vermutlich glaubte ich schon damals an die Notwendigkeit des Gesprächs. Ja, ich glaubte sogar, dass sie litt, weil sie mit niemandem sprechen konnte.

Wir schienen ganz allein zu sein. Die Nachbarschaft wirkte verlassen, die Kinder waren in der Schule, die Eltern bei der Arbeit. Wir hörten leise Radio, und ab und zu schauten wir sogar in die Lehrbücher. Davon abgesehen gab es nur den Himmel und das Nachbarhaus. Dieses Haus und das darin lebende Paar hatte ich tagelang vor Augen, ohne es wirklich wahrzunehmen, bis mir schließlich der Gedanke kam, dass mein Leben als Krimineller, sollte es beginnen - und ich war fest davon überzeugt, dass es beginnen würde, weil ich immer noch glaubte, mich vor Wolf und Valentin beweisen und es ihnen gleichtun zu müssen -, dort seinen Anfang nehmen könnte.

Dann begann ich, Ajita noch mehr Fragen zu stellen. Was ich wissen wollte, war das, was sie nicht preisgab. Ich wollte das erfahren, was angeblich gefährlich für mich war.

Ungefähr zu jener Zeit - wir waren seit ein paar Monaten zusammen -wurde alles noch merkwürdiger, als es ohnehin schon war, und ich begann zu begreifen, dass ich in etwas hineingeraten war, das ich nie im Leben wirklich verstehen würde.

Jedem zerreißt es einmal das Herz.

FÜNF

»Ein Anruf für Sie, Dr. Khan«, sagte Maria.

Sie war mein Wachtposten, und um diese Uhrzeit rief sie mich eigentlich nie ans Telefon, außer es handelte sich um den Anruf eines Selbstmordkandidaten, ein Fall, vor dem sich jeder Analytiker fürchtet, mit dem sich aber viele konfrontiert sehen.

Ich behaupte an dieser Stelle, dass ein Analytiker ohne Haushälterin absolut nutzlos ist; und ohne ein unordentliches Zimmer sowieso. André Breton, der Freud im Jahr 1921 seinen einzigen Besuch abstattete, war bodenlos enttäuscht von diesem großen Mann, dessen Haus er tagelang umschlichen hatte: von Freuds Wohngebäude, von seinem Antiquitäten, seinem Büro, seiner Körpergröße (Bretons Kollege, Tristan Tzara, bezeichnete Freuds Beruf als »Psychobanalyse«). Jacques Lacans Wohnungseinrichtung - der abgetretene Teppich und das phallische Treibholz auf dem Tisch im Wartezimmer - wurde von Besuchern häufig ganz ähnlich beschrieben. Man erwartet einen Zauberer, und was man antrifft, ist nur ein Mensch. Die Analyse ist auf jeden Fall eine Übung in Desillusionierung.

Wir aßen zu Abend: kalten Lachs, Salat, Brot und Wein. Der Besuch, den Rafi und ich Miriam abgestattet hatten, lag eine Woche zurück. Henry war vorbeigekommen, um zu reden und abgelenkt zu werden. Nun hielt Maria mir das Telefon hin. »Mr Bushy steht vor der Tür.«

»Ah ja. Danke.« Als ich das Telefon ablegte, sagte ich zu Henry: »Das ist für dich. Bushy hat die Lieferung gebracht, um die du gebeten hast.«

»Ah. Die Lieferung. Endlich. Wie drückt Baudelaire das aus? >Die Sehnsucht nach dem Unendlichen ...< Her damit!«

Im Eingangsflur ertönte ein so lautes Scheppern, als würde jemand einen Beutel mit Münzen in ein Metallrohr schütten. Das konnte nicht Bushy sein. Als ehemaliger Einbrecher war er ein leiser Mensch. Nein, es war Miriam höchstpersönlich, und sie hatte zweifellos ihren gesamten Schmuck angelegt, sogar an den Beinen, allerdings ohne die Stäbe, die sie manchmal benutzte. Sie kam hereingerauscht, entledigte sich ihres schwarzen Knittersamtmantels und warf ihn Maria hin, die ihr einen Respekt erwies, wie sie ihn jeder Königin gezollt hätte, die ich bewunderte, ob männlich oder weiblich.

Miriam hatte sich in mehrere Schichten schimmernder semipsychedelischer Kleidung gehüllt, über der sie ein schwarzes Grufti-Top mit Spinnwebmuster trug. Sie hatte rote und blaue Strähnchen im Haar, alle frisch gefärbt, und die Piercings in ihrem Gesicht waren auf Hochglanz poliert, was sie einige Mühe gekostet haben dürfte.

»Heute Vormittag habe ich mit dem schwarzen Wolf im Käfig gesessen«, rief sie beim Hereinkommen. »Ich war ganz nah an seinem Geist. Er hat in die Ferne geblickt, nach Osten, er war in Sorge um all jene, die im Krieg in die Luft fliegen. Er hat mich angewiesen herzufahren. Ich müsse Verbindungen knüpfen. Deshalb bringe ich dies persönlich.«

»Ah. Gut«, sagte Henry, der sie eindringlich anstarrte. Dass Miriam persönlich aufkreuzte, war, wie ich gestehen muss, eine Überraschung für mich. Wie jede andere Berühmtheit ging auch sie nur ungern allein vor die Tür, und wegen ihrer Gebrechen wurde sie meist von zwei kleineren Personen gerahmt, auf die sie sich stützen konnte.

Henry wirkte beeindruckt. »Versteht sich.«

Wir reckten die Köpfe. Das »Unendliche« befand sich in einer edlen Holzkiste, die Miriam vor sich hielt. Ich kannte sie. Unsere Mutter, mit ihrer Leidenschaft für Märkte und Antiquitäten, hatte alles Fernöstliche gesammelt und kein einziges Stück weggeworfen. »Dir ist nur dein Mann abhanden gekommen, sonst nichts«, sagte ich immer zu ihr, wenn sie ihre diversen Chinoiserie-Kostbarkeiten wieder einmal wie besessen abstaubte.

Sie gab Henry die Kiste. »Hier, Henry.«

»Miriam, Schätzchen, du bist großartig!«

»Bin ich, bin ich - aber das begreifst nur du.«

Ein verrückter Anblick - plötzlich lagen sich die beiden in den Armen, als hätten sie einander endlich wiedergefunden.

Miriam setzte sich neben Henry, öffnete die Kiste und packte etwas von dem Gras aus. Sie hielt es ihm unter die Nase - eine Nase, die Frankreich auf der Suche nach Wein der Länge und Breite nach durchquert hatte, immer in Begleitung von Schauspielerfreunden, die dickfellig genug gewesen waren, um seine Monologe goutieren zu können.

»Gegen Tod und Autoritarismus gibt es nur ein einziges Mittel«, sagte er einmal.

»Die Liebe?«, wagte ich zu fragen.

»Nein, die Kultur«, sagte er. »Viel wichtiger. Jeder Clown kann sich verlieben oder Sex haben, aber um ein Theaterstück zu schreiben, einen Rothko zu malen oder das Unbewusste zu entdecken ... sind das nicht unerhörte Großtaten der Phantasie und die einzigen Mittel gegen die menschliche Mordlust?«

Nun schienen ihm die Sinne zu schwinden, und die diversen Schichten seines Kinns erbebten beim Duft einer schlichten Sache.

»Was empfindest du?«, fragte Miriam.

»Oh, Miriam, deine Finger sind es, die ich bewundere.«

»Ich weiß.«

»Wo hast du nur diesen schwarzen Nagellack her?«

»Halt, warte«, sagte sie drängend. »Hier.«

Henry beugte sich vor, ihre Furcht ließ ihn aufhorchen. »Was ist denn?«

Maria und ich sahen zu, wie sie Henry beide Hände oben auf den Kopf legte. Sie schüttelte sorgenvoll ihren Kopf, als würde Henrys Unzufriedenheit ihre Fingerspitzen vibrieren lassen.

»Was ist da?«, fragte Henry. »Genie? Krebs? Ein Djinn?«

»Welches Sternzeichen bist du?«, fragte sie. Im Falle von Henry keine gute Frage, doch sie fuhr rasch fort. »Hast du kürzlich einen Geist gesehen?«

»Einen Geist!«, erwiderte er. »Aber natürlich!« »Einen oder mehrere?« »Willst du das wirklich wissen?«

»Ich kann mit Sicherheit sagen, dass dir einer innewohnt!«, sagte sie entschieden.

»Das wusste ich schon immer«, sagte er. »Du bist die Einzige, die das erkennt!«

»Aber du bist nicht besessen.« »Nein? Nicht besessen?«

Ich merkte, dass die auf der Türschwelle lauschende Maria kurz vor der Panik stand. Ich aß einen letzten Bissen, warf einen Blick auf die Uhr und sagte: »Ich muss jetzt meine Runde drehen.«

Bushy lehnte draußen auf der anderen Straßenseite an seinem Auto und rauchte. Ich winkte und rief ihm einen Gruß zu. Bei meinem Anblick riss er sich zusammen; sein Mund begann zu arbeiten, höchstwahrscheinlich entwich ihm ein Traum.

»Soll ich dich irgendwo hinfahren?«, rief er. Er kam zu mir herüber, doch ich blieb nicht stehen. Dann war er neben mir. »Mensch«, sagte er, »du weißt doch alles darüber - ich habe heute mehr Sex als je zuvor! Ein Kerl, dessen Schwanz nicht irgendwo drinsteckt, nützt doch niemandem was ...«

»Schön, das zu hören«, sagte ich und eilte weiter.

Bei meiner Rückkehr vom Spaziergang, kurz vor meinem ersten Nachmittagstermin, waren Henry und meine Schwester verschwunden. Maria räumte auf. Sie sagte, Bushy habe die beiden nach Hammersmith gefahren, wo Henry am Fluss einen Pub namens The Dove kenne. »Dort werden sie sich zweifellos«, sagte sie mit tiefer Missbilligung, »den ganzen Nachmittag um die Ohren schlagen.«

»Gut«, sagte ich, als ich in mein Zimmer ging. »Könnten Sie wohl den Patienten hereinbitten?«