SECHS

Ein Mann kommt zum Analytiker und sagt: »Bitte, Sir, ich bin völlig verzweifelt. Wenn Sie mich heilen, bekommen Sie mein ganzes Vermögen!« Der Analytiker erwidert: »Ihr Vermögen können Sie behalten. Ich will nur fünfzig Pfund pro Stunde.« Der Mann sagt: »Was? So viel?«, worauf der Analytiker antwortet: »Immerhin kennen Sie den Preis.«

Unter meinen Patienten sind Geschäftsmänner, Nutten, Künstler, Teenager, Zeitschriftenherausgeber, Schauspieler, PR-Leute, eine achtzigjährige Frau, ein Psychiater, ein Automechaniker, ein Fußballspieler, drei Kinder und andere mehr. Wenn ich einen Patienten an der Tür begrüße, ihm ins Zimmer folge und warte, bis er sich entweder setzt oder sich auf die Couch legt - ich ziehe es vor, wenn die Leute sich hinlegen, denn wie Freud so schön gesagt hat: »Ich lasse mich nur ungern acht Stunden pro Tag anstarren« -, bin ich sehr neugierig darauf, was er mir zu erzählen hat, und mir ist wichtig, dass die Chemie zwischen uns stimmt.

Was weiß ich denn schon als Therapeut? Verglichen mit den technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, die der Medizin heute zur Verfügung stehen, ist meine Tätigkeit altmodisch, ja fast kurios. Ich führe zwar keine Untersuchungen durch und verschreibe auch keine Medikamente, bin aber in gewisser Weise ein traditioneller Arzt, weil ich nicht nur die Krankheit, sondern die ganze Person behandele. Streng genommen bin ich das Medikament und ein Bestandteil der Therapie. Nicht dass viele Menschen geheilt werden wollen. Ihre Krankheit ist unerträglich befriedigend für sie. Die Patienten sorgen unbewusst selbst für ihr Elend, und was sie als ihr Symptom bezeichnen, ist in Wahrheit ihr Leben, und das sollten sie besser bejahen!

Manche Leute würden sich lieber erschießen lassen, als sich zu öffnen. Ich kann nur eines tun, nämlich die betreffende Person über einen langen Zeitraum hinweg reden zu lassen. Dabei müssen wir beide alles ernst nehmen, was gesagt wird, obwohl wir natürlich wissen, dass man selbst dann lügt, wenn man die Wahrheit sagt, und dass man, wenn man über jemand anderen redet, im Grunde von sich selbst spricht. Ich stelle Fragen nach der Familie, bis hinab zu den Großeltern. An wen können sich Leidende heute wenden, wenn der Haushalt ihrer Wünsche gestört ist?

Was qualifiziert jemanden für den Beruf als Analytiker? Unter dem Strich die menschlichste aller Fähigkeiten, jene, einen rätselhaften Schmerz erkennen zu können und eine gewisse Neugier auf das Innenleben zu entwickeln. Die Analyse ist mühsam, und wie sollte es auch anders sein? Wenn man jahrelang oder gar jahrzehntelang auf eine

ganz bestimmte Art gelebt hat und dann versucht, das Ruder durch Reden herumzureißen, ist das Knochenarbeit. Nicht, dass es immer funktioniert; dafür gibt es keine Garantie, und es darf auch keine geben. Es bleibt immer ein Risiko.

Leider sorgt die Psychoanalyse zum Erstaunen vieler weder dafür, dass sich die Menschen besser benehmen, noch dafür, dass sie moralisch integer bleiben. Ganz im Gegenteil - oft macht die Analyse die Menschen noch unerträglicher, noch streitbarer und noch fordernder, schärft das Bewusstsein für eigene Wünsche und sorgt dafür, dass man sich nicht mehr so leicht von anderen beherrschen lässt. In diesem Sinne ist sie subversiv. Allerdings gibt es nur eine kleine Minderheit von Menschen, die sich im Alter wünschen, ein tugendhafteres Leben geführt zu haben. Nach allem, was mir in meinem Behandlungszimmer zu Ohren kommt, wünschen sich die meisten, sie hätten mehr gesündigt. (Sie wünschen sich auch, ihre Zähne besser gepflegt zu haben.)

Ich wurde von einer klugen, gutsituierten, intelligenten Frau aufgesucht. Sie saß nicht auf dem Rand der Couch, wie es nervösere Patienten tun, sondern lehnte sich zurück und sprach mit mir, als wäre ich jemand, der sich bei ihr um einen Job beworben hatte. Sie erzählte mir ein bisschen über ihre Lebenssituation und sagte dann, sie sei gekommen, weil ihr Mann »gerade Probleme« bei seiner Arbeit habe. (Viele Leute kommen wegen Problemen, die irgendwie mit ihrer Arbeit zusammenhängen. Ihre emotionalen und sexuellen Probleme enthüllen sie erst später.) Sie glaubte nicht, eine Mitverantwortung an seiner misslichen Situation zu tragen, wollte die Sache aber »durchsprechen«. Sie sei, betonte sie immer wieder, »normal« beziehungsweise »in keiner Weise unnormal«.

Als ich später meine Runde drehte, fragte ich mich, warum ich das Gefühl hatte, der »Normalität« misstrauen zu müssen.

Das Entscheidende am Normalen ist ja, dass es überhaupt nicht normal ist: Normalität ist lediglich die veredelte Form handelsüblichen Wahnsinns - das weiß jeder Surrealist. In der Analyse ist »das normale Kind« oft gleichbedeutend mit dem gehorsamen, braven Kind, jenem, das immer nur darauf bedacht ist, den Eltern zu gefallen, und das entwickelt, was Winnicott »falsches Selbst« genannt hat. Laut Henry ist der Gehorsam eines der Probleme dieser Welt und nicht, wie so viele geglaubt haben, deren Lösung. Aber gab es denn keine Definition des Normalen, die dieses nicht mit dem Banalen oder Langweiligen gleichsetzte? Oder die nicht einengend oder absurd pedantisch war?

Natürlich brachte es meine Arbeit mit sich, dass ich Zeit mit »Durchgeknallten« verbrachte, wie Miriam sie genannt hatte, genauso, wie Mediziner mit kranken Körpern arbeiten. Aber wie Freud sagt und wie meine Erfahrung mich gelehrt hat, gehören meine Patienten keiner Kategorie Mensch an, die von allen anderen getrennt wäre. Verrückt oder gefährlich waren am allerwahrscheinlichsten jene, die nicht um Hilfe nachsuchten. Dabei fiel mir eine Geschichte über Proust ein, der gegen Ende seines Lebens verzweifelt und hektisch die Seiten von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durchblätterte, weil er merkte, wie exzentrisch, ja wie unnormal seine Protagonisten waren, als könnte ein Roman oder gar eine Gesellschaft aus nichts als langweiligen und angepassten Leuten bestehen. Meine Arbeit mit der »normalen« Frau würde dazu beitragen, sie in eine Dichterin zu verwandeln - sie würde begreifen, was an der Erfahrung, die sie am liebsten als »normal« unter den Teppich gekehrt hätte, zwar verwirrend, zugleich aber auch faszinierend war, selbst wenn sie sich und mich davon zu überzeugen versuchte, dass das »Normale« unantastbar sei.

Anders als bei dieser »normalen« Frau hat mein Staunen über die Natur und die Vielfalt der menschlichen Lust, des größten aller Probleme, nie nachgelassen. Ich werde von einem Fußfetischisten und zwanghaften Onanisten aufgesucht, der um ein Haar seinen Job verloren hätte, weil er zu viel Zeit auf der Toilette verbrachte; von einigen Männern, die sich als Frauen verkleiden; von einem mächtigen Geschäftsmann, der kein Risiko scheute, um heimlich Frauen durchs Fenster beobachten zu können; von einem Mädchen, das eine Todesangst vor Katzen hat; von einer Patientin, die einen Zusammenbruch erlitt, als sie im Alter von dreißig Jahren zum ersten Mal erfuhr, dass ihre Mutter immer ein Glasauge gehabt hatte; von den sexuell Zügellosen, den Frigiden, den Panischen, den Flatterhaften; von den Missbrauchenden und den Missbrauchten, von Menschen, die sich schneiden, sich fast zu Tode hungern oder ständig übergeben, von den in der Falle Sitzenden und den allzu Freien, den Ausgelaugten und Hyperaktiven und auch von jenen, die sich ihr Leben lang der eigenen Dummheit verschrieben haben. Von allen erfahre ich etwas. Ich bin Assistent eines Autobiographen, Hebamme der Phantasien meiner Patienten, ich reiße ihre Wunden wieder auf, befreie ihre Stimme, lasse das Reden zu Erotik werden, zeige, dass ihre Wahrheiten nur Illusionen sind. Die Analyse verfremdet das Vertraute und konfrontiert uns mit der Frage, wo die Träume enden und wo die Realität beginnt, falls sie überhaupt irgendwo beginnt. Meinen ersten Analytiker, einen Pakistaner namens Tahir Hussein, suchte ich einige Monate nach meinem Examen an der Universität auf, als die Sache mit Ajita mehr als nur merkwürdig geworden war. Ich muss wirklich sagen - ich war in großer Not.

Ajita und ich waren unserer Wege gegangen, ohne je ein Wiedersehen in Betracht zu ziehen. Wir hatten uns nicht auseinandergelebt; unsere Liebe füreinander hatte sich nie erschöpft, sondern war gewaltsam gekappt worden. Wie ich die Bewunderung vermisste, die sie mir entgegengebracht hatte, ihre Küsse, ihr Lob, ihre Ermunterung und die Art, wie sie »danke, danke« gesagt hatte, wenn sie gekommen war. Von all meinen Frauen war sie auf denkwürdige Art die zärtlichste, verletzlichste und ungehemmteste gewesen. Mit dem dunklen Haar, das ihr über das Gesicht fiel, wenn sie meinen Penis in den Mund nahm, sah sie aus wie eine von Goya gemalte spanische Schönheit. Sie nannte mich »ihren Hübschen« und behauptete, meine Stimme zu lieben, das, was sie immer als die »Klangnarbe« bezeichnete.

Ich hatte monatelang auf sie gewartet und geglaubt, dass sie eines Tages wieder auftauchen würde. Ich bildete mir ein, sie auf der Straße zu sehen, in abfahrenden Zügen, in Träumen und Albträumen. Wenn ich eine Bar betrat, stellte ich mir vor, sie würde dasitzen und auf mich warten. Ich hörte, wie sie mit ihrer wunderbaren indischen Intonation nach mir rief, hörte ihren Ruf vom Aufwachen bis zum Schlafengehen.

Schließlich erfuhr ich dann die Wahrheit, und diese war deutlich genug: Sie hatte kein Interesse. Sie hatte behauptet, dass sie mich liebe, doch am Ende wollte sie mich nicht. Ihr Vater war tot, und unsere Beziehung war tot; Ajita war von der Bildfläche verschwunden. Ich wollte zwar nicht darüber hinwegkommen, musste es aber versuchen. Inzwischen hatte sie sicher einen anderen Mann, war vielleicht sogar verheiratet. Ich war Geschichte für sie, vermutlich hatte sie mich längst vergessen.

Mit Anfang zwanzig hatte ich auch Mutter verlassen. Mir war schon eine ganze Weile klar gewesen, dass es höchste Zeit war, aus dem Haus und dem Viertel zu verschwinden. Wenn die Vororte die Antwort auf die Frage waren, wie man leben sollte, dann gehörte ich nicht dorthin.

Eine Bekannte an der Uni, die ich in einer nur mit Frauen besetzten Aufführung von Warten auf Godot gecoacht hatte, vermittelte mir ein Zimmer in einem Haus, das sich eine Gruppe weißer Politaktivisten aus der Mittelschicht teilte. Sie waren Zimmermänner, Lehrer, Sozialarbeiter, Feministinnen und radikale Anwälte. Zwei von ihnen wurden Mitglieder des Parlaments, stramme Gefolgsleute Blairs, die im Fernsehen mehrmals den Irakkrieg verteidigten. In den umliegenden Straßen hatten sie ähnliche Häuser eingerichtet. Allerdings konnte ich nicht sofort das Zimmer haben, das ich wollte. Es gab noch andere Bewerber, und diese Politaktivisten waren Demokraten, jedenfalls gelegentlich. Ich musste mich erst einmal ausfragen lassen, wusste aber, dass mir diese Linken das Zimmer sofort geben würden, wenn ich fragte, ob Farbige im Haus wohnten. Das Schuldgefühl schüttelte ihren Körper wie eine Nahrungsmittelvergiftung, und trotz meiner bleichen Haut und der Weißen, die draußen Schlange standen, war die Sache geritzt.

Im engeren Sinne war es keine Kommune. Jeder hatte sein Zimmer. Kochen und Hausputz wurden nicht gemeinsam erledigt, andere Arbeiten aber schon. Es gab viele Sitzungen und abgedrehtes Geschwafel und Radfahren und Recycling. Neue Poster - Aufbegehren und Überleben! oder das Bild eines Affen im Versuchslabor, begleitet von Broschüren, die für politische Treffen warben - tauchten täglich im Flur auf und außerdem Berge von Holz zur »Neubenutzung«. Wir fuhren oft mit dem Rad in den Wald, die Körbe voll mit Wein und Dope. Einmal konnten es die anderen gar nicht erwarten, sich die Kleider vom Leib zu reißen und in einen verdreckten Tümpel zu springen. Meist war ich gehemmt, doch bei der Gelegenheit machte ich mit.

Fast alle Wochenenden gingen für irgendwelche Anti-AKW-Proteste drauf, und in der Woche fanden in den zugigen Sälen abgewrackter Wohnsiedlungen Versammlungen des Labour-Party-Orts Vereins statt.

Wenn ich dorthin ging, dann nur, weil auch alle anderen hingingen. Ich wollte wissen, was lief. Die Arbeit war ernsthaft. Die alte Garde, die letzten Aufrechten der Arbeiterklasse, Männer, die Pfeife rauchten, unablässig mit kaum verständlichem Akzent sprachen und vielfach persönliche Erinnerungen an Harold Wilson hatten, dazu die Exzentriker, die komischen Käuze, die eindeutig Verrückten und jene, die abends nicht wussten, wohin - sie alle wurden durch meine Bekannten ersetzt.

Bei diesen handelte es sich um junge, clevere Anwälte, Leute vom Wohnungsamt oder Radikale von Provinzuniversitäten. Einige dieser Aktivisten waren tatsächlich Trotzkisten oder Kommunisten und klammerten sich an die Hoffnung, eines Tages zu Ansehen und wahrer Macht zu gelangen. Andere kanalisierten ihren Ehrgeiz in einer Karriere als Politiker. Man wollte die Labour Party weiter nach links verschieben, indem man all jene radikalen Gruppierungen integrierte, die sich während der Siebziger gebildet hatten: Schwule, Schwarze und Feministinnen. Michael Foot wurde zum Parteiführer gewählt, auf ihn folgte Neil Kinnock. Die Partei begann sich zu modernisieren, war aber immer noch nicht wählbar. Zu diesem Zweck musste man die linken Leitlinien aufgeben. Mein Gott, wie wir alle Thatcher verachteten, aber sie hatte die Nase vorn.

Bitterkeit, Boshaftigkeit und Brutalität der Lokalpolitik erstaunten mich. Selbst hier wurde der Idealismus wie immer und überall als Vorwand für krasse Aggressionen benutzt. Ich verteilte Broschüren in den benachbarten Wohnsiedlungen, und bei den Kommunalwahlen »klopfte« ich an. Manchmal wurden wir in die Wohnungen eingeladen. Solche Orte waren mir in der Stadt noch nie zu Augen gekommen, und ich lernte dabei wirklich etwas für das Leben.

Im Haus hielt ich mich viel in meinem Zimmer auf und las. Ich wechselte kaum ein Wort mit den anderen. Meist hatten wir irgendwelche politischen Besucher. Damals galt die Arbeiterklasse noch nicht als Masse blinder Konsumenten in billigen Klamotten mit irgendwelchen Aufschriften darauf, sondern besaß noch genug Würde, um sich für grundlegende Dinge einzusetzen.

Streikende Bergleute waren bei den Schwulen sehr beliebt; die Lesben bevorzugten die Frauen aus Greenham, die zum Spendensammeln nach London kamen, aber selbstverständlich erst einmal gebadet werden mussten. Wir anderen waren Nicaraguaner. (Mehrere Leute aus unserem Kreis begaben sich nach Managua, um dort mit anzupacken. Auch ich erwog das, nahm aber Abstand davon, als ich hörte, dass es mit sehr viel Schaufelei verbunden sei.) Ich fand es gut, nicht allein zu sein, und mochte das Gefühl, Leute in der Nähe zu haben. Und ich hatte zum allerersten Mal ein eigenes Zimmer, eines, für das ich bezahlen musste.

Nach der Rückkehr von dem Besuch bei unserem Vater in Pakistan hassten Miriam und ich einander, wir hassten alles, und unser Leben schien ruiniert zu sein. Ich hatte nicht nur keinen blassen Schimmer, was ich beruflich tun sollte, sondern auch schwere seelische Probleme.

Mir dämmerte langsam, dass ich geglaubt hatte, der Pakistan-Trip könnte nach der Katastrophe mit Ajita ein Wendepunkt sein. Wenn ich Ajita dort nicht fände - und warum sollte ich? -, würde ich wenigstens meinen Vater finden und mit ihm irgendeine Orientierung, neue Kraft und meine besten Seiten. Doch um das zu verdauen, was Miriam und ich am Ende tatsächlich mitbrachten, brauchten wir Jahre.

Eigentlich hätte ich ahnen müssen, dass ich schließlich irgendwie mit Büchern zu tun haben würde. Ich fand einen eintönigen, aber leichten Job in der British Library. Dort fungierte ich als eine Art Regenwurm mit Armen und holte die Bestellungen der Leser aus den von Büchern gesäumten, kilometerlangen Tunneln, die sich unter Bloomsbury erstreckten. Dort, in den Eingeweiden des tristen Bauwerks, umzingelt von vermoderndem, bedrucktem Papier, verlebte ich meine Tage und stieg gelegentlich zu den lichten Weiten des Lesesaals empor. »Ich bin ein Maulwurf, der durchs Loch / der hunderttausend Bücher kroch!«, sang - oder brummte - ich bei der Arbeit vor mich hin.

Meine Augen und die meiner Arbeitskollegen waren nur noch an das schwache Kunstlicht gewöhnt, und als Bergleute der Bücher hatten wir für die Leser, ihre Wichtigtuerei, ihre Muße und auch ihre Flirtereien nichts als Verachtung übrig. Kapierten sie denn nicht, dass dies eine Bibliothek war? Gut möglich, dass wir etwas seltsam, vielleicht sogar abgedreht waren - wir waren ja die Fußnoten ihres Textkörpers -, aber warum würdigten sie nicht, was wir für sie taten, wir, die wir sie mit Lesestoff versorgten? Ich schob gern gebückt einen Karren in die Tiefen der Erde, in das, was Keats »dunkle Stollen« nannte. Manche meiner Kollegen schufteten seit dreißig Jahren in diesem erstickenden, aber behüteten Tal der Bücher und nisteten in den Wäldern der Folianten. Wenn man sich lebendig begraben lassen wollte, konnte es keinen besseren Ort geben.

Einen der Wissenschaftler, die im Lesesaal arbeiteten - über Coleridge's Notizbuch und die Vorliebe des Dichters für Tausendundeine Nacht -, kannte ich von der Universität. Er hatte einige meiner Freunde unterrichtet. Er ging an Stöcken, und sein Körper war verkümmert und verformt, sowohl durch die Steroide, die er schluckte, als auch durch seine Krankheit. Mittags aßen wir oft in irgendeinem Cafe in Bloomsbury, und einmal machte er mir ein Kompliment für mein langes, üppiges Haar. Ich sagte, ich lasse es nicht wachsen, weil es Mode sei, sondern weil ich es nicht ertrage, auf einem Friseurstuhl zu sitzen und mich anfassen zu lassen.

»Auch nicht von einer Frau?«

»Hm ... ja - schon gar nicht von einer Frau.«

»Haben Sie denn keine Freundin?«, fragte er.

»Ich hatte eine. Aber sie ist verschwunden, und sie wird nicht zurückkehren. Obwohl ich das lange geglaubt habe. Nein, sie kehrt wohl tatsächlich nie zurück.«

»Die Frauen finden Sie bestimmt attraktiv. Wenn ich aussehen würde wie Sie, würde ich nicht den ganzen Tag in der Bibliothek hocken. Ich sitze dort nur, weil ich nicht gut gehen kann. Mein kaputter Körper geht langsam vor die Hunde.«

»Bibliotheken sind sexuell aufgeladene Orte«, sagte ich. »Das liegt an der Stille - am Geflüster. Die Leser merken nicht, dass wir sie beobachten, aber wir wissen, was los ist. Wir bekommen mit, wer mit wem das Gebäude verlässt, und wir unterhalten uns darüber. Aber sagen Sie mir trotzdem, was Sie stattdessen tun würden.«

»Die Sau rauslassen natürlich«, sagte er. »In meinem Zustand fassen mich nur Prostituierte an. Sie haben das nicht nötig. Ich bin mir sogar sicher, dass manche Frauen Sie bezahlen würden.« Er sprach eine Weile über sich und seine eigenen Probleme. Schließlich sagte er: »Haben Sie noch andere Symptome?«

»Symptome?«

»Seelische Zustände, die es Ihnen unmöglich machen, ein relativ normales Leben zu führen.«

Ich erklärte ihm, dass ich manchmal wie angewurzelt auf der Straße stehen blieb, unfähig, mich zu bewegen, weder vor noch zurück. Kürzlich hatte ich eine Stunde lang an einem Fleck gestanden - festgenagelt, gelähmt, wie tot. Ich hatte immer wieder den gleichen Werbespruch gelesen und war zu spät zur Arbeit gekommen. Und wenn ich in Bewegung war, ertappte ich mich oft dabei, dass ich die Leute in Gedanken anbrüllte. Ich hätte sie am liebsten verdroschen oder wäre gern verprügelt worden.

Meist spielte sich dieser Wahnsinn nur in meinem Kopf ab, doch im Bus stieß ich Mitfahrende weg, und in einem Pub bekam ich eine gelangt. Nicht mehr lange, und ich wäre einer jener Verrückten geworden, die an Bushaltestellen mit sich selbst murmelten und herumschrien. Ich konnte nicht mehr so lange arbeiten und schloss mich nach Feierabend in meinem Zimmer ein, weil ich glaubte - oder auch nicht glaubte -, dass man draußen meine Gedanken lesen konnte, dass mein Kopf so durchsichtig sei wie ein Goldfischglas.

Wie in solchen Fällen üblich, erhaschte ich abends aus den Augenwinkeln Blicke auf Ratten, Vögel und Alligatoren; in meinen Träumen tanzten Bären mit mir und fickten mich in den Arsch; man stopfte mir lebende Hühner hinten unter das Hemd.

Eines Tages stellte ich fest, dass ich nicht mehr gehen konnte. Ein Rückenwirbel war perforiert. Ich wurde operiert, teilte eine Krankenstation mit den Amputierten und lernte wieder zu laufen. Selbst auf dem denkbar niedrigsten Niveau wurde mein Leben immer beschwerlicher.

Am quälendsten war das Gefühl, dass meine Erlebnisse nicht von dieser Welt waren, sondern sich in einer jenseitigen Welt oder in einer Leere abspielten. Was ich durchlitt, lässt sich nicht beschreiben. Die inneren Stimmen des Hasses pochten immer wieder an meine Tür wie Untote, die Frieden mit mir schließen wollten, obwohl das unmöglich war. Wenn ich so krank war und immer kränker wurde - und so war es meiner Ansicht nach -, wie sollte ich dann je ein brauchbares Leben führen?

Mein Freund sagte: »Unseren Gesprächen entnehme ich, dass Ihnen die Kunst des Modernismus am besten gefällt, die Erkundung extremer Geistesverfassungen, von Neurosen und Psychosen. Ich habe mein Leben mit den gleichen Büchern verbracht, aber Kafka oder Bruno Schulz zu lesen bringt einen irgendwann nicht mehr weiter. Sie werden in den Büchern Charaktere finden, die Ihnen ähneln. Aber Sie werden sich nur dann wirklich in einem Buch wiederfinden, wenn Sie selbst eines schreiben. In den Büchern suchen Sie am falschen Ort. Um eine Metapher zu gebrauchen: Aus einem verriegelten Zimmer können Sie nur mit dem passenden Schlüssel entkommen.«

»Was oder wer ist dieser Schlüssel?«, schrie ich fast. »Haben Sie ihn in der Tasche? Schließen Sie auf!«

Er erwiderte, der Schlüssel könnte dieser Mann sein, Tahir Hussein.

Am nächsten Tag besorgte er mir Husseins Telefonnummer und fügte hinzu, dass man viel über ihn rede. Ich erwiderte, über mich würden auch viele Leute reden, aber ich war ja paranoid. Ich hatte keine Ahnung, wer über Tahir Hussein redete. Vermutlich eine kleine literarische, weltstädtische Elite von Leuten, die gemeinsam die Universität besucht hatten; so funktionierte das in England. Aber ich war noch gesund genug, um zu begreifen, dass ich ohne Hilfe wieder in ein schwarzes Loch fallen würde. Wochenlang unterließ ich es, diesen Mann anzurufen, weil ich mir immer noch einredete, es allein schaffen zu können, und weil ich hoffte, dass meine Krankheit wie durch Zauberhand verschwinden würde. Dann ein neuer Tag; morgens, vor der Arbeit im Museum. Ich stand auf der Straße. Alle Leute beugten sich vor, sie sahen aus wie rennende Tische. Alle hatten ihre Aufgabe, jeder hatte ein Ziel. Dort angekommen, konnten sie viel erzählen. Und ich, hatte ich etwa keine Pläne? Fast hätte ich behauptet, sie vergessen zu haben, aber nein - ich hatte meine Pläne nicht in irgendeinem Winkel meines Geistes verlegt. Stattdessen versorgte mich die Zukunft nicht mehr mit Kraft, das war es. Ich war zu verwirrt von den wilden Aufwallungen verrückter Gefühle. Meine Wünsche waren schon viel zu schwach, um überhaupt noch erlöschen zu können. Eine Ohnmacht kann man genauso wenig erzwingen wie einen Traum, ein Lachen oder einen Furz, das ist mir klar. Ich wünschte so sehr, von diesem Leid erlöst zu werden, dem ich manchmal den Tod vorgezogen hätte. Ich dachte nicht an Selbstmord, sondern wollte nur diesen wirbelnden Strudel loswerden. Da erblickte ich eine rote Londoner Telefonzelle, vor der eine Lücke oder ein Graben klaffte. Ich war überrascht, dass sie funktionierte; ich war überrascht, dass ich Kleingeld hatte; ich war überrascht, dass es klingelte, und auch, dass Tahir persönlich abnahm. Vor allem überraschte mich, dass er mich zu sich bat. Er sagte, er wolle mich behandeln. Ich solle gleich morgen kommen. Er nannte mir seine Adresse und sagte nur: »Kommen Sie um acht Uhr früh, dann fangen wir an.«

Wenn ich mehr als eine Woche hätte warten müssen, wäre ich nicht hingegangen. Das Warten war noch eine meiner Phobien. Vielleicht starb ich ja in der Zwischenzeit? Außerdem wusste ich, dass eine Therapie teuer war, und ich verdiente nicht viel. Doch ich hatte keine Alternative, und ich konnte mit wenig Geld auskommen. Das war ich mir wert. Aber würde ich ihm je die ganze Wahrheit erzählen?

SIEBEN

Als ich das Zimmer betrat, in dem sich mein Leben verändern sollte, hatte ich keinen blassen Schimmer, was eine Analyse bedeutete, obwohl ich einiges von Freud gelesen hatte, vor allem in Pakistan, und ich kannte auch niemanden, den ich hätte fragen können.

In dem linksalternativen Haus, in dem ich wohnte, lag Das Unbehagen in der Kultur unter meinem Bett, neben meinen Lieblingspornoheften, Game und Reader's Wives, die ich allerdings unter einem Taschenbuch von E. P. Thompson versteckt hatte. Dies deshalb, weil der Begriff der »Klasse« das Paradigma der jungen Intellektuellen war, ein nützliches Konzept, leicht zu handhaben und außerdem nicht so brisant wie die Sexualität. Die Probleme der Arbeiterklasse lagen nicht etwa darin, dass man als menschliches Wesen geboren wurde und in Familien lebte, sondern sie entsprangen dem Klassenkampf. Sobald dieser durch soziale Umwälzungen aus der Welt geschafft worden war, würden sich die meisten Probleme von selbst lösen. Die restlichen paar Stolpersteine konnte man durch maoistische Gruppendiskussionen aus dem Weg räumen. Die Linke war puritanisch: Später, im Himmel auf Erden, durfte man nach Herzenslust ficken, aber jetzt hatte es Priorität, auf Veränderungen hinzuarbeiten. Man beschimpfte Freud als weißes, bourgeoises, patriarchalisches Schwein, und die Psychoanalyse galt als verstaubte Theorie. Welche Frau würde schon zugeben oder auch nur die Vorstellung akzeptieren, dass sie uns um unsere kleinen Schwänzchen beneidete - obwohl genau das den Kern des Feminismus bildete, oder? (Laut Adorno liegt die Wahrheit der freudianischen Psychoanalayse in ihrer Überzeichnung.)

R. D. Laing - nach den Fernsehkomödianten meist »die zwei Ronnies« genannt - wurde dennoch von Studenten angebetet, verrücktes Betragen wurde oft idealisiert, und neue Therapieformen, krause Mischungen aus Wien und Kalifornien, schössen wie Pilze aus dem Boden. Ich wusste, dass Lennon und Ono gemeinsam mit Janow gekreischt und sich auf dem Boden gewälzt hatten, und herausgekommen war das großartige Album der Plastic Ono Band. Aber ich glaubte nicht, dass mir irgendetwas davon helfen konnte. Was war denn mit den stillen Verrückten, mit all den Gestörten, die ganz gewöhnlich und noch dazu unphotogen waren?

Tahir Hussein erklärte mir, dass man der Methode am leichtesten näher komme, wenn man gar nichts darüber wisse. Um Auto fahren zu können, müsse man ja auch nicht wissen, was sich unter der Motorhaube verberge.

»Sind Sie ein Mechaniker der Seele?«, fragte ich.

Er forderte mich auf, mich hinzulegen und alles zu sagen, was mir durch den Kopf ging. Ich fing sofort an, fest entschlossen, in den Genuss der gesamten freudianischen Erfahrung zu kommen. Er saß zwar hinter mir, doch sein Atem verriet mir, dass er sich zu mir hinneigte. Vermutlich kratzte er sich am Kinn und spitzte die Ohren. »Die Sache ist die ...«, sagte ich.

Ich legte los: Halluzinationen, Panikattacken, unerklärliche Wutanfälle, wilde Leidenschaften und wirre Träume. Als er sagte, wir müssten für heute Schluss machen, schien erst eine Minute vergangen zu sein. Sobald ich draußen auf der Straße stand, wissend, dass ich in wenigen Tagen wiederkommen würde, durchrauschten mich Wellen des Schreckens; mein Körper explodierte. Um nicht zusammenzubrechen, hielt ich mich an einem Laternenpfahl fest. Mein Stuhlgang begann, verrückt zu spielen. Kot rann mir an den Beinen hinab und bis in die Schuhe. Ich fing an zu weinen; dann musste ich mich erbrechen - ich erbrach die Vergangenheit. Mein ganzes Hemd war vollgekotzt. Mein

Inneres war nach außen gekehrt worden, und das vor aller Augen. Kein angenehmer Anblick, und mein Anzug war im Eimer, aber irgendetwas war in Gang gekommen. Bald liebte ich meinen Analytiker mehr als meinen Vater. Er gab mir mehr; er rettete mir das Leben; er prägte mich.

Als ich Tahir Hussein nach einigen Sitzungen fragte, wie ich seiner Meinung nach für meine Analyse bezahlen solle, sagte er nur: »Sie werden das Geld schon auftreiben.«

Das brachte mich zum Nachdenken. Mir fiel ein, dass der Mann, der mir Tahirs Telefonnummer gegeben hatte, in der Mittagspause stets die Renn-Gazetten studierte, aber nie auf Pferde wettete, obwohl er laut seinen Worten jede Menge Geld damit hätte machen können. Ich erläuterte ihm, wie es derzeit bei Tahir Hussein um mich bestellt war, und bat ihn noch einmal um Hilfe. »Kinderleicht«, sagte er und gab mir einen Tipp für den folgenden Tag. Ich setzte alles, was ich hatte, auf den Gaul - ungefähr zweihundert Pfund, die ich für meine Miete gespart hatte -, und gewann über zweitausend Pfund, die ich für meine Behandlung ausgab. Ich ging an drei Morgen pro Woche hin. Es war ernsthaft und intensiv, und es war das erste Mal, dass ich mich selbst für voll nahm - als wäre das, was mir widerfuhr, sonst völlig unwichtig -, und zwar keine Sekunde zu früh.

Wie mir mein Akademiker-Freund erklärte, bestand einer der Vorzüge der Psychoanalyse in England darin, dass sie nicht nur von Frauen, sondern von Menschen aus aller Herren Länder entwickelt worden war - worunter er europäische verstand. Tahir Hussein stellte jedoch eine Ausnahme unter den Analytikern dar, denn er war ein indischer Muslim. Er hatte eine feine Wohnung in einer feinen Gegend, South Kensington. Ein Gang durch die Straßen reichte mir schon, um die Wellen des Hasses zu spüren, den mir die dortigen Passanten entgegenbrachten.

Tahirs Wohnung quoll über von Krügen und Teppichen, von Möbeln, die man polieren, Gemälden, die man versichern, Skulpturen, die man einstöpseln musste. Dazu kam eine gewisse Extravaganz. Erwartet hatte ich einen stillen Typen mit Anzug und Fliege. Aber Tahir hatte etwas von einem Selbstdarsteller, der sich in die Ethnogewänder der Nachkriegszeit hüllte. Er konnte einen Salwar Kameez tragen, einen Kaftan, bunte Hippiehosen, ja sogar einen Fez oder arabische Schlappen mit gekringelter Spitze. Manchmal kam er mir nicht vor wie ein Arzt, sondern wie ein vorn auf einem Pier stehender Magier.

Trotzdem besaß er die komplette exotische Ausstrahlung und Präsenz eines Arztes: Mit der dunklen Haut und den langen, ergrauenden Haaren wirkte er herrschaftlich, gutaussehend, imposant. Ihm dürfte bewusst gewesen sein, dass man ihn lächerlich finden konnte; vermutlich zweifelten nur wenige daran, dass er grausam, arrogant, Alkoholiker und mehr als nur eine Spur narzisstisch war. Doch er gestand sich wohl das Recht zu, so weit wie möglich er selbst zu sein. Wie für andere angesagte Seelendoktoren bestand auch für ihn die Aufgabe der Analyse nicht darin, die Patienten in brave Konformisten zu verwandeln. Stattdessen wollte er den Menschen die Möglichkeit geben, so verrückt zu sein, wie es ihnen gefiel, sich auszuleben und ihre Konflikte zu genießen - auch wenn dies noch mehr Leid bedeutete -, ohne dabei selbstzerstörerisch zu sein. Das begriff ich recht früh, als er Pascal zitierte: »Der Mensch ist so grundlegend wahnsinnig, dass es lediglich eine andere Form von Wahnsinn wäre, nicht wahnsinnig zu sein.«

Wie es sich gehörte, verliebte ich mich in ihn - vielleicht schon, bevor ich ihm begegnete - und gab mich Phantasien über sein Privatleben hin. Ich versuchte, ihn zu verführen, bat ihn, mich auf der Couch zu ficken, obwohl ich im Grunde wusste, dass ich nicht scharf darauf war. Ich brachte ihm kleine Geschenke mit, Kaffee, Stifte, Postkarten, Romane.

Was die wichtigen Dinge betraf - Zuhören und Interpretation -, so war er immer voll da, und das im Handumdrehen. Er war keiner jener Analytiker, die einen durch ihre Stille in Angst und Schrecken versetzen, keine Sphinx, deren Bedeutung im Schweigen besteht. Einmal wollte er wissen, ob er für meinen Geschmack zu viel rede, doch ich verneinte; ich mochte den Austausch. Er sagte, das Schweigen sei eine mächtige Waffe, mit der man jedoch das Szenario von abweisendem Elternteil und »verzweifeltem Kind« heraufbeschwören könne. Wenn er also etwas zu sagen hatte, sprach er dies aus. Diskussionen über Freuds Theorien wurden stets als Widerstand gewertet, das wusste ich. Aber ich musste Widerstand leisten, denn die Theorie begann, mich zu faszinieren.

Ich hatte das Gefühl, dass mein Verstehen mit jedem Besuch bei ihm wuchs. Wenn ich danach auf die Straße trat, stellte ich mir schon neue Fragen. Gerüchten zufolge hatte Tahir Affären mit seinen Patienten gehabt; offenbar hatte er während der Behandlung mit ihnen telefoniert und sogar Opern mit ihnen besucht. In meinem Fall war er allerdings ganz auf die Arbeit konzentriert. Gelegentlich fragte ich ihn, was er abends vorhabe, und dann erzählte er mir von seinen Freundschaften mit Malern, Tänzerinnen oder Dichtern. Er wusste, dass ich mich mit ihm identifizierte und auch gern ein solches Leben geführt hätte.

Wenn ich mir nach den Sitzungen seine Ausstellungskataloge oder Lyrikbände anschaute, beobachtete er mich. »Nehmen Sie das mit«, sagte er dann. »Nehmen Sie, was Sie brauchen.« Er wusste, dass ich meinen Horizont erweitern wollte, denn meine intellektuelle Neugier war erwacht. Wenn ich sagte, dass ich Freud und die Analyse verstehen wolle, ermutigte er mich, Proust, Marx, Emerson, Keats, Dostojewski, Whitman oder Blake zu lesen.

In fast allen Dramen Shakespeares gebe es mindestens eine wahnsinnige Person, sagte er, und in ihrem Wahnsinn würde diese nicht nur verraten, wer sie sei, sondern auch grundlegende Wahrheiten aussprechen. Er sagte, die Analyse sei ein Bestandteil der literarischen Kultur, aber die Literatur sei viel größer als die Psychoanalyse und verschlinge diese wie ein Wal einen Hering. Jeder große Künstler habe das Unbewusste gekannt, das Freud nicht entdeckt, sondern nur kartiert habe.

Er sagte auch: Mein Beruf ist im engeren Sinn keine Wissenschaft und sollte auch nicht für eine solche gehalten werden. Freud habe natürlich unmöglich sagen können, dass er die Leute durch Dichtung heile. Aber wenn man die wichtigen Vertreter genauer betrachte, stelle man fest, wie sehr sie mit ihren spekulativen Gedankensprüngen und Metaphern Dichtern glichen: Ob Jung, Ferenczi, Klein, Balint oder Lacan - ein jeder von ihnen singe von seiner eigenen Entwicklungsgeschichte, Leidenschaft und Ästhetik. Ihre unterschiedlichen Sichtweisen würden sich nicht gegenseitig aufheben, sondern nebeneinander existieren.

Zu Beginn der Analyse gab es natürlich eine Hürde, die wir beide nehmen, etwas Düsteres, worüber wir reden mussten. Aber ich wollte ihn erst ein wenig besser kennenlernen, weil ich wissen musste, ob ich ihm vertrauen konnte, bevor ich ihm das anvertraute, was ich meine »Sohn-der-Nacht«-Mordgeschichte nannte.

Wie ich feststellte, bestand seine große Stärke darin, mein tiefstes Inneres anzusprechen. Er schien mich zu verstehen. Er erreichte jenen Teil von mir, der ein Baby geblieben war. Ich hatte das Gefühl, dass ein liebevoller Vater mit mir redete, der alle meine Ängste und Phantasien erkannte und sich vollständig meinem Wohlergehen verschrieben hatte. Wie konnte er so viel über mich wissen? Woher kam dieses Wissen? Ich wollte wie er sein und eine ebenso nachhaltige Wirkung auf einen anderen Menschen haben. Das will ich noch heute.

Ich habe mich immer als hastig empfunden, als angespannt, ungeduldig, in Eile, leicht in Sorge zu versetzen. In seiner Gegenwart konnte ich mich entspannen. In was genau war ich verliebt? In die Qualität des Schweigens zwischen uns. Manchmal kann die Angst lautlos sein, dachte ich, während wir an den elenden, feuchten Londoner Morgen, wenn die Leute zur Arbeit rasten, im Schein einer kleinen Lampe alles durchkauten - Mutter, Vater, Schwester, Ajita, Mustaq, Wolf, Valentin -, er zu mir hingeneigt. Doch es war ein gutes und zärtliches Schweigen - oft minutenlang -, das den Frieden zwischen Menschen förderte, nicht die Art Schweigen, bei der man vor Angst wahnsinnig wurde.

»Gab es viel Streit in Ihrem Elternhaus?«, fragte er. »Ja, sicher«, antwortete ich. Wenn ich mich nach ihm umdrehte, wirkte er jedes Mal amüsiert; nicht, dass menschliches Leid einen Unterhaltungswert für ihn gehabt hätte, nicht einmal selbst verursachtes, worum es sich, wie ihm bewusst war, in den meisten Fällen handelte. Das Leid nahm kein Ende, und er bewies mir, dass er dies wusste. »Krankheit ist ein Mangel an Inspiration«, sagte er stets.

Bevor ich mit der Analyse begann, hatte ich einen Traum, der mich noch tagelang verstörte. Er war wie ein surrealistisches Gemälde. Ich stand allein in einem leeren Raum, die Arme an den Seiten und mit Scharen von Wespen im Haar, die einen Höllenlärm machten. Ich stand zwar dicht bei einer Tür, aber ein Mann mit Wespen auf dem Kopf kann sich weder rühren noch seiner emotionalen Geographie große Aufmerksamkeit schenken.

Bei den »Wespen« handelte es sich natürlich unter anderem um weiße angelsächsische Protestanten, und sobald wir begonnen hatten, das Bild zu erörtern, boten sich viele Deutungsmöglichkeiten. Die Analyse »heilte« den Geist also nicht von seinen Furien und Finsternissen, sondern brachte diese Affekte mit ins Spiel und formte sie zu konkreten Fragen, die eine Auseinandersetzung lohnten. Sie waren plötzlich ein Teil meines Lebens und nichts mehr, von dem ich hoffte, dass es einfach verschwinden würde. Für Tahir waren die Wespen eine Metapher, und wenn ich einen Sinn darin finden konnte, würde ich mir selbst und damit auch der Welt näherkommen. Die Wespen warfen nützliche Fragen auf, die man ergründen musste. Trotz des ungeheuren Leids der Depression sprach Tahir von dem Wert und der Chance der Krankheit.

Wie ich feststellte, weckte die Analyse meine Neugier und sorgte für Lebendigkeit. Keine Sitzung, die mich nicht mit Stoff zum Nachdenken versorgt hätte. Ich setzte mich danach in ein Café und füllte Seiten mit Notizen, assoziierte weiter frei herum und arbeitete an meinen Träumen.

Ich kannte schon Die Traumdeutung und Das Unbehagen in der Kultur, aber nun las ich darüber, wie Freud begonnen hatte, den Worten und Geschichten der seelisch Leidenden zu lauschen, etwas, das man noch nie zuvor getan hatte. Und als er sich diese Lebensberichte genauer anschaute, stellte er fest, dass die Spur stets zu den Freuden zurückführte.

Wie für jeden anderen Dichter waren die Wörter - das, was Patient und Analytiker sagten - auch für Freud eine Art von Magie; sie führten eine Veränderung herbei. Die Sache hatte mich gepackt, und glücklicherweise hatte ich Zugang zu allen Büchern, die ich brauchte. Bestellte ein Leser einen Band, über dem ich gerade brütete, so konnte ich immer behaupten, er wäre verschwunden. Ich saß in einem entlegenen Tunnel der Bibliothek auf dem Fußboden und las; danach versteckte ich das Buch, bis ich wiederkam. Ich las noch einmal Freuds Buch über die Traumdeutung, sozusagen als Anleitung für die Nächte, und das Zubettgehen wurde zum wertvollsten Erlebnis des ganzen Tages.

Ich fand es großartig, dass zwei intelligente Menschen viele Stunden, Tage, Wochen - vielleicht sogar Jahre - gemeinsam die Details von Erfahrungen nach bedeutsamen Rückständen durchsiebten und im hintersten Winkel eines Traums nach einer verborgenen Wahrheit suchten. Diese Konzentration und diese Intensität - die Analyse kam für mich keinen Moment zu früh. Was mich in Bann schlug, war die Tiefe des Alltäglichen, all das, was sich in der banalsten Geste oder Phrase verbarg. Darin verband sich eine Lebensgeschichte mit der Welt. Auf diese Weise konnte ich das Profane und all jene Geschichten, die ich am liebsten hörte, wie ein Autor mit Bedeutung erfüllen und interessant machen.

Mir schien, als hätten wir beide viel geredet, an einer tiefen Ausgrabung gearbeitet, die Schichten unter den Gletschern der vereisten Vergangenheit ausgelotet: der Hass, den Miriam verständlicherweise in unserer Kindheit auf mich gehabt hatte, ihre kreischende, psychische Gewalt und ihr Versuch, Mutter von mir fernzuhalten und ganz für sich zu haben. Mein Gefühl, allein und von beiden Eltern verlassen worden zu sein, Kafkas verletzter Käfer, der sich unter dem Bett verkroch.

Doch eines Tages sagte Tahir nach langem Schweigen: »Wollen Sie mir noch etwas erzählen?«

Das war es! Er schien zu wissen, dass ich das Wichtigste bislang ausgespart hatte.

Ich hatte nicht nur die Fähigkeit verloren, glücklich zu sein. In Wahrheit hatte ich einen Mann ermordet. Nicht in der Phantasie, sondern in der Realität, und das vor nicht allzu langer Zeit. Am Ende blieb nur eine Frage, an der ich Tahir Hussein messen konnte: War er vertrauenswürdig oder würde ich im Gefängnis landen? Ich hatte mein Geheimnis für mich behalten, obwohl ich in den schmierigen Pubs, die ich meist abends nach der Arbeit aufsuchte, manchmal in Versuchung geriet, die Sache irgendeinem Volltrunkenen anzuvertrauen, der sie am nächsten Morgen wieder vergessen hätte. Doch ich war klug genug, um zu wissen, dass dies mein Verlustgefühl nicht gelindert hätte.

So billig würde mich der Ermordete nicht davonkommen lassen. Er klammerte sich an mich, seine Fingernägel bohrten sich in mein Fleisch. Beim Erwachen starrte ich in seine Augen, in denen Angst und Ausweglosigkeit flackerten. Die Vergangenheit ritt wie ein Teufel auf meinem Rücken, peitschte mich voran, hielt mir Augen und Ohren zu und sorgte dafür, dass ich sie keine Sekunde vergaß, während ich keuchend weiterrannte. Die Welt ist, wie sie ist. Was uns in Angst und Schrecken versetzt, sind unsere Phantasien. Sie sind das Problem.

Ich bekam das Gefühl, als wäre mein Geist ein fremdes Ding in meinem Schädel. Am liebsten hätte ich ihn herausgerissen und von einer Brücke geschmissen. Bücher konnten mir nicht helfen, auch nicht Drogen oder Alkohol. Ich konnte mich nicht befreien, indem ich mit meinem Geist an meinem Geist arbeitete. Ich dachte: Lege Feuer an das Zündpapier und warte ab. Wird es mein Leben in die Luft jagen oder in den Tiefen meiner auf Eis gelegten Geschichte endlich für eine Explosion sorgen? Und - konnte ich mich auf einen anderen Menschen verlassen?

Schließlich ging es nicht mehr anders - ich musste das Richtige tun. Ich würde mich Tahir Hussein auf Gedeih und Verderb ausliefern und die Folgen ausbaden. Nach diesem Entschluss erzählte ich ihm eines Morgens die Wahrheit. Wie sollte die Analyse je funktionieren, wenn ich ein so entscheidendes Ereignis verschwieg? Also erfuhr Tahir von den körperlichen Symptomen, dem Zittern und der Paranoia; er erfuhr, dass ich von sterbenden Augen träumte, die mich anstarrten. Er erfuhr von Wolf, Valentin und Ajita. Er erfuhr von dem Tod.

»Was meinen Sie?«, fragte ich.

Er sagte spontan, dass manche Leute einen Schlag auf den Kopf verdient hätten. Ich habe der Welt einen Dienst erwiesen, indem ich dieses Schwein, dessen Schlechtigkeit jedes Fassungsvermögen übersteige, ins Jenseits befördert habe. Ich würde trotzdem ein menschliches Wesen bleiben. Es sei nur ein »kleiner« Mord. Offenbar hatte er nicht den Eindruck, dass die Sache zur Gewohnheit werden oder dass ich als Profikiller enden könnte.

Es war eine große Erleichterung, dass ich mein Geheimnis gelüftet hatte und gleichzeitig sicher verwahrt wusste! Tahir war in Sorge, dass ich versucht sein könnte, ein Geständnis abzulegen und mich verhaften zu lassen - wegen meines Bedürfnisses nach Bestrafung und dem Wunsch nach Ruhm. Das Verbergen sei immer auch ein Enthüllen. Die meisten Mörder, sagte er, würden die Polizei von sich aus zum Ort des Verbrechens führen, so besessen seien sie von ihrem Opfer. Raskolnikow etwa kehrte nicht nur zum Ort der Tat zurück, sondern wollte auch noch ein Zimmer im »Haus des Mordes« mieten.

Tahir war der Einzige, dem ich davon erzählte. Damals war ich verzweifelt, und nun ist Tahir tot und hat das Geheimnis, das nie ans Licht kommen wird, mit in sein Grab genommen - das Geheimnis, das meine Seele so lange faulen ließ, bis ich an mir verzweifelte. Den zwei anderen Analytikern, die ich nach Tahir aufsuchte, verschwieg ich die Sache. Denn sie hätte meiner Karriere schaden können.

Ein Jahr nach dem Beginn der Analyse hatte ich Tahir gesagt, dass ich gern seinen Beruf ergreifen würde. Und warum? Von Kindesbeinen an, schon damals, als ich mit Mutter auf der Straße Bekannten begegnet war, wollte ich den Tratsch hören, der, wie ich später begriff, den Königsweg in das Innerste der Menschen darstellte. Nicht unbedingt zu ihren Geheimnissen, obwohl diese natürlich dazugehörten, sondern zu dem, was sie innerhalb eines Familiengefüges geprägt und beschädigt hatte.

Schon bald reichten mir die alltäglichen Gespräche nicht mehr, die typisch für das Leben in den Vororten waren. Ich wollte das Ernsthafte, das »Tiefe«.. Auf Nietzsche und Freud kam ich durch Schopenhauer, dessen zweibändiges Werk Die Welt als Wille und Vorstellung mich an der Universität so gut unterhalten hatte. Damals hatte ich mir diesen Absatz notiert: »Allein schon die Befriedigung des Geschlechtstriebes geht über eine Bejahung der eigenen Existenz, die eine so kurze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben über den Tod des Individuums, in eine unbestimmte Zeit hinaus. (...) Das eigene Bewusstseyn, die Heftigkeit des Triebes, lehrt uns, dass in diesem Akt sich die entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben (...) ausspricht.«

Ich hatte mich als jemanden gesehen, der vorhatte, Künstler, Schriftsteller, Filmregisseur, Fotograf oder meinetwegen (das war der Notnagel) Akademiker zu werden. Ich hatte Bücher, Lieder und Gedichte geschrieben, aber sie waren nie wirklich die Erfüllung gewesen, die ich gesucht hatte. Wie sollte man seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Haikus bestreiten? Außerdem hatten mich immer Menschen mit einem breiten Allgemeinwissen beeindruckt. Wenn meine Mutter und ich Quizsendungen guckten, das Einzige, was wir gemeinsam taten - am besten gefiel uns University Challenge -, sagte sie oft: »Das könntest du auch wissen. Diese Leute sind nicht halb so klug wie du, und schau dir an, was sie für Kleider tragen!«

Ich hatte diverse Berufe erwogen, ohne mich für einen davon begeistern zu können. Trotzdem hatte es in meinem Inneren unbewusst gearbeitet. Mein Besuch bei Dad in Pakistan, in vieler Hinsicht katastrophal und bedrückend, hatte mir eine Art Public-School-Ethos vermittelt. Der Sinn für die Familie samt ihrer Geschichte und Leistungen - meine Onkel waren Journalisten gewesen, Sportler, Armeegeneräle, Ärzte - und die Aussicht auf mühelos errungene Erfolge waren, wie ich nun feststellte, sowohl ermutigend als auch einschüchternd gewesen. Ich war nicht einfach nur ein »Paki«, und anders als Miriam hatte ich plötzlich einen Namen und eine Herkunft sowie die damit einhergehende Verantwortung.

Mir dämmerte langsam, dass ich nicht nur intelligent war, sondern auch eine Möglichkeit finden musste, um diese Intelligenz nutzen zu können; das hatte mit Familienehre zu tun, eine Idee, die ich früher absurd gefunden hätte. Tahir war es, der die Puzzleteile für mich zusammensetzte. Ich zögerte sehr lange, bevor ich die Sache an ihn herantrug, denn ich befürchtete, er könnte glauben, ich wollte ihm seinen Platz streitig machen.

Doch schließlich wagte ich es. »Was meinen Sie?«, fragte ich. »Könnte ich das schaffen?«

»Sie werden genauso hervorragend sein wie wir alle«, antwortete er.

Während des ersten Jahres meiner Analyse sah ich Mutter und Miriam nur selten. Ich versuchte sogar, ihnen aus dem Weg zu gehen, weil ich sowohl mit ihren Streitereien als auch mit ihrer Nähe überfordert war. Ich begehrte sie beide auf eine jeweils andere Art, und ohne Vater fiel es mir schwer, sie auseinanderzuhalten.

Doch als Miriam vorschlug, unsere Mutter an Weihnachten zum Mittagessen zu besuchen, konnte ich nicht ablehnen. Außerdem wollte ich Miriams erstes Kind sehen, ein süßes Baby, das sie einem Taxifahrer zu verdanken hatte, in dessen Wagen sie eines Abends gestiegen war, ohne das Geld für die Fahrt zu haben. Nun lebte sie, schon wieder schwanger, mit dem Kind in der obersten Etage einer Sozialsiedlung, und der einzige Erwachsene, der ihr Gesellschaft leistete, war ein brutaler Typ. Die meiste Zeit war sie zugedröhnt, und für Abwechslung sorgten nur ihre Aufenthalte in der Psychiatrie. Später zog sie mit dem Argument in die Vororte Londons, sie dürfe nicht zu weit oben wohnen, weil sie von Stimmen gedrängt werde, sich in die Tiefe zu stürzen, wenngleich diese Stimmen, wie Mum bemerkte, nicht laut genug waren.

Beim Nachtisch fragten mich die beiden, ob ich im Museum bleiben wolle, vielleicht als Ausstellungsstück. Ich erwiderte: »Nicht auf unbestimmte Zeit.« Ich hatte jetzt einen Plan. Ich wollte Analytiker werden, ein Heiler der Seele. Das teilte ich ihnen so ernsthaft wie möglich mit, musste jedoch einige dumme Bemerkungen abschmettern. »Er braucht einen Seelenklempner«, murmelte Miriam. Mutter: »Eigentlich bist du es, die einen braucht.« Miriam: »Schau mal in dich hinein, Mutter - dann würdest du nämlich merken, dass du einen brauchst.« Mutter: »Schau du lieber in dich hinein, Schatz.« Miriam: »Immerhin hast du uns zu dem gemacht, was wir sind ...« Und so ging es weiter.

Sobald dieser Streit abflaute, fuhr ich fort. Das Devil's Dictionary beschreibt den Arzt zwar als jemanden, »auf den wir unsere Hoffnungen setzen, wenn wir krank sind, und auf den wir unsere Hunde hetzen, wenn wir gesund sind«, aber wie Josephine immer sagte, war die Bezeichnung »Arzt« bei den meisten Leuten automatisch hoch angesehen. Als ich sprach - die Ausbildung erklärte, die Theorie, die Praxis, das Einkommen, das Interesse -, besaßen meine Worte zu meiner Überraschung eine gewisse Autorität. Offenbar waren Mutter und Miriam erstaunt über meine Entschlossenheit und meinen Eifer. Ich wusste, dass sie mich - wie ich mich selbst - für passiv und verklemmt hielten, für jemanden, dem Wunsch und fester Wille fehlten.

Früher hatten sie mein Dasein als Störung empfunden, doch plötzlich schien ich ein gewisses Gewicht zu besitzen. Anders als früher hatte ich nicht mehr das Gefühl, nur teilweise vorhanden zu sein. Ich erwies mich als ebenbürtig, und zu meinem Schrecken schrumpften sie dadurch, ja sie wurden sogar ein wenig lächerlich, so als hätte ich mich mein ganzes Leben lang kleiner gemacht, als ich war, damit Mum und Miriam groß bleiben konnten. Anders als sie beide schien ich zu wissen, was ich wollte, worin mein Ziel bestand. Mein Verbrechen schürte meinen Ehrgeiz. Diese frühe Schuld würde ich mein Leben lang abbüßen müssen. Doch das tat ich gern.

»Dann wirst du also gut dastehen?«, fragte Miriam.

»Einigermaßen, ja.«

»Wie schön.« Das war nicht sarkastisch gemeint. Die anderen Seiten ihrer Persönlichkeit verbargen sich fast immer hinter ihrer Aggressivität und ständigen Stänkerei - ein Wort, das sie gut und treffend beschrieb. »Dann kannst du mir ja helfen, oder?«

Die beiden schauten mich fast bittend an. »Aber ihr wisst doch beide«, sagte ich, »dass kein Arzt seine Angehörigen behandeln darf.«

Im ersten Jahr meiner Ausbildung, ich arbeitete gerade mit Jugendlichen, starb Vater. Miriam und ich hatten ihn seit unserer Rückkehr aus Pakistan nicht mehr gesehen. Waren wir traurig? Ich hätte ihm gern noch erzählt, dass ich meine Berufung gefunden hatte. Ob er sie gutgeheißen hätte, wagte ich zu bezweifeln. Aber zu dem Zeitpunkt war ich stark genug, um sein Missfallen einfach abzuschütteln. Ich war auf mich gestellt, aber ich wusste immerhin, was ich tat.

Nachdem ich an jenem Abend das Haus verlassen hatte und durch die vertrauten Straßen ging, denen ich als ein Junge, der fast von etwas besiegt worden wäre, das er nicht begriff, niemals zu entkommen geglaubt hatte, wollte ich so schnell wie möglich zurück zu Freuds gesammelten Werken, zu den Patienten, die ich behandeln, den Konferenzen, die ich besuchen, den Büchern, die ich schreiben würde. Ich wollte nützlich sein - etwas erreichen.

Aber selbst in so optimistischen Momenten, in denen ich die Zukunft erstrebenswert fand, hallten die Worte des Toten in meinen Ohren: »Was wollt ihr von mir?«

ACHT

Ich sagte ganz unverblümt zu Miriam: »Du weißt, dass ich eine Klatschtante bin und alles sofort erfahren muss.«

»Du und Henry, ihr klingt so ähnlich«, erwiderte sie. »Aber du warst nie so viel auf Achse. Oder hast du dich verändert?«

»Jetzt klingst du wie er«, sagte ich.

»O mein Gott, wir lösen uns alle ineinander auf!«, sagte sie.

Es war Abend, und Miriam hielt sich bei meiner Ankunft in ihrer Küche auf. Vorn auf dem Hof rasten Kinder auf Fahrrädern herum. Im Haus verteilt befanden sich weitere Jungen und Mädchen mit ihren Freunden; am anderen Ende des Zimmers saß ein Teenager vor dem Femseher, eine Hand auf der Brust eines unansehnlichen Mädchens, die andere auf der Fembedienung. Bushy hockte barfuß auf einem Stuhl und stopfte sich Geld in die Socken, bevor er diese anzog. Dann warf er seine Schlüssel in die Luft, fing sie wieder auf und verschwand, um einen zahlungskräftigen Kunden abzuholen.

Miriam wirkte so zerstreut oder geistesabwesend wie früher als junge Frau. Damals hatte sie immer woanders sein wollen und war stets auf der Jagd nach dem Vergnügen gewesen. Ich merkte trotzdem, dass sie mich beäugte, als ich mir in ihrer Küche Nudeln kochte.

»Und?«, fragte ich. »War es schön mit Henry? Seid ihr noch lange bei mir gewesen?«

»Das ist der Punkt.« Sie hatte eine todernste, wenn nicht sogar tragische Miene aufgesetzt, und das beunruhigte mich. Doch es war zu spät. »Hast du das geplant?«, fragte sie.

»Henry hatte mich gebeten, ihm Dope zu besorgen. Mehr habe ich nicht getan.«

»Nicht reinkommen!«, schrie sie quer durch das Haus, bevor sie die Küchentür schloss und einen Stuhl unter die Klinke rammte - ein seltener Ruf nach Privatsphäre. »Was passiert ist? Henry wollte das Dope, schön und gut, aber er weiß ja nicht mal, wie man einen Joint dreht. Also habe ich es ihm gezeigt, und dabei hat er gesagt: >Das ist das Nützlichste, was ich seit Jahren gelernt habe.< Du weißt ja, wie er spricht - immer ein bisschen selbstverliebt und wie bei einer Rede an die Nation, und außerdem setzt er voraus, dass man ihm zuhört. Sogar ich musste die Klappe halten. Das ist wahre Autorität. Wenn ich nur daran denke, werde ich rot.«

»Was hat er dir erzählt?«

»Ich habe ihm ins Gesicht gesagt, ich sei arm. Ich habe ihm gesagt, ich hätte nie Geld gehabt, aber nicht deshalb, weil ich die Hände in den Schoß gelegt hätte, sondern weil ich nur gut in diesem Kleinkram sei. Er solle also nicht glauben, ich wäre eine gute Partie, aber vielleicht würde ich ja eine kleine Erbschaft machen.

Er hat dann gesagt, er habe mit Valerie, seiner Frau, zehn Jahre lang im Luxus gelebt. Häuser, Autos, Partys, Urlaube. Sie hätten berühmte Künstler, Politiker und Schauspieler als Freunde gehabt, die in ihren Häusern zu Gast gewesen seien, ihren Champagner getrunken und in ihren Swimmingpools gebadet hätten. Wenn seine Frau Geld gebraucht habe, habe sie ein Gemälde verkauft.«

»In den Jahren hat Henry großartige Arbeit geleistet.«

»Ohne etwas daran zu verdienen, behauptet er. Sie sei es gewesen, die ihn unterstützt habe. Er habe aus ihrem Trog gefressen. Er wurde immer wütender, als er davon erzählte, und nannte es ein >unechtes Lebern. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Er hält sich für verrückt. Du verbringst ja jeden Tag mit solchen Leuten.«

»Ihr habt nur geredet?«

»Ich habe ihm den Joint gegeben. Ein spezielles Kraut. Ich wusste, dass er sich danach an seinem Thema festbeißen würde.« Miriam setzte sich neben mich und senkte die Stimme. »Ich erzähle dir jetzt, wie er mich dazu verführt hat, Liebe zu machen.« »Liebe? Jetzt schon?«

Henry hatte Bushy gebeten, sie zu seiner Wohnung in Hammersmith zu fahren. Ich besuchte ihn oft dort: Er lebte im ersten Stock, direkt am Fluss, und die breite Fensterfront des Wohnzimmers bot einen Blick auf die Themse und die Bäume des Treidelpfades auf dem gegenüberliegenden Ufer. Die anderen drei Wohnungen im Haus waren von alternden Theaterdiven belegt, mit denen sich Henry andauernd stritt, entweder um die Mülltonnen oder um die Zahl der Callboys -oder, was wahrscheinlicher war, der Nachwuchsschauspieler -, die die Treppen hinauf- und hinunterstampften. Oder sie diskutierten auf dem Treppenabsatz ausführlich über die Produktionen, die das Royal Court Mitte der Sechziger auf die Bühne gebracht hatte.

Vom großen Wohnzimmer abgesehen, bestand Henrys Wohnung aus einer ganzen Reihe kleiner oder mittelgroßer Räume, in denen wahllos Erinnerungsstücke an das Theater sowie jene Kunstwerke herumstanden, die er seit ein paar Jahren anfertigte. Seine Skulpturen aus Draht und Gips oder aus Eierkartons und Spachtelmasse standen auf abgetretenen Teppichen; an den Wänden hingen seine Zeichnungen und Aquarellbilder zwischen angeknacksten Spiegeln, Postern und den Kostümskizzen zahlreicher Aufführungen.

Wie viele andere Leute war er stolzer auf seine Hobbys als auf seine Arbeit. Wie sein Sohn Sam der Pantoffel-Frau - ja, jeder Frau, die durch die Wohnung tigerte - berichtet hatte, reichte es, Henrys Fotos zu loben, wenn man bei ihm einen Stein im Brett haben wollte. Der Pantoffel-Frau gefiel die Vorstellung so gut, am Fluss zu leben, den sie immer wieder betrachtete, dass sie sich sogar dazu hinreißen ließ, ein bisschen Staub zu wischen. Allerdings merkte sie bald, dass eine ganze Mannschaft und mehrere Tage nötig gewesen wären, bis sich irgendeine Wirkung gezeigt hätte. Doch sie würdigte die Bilder, und dafür wurde sie mit einer Prise Freundlichkeit belohnt.

Vor dem Fenster stand ein großer Lehnstuhl, daneben ein Tisch mit Radio. Dort las Henry Zeitungen, Lyrik, Dramen und Dostojewski und schaute dabei auf den Fluss. Wie er gern behauptete, konnte er nachts seine schwulen Freunde sehen, die sich unter den Bäumen Freiluftorgien hingaben.

Miriam sagte: »Mir hat die Bude gefallen. Die Geschichte seines Lebens war überall, Preise und Fotos, die ihn mit dieser berühmten französischen Schauspielerin zeigen - Bridget Bardot.«

»Jeanne Moreau.«

»Wir wollten sofort miteinander schlafen«, erzählte Miriam. »Wir waren beide ausgehungert nach körperlicher Liebe. Er hat sich aufgeführt wie ein verrücktes Weib und behauptet, sein Körper würde jede Frau anwidern. Er wollte sich auf keinen Fall ausziehen. Im Gegenteil - er hat sich sogar noch einen Pullover übergestreift. Du weißt ja, dass ich einige Merkwürdigkeiten erlebt habe, aber es war wirklich bizarr, nackt mit einem vollständig bekleideten Fremden im Bett zu liegen, der mir unaufhörlich erzählt hat, er würde vor Angst sterben. Na, du musst ja nicht alles erfahren.« »Warum nicht?«

»Vielleicht wirst du dann traurig - über dich.« Ich lachte. Sie konnte so gefühlsduselig sein wie Rafi, der manchmal sagte: »Oh, Dad, ich will nicht, dass du traurig bist.« Miriam fuhr fort: »Gut, nach dem Sex hat er dieses Buch geholt. Wir haben Wodka getrunken und noch einen Joint geraucht. Er hat mich genötigt, ihm vorzulesen. Sie hieß Sonja.«

»Aus Onkel Wanja? Der letzte Monolog?«

»Er hat einen Stuhl mitten in das Zimmer gestellt und zugeschaut, wie ich mich gesetzt habe. Er hat sogar die Dreistigkeit besessen, mir Anweisungen zu geben.«

»Was hat er gesagt?«

»Dass ich langsamer sein soll. Wann ich in das Buch schauen und wann ich den Kopf heben soll. Zugleich wollte er, dass ich mich so natürlich verhalte, als wäre ich zu Hause. In der Rede ging es um die

Arbeit und die Engel und den Himmel, ziemlich gefühlig. Für meinen Geschmack ging es zu viel um die Arbeit. Er hat sich richtig hineingesteigert und ist ständig hin und her gesaust. Ich wusste gar nicht, dass er so leichtfüßig sein kann.«

Im Laufe der Jahre hatte ich gelegentlich Henrys Proben beigewohnt, sowohl für klassische als auch für moderne Stoffe. Ganz besonders hatten mir seine Workshops für Laien und seine Hochachtung vor dem gefallen, was er »naive« Schauspielerei nannte, die seinen Worten nach ihre eigene Schönheit hatte. »Schafft mir nur die lausigsten Schauspieler ran - was könnte deprimierender sein als Talent?«, sagte er immer. »Ich kann nur hoffen, nie wieder jemandem mit Talent zu begegnen!«

Wenn er bei einer seiner Produktionen Probleme mit einem Schauspieler hatte, bat er mich, vorbeizukommen und die betreffende Person in Augenschein zu nehmen. Danach tauschten wir uns in einer Bar darüber aus. Bei der Arbeit war Henry anders als sonst. Mir wurde erzählt, dass er die Leute schikanierte, vor allem die Frauen, aber das schien er überwunden zu haben. Im Probenraum war ich beeindruckt von seiner Selbstsicherheit und ungeheuren Konzentration, von seiner Sorge um die Schauspieler und seinem Interesse an ihren Auftritten, aber auch von der Entschiedenheit, mit der er seine eigenen Vorstellungen durchsetzte. Ich merkte, dass er dort hingehörte, dass er genau dafür lebte. Aber ich fragte mich auch, warum sich dieses lebhafte, sprühende Selbst so stark von dem ängstlichen Alltags-Selbst unterschied, das ich kannte.

»Er hat behauptet, meine Rede für das Fernsehen aufzeichnen zu wollen«, sagte Miriam. »Hat er mich da angelogen oder nur verarscht? Ich kenne dieses Gelaber. Verheiratete Männer haben mich immer angehimmelt.«

»Wirklich?«

»Ja, und ich habe ihnen alles geglaubt...« »Tatsächlich?«

»Eigentlich wäre es mir egal, wenn er gelogen hätte, aber ...«

»Das würde Henry nicht tun. Er hat einen Auftrag für einen Dokumentarfilm über Schauspieler. Wenn du nicht aufpasst, baut er dich mit ein.«

»Echt? Dann muss ich dringend zum Friseur und außerdem meine Tätowierungen übertünchen lassen. Ich wünschte, ich hätte ein bisschen Kohle auf der hohen Kante.«

Ein paar Jahre zuvor hatte ich Henry einer meiner ehemaligen Freundinnen vorgestellt, Karen Pearl, auf die ich manchmal liebevoll als »die TV-Hure« Bezug nahm, obwohl sich dieser Spitzname bald auch bei anderen großer Beliebtheit erfreute. Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sie eingewilligt, einen von Henry geplanten Dokumentarfilm zu produzieren. Doch anstatt die Sache wie die meisten Leute innerhalb von zehn Tagen abzudrehen, hatte Henry beschlossen, seinen Film »im Laufe der nächsten paar Jahre« mit seiner eigenen Kamera in die Tat umzusetzen und nebenher unter anderem zu lehren, zu reisen und Vorlesungen zu halten - die Beschäftigungen seines Ruhestands, obwohl er sich natürlich noch gar nicht zur Ruhe gesetzt hatte.

Karen wollte Berühmtheiten im Dokumentarfilm, und damit meinte sie Soap-Stars, doch Henry hatte gute, wohlbekannte Schauspieler im Sinn, mit denen er bereits gearbeitet hatte, und auch Laien, die sich an Sentenzen aus dem klassischen Repertoire versuchten.

Er grollte mir allein schon deshalb, weil ich ihn mit Karen zusammengebracht hatte, die behauptete, sie werde durch seine Dickschädeligkeit in den Bankrott getrieben. Er dürfte allerdings nicht der einzige Grund dafür gewesen sein. Sie hatte mich kürzlich zu einer ihrer Pop-Galas eingeladen, in ein Speicherhaus, in dem es von sparsam bekleideten und in den Schminktopf gefallenen Sternchen nur so wimmelte, alle noch halbe Kinder. Karen hatte sich in die Hattie Jacques der Carry-On-Filme verwandelt: eine gönnerhafte Matrone mit albern großtuerischen Allüren.

Sie trank gern einen, und in ihrer Dickschädeligkeit konnte sie genauso unbeherrscht und zickig sein wie Henry. Sie war zwar eine Vorreiterin der Sendungen über Neugestaltung - von Gärten, Häusern, Frauen -, aber eine ganze Weile war es nicht gut für sie gelaufen, weil auch viele andere auf diese Idee gekommen waren. Die von ihr gegründete Firma war kürzlich aus einer Serie geflogen, die sie für einen Edelkoch produziert hatte. Daher schwante mir, dass Karen nicht gerade vor Freude platzen würde, wenn sie von Henrys neuer, wenn auch gewiss rührender Idee erfuhr, seine Freundin im Fernsehen Sonjas Monolog in ganzer Länge deklamieren zu lassen. Da standen noch einige Schlachten bevor.

»Bushy hat mich nach Hause gefahren«, sagte Miriam. »Ich hatte das Gefühl, auf einer Wolke zu schweben. Meine letzte richtige Liebe ist Jahre her. Ich habe die ganz Zeit gesungen. Am liebsten hätte ich einen Song von Enya gehört.«

»Oh, böses Omen.« Bevor sie mir eine Ohrfeige geben konnte, sagte ich: »Wirst du ihn wiedersehen?«

»Nur, wenn du mir verrätst, warum er mich mag.« »Du bist liebenswert.«

Sie fragte: »Warum hast du keine Geliebte? Ich weiß, dass du Josephine vermisst.«

»Ja, ich vereinsame. Aber wie mein erster Analytiker immer gesagt hat: >Nur keine Sorge, ich habe ja meinen Sartori.<«

»Die Frau vor Karen, diese Ajita, war immer deine große Liebe«, sagte sie.

»Ja?«

»Wie oft bin ich ihr begegnet? Zwei- oder dreimal? Das hat gereicht, um Bescheid zu wissen. Sie war wunderbar und unkompliziert. Sie hat mir sogar diesen Schmuck geschenkt. Warum seid ihr nicht zusammengeblieben?«

»Die Sache ist auseinandergekracht.«

»Was ist wirklich zwischen euch gelaufen? Vielleicht könnte es noch klappen. Warum versuchst du nicht, sie ausfindig zu machen?« »Ich weiß nicht so genau, ob ich das möchte.« »Ist damals nicht jemand ermordet worden?« »Ja.«

»Wann erfahre ich die ganze Geschichte?«

»Sie kommt mir oft in den Sinn«, sagte ich. »Am Jahrestag unserer letzten Begegnung sitze ich immer da und denke an sie und fühle mich verdammt bedrückt, bedrückt, bedrückt.«

»Jamal, such sie doch einfach. Sie wohnt bestimmt ganz in der Nähe. Genau wie du wird sie andere Beziehungen gehabt haben, aber ich habe das Gefühl, dass da immer noch etwas zwischen euch ist.«

»Und wenn nicht? Das wäre ja noch schlimmer, oder? Für mich ist das wie die Büchse der Pandora.«

»Um das herauszufinden, musst du es ausprobieren.«

»Hör zu, Miriam«, sagte ich, um das Thema zu wechseln, »du kannst natürlich zu Henry, aber manchmal ist sein Sohn dort. Ich stelle euch meine Wohnung zur Verfügung. Ich lasse euch zwei Schlüssel nachmachen. Ihr könnt jederzeit dorthin, wenn ich nicht arbeite, abends und am Wochenende. Wenn Maria da ist, schickt ihr sie einfach weg.«

Ich bemerkte, dass Bushy eingetreten war. Er stand da und nickte Miriam zu. Sie hatte Make-up und Parfüm aufgelegt, was ich zwar bereits bemerkt, aber nicht richtig eingeordnet hatte.

»Ich muss los, Jamal. Henry führt mich auf einen Drink in einen Club aus.«

»Ausgezeichnet«, sagte ich. Sie fuhr sich mehrmals mit der Hand über das Gesicht. »Stimmt etwas nicht?«

»Eigentlich mag ich nicht. Ich hasse es auszugehen. Ich habe doch meine Leute, die Kinder und Bushy. Henry bringt mich ganz durcheinander. Vielleicht stürzt er mich ins Verderben, und ich habe mir mein Leben schon zu oft verdorben. Muss ich wirklich los?«

»Ja.«

Hinter uns räusperte sich Bushy. »Miriam«, sagte ich, »das ist doch wie früher. Du machst jetzt die Sause in die Nacht, und ich gehe zu Bett.«

»Du könntest ja mitkommen«, sagte sie. »Aber Henry will mich allein treffen.«

»Ich arbeite doch an meinem Buch. Und das interessiert mich am meisten.«

Im Laufe der letzten zehn Jahre hatte ich zwei Bücher mit Fallstudien veröffentlicht, Sechs Personen auf der Suche nach Heilung und Der Deuter der Zeichen. In jedem Buch knöpfte ich mir eine Reihe von Patienten vor, erörterte die jeweiligen Sitzungen und philosophierte, während sich die Geschichten entfalteten, über das Wesen alltäglicher Krankheiten oder Symptome: Ängste, Zwänge, Hemmungen, Phobien, Süchte. Das war so normal und alltäglich, dass sich jeder Leser darin erkennen konnte. Es waren Symptome, um die sich ganze Leben ordnen und an denen sie manchmal scheitern.

Zu meiner eigenen Überraschung und der meines Verlags waren die Bücher erfolgreich und wurden in fünf Sprachen übersetzt. Zusätzlich zu dem Versuch, Freuds Idee von der Fallstudie als einer Mischung aus Literatur, Spekulation und Theorie neu zu beleben, boten sie auch eine Möglichkeit, die Analyse einer neuen Generation zu erläutern und zu zeigen, wie sie gelingen oder auch scheitern konnte. Daher ging es nicht zuletzt um die Frage, warum Menschen ihre Symptome nicht loswerden möchten - seine Krankheiten zu verlieren, kann riskant sein -, weil man diese zur Bewältigung anderer Konflikte verwenden kann.

Ich hatte Fachbegriffe vermieden und entdeckt, dass diese Schilderungen von Leid naturgemäß die Strukur, den Aufbau und den erzählerischen Schwung von Geschichten hatten. Genaugenommen handelte es sich um Charakterstudien, deren Objekte Collagen aus echten Patienten, Fragmenten meiner eigenen Person und frei

erfundenen Elementen waren. Näher - und es war recht nahe - war ich dem literarischen Schreiben nie gekommen. Die Form war relativ frei, anders als die des wissenschaftlichen Aufsatzes; ich konnte darin ausdrücken, was mich umtrieb, und über meine alltägliche Arbeit sowie das Denken anderer sinnieren, von Dichtern, Philosophen und Analytikern.

Als Schriftsteller war also ich nicht ganz unerfahren. Ich hatte einen Vertrag für ein weiteres Buch, und ich hatte fest vor, ihn zu erfüllen, denn ich brauchte das Geld. Aber dieses Material über Ajita, das sich spontan ergab und die meiste Zeit in Anspruch nahm, die ich für das Schreiben erübrigen konnte, war anders. Ich fand, dass mein auf den ersten Blick willkürlicher und chaotischer Bericht über sie einer psychoanalytischen Sitzung glich: eine Mischung aus Träumen, Wünschen, Unterbrechungen, Auseinandersetzungen, Phantasien, Widerständen, Erinnerungen an verschiedene Lebensphasen und auch ein Versuch, sich einen Weg durch dieses Labyrinth zu bahnen - mit welchem Ziel? Genau das wollte ich herausfinden.

Ich begleitete Miriam zur Vorderseite des Hauses. Mir fiel auf, dass Bushy die Tasche trug, in die sie ihre Sachen für Übernachtungen packte. Bevor ich in mein Auto stieg, gab ich ihr einen Kuss und sah zu, wie Bushy ihr die hintere Tür aufhielt und, während sie sich hineinzwängte und dabei ihr sogenanntes Altweiber-Geschnaufe unterdrückte, wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte. Als sie schließlich zu ihrem Vergnügen aufbrach, winkte sie mir und rief: »Auf bald, Bruderherz.«

NEUN

Meine Liebste weinte, sie bebte. In einer solchen Verfassung hatte ich sie noch nie erlebt.

Ajita und ich breiteten gerade unsere Handtücher aus und suchten den Himmel nach Wolken ab, als sie heftig weinend zusammenbrach. Es dauerte eine Weile, bevor sie zugab, dass sie etwas Ernstes bedrückte. Ihr Vater hatte Probleme in seiner Fabrik, die sie nach ihrem Universitätsexamen gemeinsam mit ihm leiten sollte. Sie hatte sogar laut überlegt, ob wir beide die Fabrik führen könnten, wenn ihr Vater sich irgendwann zur Ruhe gesetzt hatte.

Im Fernsehen war eine Dokumentation über die Fabrik ausgestrahlt worden, die ich durch Zufall mit Mum gesehen hatte, allerdings ohne zu kapieren, dass es um Ajitas Familie ging.

Einige Monate zuvor war ein Regisseur mit Ajitas Vater in Verbindung getreten und hatte ihm erzählt, die angebliche »Doku« solle ein mitfühlendes Bild der ugandischen Inder zeichnen, Menschen, die mit leeren Taschen nach England gekommen, aber schon jetzt im sozialen Aufstieg begriffen waren; eine optimistische Geschichte über den Erfolg von Immigranten. Ajitas Vater war der Regisseur sympathisch gewesen, mit dem er viele Gespräche über Kricket, Indien und die politische Lage in der Dritten Welt geführt hatte. Wie sich herausstellte, war der Regisseur jedoch eine Art Doppelagent, wie angeblich so viele seiner Zunft. Er war ein Kommunist aus großbürgerlichen Verhältnissen, hatte in Cambridge studiert und war ein kluger und erfolgreicher Überläufer, der seine eigene Klasse und seinen familiären Hintergrund hasste.

Der Dokumentarfilm zeigte viele Bilder aus dem Inneren der Fabrik, dazu gab es Interviews mit den Arbeitern. Ajitas Vater hatte bereitwillig kooperiert, weil es ihm schmeichelte, mit dem Film zu tun zu haben. Doch der »Cambridge-Kommunist« hatte Ajitas Vater als gnadenlosen Ausbeuter seiner eigenen Leute bloßgestellt, als einen Erzkapitalisten und gierigen Schurken. Ajitas Vater hatte versucht, Kontakt mit dem Mann aufzunehmen und sich zu wehren. Doch der Kommunist ließ plötzlich nicht mehr mit sich reden. Ajitas Vater fand es unbegreiflich, wie jemand so heimtückisch sein konnte. Aus seiner Sicht war das »typisch englisch« - und außerdem eine Erscheinung dessen, was er »marxistischen Kolonialismus« nannte.

Die Arbeiter der Fabrik hatten den Film natürlich gesehen und waren aufsässig geworden, beschwerten sich inzwischen offen und drohten sogar mit Streik. In Afrika oder Indien hätte man sie gefeuert oder verprügelt. Ajita sagte zu mir: »Warum arbeiten sie nicht einfach? Bei diesem politischen Klima können sie doch froh sein, dass sie einen Job haben.« Das hatte ihr wohl ihr Vater eingetrichtert.

Ich machte Ajita klar, dass ich in solchen Fällen auf der Seite der Arbeiter stand; das sagten mir Instinkt und Glaube, die ich von meinem Vater geerbt hatte. Ich erzählte ihr etwas großspurig, ich sei auch ein Unterstützer von Rock Against Racism, einer Initiative, die gegründet worden war, nachdem Eric Clapton in Birmingham auf der Bühne eine rassistische Rede gehalten hatte. »Na, los, Eric«, hatte der ursprüngliche Brief im Melody Maker gelautet, »steh doch dazu. Die Hälfte deiner Musik hat schwarze Wurzeln. Du bist der schlimmste Kolonialist des Rock.« Doch Ajita hatte nicht vor, eine Linke zu werden. Sie schwieg, und sie wollte sich nichts aufschwatzen lassen.

Ich hoffte inständig, dass wir unser müßiges Leben wiederaufnehmen konnten, finanziert von dem großen Ausbeuter - ihrem Vater. Je länger der alte Herr bei der Arbeit war, egal, wie geplagt er auch sein mochte, desto mehr Zeit hatte ich, mich bei ihm durchzufressen, sein Bier zu saufen und seine Tochter zu vögeln. Die Politik faszinierte mich nur, wenn es um Rassenprobleme ging. In den Siebzigern wurde ständig gestreikt; das Streiken war das einzige Trostpflaster dafür, dass man arbeiten musste. Einmal pro Woche erloschen mit schöner Regelmäßigkeit sämtliche Lichter. Man hörte, wie in allen Pubs und Tanzhallen der Nachbarschaft ein ironischer Jubel aufbrandete, bevor man sich ein Mädchen schnappte und die Kerzen hervorholte. Zur Abwechslung gab es hin und wieder Engpässe bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Treibstoff und als Sahnehäubchen eine Art Staatskrise, die Minister zum Rücktritt zwang und die Regierung knapp an der Katastrophe vorbeischlittern ließ. Gelegentlich kam noch eine Bombe der IRA hinzu: Diese Typen jagten mit Vorliebe Pubs in die Luft, aber auch die Hammersmith Bridge, auf die zwei Attentate verübt wurden, hatte es ihnen angetan. Bald darauf schlug man die falschen Verdächtigen zusammen, presste ihnen Geständnisse ab und lochte sie ein. Das war Alltag.

Doch diese Krise in der Fabrik nahm Ajita so sehr mit, dass sie nicht mehr mit mir schlafen mochte. »Fass mich nicht an, Jamal«, sagte sie und wandte sich von mir ab. »Ich kann das jetzt nicht. Ich fühle mich zu mies.« Es war das erste Mal, dass sie mich abgewiesen hatte, der erste Schatten, der auf unsere Leidenschaft fiel.

Sie wollte sich nicht trösten lassen. Zur Ablenkung fuhren wir zum College und saßen mit Valentin schweigend in der Bar. Ich war gern dort, und alle Männer starrten Ajita an. Sie war ein außergewöhnlich hübsches Mädchen. Ich hatte meine kleine Gang; ich fühlte mich sicher.

Eine der aktivsten studentischen Gruppen waren die im Exil lebenden Iraner. Mittags plakatierten sie die Bar immer mit schrecklichen Fotos von Opfern der Savak, der Geheimpolizei des Schahs, die von den USA unterstützt wurde, von jeher Freund und Geldgeber des Diktators. Ich unterhielt mich mit den jungen Linken, die um unsere Unterstützung warben; sie behaupteten, die Moscheen für die Mobilisierung des Volkes nutzen zu wollen. Sobald die Revolte in Gang gekommen sei, werde die Linke die Macht ergreifen.

Die andere umtriebige Gruppe im College, immer geschäftig und auf der Suche nach Ärger - und im Bunde mit der Anti-Nazi League -, war die SWP, die Socialist Workers Party. Ein Student aus unserem Philosophie-Seminar kam vorbei und brachte uns ein paar Broschüren. Genau wie der Marxismus wollte auch er nicht verschwinden, sondern zog sich einen Stuhl heran und redete auf Valentin ein, den er unbedingt zu einem Treffen überreden wollte.

Die Trotzkisten versuchten ständig, Valentin zu bekehren, im Grunde absurd, denn er war in einem kommunistischen Staat aufgewachsen und hatte sich redlich Mühe gegeben, aus diesem zu entkommen. Seiner Meinung nach war sein Land durch die marxistische Ideologie zugrunde gerichtet worden. Auch das Argument der Trotzkisten, das System sei durch die Machtübernahme Stalins »pervertiert« worden, hielt er nicht für überzeugend. Wie er mir erzählte, fand er diese Leute amüsant oder »fast verrückt«, aber weil er nichts Besseres zu tun hatte, hörte er ihnen häufig zu.

Valentin schien fast alle menschlichen Bestrebungen oder Vorhaben lächerlich zu finden, als wären diese unter seiner Würde. Auf jeden Fall hielt er mich für seiner unwürdig, und vielleicht war das der Grund, weshalb ich so sehr darauf aus war, ihn zu beeindrucken. Als ich ihn einmal bat, mir bei der Logik zu helfen, erwiderte er nur: »Ach, das habe ich schon vor Monaten kapiert.« Und wenn wir am Freitagabend und am Samstagabend in die King's Road gingen, um Frauen aufzureißen, machte er jedes Mal fette Beute, und ich musste immer den letzten Zug nach Hause nehmen. Dass er mir Ajita »überlassen« hatte, war wohl nicht zuletzt eine gönnerhafte Geste gewesen.

Wie mir auffiel, las Ajita mehrmals die Broschüre, die man ihr in die Hand gedrückt hatte, und das überraschte mich, weil sie weder das Lesen noch die Politik sonderlich interessierten.

Der Trotzkist stieß seinen Finger auf die Broschüre. »Dieser Fabrikbesitzer hier, den wir uns gerade vorknöpfen ...« Er zog sich einen Finger über die Kehle und riss den Mund auf wie eine gequälte Gestalt auf einem Gemälde von Bacon.

»Nur zu, Mann«, sagte ich abweisend.

Eine leise, panische Stimme sagte: »Jamal...« Ajita flüsterte mir etwas ins Ohr. Sie wollte auf dem Embankment am Fluss spazieren gehen.

Wie ich ihrem Schluchzen entnehmen konnte, handelte es sich bei der Fabrik, die in der Broschüre der Trotzkisten aufs Korn genommen wurde - und gegen die die Studenten protestieren sollten -, um die ihres Vaters.

Drei Jahre lang war es Ajitas Familie gutgegangen. Der Vater hatte den Betrieb aufgebaut, die Mutter hatte sich um die Kinder gekümmert, man hatte Geld gehabt. Die Kinder lebten sich ein, England gefiel ihnen. Und nun hatte es den Anschein, als wollte England sie doch nicht haben.

Ajitas Vater war daran gewöhnt, die Dinge in die Hand zu nehmen und Macht zu haben, aber seit kurzem musste er befürchten, dass man ihm diese entwand. Die Gewinnspanne war nicht hoch, und deshalb musste er die Löhne niedrig halten. Der Betrieb drohte zusammenzubrechen, und falls das geschah, würde er plötzlich mit riesigen Schulden dasitzen und musste vielleicht Insolvenz anmelden. Was sollten sie dann tun - wie alle anderen in England von der Stütze leben?

Der Streik, der kurz nach der Ausstrahlung des Dokumentarfilms begann, wurde von einer winzigen Bengalin angeführt. Diese mutige, trotzige Gestalt war für andere Frauen, ja für die gesamte Linke, zu einer Heldin geworden. Ihr gereichte alles zum Vorteil: Rasse, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Körpergröße. Die Zahl der Streikposten wuchs mit jedem Tag. Die Fabrik war nicht weit von London entfernt, und ganz in der Nähe befand sich eine U-Bahn-Station. Theater- und Filmschauspieler unterstützten die Streikposten, bevor morgens die Arbeitswilligen eintrafen. Ein Labour-Minister war da gewesen. Die Auseinandersetzung wurde eine cause celebre.

Einige wenige Arbeiter stammten aus Westindien, aber die meisten waren Asiaten: eine Mischung aus kenianischen Indern, Pakistanern und Bengalen - ältere Frauen, Studenten und einige Männer. Die Aufsicht führten weiße Vorarbeiter. Ajita erzählte mir, dass die Arbeiter im Gegensatz zur gängigen Meinung keine Bauern, sondern gebildete und politisierte Leute seien. Sie wollten eine Gewerkschaft gründen, doch Ajitas Vater weigerte sich, mit einer Gewerkschaft zu verhandeln. Die Arbeiter stammten aus Asien, genau wie er, und er kannte ihr Familienleben, ihre Religion, ihr Essen. Er sah nicht ein, wozu sie eine von Weißen geführte Gewerkschaft brauchten, die Druck auf ihn ausübte. Er bezahlte nicht gut, aber auch nicht schlechter als alle anderen. Ajitas Vater war inzwischen verbiestert und störrisch. Er hatte mehrere der sozialistischen Gotteskrieger gefeuert und weigerte sich, sie wieder einzustellen. Als man ihm vorwarf, er würde versuchen, die Dritte Welt in England zu implantieren, wies er dies mit den Worten von sich, das sei Rassismus. Laut Ajita wurde er als Sündenbock missbraucht. »Ja, glauben Sie denn, ich wäre der einzige Ausbeuter in diesem Land?«, sagte er immer wieder. Großbritannien gab nicht nach; er konnte sich nicht durchsetzen. Aber er konnte auch nirgendwo anders hin. All sein Geld steckte in der Fabrik. Nicht, dass er keine Unterstützung erhalten hätte: Konservative Politiker sprachen von »Anarchie« und der »Priorität von Recht und Gesetz«.

Am Nachmittag, nachdem Ajita in der Bar geweint hatte, fuhren wir zurück in die Vororte. Sie ging nach Hause, um zu lernen, ich wollte im Schlafzimmer lesen und Musik hören. Gegen neun Uhr abends ging ich zu Bett. Als Student war ich nicht unbedingt ein Frühaufsteher. Meist nahm ich gegen zehn Uhr den Zug nach London, nach dem schlimmsten Berufsverkehr.

Doch am nächsten Morgen fuhr ich in aller Herrgottsfrühe zur Fabrik, ohne Ajita etwas davon zu erzählen. Mum und Miriam schliefen noch. Oder besser: Ich fuhr zur Demo.

Das erste, was ich sah, als ich die U-Bahn-Station verließ, war ein großes Banner mit der Aufschrift: »Nur Sklaven lassen sich zum Frondienst zwingen.« Gegen acht Uhr herrschte ein großer Andrang vor dem Tor. Es mussten an die dreihundert Leute gewesen sein, und sie waren laut, ja fast aufrührerisch. Allem Anschein nach bestand die Menge aus entlassenen asiatischen Arbeitern, Studenten verschiedener radikaler Gruppierungen und jeder Menge Sympathisanten, und dazu kamen Journalisten und Fotografen. Alle diese Leute waren von der Polizei umzingelt.

Die belagerte Fabrik - soweit sie vom Tor aus zu erkennen war - bestand aus zwei niedrigen, langgestreckten Gebäuden, die aussahen, als würden sie aus Pappe und Asbest bestehen. Die Arbeiter, mit denen ich sprach, beklagten sich darüber, dass die Räume im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt seien.

Ich erfuhr von den schweren Kleiderstapeln, die die Arbeiter zum Schneiden schleppen mussten. Die Nähmaschinen waren gefährlich, denn die Nadeln brachen ab und verletzten die Angestellten an den Fingern. Stoffstückchen flogen durch die Luft, alle hatten verstopfte Nasen, und kaum jemand konnte richtig atmen. Auf dem Fabrikgelände gab es mindestens einmal im Monat einen Unfall. Die Arbeiter hatten nur zwei Wochen Urlaub pro Jahr, aber nicht im Sommer, weil es dann noch mehr zu tun gab; Frauen bekamen weniger Lohn als Männer - Schwangere wurden entlassen; eine Frau sagte, die weißen Vorarbeiter hätten die Arbeiterinnen zum Sex gezwungen.

Während ich dort stand, wurde die Menge immer größer und lauter. Mir fiel auf, dass die Demonstranten Steine, Ziegel und Holzklötze dabeihatten. Dann kam plötzlich der Bus mit den Arbeitern angebraust, dessen Fenster mit Maschendraht gesichert waren. Ich war verblüfft, wie rücksichtslos er durch die Menge raste, während ein Hagel von Wurfgeschossen auf ihn niederprasselte. Die Polizisten versuchten, uns mit ihren Gummiknüppeln zurückzudrängen, doch ihr Kordon wurde immer wieder von Leuten durchbrochen, die gegen den Bus schlugen oder ihn bespuckten.

Dicht hinter dem Bus fuhr ein teures Auto, und am Steuer saß Ajitas Vater. Ich erkannte ihn, denn ich war ihm einmal im Haus begegnet, als er aus heiterem Himmel aufgekreuzt war, angeblich, um nach »irgendwelchen Unterlagen« zu suchen, in Wahrheit aber, um sich einen Boxkampf im Fernsehen anzuschauen, wie mir schien. Als er die Tür öffnete und das Zimmer betrat, wo wir die Füße auf die Glasplatte des Couchtisches gelegt hatten, Kartoffelchips aßen und der Fatback Band lauschten, wurde mir beim Anblick von Ajitas Gesicht zum ersten Mal bewusst, dass sie Angst vor ihm hatte. Sie war nicht nur erschrocken. Ich glaubte, sie würde gleich in Ohnmacht fallen.

Zum Glück war Mustaq zu Hause. Er saß wie üblich in einer Ecke und beäugte mich über das Cover von Young Americans hinweg. So konnte sie mich - wie geplant - als seinen Freund vorstellen. Damit war der gemütliche Teil des Tages vorbei. Denn um zu zeigen, wie eng befreundet ich mit Mustaq war, musste ich den ganzen Nachmittag in seinem Schlafzimmer verbringen. Ajita hatte mich oft gebeten, mit ihrem Bruder zu reden, weil sie sich Sorgen um ihn machte. Ihr Vater sei zu beschäftigt, um sich ihm wirklich widmen zu können. Ihm fehlten die väterliche Anleitung, das männliche Vorbild. Er sei mädchenhaft und habe keine Ahnung von Fußball.

Der Junge war glücklich, mich ganz für sich zu haben. Und er nutzte es so richtig aus. Erst schoss er ein Foto von mir, dann zeigte er mir seine »Schätze«: eine Modelleisenbahn, sein Peanuts-Jahrbuch, seine Snoopy-Sticker, eine eigenhändig aus Treibholz geschnitzte Wodu-Puppe in voller Montur, samt Nägeln und mit schwarzem Filzstift aufgemalten Zahlen, seine Drums und eine akustische Gitarre. Außerdem konnte er mich noch mit einer uralten Kondompackung, einem Klappmesser und dem Foto einer Kusine beeindrucken, die, luftig in einen Bikini gehüllt, am Gestade eines Ozeans posierte.

Dann bat er mich, mit ihm zu ringen. »Na, schön«, sagte ich. Warum willigte ich ein? Weil ich hoffte, er würde endlich die Klappe halten. Mir wich das Blut aus dem Gesicht, als er sich langsam bis auf die Unterhose auszuziehen begann.

Ich war nicht scharf auf das Ringen, vor allem nicht, als ich sah, wie professionell er sich aufführte, wie er hüpfte und auf den Zehenspitzen federte und die Faust auf die flache Hand klatschen ließ - Batsch, batsch, batsch! Er hatte zwar nicht gerade wenig Speck auf den Rippen, wirkte aber trotzdem wie ein harter, fieser, kleiner Kämpfer.

Er kam wie ein Bär auf mich zugestapft, die Zähne gebleckt, die Arme angewinkelt, und er umarmte mich sofort. Er warf mich vom Bett, er schmiss mich im Zimmer herum, und am Ende setzte er sich auf mich, kitzelte mich und küsste mich auf die Wangen. Als ich aufzustehen versuchte, zwängte er seine Hände vorn unter meine Hose. Schreien konnte ich nicht, denn in dem Fall wäre sein Vater wahrscheinlich mit einer Schrotflinte in das Zimmer gestürmt. Mustaq, rittlings auf mir sitzend, schwang die Hüften und führte sich ungefähr so auf wie eine Transe oder ein Teenager-Vamp. Vater und Schwester waren nur ein paar Meter weit weg, und er wollte mir wahrhaftig einen blasen.

Zu meiner Erleichterung sprang er irgendwann auf und rannte zum Klavier. Dort stimmte er einen Song an, den er offenbar selbst komponiert hatte: Jedem zerreißt es einmal das Herz.

»Hör zu, hör zu«, sagte er. »Sag mir, wie du das findest!«

»Super Song, Mann, echt«, sagte ich.

»Ehrlich?«

»Ja, du solltest ihn aufnehmen und irgendwo hinschicken!« Ich hatte es so eilig zu verschwinden, dass ich über die Kante des Bettes stolperte und zwangsläufig das erblickte, was sich darunter verbarg - Berge halb verzehrter Schokoriegel, bunte Süßigkeitentüten und vermodernde Ostereier.

Ich entkam mit heiler Haut, wenn auch nur knapp, und ich verfluchte seine ganze Familie.

»Komm bald wieder«, flüsterte Mustaq.

»Und? War es nett?«, fragte Ajita lächelnd. »Ich bin ja so froh, dass ihr zwei euch gut versteht!«

Ich war so unglaublich in sie verliebt. Auf den Rest der Familie hätte ich verzichten können. Ich erzählte Ajita nicht, was ihr Bruder bei mir versucht hatte, aber beim nächsten Mal brachte ich ihm Bücher und Zeitschriften mit, vor allem amerikanisches Underground-Zeug, das ihm wahrscheinlich unbekannt war - Rechy, Hirnes, Algren, ja sogar Burroughs. Ich gab ihm alles unter der Bedingung, dass er mich nicht noch einmal befummelte. »Väter mögen es, wenn ihre Söhne lesen«, sagte ich zu ihm. »Sie halten Bücher für lehrreich und gut. Sie haben keine Ahnung, dass Bücher auch ziemlich gefährlich sein können.«

Zu meiner Überraschung verschlang er alles, was ich ihm geliehen hatte, erzählte mir davon und bat um Nachschub. Ich lieh ihm Der Wendekreis des Krebses und Stille Tage in Clichy, und er schrieb mir auf einem Zettel, nie habe er in einem Buch so viel surreale Poesie, Verrücktheit und Blödheit entdeckt. (Danach fiel er über Celine her.) Ich schenkte Mustaq mein angedetschtes Exemplar von Lou Reeds Transformer, das inzwischen meine Ohren wurmte, aber immer, wenn ich zu Besuch war, musste ich mir wieder den dreckigen, dekadenten Bowie-Sound anhören.

Gelegentlich versuchte er noch einmal zuzugreifen, und außerdem zog er sich immer vor meinen Augen um - »Ich will ja nur wissen, ob ich dir in Streifen gefalle.« »Ja, wenn sie fest in deinem Arsch stecken.« Doch im Haus erwies er sich als verlässlicher Verbündeter, vorausgesetzt, ich sprach mit ihm. Er war ein bisschen wie ein nerviger kleiner Bruder. Er hängte sogar das Bild von mir auf, neben den Fotos von Boxern und Schauspielern und einer von Baileys frühen Aufnahmen von Jagger, auf der Mick wie ein mürrischer, jugendlicher Mod aussah.

Immer, wenn ich Mustaq traf, lud er mich zu einem Konzert oder ins Kino ein. Ich lehnte stets ab, bis er auf eine absolut unwiderstehliche Sache verfiel: drei Karten für die Stones in Earl's Court. Wir saßen ganz hinten, und die winzigen Gestalten auf der Bühne glichen kleinen Puppen. Es war wie Fernsehen, außer dass man nicht umschalten konnte. Ajita und ich knutschten, doch Mustaq war wie gebannt und saß in seinem Mick-Jagger-T-Shirt vorgebeugt da. Am Schluss sagte er: »Ich will auch so angestarrt werden. An jedem Tag meines Lebens! Glaubst du, ich könnte das schaffen, Jamal?«

»Dein Vater würde sich ein Loch in den Bauch freuen, wenn du das schaffst«, antwortete ich.

An dem Tag, als der Vater früh nach Hause kam, nahm er mich nicht weiter wahr, aber ich konnte ihn ausgiebig betrachten. Er fuhr nicht wieder zur Arbeit, sondern lag mit einem riesigen Glas Whisky auf dem Sofa, starrte auf den Fernsehbildschirm und rauchte Kette. Er war groß, dünn, wirkte streng und war fast kahl. Sein Gesicht war braun und so faltig und pockennarbig, als wäre eine Bombe neben ihm explodiert.

Obwohl die Sechziger vorbei waren und der Feminismus sich etabliert hatte, hatten die alten Männer, der allgemeinen Erwartung entsprechend, immer noch die meiste Macht. Väter waren würdevoll; sie besaßen zu viel Autorität, um mit den Kindern auf dem Fußboden herumzukriechen; sie waren distanziert; sie machten einem Angst. Dieser Mann lachte ein paar Mal gemeinsam mit Ajita, doch er lächelte nicht. Allem Anschein nach hatte er überhaupt keinen Charme. Ich würde ihn als furchteinflößend bezeichnen. Ajita hätte ich sofort geheiratet, aber mit ihrem Vater wollte ich nicht verwandt sein.

Als das Auto durch das Tor in die Fabrik raste, erblickte ich noch etwas - nämlich Ajita, auf der Rückbank kauernd, die Hände auf die Ohren gedrückt. Was tat sie hier? Warum hatte sie mir nichts davon erzählt?

Ich rief und winkte, aber das war sinnlos. Das Spektakel dauerte nicht lange.

Die Leute begannen sich zu zerstreuen.

»Merkwürdiger Anblick«, sagte ich laut.

»Wie meinst du das?«, fragten mich zwei neben mir stehende Studenten, aufgeputscht von ihrem Protest.

»Ein paar Asiaten aus der Arbeiterklasse, die von einer Rotte weißer Studenten aus der Mittelschicht missbraucht werden.« Um noch eins draufzusetzen, fügte ich hinzu: »Ich wette, eure Väter haben alle einen Doktor.« Sie starrten erst einander und dann mich an. »Für wen bist du?«, wollten sie wissen.

Später kam Ajita zum College. Wir waren morgens bei der Demo gewesen, aber das erwähnte keiner von uns beiden. Ich hatte jede Menge Fragen. Liebt man jemanden bedingungslos, oder verändert sich die Liebe, wenn man mehr über den geliebten Menschen erfährt und plötzlich ein anderes Bild von ihm hat? Die Liebe stand nie still, denn es

kam immer wieder Neues hinzu. Damals, als ich gelangweilt zu Hause gehockt hatte, hatte ich mich nach dem Unbekannten gesehnt, nach einem Leben voller Experimente. Genau das bekam ich jetzt, und zwar in größerem Maße, als ich es mir je hätte träumen lassen.

Abends lag ich dann auf meinem Bett. Mutter guckte unten Fernsehen, Miriam war im Hammersmith Odeon bei Joan Armatrading. Ich fragte mich, was Ajita jetzt tat, in genau diesem Moment. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen wegen des Streiks. Dann kam mir der Gedanke, dass dies nicht der einzige Grund für ihre Aufgewühltheit sein konnte.

Ich dachte zum ersten Mal: »Ajita ist mir untreu.« Ist das nicht die Sorge aller Liebenden? Wenn man einen Menschen begehrt und dieser dadurch noch begehrenswerter wird, liegt es doch auf der Hand, dass er auch von anderen begehrt wird, oder? Aber schon in der Sekunde, als ich daran dachte, hatte ich das Gefühl, dass dieser Gedanke mehr war als nur eine Phantasie. Wodurch irritierte Ajita mich im Moment? Ich hatte intuitiv gespürt, dass sie etwas vor mir verbarg. Wieso war sie so seltsam drauf? Ja: Weil sie etwas zu verbergen hatte!

Das Geheimnis würde nicht so bald enthüllt werden. Wenn ich sie das nächste Mal sah, musste ich sie unbedingt danach fragen. Ich wollte alles wissen.

ZEHN

Mutter hatte Miriam bis vor kurzem an Geburtstagen und an Weihnachten besucht. Sie schlief auf einem Lehnstuhl ein, erwachte mit einem sabbernden Hund auf dem Schoß und ließ sich mit rasenden Kopfschmerzen von Bushy nach Hause fahren. Inzwischen kam sie jedoch nicht mehr. Sie sagte, es sei ermüdend, worauf Miriam erwiderte: »Tja, dann musst du mich eben wie alle anderen im Fernsehen anschauen.«

Obwohl es nicht einfach war, Miriam aus ihrem Viertel loszueisen, zumal sie sich ohne irgendeine Entourage nicht weit bewegte, bestanden Bushy und ich darauf, dass sie und ich ungefähr alle drei Monate gemeinsam mit unserer Mutter zu Mittag aßen, meist in der Royal Academy am Piccadilly. Dorthin gingen alle älteren Frauen mit ihren Söhnen, und Mutter betrachtete den Laden als »ihren Club«. Außerdem genoss sie eine stille Teerunde bei Fortnum's, wo man Miriam mit der Begründung des Hauses verwiesen hatte, sie sei »nicht anständig gekleidet«. Vermutlich hatte man noch nie eine Frau mit so vielen Tätowierungen gesehen. Mutter fühlte sich durch Miriam düpiert, und Miriam brodelte und fluchte, weil Mutter sie »pubertär« genannt hatte.

Nachdem Mum bei der Bäckerei gekündigt hatte, arbeitete sie im Büro einer großen Firma und ließ sich mit Mitte fünfzig pensionieren. Sie hatte anständig verdient und bekam eine Rente. Sobald Miriam und ich zu Hause ausgezogen waren, folgte Mutters Leben jahrelang der gleichen Routine. Der Alte-Damen-Gang zum Laden, im Schlepptau die Tasche auf Rädern, dann ein paar Soaps im Fernsehen, Coronation Street und Emmerdale, ein Spaziergang im Park, falls es nicht zu windig war, ein Termin beim Arzt, der sie in helle Aufregung versetzte, der Besuch einer Freundin, die immer nur von ihrem verstorbenen Mann erzählte, die Tode von nahen Freunden oder Nachbarn, in deren Häuser dann junge und laute Familien einzogen.

Sie hatte uns immer wieder gesteckt, ihr Leben geopfert zu haben - und zwar für uns. Ohne die Last zweier Kinder würde sie in Paris auf den Tischen tanzen, wie sie es ausdrückte. Als echte Hysterikerin war ihr der Tod lieber als der Sex, und sie betonte immer wieder, »endlich sterben« zu wollen. Wie sie unter Seufzern und mit kläglichem Blick hinzufügte, »sehne« sie sich nach dem Tod; sie sei »bereit«. Da sie sich ihr Leben lang versteckt oder totgestellt hatte, konnte man Miriam und mir wohl keinen Vorwurf daraus machen, dass wir sie irgendwann nicht mehr beachteten. Eines Tages mussten wir allerdings feststellen, dass sie keineswegs auf das Grab zueilte, um dort endlich das zu finden, was ihr auf dieser Welt gefehlt hatte. Stattdessen hatte sie ihr Leben umgekrempelt. Nun wurde sie immer von Billie begleitet, egal, wohin sie ging.

Soweit ich wusste, hatte Mutter der sexuellen Leidenschaft nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Vater hatte sie keine feste Beziehung mehr gehabt. Sie blieb zwar einige Male über Nacht fort, behauptete aber stets, bei einer Freundin gewesen zu sein. Miriam und ich feixten und vermuteten, dass sie jemanden besucht hatte, den wir Mr Unsichtbar nannten. Manchmal entdeckten wir Programmhefte von Tanz-Shows oder Theateraufführungen sowie Ausstellungskataloge, doch bei uns zu Hause tauchte nie jemand auf.

Eigentlich hätte ich merken müssen, dass in meiner Mutter irgendetwas in Gang gekommen war, denn wie sie mir eines Tages eröffnete, wollte sie ins Kino, an einem »Ort namens ICA«. Ob ich wisse, wo das sei. Ich musste gestehen, dort einen Teil meiner Jugend verbracht, mir Shows und Filme und auch die Mädchen an der Bar angeguckt zu haben. Mutter konnte nur zugeben, mich kaum gekannt und auch nicht gewusst zu haben, was ich so alles angestellt hatte, doch sie freute sich, dass ich gelernt hatte, mich in der Stadt zu bewegen. Nun wollte sie einen Film über einen Maler sehen. Als ich ihn in Time Out nachschlug, stellte ich fest, dass es sich um Andreij Rubljow handelte. Ich fühlte mich zu der Mahnung bemüßigt, dass ein dreistündiger Schwarz-Weiß-Film auf Russisch möglicherweise zu viel für uns sein könnte, doch sie war wild entschlossen. Wir saßen als Einzige im Kino, und ich fand diese Stadt einfach großartig, in der ein Mann und seine Mutter in einem Gebäude zwischen dem Buckingham Palace und den Houses of Parliament ein so phantastisches Werk sehen konnten.

Das war ungefähr drei Jahre her. Seitdem lebte Mutter mit Billie zusammen, einer Frau in ihrem Alter, die sie seit ihrem achten Lebensjahr kannte. Mutter hatte sich oft mit Billie verabredet, und wenn sie zu uns kam, hatte ich mich mit ihr unterhalten. »Du magst sie lieber als mich«, sagte Mutter einmal. Ich erwiderte etwas wie: »Sie lebt mehr

in dieser Welt.« Allerdings mochte ich Mutter nicht beichten, dass ich Billie als Teenager, vielleicht auch schon in jüngeren Jahren, attraktiv gefunden hatte. Sie war sich ihres Körpers bewusst gewesen; sie hatte eine schöne Art, sich zu bewegen, sie war sinnlich.

Nachdem Miriam und ich ausgezogen waren, redete Mutter jahrelang davon, das Haus gegen eine kleinere, einer »Oma« angemessenere Wohnung einzutauschen, aber wir glaubten ihr nicht, weil sie gern am gleichen Platz saß und jeden Tag das Gleiche tat, etwas, dass ich erst verstand, als ich Jenseits des Lustprinzips las, wo Freud Wiederholungen dieser Art »dämonisch« nennt und schlicht und einfach als »Tod« charakterisiert. Doch sie stellte ihr Haus zum Verkauf, und sie verkaufte es tatsächlich, was uns dann doch überraschte.

Miriam weigerte sich, das Haus ein letztes Mal zu besuchen. Es war schmerzhaft, unsere Spielzeuge, Schulzeugnisse und Bücher einzusammeln und nach London zu verfrachten. Ich musste viele Sachen wegwerfen - und ich liebe es, Sachen wegzuwerfen -, doch in diesem Fall traf mich jeder Verzicht wie ein Schlag. Wahrscheinlich hatte Mutter geglaubt, dass wir sentimentaler wegen des Hauses sein würden, in dem wir aufgewachsen waren. Doch für uns besaß es kein echtes Leben, keine Schönheit, keine Persönlichkeit.

Danach zog Mutter bei Billie ein. Uns erzählte sie, dass das von ihr gewünschte Haus noch nicht fertig sei. Billie lebte immer noch in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, ein großes Gebäude direkt neben dem Park, das ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte, das in meiner Erinnerung aber voller Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Katzen gewesen war. Ich glaube, Billie war Mr Unsichtbar. Billie hatte dreißig Jahre lang in einem Atelier für Künstler in einer ziemlich rauen Ecke Südlondons unterrichtet und außerdem Kurse für Fotografie, Malen, Zeichnen und Bildhauerei in ihrem Vorort gegeben. Billie, die viele Liebhaber gehabt, aber weder die »Liebe gefunden« noch Kinder bekommen hatte, legte immer noch schwarzen Lidschatten auf, hatte eine Kleopatra-Frisur, trug goldene Sandalen und manchmal eines der antiquarischen Kleider oder Schmuckstücke, die sie gemeinsam mit Mum gesammelt hatte. Sie war intelligent, und man konnte gut mir ihr reden. Nun standen die beiden Frauen früh auf und fuhren zum Atelier. Sie kochten, kauften Möbel und reisten, verbrachten viele Wochenenden in Brüssel oder Paris oder flogen zum Mittagessen oder für einen Nachmittagsspaziergang dorthin. Sie sprachen davon, sich eine Wohnung in Venedig zu mieten oder Urlaub in Barcelona zu machen.

Mutter wollte nicht, dass wir sie für schräg, individualistisch oder radikal hielten; sie war einfach nur in ein anderes Haus umgezogen. Ob die beiden Liebhaberinnen waren, fragten wir nicht. Bestimmte Wörter wurden nicht in den Mund genommen, und Mutter bezeichnete Billie immer nur als »gute Freundin«. Wenn ich Billie manchmal ihre Gefährtin nannte, sträubte sie sich nicht dagegen. Es war die beste Beziehung in Mutters Leben. Billie schien sich nichts aus Mutters Selbstmitleid, ihren vielen Ängsten und ihrer Vorliebe für Stagnation zu machen. Mutter konnte Billie nicht so stark terrorisieren wie uns, denn diese hatte genug anderes um die Ohren.

Leider kümmerte sich Mutter nun kaum noch um Miriam, um die sie sich ihr ganzes Leben lang Sorgen gemacht hatte. Miriam fühlte sich im Stich gelassen, doch ich konnte es inzwischen mit ihr aufnehmen und ließ nicht zu, dass sie Mutter attackierte.

Wenn wir Mum und Billie trafen, die, mit Bücherstapeln beladen, meist gerade von einem Einkaufsbummel bei Hatchards zurückgekehrt waren, kamen wir nicht umhin, ihre Versunkenheit ineinander zu bemerken. Zu Anfang war das eine Enthüllung, vor allem, wenn sie die Haarschnitte oder Ringe vorführten, die sie sich gegenseitig spendiert hatten. Dann hatte Billie bei einem Mittagessen von Miriam wissen wollen, ob sie jemanden »habe«. Was Mutter betraf, so hatte sie nie viel von Miriams Freunden gehalten. In ihren Augen waren es »Jungs« - grün hinter den Ohren und nicht die Luft wert, die sie atmeten -, aber keine Männer. Miriam konnte nur spitz erwidern: »Ich kann mich glücklich schätzen, mehrere Kinder zu haben.«

Bei diesem Treffen war Billie höflich zu Miriam, hielt sie aber ganz offensichtlich für einen abgedrehten Borderline-Fall, was in Anbetracht des Gesprächs nicht ganz von der Hand zu weisen war. Zum Beispiel: Als Billie erwähnte, in der Tate Modern laufe gerade eine wunderbare Ausstellung, erwiderte Miriam, ihrer Meinung nach sei es schwachsinnig, dass es »Tate Modern« und nicht »The Modern Tate« heiße, was weniger prätenziös und viel zutreffender sei. Billie sagte, das wäre in etwa so, wie wenn man »The Houses of Parliament« die »Parliament Houses« nennen würde.

Während sich dieses hintersinnige Gespräch entspann, stellte ich fest, dass Miriam in solchen Situationen im Handumdrehen ihr Teenager-Selbst reaktivieren konnte, das auch in ihren besten Phasen immer dicht unter der Oberfläche schlummerte, und ich fragte mich, ob sie sich gleich einen Gegenstand schnappen und an die Wand klatschen würde.

Es war ein kalter Tag, und ich empfand die Hitze, die in ihr aufwallte, durchaus als wärmend, wollte aber auf keinen Fall, dass sie einen Eklat mit Billie provozierte. Mutter starrte die ganze Zeit so versonnen den Tisch an wie eine Schildkröte eine Straßenparade.

Vielleicht, hatte ich überlegt, konnte Miriam erzählen, dass sie jemandem begegnet sei. Vielleicht konnte man Henry und sie offiziell als Paar vorstellen. Aber das fiel Miriam im Traum nicht ein; sie war schon zu wütend. Sie regte sich nicht nur darüber auf, dass die zwei Frauen gereist waren und Gemälde gekauft hatten - manche davon für 3000 £ -, sondern auch darüber, dass die beiden ein Atelier in ihrem Garten bauen lassen wollten, sobald sie den passenden Architekten gefunden hatten. Mutter und Billie waren offenbar der Ansicht, »nicht mehr als 15.000 £« dafür aufwenden zu müssen.

Wie so viele Leute in England hatte auch Mutter mehr Geld durch ihr Haus als durch ihre Arbeit verdient. Sie hatte das Haus verkauft, das Darlehen getilgt und den Rest des Geldes behalten, das sie nun rasant zum Fenster hinauswarf. »Wenn ich vor meinem Tod alles verprasse, ist mir das egal«, sagte sie mir. »Über meine Kreditkarten kann ich mir sogar noch mehr leihen, wenn es sein muss.«

»Ganz recht«, erwiderte ich. Noch lobenswerter war, dass sie weder ihren Kindern noch ihren Enkelkindern etwas von ihrem Geld abgegeben hatte, obwohl sich Miriam immer lautstarker darüber beklagte, dass ihr Haus, das sie zu einem günstigen Preis von der Gemeinde erworben hatte, langsam auseinanderfiel. Es war seit Jahren nicht mehr renoviert worden, und das Dach war baufällig. Aus irgendeinem Grund, den Miriam partout nicht verstehen wollte, schien Mutter der Meinung zu sein, dass ihre Tochter für ihren Lebensunterhalt arbeiten solle.

Miriam warf Billie vor, einen »schlechten Einfluss« zu haben, aber Mutter hatte sich selbst verändert. Als Miriam andeutete, dass die Frauen vielleicht zu alt für ein solches Bauvorhaben sein könnten, wies Billie die Bezeichnung »alt« vehement zurück.

»Alt ist über neunzig«, sagte sie trotzig. »Die Leute werden schon bald dreihundert Jahre alt werden.«

»Das stimmt«, sagte Mutter. »Wir sind noch nicht zu alt, um eine Oper durchzustehen, vorausgesetzt, es gibt zwei Pausen und eine Toilette in erreichbarer Nähe.« Sie öffnete ihre Handtasche, und beide Frauen griffen sich ein paar »Verjüngungs«-Pillen, die sie mit hastigen Schlucken Biowein hinunterspülten. »Und Oma darf mich auch niemand nennen«, sagte Billie drohend.

Ich fragte mich, ob sich Miriam am Telefon bei unserer Mutter darüber beschwert hatte, dass sie ihre Aufgaben als Großmutter vernachlässigte, denn als Nächstes informierte uns Billie darüber, dass die Häuslichkeit nach der Ehe die niedrigste Daseinsform sei; sie verabscheue alles, was mit Schule oder jenen trägen Erdmüttern zu tun habe, die stets Plastikmilchflaschen mit sich herumschleppten und diese Kinder mit Schmuddelgesicht hätten, die sich allesamt zum Verwechseln ähnlich sehen und ausnahmslos Jack und Jill heißen würden.

Nun waren die Frauen aufgebrochen, weil sie nachmittags einen Friseurtermin hatten, gefolgt von einem weiteren Einkaufsbummel und der Party eines örtlichen Künstlers. Wenn man diesen Frauen bis auf die Straße und dort in ein Taxi helfen musste, dann nicht, weil sie gebrechlich, sondern weil sie so blau und albern waren.

Auf der Rückfahrt im Auto schwieg Bushy; ich auch. Miriam bebte am ganzen Körper, wir konnten ihren Schmuck klirren hören. Sie vibrierte stärker als eine Stimmgabel. Wir hatten eine Weile gebraucht, um es zu begreifen, aber Mutter war uns endgültig entglitten. Sie würde immer mit uns reden, aber wir waren nicht mehr ihr Lebensmittelpunkt. Sie mochte uns offenbar nicht einmal wirklich, und es war fast, als wären wir alte Freunde, die sich auseinandergelebt hatten. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt und ging nun ihrer Wege.

Schließlich sagte Miriam: »Ihr sitzt da so grinsend wie Zen-Mönche, und das finde ich unerträglich.«

»Was findest du so unerträglich daran?«

»Ich sprecht kein Wort! Wenn du je deine Analytiker-Scheiße an mir ausprobierst, drehe ich dir den Hals um.«

»Kann sein, dass ich still war, aber ich fühle mich wohl. Was hast du denn? Du hast doch selbst die Liebe von Mädchen zu Mädchen ausprobiert, oder?«

»Glaubst du, das hätte mir gefallen? Auf jeden Fall waren diese Mädchen keine alten Schachteln, sondern noch richtig knackig. Mutter verpulvert das Vermögen der Familie. Ein Atelier. Bildhauerei. Eine Loge in der Oper. Herrgott - die meiste Zeit saufen sie doch nur ...«

»Das Geld gehört ihr«, sagte ich. »Ich finde, diese alten Mädchen haben da eine ziemlich gute Sache am Laufen. Sie himmeln einander an und sind ganz bei sich. Das ist doch eine würdevolle Art, sein Leben zu Ende zu bringen ...«

»Warum will sie uns nichts geben? Ich muss jetzt einen neuen Mann durchfüttern! Er geht bestimmt fest davon aus, dass ich für ihn sorge!«

»Hast du ihr von Henry erzählt?«

»Sie würde glauben, dass er genauso ist wie alle anderen. Für sie waren sie alle unfähiger Abschaum. Und was ist mit ihren Enkelkindern, die sie jetzt links liegen lässt?«

»Wir sind erwachsen«, sagte ich, hatte es aber schon satt, der Vernünftige von uns beiden sein zu müssen. »Und die Kinder auch bald. Sie können sich selbst helfen.«

»Ihr habt mich immer fertiggemacht, du und Mutter.«

»Ich bin derjenige, der Anlass zur Klage hätte, wenn du es hören willst«, sagte ich. »Wenn du zu Hause warst, hat Mutter mit dir gestritten. Wenn du weg warst, hast du immer sichergestellt, dass sie sich Sorgen um dich macht. Wo hatte ich da noch Platz?«

»Ich hatte schreckliche Probleme«, sagte sie. »Die noch viel schlimmer wurden, weil du immer gemeint hast, ich würde ein nutzloses Leben führen. Du mit deinen Büchern und deinem schlauen Gerede und deinen Zitaten aus Gedichten und Popsongs. Du hast dich über meine Verrücktheit lustig gemacht. Inzwischen tust du es nicht mehr so oft, aber du warst immer ein arroganter Angeber! In Pakistan hast du mich fallengelassen wie eine heiße Kartoffel...«

»Leck mich doch.«

»So, aber jetzt ...«

Sie hielt mich am Arm fest. Ich packte ihre freie Hand. Gut möglich, dass ich ein Spezialist für Gespräche bin, aber niemand wird bestreiten, dass eine Ohrfeige meine Schwester zur Besinnung gebracht hätte, auch wenn sie der Meinung zu sein schien, ein Schlag ins Gesicht könnte mein Mütchen kühlen. Bushy trat mitten im Verkehr auf die Bremse und drehte sich um: »Ihr beiden - Schluss damit! Im Auto wird nicht gekloppt - das sage ich auch den Kindern.«

Miriam versuchte, mich zu schlagen, doch ich packte ihre Handgelenke, wodurch die Gefahr wuchs, dass sie mir einen Kopfstoß verpasste. Nachdem die Autos hinter uns zu hupen begonnen hatten, fuhr Bushy mit einer Hand weiter und versuchte, uns mit der anderen auseinanderzudrängen. Er schrie uns an.

»Noch mehr davon, und ich halte auf der Stelle an und werfe euch beide aus dem Auto! Mann! Ihr seid ja schlimmer als Kinder!«

Um sich zu beruhigen, beschloss Miriam, bei Henrys Wohnung auszusteigen. Sie wollte nicht hineingehen und ihn »belästigen«, sondern einfach draußen stehen und zu seinen Fenstern aufschauen, »weil ich daran denken will, dass er dort oben ist und mich nicht niedermacht - mich nicht wie ein Stück Scheiße behandelt - anders als du und Mutter und ihre hinterfotzige Freundin!«

Ich konnte Bushys Augen im Rückspiegel sehen. Ich zuckte mit den Schultern. Mir war schon seit langem klar, dass es sinnlos war, mit Miriam zu streiten. Bushy parkte das Auto nicht weit vom Fluss entfernt. Dann gingen wir zu Henrys Haus, und nachdem wir die zur Wohnung aufblickende Miriam eine Weile betrachtet hatten, sagte Bushy: »Na, los, Julia, rauf mit dir! Ich komme später wieder«, und wir gingen.

Vielleicht hatte Mutters Abenteuer Miriam Mut gemacht. Vielleicht war Mutter ein größeres Vorbild für sie, als die beiden sich eingestehen mochten. Auf jeden Fall wurde Miriams Beziehung zu Henry im Laufe der nächsten Wochen immer ernster. Und aufgrund einer Wendung der Dinge bekam ich mehr davon mit, als mir lieb war.

ELF

Miriam und Henry hatten begonnen, mein freies Zimmer für ihre Stelldicheins zu nutzen. Sie gingen jede Woche mindestens einmal ins Theater oder ins Kino, und wenn ich mit Freunden unterwegs war, Vorträge hielt oder einfach durch die Stadt schlenderte und über meine Patienten nachdachte, landeten sie anschließend in meinem Zimmer.

Sie hatten einen verschließbaren Schrank verlangt, in dem sie Tücher, Peitschen, frische Kleider, Amylnitrat, Vibratoren, Videos, Kondome und außerdem zwei Teeeier aus Metall aufbewahrten. Ich fragte mich, ob diese als Nippelklemmen benutzt wurden - oder sollte ich davon ausgehen, dass sich Henry und Miriam eine Tasse Orange Pekoe genehmigten, nachdem sie fertig waren? Diese neue Entwicklung hatte sich nach einer Krise in Henrys Wohnung angebahnt. Man hatte ihn ertappt.

Wir aßen mindestens einmal die Woche gemeinsam zu Mittag, immer in indischen Restaurants der Gegend, oft in solchen, die wir nie zuvor ausprobiert hatten. Das war eine Leidenschaft, und zwar nicht für die indische Küche, sondern auch für die ganze Deko des Restaurants, samt Flockentapete, erleuchteten Bildern von Wasserfällen oder dem Taj Mahal und den Kellnern in schwarzem Anzug und mit Fliege. Wenn ich durch London lief, hielt ich nach solchen Orten Ausschau, die, genau wie die Pubs, langsam schickeren Etablissements wichen.

Meine Theorie hatte immer gelautet, dass indische Restaurants - nur selten von Indern, sondern meist von Bangladeshis betrieben - die Erfahrung der Kolonialzeit für die britische Masse reproduzieren würden. Als wir uns setzten, teilte ich Henry daher mit: »So war es für deine Vorfahren, Henry, denen das Essen von unterwürfigen, ehrerbietigen Indern in Dienertracht serviert wurde. Hier kannst du dich fühlen wie ein König - aber das tust du ja sowieso.«

Die Theorie gefiel ihm, und hinsichtlich seines Mittagessens wollte er auf gar keinen Fall ein Kolonialist sein. Er ließ sich auch nicht milder stimmen, als ich erklärte, das Erlebnis sei »disneyfiziert«, womit ich sagen wollte, dass die wahren Produktionszusammenhänge verborgen blieben. Die Besitzer waren natürlich keine weißen Briten, sondern Bangladeshis aus dem ärmsten Land der Welt. Er wirkte leicht erschüttert, wenn auch nicht unbedingt bestürzt, als ich ihm erzählte, die Kellner hätten ihre Länder für den Westen im Stich gelassen. Henry meinte, dass sie nach allem, was ihre Vorfahren während der Kolonialzeit durchlitten hatten, ein Recht auf unseren Wohlstand hätten.

Im Restaurant unterhielt er sich mit den Kellnern über Tony Blair und Saddam Hussein, über ihr Heimweh und ihren Glauben, dass Gott sie retten, auf jeden Fall aber beruhigen werde; darüber, dass sie die Religion als Therapie benutzten. Er sagte sogar, dass er überlege, zum Islam zu konvertieren, obgleich die Freude an der Blasphemie eine zu große Versuchung für ihn wäre.

Nachdem wir bestellt hatten, sagte Henry: »Diese Leute kommen uns nicht wegen ihrer sozialen Stellung, sondern wegen ihres Glaubens lächerlich vor. Aber sie können sich glücklich schätzen. Diese Geschichten über Gott halten ja im Grunde alles zusammen. Sie sind doch bestimmt wirksamer als Antidepressiva, oder? In einer gottlosen Gesellschaft herrscht größere Verzweiflung als in einer gottesfürchtigen. Findest du nicht auch?«

»Keine Ahnung. Weiß ich wirklich nicht.«

»Dem stimmst du natürlich nicht zu, denn anders als ich kannst du auch von Glück reden.« »Kann ich das?«

»Du verdienst dein Geld damit, den lieben, langen Tag Frauen zu lauschen, die dich bewundern und idealisieren. In Gedanken habe ich dich immer einen >Sammler der Seufzer< genannt.«

Er fuhr fort: »Inzwischen bin ich natürlich in einem Alter, in dem ich mich ständig mit meinem Tod beschäftigen muss. Ich habe festgestellt, dass das Leben nicht einfacher wird. Wie viele andere alte Männer denke ich allerdings oft über die Lust nach. Andere Leute sind immer ein Störfaktor, das ist wohl nicht zu ändern, aber wenn es sich um Schauspieler handelt, kann ich sie immerhin dazu bringen, eine Rolle in meinen Szenarien zu spielen. Insoweit könnte man sagen, dass ich immer auf der Flucht vor meinen Leidenschaften gewesen bin. Ich hatte Angst, süchtig zu werden. Ich habe versucht, einen Ersatz dafür zu finden. Doch ich gestatte mir den Glauben, dass ich noch lieben kann.«

Henry hatte immer offen zugegeben, sich vor einem erfüllten Sexualleben gefürchtet zu haben. Er war ihm lange aus dem Weg gegangen, als hätte er eine Phobie davor, teils aufgrund von Schuldgefühlen, weil er, nachdem er endgültig begriffen hatte, wie absurd der Versuch eines gemeinsamen Lebens mit Valerie war, die Kinder verlassen hatte.

Er sagte: »Vor ein paar Jahren habe ich mich mal mit einer Schauspielerin getroffen, und ich weiß noch, dass sie mir erzählt hat, bei einem alten Mann eingeladen gewesen zu sein - irgendein hohes Tier. Seine Frau lag im Nebenzimmer im Sterben. Er bat die Schauspielerin, ihre Brüste zu entblößen, die er dann auch noch küssen wollte. Wir hielten das beide für würdelos. Jetzt werde ich ein solcher Mann.

Wenn man von den Rolling Stones und ihren Artverwandten absieht, bestand die wichtigste Erneuerung der Nachkriegszeit ganz eindeutig in der Pille, die den Sex von der Fortpflanzung abgekoppelt und zur beliebtesten Art der Unterhaltung gemacht hat. Allerdings - und das entbehrt nicht der Ironie - darfst du nicht vergessen, dass die Frauen während meiner Blütezeit nicht nur überall behaart waren, sondern auch Stiefel trugen. Sie trugen sogar Blaumänner. Sie hatten kurze, stachelige Haare und riesige, runde Ohrringe. Sie haben Straßen gefegt und auf dem Bau malocht. Angeblich war das eine historische Epoche, Mann. Wohl wahr! Alle diese Frauen arbeiten jetzt für Blair.

Heute sind die jungen Frauen wieder richtige Biester. London wimmelt von ihnen. Im Sommer könnte man in der Stadt angesichts all dieser unerreichbaren Schönheiten das Heulen kriegen. Aber in romantischer Hinsicht hat diese haarige Ära vielen von uns einen Schock fürs Leben versetzt. Einmal die Hand auf die falsche Stelle gelegt, und schon warst du ein Vergewaltiger. Es liefen Männer herum, die waren harmloser als eine entschärfte Granate. Ich war allmählich überzeugt, dass andere meinen Körper widerlich fanden, und was mich betraf, so fand ich die Körper anderer sowieso widerlich. Wir sind Lehmklumpen voller Lust. Oh, ich bin so unglaublich am Arsch.«

»Aber jetzt hast du Miriam.«

Er lächelte. »Ja, das stimmt. Und zu meiner Überraschung mag sie mich immer noch.«

Den Blick auf den Treibsand seines Dal gesenkt, erzählte er mir, dass sie immer in seiner Wohnung Sex gehabt hatten - bis gestern Abend. Gegen elf Uhr, sie trieben es gerade mit Seilen, Masken und einer Lyrik-Anthologie, ging plötzlich die Tür auf. Sekunden später reckten Sam und seine neueste Flamme - die junge Frau, die als Modejournalistin arbeitete und die wir nur als Pantoffel-Frau kannten - die Köpfe nach ihnen. Alle starrten einander an, bis Henry um Privatsphäre bat sowie darum, man möge Wasser aufsetzen. Miriam band Henry los, und die beiden zogen sich an. Sam wartete mit der Pantoffel-Frau in der Küche. Bushy fuhr Miriam nach Hause; alle gingen zu Bett.

Vor einem Jahr, als Henrys Sohn verkündet hatte, er wolle bei ihm leben, war Henry regelrecht in Panik geraten, in erster Linie vor Freude. Sam hatte immer bei seiner Mutter gelebt, aber schließlich war sie ihm zu peinlich geworden. Er hatte eine Freundin, mit der Valerie herablassend gönnerhaft umging: »Ja, was für hübsche Kleidchen! Hast du die selbst genäht?«

Sam nahm sich zum ersten Mal selbst eine Wohnung. Doch als er merkte, dass er nicht nur Miete zahlen, sondern auch Rechnungen begleichen und manchmal sogar Möbel kaufen musste und fast gar nichts für Drogen, Klamotten und Musik übrig hatte, zog er mit den Worten zu Henry: »Unfassbar, wie teuer diese Stadt ist!«

Henry hatte darüber gelacht, wie wenig Ahnung sein Sohn vom echten Leben hatte, und er hatte sogar seiner Tochter Lisa davon erzählt. Sie, die Realitätserfahrene, sagte: »Und da wunderst du dich, dass ich dich verachte!«

Da Henry seine Familie verlassen hatte, bevor seine Kinder im Teenager-Alter waren, rastete er beinahe vor Aufregung darüber aus, noch einmal ein Familienleben zu haben, bevor es zu spät dazu war. Nachdem Sam seinen Vater darüber in Kenntnis gesetzt hatte, zu ihm ziehen zu wollen, hatte Henry einen Blick in sein ungenutztes Zimmer geworfen, in dem sich verstaubter oder völlig verdreckter und nutzloser Müll türmte, und sein Herz hatte heftig gepocht. Wer würde das Zimmer für ihn ausräumen?

Da ihm niemand einfiel, legte er selbst los, dort und sofort, kroch die ganze Nacht auf allen vieren herum, machte im Zimmer klar Schiff und verklappte den Müll in der Straße um die Ecke unter einem Schild mit der Aufschrift »Müll abladen verboten«. In der folgenden Woche sah er sich des Öfteren gezwungen, an seinen kaputten Stühlen, Bilderrahmen und maroden Teppichen vorbeizulaufen.

So tatkräftig hatte ich ihn seit langem nicht mehr erlebt. Da er etwas Besessenes hatte, war er nicht zu bremsen, strich die Wände des Zimmers und überpinselte dabei gleich den Staub, der daran haftete. Im Habitat in der King's Street kaufte er Doppelbett, Lampe, Bücherregal und Teppich. Nach zwei Tagen Schufterei war es das sauberste und schickste Zimmer in der Wohnung, ja im ganzen Haus.

Henry freute sich riesig, als er am nächsten Tag seinen hoch aufgeschossenen Sohn erblickte, der mit einer Reisetasche die Treppe heraufkam. Wirklich beeindruckend, wie der Junge aussah, so kräftig, hübsch und charismatisch. Wie sollte er je im Leben scheitern? Und Henry freute sich noch mehr, als er hinter seinem Sohn eine Frau erblickte - deren Namen er inzwischen bestimmt glücklich verdrängt hatte -, beladen mit weiteren Tüten, die vor allem Schuhe enthielten. Sie wollte bei Sam wohnen, wenn sie in London war. Henry spendierte den beiden Champagner, glücklich über die Gelegenheit, sich als der Pater familias erweisen zu können, der er angeblich immer hatte sein wollen.

Er war so fest entschlossen, die Sache nicht zu vermasseln, dass er sie nur vermasseln konnte. Er ließ sich zeitig vom Wecker aus dem Bett werfen, um Frühstück für das Pärchen zu machen. Wenn ihre Kleider im Waschsalon in der Maschine steckten, nutzte er die Zeit, um im Supermarkt einzukaufen. An den nächsten paar Abenden kochte Henry, einen Anstecker mit der Aufschrift »Britisches Fleisch« auf der Brust, für seine »Familie«, ob sie nun Appetit hatte oder nicht. Da ihm bald keine Gerichte mehr einfielen, lief er im Regen zum Takeaway. Er abonnierte Sky und schaute abends mit den beiden Fernsehen, wobei er wie ein Wasserfall redete und seinem hingerissenen Publikum erklärte, wie ungeheuer dumm die Programme seien. Wäre es nicht viel schöner, wenn sie einander etwas aus Miltons Versepos Paradise Lost vorlesen würden? Man konnte Henry nicht begreiflich machen, dass seine intensive Intellektualität und seine apodiktischen Ansichten einschüchterten. (Miriam ließ sich nie von Henrys Monologen bedrücken oder beeindrucken. Sie ignorierte ihn, und wenn sie über etwas Wichtiges reden musste, übertönte sie ihn einfach.)

Nach einer knappen Woche bekam das glückliche Pärchen klaustrophobische Gefühle und mochte nicht mehr in die Wohnung zurückkehren, weil Henry ihnen dort mit einer neuen Überraschung auflauerte. Sam rief bei seiner Mutter an, die wiederum bei Henry anrief und ihm befahl, er solle sich einkriegen. Das empfand er als Einmischung und beschimpfte sie. Doch er kriegte sich ein. Eine ganze Weile funktionierte das Zusammenleben reibungslos, und wenn die Pantoffel-Frau oder eine andere Eroberung seines Sohnes in der Wohnung war, belästigte er sie nicht mehr mit seinen Gunsterweisen.

Nun sagte Henry: »Jamal, ich muss mich bei dir bedanken. Diese Leidenschaft für Miriam kam wirklich aus heiterem Himmel. Ich denke oft über all die verpassten Gelegenheiten und meine Fehlschläge in Sachen Romantik nach. Die Liebe ist das einzige Katastrophengebiet meines Lebens, aber was soll's - ich habe ja anderes geschafft. Aber ich empfinde so viel für sie. Wenn sie schläft, sitze ich neben ihr, weil sie das beruhigt. Ich drehe ihr Joints.

Ich habe sie meinen Freunden vorgestellt, und das macht sie nervös, weil sie glaubt, in Gesellschaft nichts zu taugen - alle sind ständig am Quasseln, und sie bildet sich ein, zu wenig zu wissen. Aber sie hat sich tapfer geschlagen, sie ist wunderbar, und sie kann mit jedem reden. Wir haben einander wieder Appetit gemacht.

Und dann rennen Sam und die Pantoffel-Frau vorzeitig aus einem Woody-Allen-Film - unerhört, oder? - und erwischen Miriam und mich beim Sex auf dem Fußboden.«

»Was hat Sam dazu gesagt?«

»Tja, die Frau war am nächsten Morgen wie vom Erdboden verschluckt. Sam und ich haben uns wie üblich an den Frühstückstisch gesetzt, aber er war ziemlich mürrisch. Ich bin wütend geworden, weil er nicht mit mir über die Sache reden wollte, und dann hat er plötzlich gesagt, er habe der Frau einen Heiratsantrag gemacht. Aber nun habe sie mich auf dem Fußboden bei verstörend abartigen Sexualpraktiken erlebt.«

»Und?«

»Sam meint, dass seine Verlobte mir nie wieder ins Gesicht sehen könne, ohne daran zu denken, dass ich mit einem Propfen im Arsch auf einen Stuhl gefesselt war. Ich habe ihm gesagt, eine schönere Erinnerung an mich könne es doch gar nicht geben. Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon. Und ich glaube, ich habe tatsächlich irgendwo eines.«

Danach kam Sam mit seinen Vorwürfen nicht mehr weiter, denn Henry, gereizt wegen des Hochzeitsgeredes, sagte ihm, dass er noch zu jung zum Heiraten sei und außerdem zu viel in der Gegend herumficke. Der Junge möge Mädchen, er habe sich nicht auf die Pantoffel-Frau festgelegt, und deshalb sei es höherer Blödsinn, sich in seinem Alter fest an eine Frau zu binden.

»Ich habe gemerkt«, sagte Henry, »dass ich ins Schwadronieren kam. Aber ich bin der Vater des Jungen, und ich habe das Recht, ihm gute Ratschläge zu geben, bis er vor Langeweile stirbt. Vor allem musste ich aber unbedingt mit der Pantoffel-Frau reden. Ich habe Sam gesagt, sie solle sich mit mir treffen, und dann würde ich sie über die Welt, alte Männer und die Vielfalt prähistorischer Sexualerfahrungen aufklären. Danach würde ich um Entschuldigung bitten, und sie könnten ihr Leben weiterführen, ohne von mir behelligt zu werden.« Er fügte hinzu: »Sie wünschen sich einen alten, würdevollen Großvater - impotent, handzahm, ohne große Ansprüche -, der in einer Ecke sitzt und nichts Besseres zu tun hat, als sich den Mund mit Whisky zu spülen. Eine Rolle, auf die ich nur spucken kann. Meine Würdelosigkeit ist jetzt mein einziger Stolz.«

Seit dem Vorfall war die Pantoffel-Frau nicht mehr in der Wohnung gewesen. Sam wollte auf keinen Fall, dass Henry mit ihr redete, angeblich, weil sie aus einer »guten Familie« stammte.

»Gute Familie? Hast du die Leute je kennengelernt?«

Offenbar hatte der Junge gesagt: »Die Leute achten dich als Regisseur, ja sogar als Menschen, Dad. Du bist ein Künstler, und du hast Rang und Namen auf der Welt. Kaum jemand ist so begabt wie du. Wie kannst du dich so gehen lassen?«

»Ich lasse mich genau so gehen, wie es mir passt«, hatte Henry erwidert.

»Und was ist mit uns?«, hatte Sam gefragt.

Henry sah mich an. »Ich habe ihm gesagt: >Ich bin immer irgendwie für dich da gewesen<. Aber das war noch nicht alles, Jamal. Er hat mich beschuldigt, die Pantoffel-Frau lüstern anzustarren. Meine Blicke würden wie klebrige Finger auf ihrem Körper liegen. Außerdem hat er mir noch vorgeworfen, dass mir die männlichen Freunde, die bei ihm vorbeikämen, völlig egal seien - diese lebhaften Jungen, die das ganze Leben noch vor sich hätten. Er hat mich einen dreckigen alten Lüstling genannt und behauptet, ich wäre neidisch auf die jungen Männer.«

An diesem Punkt hatte Henry die schlaue Idee, die Pantoffel-Frau des Exhibitionismus zu bezichtigen. Sie wolle doch nur seine Aufmerksamkeit erregen, wenn sie fast nackt durch die Wohnung laufe. »Nur mit einem Fetzen Flitter - und wie ein Flittchen, kapiert? Ich kann heutzutage kaum noch eine Frau anschauen, ohne mich zu fragen, wie viel sie verlangt.«

Sam erwiderte, der wahre Exhibitionist sei Henry selbst mit seinem »verrückten Gerede«. Daraufhin hatte Henry die Fassung verloren, den Jungen angebrüllt und, wie ich seinen Worten entnehmen zu können glaubte, auf recht unbeholfene Art versucht, ihm eine zu langen. Aber das hatte nicht richtig geklappt, und der Junge war die Treppe

hinuntergerannt und hatte seinen Vater beschimpft und »pervers« genannt.

»Das steht dir noch bevor«, sagte Henry zu mir. »Dass sich deine Kinder gegen dich wenden, mit einem abgrundtiefen und völlig rätselhaften Hass.«

Als die Diva, die Henry im Falle von Kummer sein konnte, war er danach auf dem Fußboden zusammengebrochen, die Hand wie vor die Stirn geklebt. Wie immer, wenn er Probleme hatte, rief er bald darauf mich, seine Ex-Frau Valerie und einige andere frühere Freundinnen an, mit denen er jahrelang gefühlsneutralen - oder gar keinen - Sex gehabt hatte. (Auch wenn die Trennung von einer Frau viele Jahre her war, ließ Henry sich nicht davon abhalten, mit ihr täglich, oft sogar stündlich, über die persönlichsten Dinge zu reden.)

Danach war er zu Bett gegangen. Dort hatte er einen Anruf von Lisa erhalten, die ihm sagte, auch sie sei von der Sache »angekotzt«. Nicht, dass sie in irgendeiner Weise Zeugin des Vorfalls gewesen wäre, aber sie hatte durch ihren Bruder davon erfahren. Henry ging ganz gut damit um und teilte beiden Kindern mit, dass sie das verdammt nochmal nichts angehe. Würde er ihnen vielleicht vorschreiben, wie sie zu vögeln hätten?

»Angekotzt!«, wiederholte er in einem fort, »angekotzt! Ist das etwa das Furchtbarste, was sie je gesehen haben? Ja, in welcher Welt leben sie denn?«

Henry war verzweifelt, weil Sam gedroht hatte auszuziehen. Er hatte erwidert, das werde er nicht zulassen. Er werde Sam überallhin folgen und ihn am Kragen zurückschleifen oder sich draußen vor seine Haustür legen, egal wo. Die Sache war komplett schief gelaufen. Ich erinnerte Henry daran, dass er jetzt Miriam habe - der er viel Zeit widme -, was in Sam zwangsläufig Feindseligkeit wecke. Sam wollte nicht das Gefühl haben, seine Mutter zu verraten, indem er mit Henry und dessen neuer Freundin, Miriam, abhing, jener Frau, die Henry zu guter Letzt wirklich liebte.

»Ja«, sagte er, »das verstehe ich.«

Obwohl Henry aller Welt erzählt zu haben schien, dass er von seinem Sohn in flagranti erwischt worden war, hatte er Miriam die Reaktionen von Sam und Lisa verschwiegen. Nicht, dass Miriam gefragt hätte - sie kam gar nicht darauf, dass sich Henrys Mittelschicht-Kinder über eine so harmlose Sache aufregen könnten.

Obwohl der Vorfall und seine Nachbeben für Verwirrung sorgten, konnte ich feststellen, dass Henry sich dadurch nicht seine Freuden trüben ließ, die sich mit jedem Tag weiter entfalteten. Henry hatte immer fasziniert und angeekelt zugleich gelauscht, wenn seine schwulen Freunde von ihren Abenteuern in Clubs und Bars, auf der Hampstead Heath, ja sogar auf der Straße erzählten. Am liebsten wäre er einmal mitgenommen worden, um die Sache mit eigenen Augen zu sehen, hatte aber nie genug Mut gehabt. Außerdem hatte er sich gefragt, ob eine solche Lebensweise auch einem Hetero gefallen würde.

Ein paar Tage nach unserem Abendessen war Henry bei Miriam. Sie zeigte ihm ihre Fotos: Mutter und Vater; sie und ich in Pakistan; ihre Kinder in jüngeren Jahren; der Mann, der sie verprügelt hatte; ihre Lieblingstätowierungen.

»Und das da?« Er zeigte auf ein verschnürtes Fotoalbum.

»Mein schwarzes Album?«, sagte sie. »Schmutzige Bilder. Mein erster Mann hat mich oft in Posen fotografiert und die Bilder dann an Pornohefte geschickt, Reader's Wives und so. Er bekam fünfzig Pfund dafür. Ein paar dieser Fotos sind in dem Album, außerdem welche von Partys und Orgien und Sachen, die wir mit den Nachbarn abgezogen haben.« Sie begann, das Band aufzuschnüren. »Wenn du dir diese Fotos anschaust«, sagte sie, »musst du mir aber versprechen, nicht angepisst zu sein.«

Henry erzählte mir: »Ich habe mir die obszönen Bilder angeschaut, die billigen Klamotten und die fertigen Leute, und ich war angepisst, weil sich so etwas in stinknormalen Wohnungen abgespielt hat, während ich zu Hause saß und ein Buch las. Und es hat mich erregt. Am gleichen Vormittag hatte ich noch überlegt ob ich nicht doch besser ein bisschen kürzer treten sollte. Ist ja immerhin meine zweite Lebenshälfte, und bald holen mich die Zipperlein ein. Jetzt wären eigentlich das Malen dran, die Enkelkinder, geruhsame Urlaube mit einem Buch, das ich immer schon lesen wollte, Interviews über mein Lebenswerk, meine Ansichten zu den letzten fünfzig Jahren.

Neulich war ich bei Freunden auf einer Party. Beim Eintreten stellte ich fest, dass alle graue oder weiße Haare hatten. Sie waren alt und erledigt, genau wie ich. Ich habe diese Leute mein ganzes Leben gekannt.

Ich glaubte schon, vor Langeweile sterben zu müssen, bis ich erfuhr, dass es noch einen anderen Weg gibt. Der Teufel rief mich! Endlich bekam ich seine Aufmerksamkeit!«

Wegen der vielen Kinder und des Chaos und weil überall jemand schlief, konnten die beiden bei Miriam keinen Sex haben.

»Nach dem Betrachten dieser Fotos war ich so heiß, dass ich sie gedrängt habe, mit mir in den Schuppen hinten im Garten zu gehen, wo Bushy unter Wärmelampen sein Dope züchtet. Dort lag eine ziemlich verwarzte Matratze. Ich fand es unfassbar, in meinem Alter noch einen so unbändigen Trieb zu verspüren. Sex ist der Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn, Jamal.«

»Hattest du das vergessen?«

»Als wir unsere Hosen wieder hochgezogen haben, habe ich gefragt: >Warum können wir das nicht auch machen?< Also habe ich eine Polaroid, ein paar perverse Spielzeuge und eine kleine DV-Kamera gekauft. Ich habe natürlich schon Filme gedreht. Aber solche nicht.

Wahrscheinlich darf ich sie dir nicht zeigen, denn es ist ja deine große Schwester. Aber wenn ich diese Pornos drehe, muss ich sie zwangsläufig in kleine Kinofilme verwandeln. Ich kann sie auf dem Laptop meines Sohnes schneiden! Ich habe sie sogar mit Musik unterlegt, mit ein paar lockeren brasilianischen Melodien. Sie werden dann zu kleinen Komödien.

Und dann«, sagte er, »sind wir noch weiter gegangen. Wir haben diesen Laden besucht, der sich in Südlondon unter den Eisenbahnbögen befindet.«

Er beschrieb eine schlichte Tür unter einem Eisenbahnbogen in einer abgewrackten Ecke Südlondons. »Ben Johnson hätte sofort gewusst, was sich dahinter verbirgt.«

Bushy hatte die beiden von einer Filmvorführung abgeholt und gemeint, vielleicht wollten sie einen »Blick riskieren«. Er fuhr regelmäßig ein bestimmtes Paar dorthin. Ja, man hatte Bushy sogar gebeten, auf einer der Partys Gitarre zu spielen. Er hatte geprobt und versucht, sich seelisch darauf vorzubereiten, aber kurz vorher hatte er dann doch zu viel Lampenfieber gehabt. Wie sich an der Tür herausstellte - Bushy hatte vergessen, sie darauf hinzuweisen -, kamen Miriam und Henry nicht in Zivil hinein. Sie mussten die Fetisch-Kluft tragen, Gummi, Leder oder Uniform. Die Alternative bestand darin, den Laden nackt zu betreten.

Henry sagte: »Ich habe gelacht. Das war völlig neu für mich. Ich hatte nie im Leben nackt ein Gebäude betreten. Miriam offenbar schon. Es war zwar kalt, aber nackt klang irgendwie gut, fand ich. Ich habe ja auch bei einem nackten Lear Regie geführt.«

»Wie sollte ich das je vergessen? Sogar die Töchter waren nackt.«

»Zum Unglück der Zuschauer können es alte Männer gar nicht erwarten, ihre Kleider abzuwerfen. Ich habe meine Scham niedergekämpft. Miriam ist dieser Anstandsballast sowieso fremd. Also stand ich da, nackt bis auf die Schuhe, mein Schwanz ein Schrumpelchampignon. In dem Bumslokal war es allerdings warm und angenehm, und jeder grüßte freundlich. Ich war ziemlich schnell begeistert.

Es gab Leute an Hundeleinen, Leute, die in der Wanne lagen, um sich bepinkeln zu lassen, andere hingen kopfüber an einer Schlinge oder reihten sich ein, um ausgepeitscht zu werden. Die Leute drängelten sich - ja, sie überstürzten sich förmlich, um einander ihren Körper zur Verfügung zu stellen! Ich habe Miriam in ein kleines Zimmer begleitet, wo sie sich hingelegt hat und befriedigt wurde.

Dann traf ich einen dreiundzwanzig Jahre alten Mann, einen Kellner, dessen größtes Vergnügen darin besteht, anderen die Schuhe abzulecken. Er weiß, was er will und was ihm gefällt, obwohl er noch blutjung ist. Wirklich, Jamal, ein solches Gemeinschaftsgefühl habe ich seit meinen Tagen als Sozialist nicht mehr erlebt.«

Ich musste lachen. »Tu nicht so, als wärst du Mitglied der Fabian Society gewesen, Henry.«

»Den Leuten stand ihre Lust ins Gesicht geschrieben! Hat Nietzsche nicht etwas darüber geschrieben? Wie kannst du da lachen? All das hast du bestimmt schon von den Leuten gehört, die bei dir auf der Couch liegen.«

»Ich muss nicht über dich lachen, Henry, sondern über dein Bedürfnis, deinem Tun eine solide intellektuelle Grundlage zu geben.«

»Aber in Die Geburt der Tragödie«, sagte Henry, »schreibt Nietzsche über Ekstasen, über das Singen und Tanzen und darüber, wie jemand selbst zum Kunstwerk wird, anstatt nur der Betrachter eines solchen zu sein. Das ist doch schon vor Freud gedacht worden. Kein Wunder, dass er sich geweigert hat, Nietzsche gründlich zu lesen. Er wusste, dass darin eine Bedrohung lag, eine Gefahr.«

Henry und Miriam waren bis zum frühen Morgen auf der Sexparty geblieben, hatten sich unterhalten, getrunken, Körper betrachtet. Ich fragte ihn, ob er eifersüchtig sei oder ob es nur darum gehe, die Eifersucht zu besiegen.

»Weder noch«, antwortete Henry. »Wenn ich sie mit einem anderen Mann sehe, denke ich immer nur, dass er ein Diener ihrer Lust ist.«

»Und du bist dir sicher, dass es ein gemeinsamer Wunsch war?«, fragte ich.

»Ganz sicher«, erwiderte er. »Wir wollten es beide. Und es war ganz bestimmt nicht das letzte Mal.«

ZWÖLF

Ich hatte Ajita lange genug beobachtet und zugehört. Es war an der Zeit, sie mit meinem Verdacht zu konfrontieren. Aber als ich sie am Tag nach meinem Besuch bei der Fabrik traf, merkte ich sofort, dass ihr zu viel auf der Seele lag. Meinem Gefühl nach war es nicht der passende Zeitpunkt, um die Sache anzusprechen.

»Der Streik wird schlimmer«, erzählte mir Ajita. »Diese Leute sind von Tag zu Tag entschlossener, uns zu zerstören. Ich glaube nicht, dass sie klein beigeben werden. Dad will ihnen auf jeden Fall die Stirn bieten. Aber eine Seite wird nachgeben müssen.«

Anders als sonst las oder lernte sie nicht, und sie aß auch nicht so viel Pizza wie üblich. Ich sagte ihr, sie dürfe ihr Studium nicht vernachlässigen. Ich begann, sie in die Bibliothek zu begleiten. Dort saß ich neben ihr, beobachtete sie, während ihr Blick über die Seiten glitt, und half ihr bei den Notizen, aber in ihrer seelischen Verfassung konnte sie mit Philosophie nicht viel anfangen. Sie warf mir die Notizen quer über den Tisch hin, und dann mussten wir in einen Pub gehen, weil sie plötzlich redete wie ein Wasserfall.

»Ich habe richtig Angst, Jamal. Diese Kommunisten sind wild entschlossen, und meine Familie verliert die ganze Zeit Geld.« Vielleicht stand ich auf der anderen Seite, aber sie war meine Freundin. Was sollte ich sagen? »Wenn das noch lange so geht, sind wir bankrott und müssen bei Verwandten in Indien unterkriechen. Die ganze Familie wird ruiniert sein und sich Schande gemacht haben.« Ajitas Mutter war immer noch fort. Sie rief an und erfuhr von dem Streik, hatte aber nicht vor zurückzukehren. Sie wollte, dass die Kinder in den Sommerferien zu ihr nach Indien kamen, damit der Vater die Sache mit dem Streik regeln konnte. Das beunruhigte mich. Ich wollte nicht, dass Ajita wegfuhr. Ich wollte die ganze Zeit mit ihr verbringen. Sechs Wochen waren eine Ewigkeit.

Manchmal sah ich einen Ausdruck fast panischer Angst auf Ajitas Gesicht. Wir hatten regelmäßig auf den Klos oder in den Kammern der Bibliothek, in ihrem Auto oder Haus Sex gehabt, doch nun schliefen wir kaum noch miteinander, außer ich bestand darauf. Sie war mit den Gedanken woanders. Der Beziehung ging langsam die Luft aus.

Da ich nicht allein herausfinden konnte - und auf gar keinen Fall fragen mochte -, wie sie mich betrog, kam ich auf die tolle Idee, ihr zu gestehen, dass ich ihr untreu gewesen war. Fast unmittelbar nach meinem ersten Verdacht, dass Ajita mir untreu sein könnte, hatte ich sie auch tatsächlich betrogen, im Glauben, eine kleine Revanche würde das Gefühl lindern, hintergangen zu werden. Dann hätte sie die gleiche Sorge wie ich.

Eine Woche zuvor hatte ich meine frühere Geliebte besucht, Sheridan, um ein Gemälde abzuholen, das sie mir geschenkt hatte. Wie so oft gingen wir dann nachmittags miteinander ins Bett. Sie war eine Buchillustratorin, fünfunddreißig Jahre alt und geschieden. Die Kinder waren in der Schule, und wenn sie nach Hause kamen, standen wir immer auf und kochten ihnen etwas zu essen. Meine Liebe galt vor allem der pädagogischen älteren Frau in ihr. Sie nahm mich zum Billardspielen mit in ihren Club, wo sie mich einigen sagenhaften Saufnasen vorstellte, aber auch Slim Galliard, der mich tief beeindruckte. Sehr unwahrscheinlich, dass noch viele Leute am Leben waren, denen Kerouac zwei Seiten in On the Road gewidmet hatte. Kerouac schildert, wie Slim in San Francisco frei herumassoziierte -»Great-all-oroonie, oroonirooni« - und währenddessen fast unhörbar mit den Fingerspitzen seine Bongos schlug, unterbrochen von Dean Moriarty, der auf der Rückbank »Weiter so!« und »Jawoll!« brüllte. Slim sah immer noch gut aus, war elegant und besaß die Höflichkeit eines wahren Gentlemans. Ich hatte noch nie einen Mann gesehen, der so feine Anzüge trug. Sheridan und ich aßen mit ihm zu Abend, doch seine Liebe galt den Frauen - dies war der Mann, der Little Richard gekannt und Affären mit Ava Gardner, Lana Turner und Rita Hayworth gehabt hatte.

Aber als ich Ajita von meiner kurzen Rückkehr zu Sheridan erzählte, schien meine Untreue ihr kaum etwas auszumachen. Eifersucht war doch das Chili der Liebe, und eigentlich hatte ich erwartet, ihre Zunge würde so heftig brennen, dass sie ihr Geheimnis zwangsläufig preisgeben würde. Aber ihr brannte nichts auf der Zunge. Daher konnte ich nur vermuten, dass sie das Gleiche getan hatte wie ich. Ich musste unbedingt die Details hören, denn ich wollte wissen, woran wir miteinander waren.

Ich bestürmte sie mit Fragen, wollte wissen, woher sie all die Erfahrung habe. Mache sie es noch mit jemand anderem? Habe sie nebenbei etwas am Laufen?

»Naja«, erwiderte sie, »ich habe andere Freunde gehabt, so wie du andere Freundinnen. Aber du willst bestimmt nichts davon hören, oder? Das würde dich nur beunruhigen, Jamal«, sagte sie und streichelte mein Gesicht.

»Ja, schon«, sagte ich. »Aber ich bin sowieso beunruhigt. Stimmt es, dass wir beide vor kurzem untreu gewesen sind?« »In gewisser Weise«, antwortete sie. »Nur in gewisser Weise?« »Ja«, sagte sie.

»Dann liege ich also richtig«, sagte ich. »Dann weiß ich ja, was los ist. Endlich ein Stück Wahrheit! Dem Himmel sei Dank! Ajita, ich glaube, jetzt sind wir quitt.«

»Nicht ganz.«

»Wie meinst du das?«

Sie schwieg.

Warum begehrte sie nicht nur mich? Um welche Art von Untreue hatte es sich gehandelt? Wie konnte sie, da sie doch die meiste Zeit mit mir verbrachte, noch bei einem anderem sein? Und wenn sie nicht bei mir war, besuchte sie eine ihrer vielen Freundinnen oder ihre Familie. Wie war es passiert? Je mehr sie sich weigerte, mir alles zu beichten, desto stärker quälte mich die Sache. Ein so fieses, ätzendes Gefühl des Unglücks war mir neu. Sie konnte nicht mit Absicht so grausam gewesen sein. Unmöglich, dass die Frau, in die ich mich verliebt hatte, so etwas tat. Wie sollte ich mich davor schützen? Als Valentin und Wolf auffiel, wie abgemagert und müde ich aussah, gestand ich, Probleme mit Ajita zu haben, und sagte: »Ich glaube, sie geht fremd.«

Sie mochten Ajita; sie glaubten mir nicht und taten meine Klagen als banales Beziehungstrara ab. Sie waren offenbar der Meinung, ich hätte zu eifrig studiert. Und das stimmte, denn inzwischen las ich sehr viel. Aber ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Warum begriff Ajita nicht, wie sehr mich die Sache belastete? Wo war denn ihre Liebe für mich geblieben?

Als ich darum bettelte, sie möge mir erzählen, was los sei, beachtete sie mich kaum. Sie wirkte zerstreut. Ja, sie sah wirklich nicht so aus, als wäre sie bei einer überflüssigen Untreue oder einer gedankenlosen Zügellosigkeit ertappt worden, bei der sie ihrer Lust Vorrang vor meinen Gefühlen eingeräumt hatte.

Je größer und bedrückender dieses elende Geheimnis für mich wurde, desto hartnäckiger hakte ich nach. Doch sie schwieg sich ebenso hartnäckig darüber aus.

»Es ist nichts«, sagte sie. »Bitte versteh das. Ich liebe dich und würde dich auch heiraten, wenn du mir einen Antrag machst. Aber ich habe so viele andere Dinge um die Ohren, das weißt du doch.«

Ein Nichts also, aber eines, das jetzt als großes Irgendetwas zwischen uns stand. Diese Wunde schmerzte mich immer mehr, und Ajita und ich hatten einander immer weniger zu sagen. Unterdessen nahm meine kriminelle Karriere einen neuen Anlauf. Wolf hatte mich mit Kokain bekannt gemacht, und wenn ich es genommen hatte - und danach zum ersten Mal in meinem Leben redete und redete -, verstrickte ich mich in völlig überflüssige Gespräche.

Valtentin und Wolf hatten immer wieder sogenannte Coups geplant. Aber ob sie mich nicht mit einbezogen, sie vor mir geheim hielten oder ob diese Coups, was meine Vermutung war, nie stattgefunden hatten, auf jeden Fall bekam ich keine Resultate zu Gesicht. Einmal kreuzte Wolf allerdings in einem rosa Cadillac auf, den er im Gegenzug für dies oder das bekommen hatte. Nach ein paar Kurven in den schmalen Straßen West Kensingtons »wurde« das Auto allerdings verschwunden. Ein anderes Mal zockten sie Geld bei einer Frau ab, deren Mann zu einer Haftstrafe verurteilt werden sollte und der sie weisgemacht hatten, sie würden den Richter bestechen. Als sie das Geld für sich behielten, schwor die Frau Rache. Allem Anschein nach plante Valentin einen Coup im Kasino: Er wollte dafür sorgen, dass Wolf beim Blackjack gewann, doch die meisten ihrer Pläne waren heiße Luft. Sie überlegten immer nur laut, was sie mit dem erbeuteten Geld anfangen würden und welcher Teil von Südfrankreich sich am besten als Gangster-Exil eignete. Ja, ein Boot wäre super, aber was für eines? Sie erörterten sogar die Einrichtung ihrer Apartments und stellten sich vor, ihre Tage mit Zeitungslektüre, Essen, Schwimmen und Sex sowie damit zu verbringen, anderen Kriminellen brüderlich auf die Schulter zu klopfen. Als ich mich einmal ziemlich sarkastisch über ihre Fähigkeiten als Gangster äußerte - ich nannte sie »sehr, sehr kleine Kleinganoven« -, fragte mich Wolf, ob ich, da ich ja offenbar so schlau sei, vielleicht bessere Ideen hätte. Das bejahte ich.

Eines Morgens nahm ich Valentin und Wolf mit zu Ajita. Dort zeigte ich ihnen das Haus gegenüber und erklärte ihnen, dass das darin wohnende Paar stets am Donnerstag wegfahre und am Montagvormittag zurückkehre.

Ein paar Tage später, an einem Freitag, als Ajita im College, ihr Vater bei der Arbeit, ihr Bruder in der Schule und die Tante auf dem Markt war, brachen wir in das Haus gegenüber ein und stahlen einen Haufen Zeug. Befremdlich war, dass Wolf darauf bestand, auch Besen und Kehrblech zu entwenden, um hinterher durchfegen zu können. Wie Valentin mir erzählte, hatte ein krimineller Kumpel Wolf erzählt, dass echte Schurken immer sehr ordentlich seien. Wir schleppten die Beute zur Hintertür hinaus, durch Ajitas Garten und in die Garage. Sobald Wolf und Valentin fertig waren und es dunkel zu werden begann, verschwanden sie.

Bei den Opfern handelte es sich um ein altes Ehepaar. Wir hatten die Ersparnisse ihres Lebens geplündert und ihnen aus nichtigen Gründen das Herz ihres Lebens herausgerissen. Die Sache war einfach gewesen; so einfach, dass ich nachhaltig beeindruckt war. Es gab nicht einmal Fensterschlösser. Wolf hatte früher als Bauhandwerker gearbeitet und wusste, wie man Scheiben herausnahm. Da ich klein war, konnte ich hindurchkriechen und die anderen einlassen. Ich fand es schrecklich, ein fremdes Haus zu schänden und mich darin aufzuhalten, obwohl Einbrecher natürlich nicht daran denken dürfen, was die Bewohner bei ihrer Heimkehr empfinden. Als Krimineller kann man vor allem eines nicht gebrauchen, und das ist Phantasie.

Ich wusste nicht so genau, was Valentin und Wolf geklaut hatten. Sie hatten mehrere Beutel gefüllt: mit Wand- und Armbanduhren, Zierrat, Bildern und vermutlich auch mit Silber und Schmuck. Ich schlug den beiden vor, die Beute zurückzubringen, falls sie das wollten, noch hätten wir Zeit dazu. Wenn ich bedenke, wie massiv die Schuldgefühle waren, die mich wegen des Diebstahls plagten, kann ich nur zu dem Schluss gelangen, dass ich kein geborener Gangster war.

Es sollte ein Fest der Verbrecher werden. Valentin und Wolf verhökerten umgehend die Beute und verbrachten den restlichen Tag mit dem Kauf von Anzügen und Schuhen. Sie luden mich zum Dinner ein, und im Anschluss besuchten wir einen Club - gegenüber vom Museum für Naturgeschichte -, wo Valentin als Rausschmeißer gearbeitet hatte. Ich hatte viel getrunken und hätte am liebsten alle Gesetze gebrochen, denn nun kannte ich ja endlich die ausufernde Lust an Grausamkeit und Korruption.

In diesem Club setzte sich irgendwann eine Frau neben mich - für mich schon eine ältere Frau, eine Art Colette-Heldin, denn sie war ungefähr Ende zwanzig - und schob meine Hand unter ihr Kleid. Am Ende des Abends, als ich sagte, ich müsse den Zug in die Vororte nehmen, schlug sie vor, zu der Pension in Westkensington zu fahren, wo Wolf und Valentin später zu uns stoßen würden. Dort angekommen, ging sie mit den Worten in Wolfs Zimmer, sie müsse sich »vorbereiten«. Als sie mich hereinbat, war sie nackt bis auf einen ellenbogenlangen Samthandschuh und mehr als willig, mir einen zu blasen. Bevor sie ging, fragte ich noch, ob sie sich am nächsten Nachmittag einen Film mit mir anschauen wolle. Das gehe nicht, erwiderte sie, denn sie habe einen »Kunden«. Welche Art von Kunde, wollte ich wissen. Einen Mann, erwiderte sie, was denn sonst?

Ich hatte Valentin und Wolf schon erzählt, dass mit Ajita und mir etwas nicht stimmte, dass sie mich betrog und mir nicht sagen wollte, mit wem. Sie wussten zwar, dass ich es mit der Nutte gemacht hatte, aber sie mochten Ajita und rieten mir, die Sache wieder einzurenken. Andererseits wollten sie nicht, dass ich emotional verletzt wurde.

Wir schliefen noch miteinander, wenn wir uns trafen, aber es war unfroher Sex, die schlimmste Form, und mein Gefühl der Einsamkeit wurde dadurch noch stärker. Meine Nerven knisterten und knackten in einem fort wie bloßgelegte Elektrokabel. Ich redete mir ein, meine Gedanken unter Kontrolle zu haben und in jene Richtung lenken zu können, die ich für notwendig hielt, doch ich merkte, dass ich mir etwas vormachte.

»Sag mir, wer es ist, und dann räumen wir die Sache aus der Welt«, wiederholte ich, doch sie weigerte sich wie üblich. Ich fragte sie, ob ich irgendwelche Macken hätte und ob sie sich deshalb etwas bei jemand anderem abholen müsse.

»Macken?«, sagte sie. »Aber du hast mich nicht enttäuscht. Du hast alles, was ich will.«

»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte ich. »Es muss doch an mir liegen. Und wenn nicht«, fuhr ich fort, »dann verrat mir, welche Vorzüge dieser andere Mann besitzt. Jene Vorzüge, wegen denen du ihn begehrst.« All das ließ meine Phantasie natürlich Amok laufen. Mein Nebenbuhler nahm in meiner Vorstellung allmählich die Gestalt eines Riesen an.

»Wieso glaubst du, dass ich ihn begehren würde?«, fragte sie. »Kannst du mich denn nicht von dieser Qual erlösen?« »Gut«, sagte sie. »Setz dich und hör zu.« Und sie beichtete mir die Wahrheit.

Ich lief tagelang mit dieser Wahrheit herum und versuchte, sie irgendwie zu verdauen. Denn als ich sie hörte, glaubte ich - wirklich und wahrhaftig und ohne Aussicht auf Umkehr -, verrückt zu werden.

DREIZEHN

Sie erzählte mir Folgendes.

Die Sommerferien rückten näher. Wir waren seit acht Monaten zusammen. Sobald es warm genug war, nahmen wir unsere alte Gewohnheit wieder auf und legten uns mit Radio und Büchern, Wein und Zigaretten in ihrem Garten auf die Decke. Ich hatte ihre Füße und Fußgelenke massiert und gestreichelt und fragte mich, ob sie jetzt bereit wäre, mit mir zu schlafen. Doch ich sagte: »Vor ein paar Wochen habe ich mir die Fabrik angeschaut.«

»Wirklich?«

Ich erzählte ihr, dass ich die Streikposten hatte sehen wollen, die Studenten, den ganzen Aufruhr. Ich sagte, ich habe sie in die Fabrik fahren sehen, halb auf der Rückbank verborgen.

»Das ist kein Geheimnis«, erwiderte sie und berührte mich zärtlich am Gesicht. »Du hast mich nie danach gefragt.« Sie begann, sich anzuziehen oder wenigstens zu bedecken, als wäre sie für das, was sie mir zu sagen hatte, nicht passend bekleidet. »Du löcherst mich nun schon seit einer Ewigkeit wegen meiner Liebhaber, wie du sie nennst.«

»Löchern? Wie wäre es mit der heilsamen Wahrheit? Du hast meinen Verdacht kein einziges Mal entkräftet.«

»Ich kann dich nicht daran hindern zu fragen«, sagte sie. »Du willst alles wissen, und das mag ich an dir. Deshalb werde ich dir jetzt alles erzählen, und danach wirst du still sein, o ja.«

»Du hast etwas mit Valentin, oder?«

»Was?«

»Wolf?«

»Er würde schon eher in Frage kommen.« »Warum?«

»Er lässt nicht locker und hat weniger Skrupel, was dich betrifft.« »Hat er dich etwa angemacht?«