2

Der Anruf kam Mitte September, gleich nach den hohen Feiertagen; er kam völlig unerwartet. Als die Stimme am Telefon sich als Bertram Lamden vorstellte, verband Rabbi Small ihn nicht sofort mit Rabbi Lamden, dem schnurrbärtigen, dunkelhäutigen jungen Mann, dem Hillel-Direktor an der Universität von Massachusetts, den er zum ersten Mal beim Treffen des Rabbinischen Rates für Groß-Boston vor ein paar Wochen getroffen hatte.

«Ich habe in den letzten Jahren eine Vorlesung über ‹Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie› am Windemere College hier in der Stadt gehalten», sagte Lamden, «aber in diesem Semester kann ich nicht. Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie an meiner Stelle vorzuschlagen.»

«Wie sind Sie denn auf mich gekommen?», fragte Rabbi Small.

Er lachte kurz auf. «Um die Wahrheit zu sagen, Rabbi, weil der Dean des College zufällig in Ihrer Stadt wohnt. Kennen Sie sie vielleicht? Millicent Hanbury?»

«Ich glaube, das ist hier ein bekannter Name. In der Stadt gibt es eine Hanbury Street.»

«Ja. Also, es handelt sich um drei Wochenstunden, es ist in Boston, Sie brauchen also nicht ganz eine Stunde dorthin und bekommen dafür 3500 Dollar. Wollen Sie nicht mal anrufen?»

Rabbi Small fragte, wie es käme, dass sie eine Vorlesung über jüdische Philosophie hätten.

Lamden lachte. «Ach, die haben viele jüdische Studenten aus unserer Gegend und aus dem Gebiet New York/New Jersey. Windemere hat keinen großen Ruf, aber das akademische Niveau ist ordentlich.»

«Sie ist der Dean? Der Dekan der Fakultät?»

«Ja, richtig. Es war früher ein reines Mädchen-College, das sich aus einem Pensionat für höhere Töchter entwickelt hat, wie sie um die Jahrhundertwende in den Neu-England-Staaten große Mode waren. Seit etwa zehn Jahren haben sie Koedukation, aber die weiblichen Studierenden sind immer noch in der Überzahl. Aber vielleicht sprechen Sie erst mal mit ihr. Sie können sich ganz frei entscheiden.»

«Pensionat für höhere Töchter», «Neu-England», «Dean» und «Jahrhundertwende» hatten in seinen Gedanken ein Bild von Millicent Hanbury heraufbeschworen. Er sah sie als hagere, lange alte Jungfer vor sich, mit sorgfältig frisierten grauen Haaren und einem Kneifer an einer Goldkette. Nachdem er sie angerufen und ihre leise Altstimme am Telefon gehört hatte, reduzierte er ihr geschätztes Alter und stellte sie sich als adrette, geschäftstüchtige, moderne Frau vor, die klassische Schneiderkostüme bevorzugte.

Es war ein schöner Tag, und obwohl die Adresse, die sie ihm angegeben hatte, ziemlich weit entfernt war, beschloss er, zu Fuß zu gehen. Beim Anblick des alten, weiträumigen Hauses mit seinen Türmchen, Giebeln und unsinnigen Veranden mit den hundert Jahre alten Holzverzierungen, der wild wuchernden Büsche und des rissigen Betonpfades, der zu einer eichenen Haustür führte, die längst hätte gebeizt werden müssen, revidierte er die Schätzung ihres Alters abermals und machte sie wieder älter. So war es beinahe ein Schock, als eine sehr anziehende Frau von höchstens Anfang dreißig ihm die Tür öffnete und ihm fest die Hand schüttelte.

Sie war groß und schlank, und das kurze, dunkle Haar war so sorgsam verwuschelt, wie es nur ein sehr guter Friseur fertig bringt. Mit freimütigem Blick aus den schönen grauen Augen gestand sie: «Um ehrlich zu sein: Wir sind etwas in der Bredouille, Rabbi. In den vergangenen drei Jahren hat Rabbi Lamden auf der Basis eines Jahresvertrags die Vorlesung gehalten. Wir haben einfach damit gerechnet, er würde dieses Jahr wieder zur Verfügung stehen. Aber dann hat er uns mitgeteilt, dass er eine Reisegruppe nach Israel führen würde. Oh, ich mache ihm keine Vorwürfe», fügte sie hastig hinzu. «Wir hätten uns früher bei ihm melden müssen. Im Grunde ist es mein Fehler gewesen.»

Sie bot ihm einen Stuhl an. Auf einem anderen lag das Strickzeug, das sie aus der Hand gelegt hatte, als sie ihm die Tür öffnete. Sie wollte es forträumen, aber er sagte: «Meinetwegen brauchen Sie nicht damit aufzuhören.»

«Ja? Macht es Ihnen wirklich nichts aus?»

«Ich sehe gern zu, wenn eine Frau strickt. Meine Mutter strickt mit Begeisterung.»

«Heute ist das nicht mehr so üblich wie früher.» Sie setzte sich, nahm das Strickzeug auf den Schoß und erklärte ihm zur freundlichen Begleitmusik klickender Nadeln: «Es sind Weihnachtsgeschenke für Neffen und Nichten. Obwohl ich immer sehr früh damit anfange, werde ich am Ende nur knapp damit fertig. Ich hab immer drei oder vier Sachen gleichzeitig in Arbeit. Jedes ist in einem Extrabeutel an einem Platz, wo ich öfter sitze, damit ich es in der Nähe habe, wenn mir Zeit dafür bleibt. Ein Geschenk wird meistens viel mehr gewertet, wenn es selbst gemacht ist, finden Sie nicht auch?»

Während sie strickte, erzählte sie ihm über das College. Es gab etwas unter zweitausend Studenten, und das Verhältnis Schüler zu Lehrer war zwölf zu eins. «Das heißt nun natürlich nicht, dass unsere Kurse im Durchschnitt von zwölf Teilnehmern belegt werden, weil natürlich immer mehrere unserer Lehrer in Urlaub sind und viele nur eine einzige Vorlesung halten. Die Vorlesung über Jüdische Philosophie wird etwa von fünfundzwanzig bis dreißig Studenten belegt. Halten Sie das für sehr viel? Einige der jüngeren Lehrer fühlen sich überfordert, wenn es mehr als zwanzig sind. Andererseits überschneidet sich natürlich viel, und Sie haben in einer Vorlesung nie alle beisammen, die belegt haben.»

«Es sind doch drei Stunden in der Woche?»

«Ja, Rabbi Small. Montags und mittwochs um neun, freitags um eins. Tut mir Leid wegen der Zeit am Freitag. Am Freitagnachmittag stehen nur zwei Vorlesungen auf dem Stundenplan, und leider trifft es gerade Ihre Vorlesung, aber wegen der Raumnot ließ es sich nicht anders einrichten.»

«Was ist am Freitagnachmittag so schlecht?»

Sie sah von ihrem Strickzeug auf. «Ach, wissen Sie, die jungen Leute wollen gern früh zum Wochenende aufbrechen und schwänzen am Freitag besonders oft.»

«Solange ich um zwei Uhr fertig bin, hab ich nichts gegen den Freitag», sagte er. «Alles, was später ist, wäre schwierig, weil der Sabbat im Winter so früh einsetzt.»

«Natürlich.» Sie nickte verständnisvoll. «Dann dürfen wir also dieses Jahr mit Ihnen rechnen, Rabbi?»

«Ja, ich muss nur noch das Direktorium der Synagoge unterrichten.» Er sah, dass sie ein enttäuschtes Gesicht machte, und lächelte. «Es ist eine Formalität, aber ich muss es ihnen mitteilen. Natürlich, falls sie ernsten Widerspruch …»

«Wie bald können Sie mir eine definitive Antwort geben?»

«Sie treffen sich am Sonntagvormittag. Ich könnte Ihnen abends Bescheid geben.»

«Gut. Wenn dann alles in Ordnung ist, könnten Sie am Montag zum Fakultätstreffen kommen und Präsident Macomber kennen lernen; und ich werde Sie mit sämtlichen Formularen ausrüsten, die Sie ausfüllen müssen.»

Erst als er nach etwa einer Stunde wieder fortging, wurde ihm klar, dass sie ihn nicht nach seiner Qualifizierung gefragt hatte. Aber wahrscheinlich hatte Rabbi Lamden sie darüber aufgeklärt, welche akademischen Grade ein Rabbinat erforderte. Ebenfalls hatte sie nicht mit ihm über das Thema der Vorlesung diskutiert oder darüber, wie er den Unterricht gestalten wollte. Möglicherweise fühlte sie sich nicht kompetent. Andererseits hatte auch er ihr nicht viele Fragen gestellt. Er grinste vor sich hin. Vielleicht lag ihm ebenso viel am College wie dem College an ihm.

 

Ein Streifenwagen der Polizei hupte und hielt neben ihm an. Das kantige rote Gesicht von Hugh Lanigan, dem Polizeichef von Barnard’s Crossing, tauchte im Fenster auf. «Sollen wir Sie nach Hause fahren, Rabbi?» Als der Rabbi einstieg, fuhr er fort: «Ich hab Sie aus dem Hanbury-Haus kommen sehen. Wollen Sie etwa Millie bekehren?»

«Ach, kennen Sie sie?»

«Wie oft muss ich Ihnen noch erklären, dass ich jeden in dieser Stadt kenne oder zumindest über ihn informiert bin», entgegnete Lanigan grinsend. «Das gehört zu meinem Beruf. Die Hanburys sind eine alte Familie aus Barnard’s Crossing, und Millie kenne ich seit ihrer Geburt.»

«Sie scheint eine sehr nette junge Frau zu sein. Ich habe gerade überlegt, warum sie ganz allein in einem so riesigen alten Kasten lebt.»

«Und Sie waren bei ihr, um sie das zu fragen?»

Der Rabbi lächelte. «Nein, nein. Das war nur ein ganz privater Nebengedanke.»

«Na, vielleicht kann ich Ihnen darauf die Antwort geben. Sie lebt dort, weil sie dort geboren ist. Es ist das Hanbury-Haus, und sie ist eine Hanbury. Es ist – ja – es ist eine Frage des Stolzes.»

«Was spielt der Stolz dabei für eine Rolle?»

«Es ist eine Frage des Herkommens», sagte Lanigan und fuhr langsamer, um einem radelnden Botenjungen auszuweichen. «Die Hanburys sind seit der Kolonialzeit bedeutende Leute in dieser Gegend gewesen. Josiah Hanbury war Captain der Bürgerwehr. Sein Name steht auf einer Bronzetafel im Rathaus. Er hatte ein eigenes Boot und hat als Kaperkommandant am Revolutionskrieg teilgenommen.» Lanigan lachte. «Setzen Sie statt Kaperkommandant roter Korsar, und dann stimmt es vermutlich auch. Auf jeden Fall hat es Geld eingebracht. Später waren die Hanburys im Walfang und noch später im Molasse-Rum-Sklaven-Handel. Die Hanbury-Schifffahrtsgesellschaft hat im Ersten Weltkrieg nicht schlecht verdient. Heute gibt es immer noch eine Firma Hanbury Shipping, aber sie haben keine Schiffe mehr. Es ist jetzt eine Versicherungsgesellschaft und ein Kommissionsgeschäft; die Aktien werden an der New Yorker Börse gehandelt. Sitz der Firma ist natürlich Boston; sie ist für Barnard’s Crossing zu groß geworden. Alle Hanburys hatten und haben Geld. Alle, nur nicht Arnold Hanbury, Millies Vater. Sein Zweig der Familie war nie so wohlhabend und hat wohl auch nie Glück gehabt. Aber er war ein Hanbury, das durfte keiner außer Acht lassen.

Das Haus, Rabbi, hat ihn fast an den Rand des Bankrotts gebracht, aber natürlich musste er ein großes Haus haben, weil er ein Hanbury war. Millie aber konnte nicht mit ihren reichen Cousinen und deren Freundinnen spielen – sie hatten als Kinder Ponys und, als sie größer wurden, Segelboote, und dann eigene Autos und danach Reisen nach Europa – für Millie war das alles nicht möglich. Dennoch durfte sie nicht mit den anderen Kindern aus der Stadt spielen. Sie war eben eine Hanbury.»

«Aber in der Schule hat sie doch sicher …»

Lanigan schüttelte entschieden den Kopf. «Sie begreifen das mit den Hanburys immer noch nicht. Ihre Cousinen waren alle in privaten Internaten, nur sie musste in eine öffentliche Schule gehen, weil Arnold Hanbury sich nichts anderes erlauben konnte. Aber sie durfte sich mit dem gemeinen Volk nicht abgeben. Sie hatten eine alte Frau, die bei ihnen arbeitete, vermutlich für kaum mehr als Wohnung und Verpflegung – Nancy – Nancy Sowieso – es wird mir schon wieder kommen. Auf jeden Fall gehörte es zu ihren Aufgaben, am Schultor auf Millie zu warten und sie sofort nach Schulschluss nach Hause zu schleifen.»

«Und was war mit dem College?»

«Da war auch nichts. Sie war auf einem College in Boston und fuhr jeden Tag hin und her. Es war eine reine Mädchenschule, in der hauptsächlich Sport unterrichtet wurde. Wenn aber ein Mädchen einen Mann kennen lernen will, muss es dahin gehen, wo es Männer gibt, stimmt’s? Viele Männer. Und ich kann mir nicht denken, dass es viel hilft, wenn man Absolventin einer Turnlehrerinnenschule ist. Eher könnte das die Männer in die Flucht treiben. Stellen Sie sich vor, ein Mann macht sich an ein Mädchen ran. Das Schlimmste, womit er rechnet, ist eine Ohrfeige. Aber wenn sie eine ausgebildete Sportlerin ist, könnte es leicht mit einem Kieferbruch enden.» Lanigan lachte heiser. «Ich hätte selber eine Mordsangst. Die beiden Sportlehrerinnen an der High School sind übrigens auch nicht verheiratet.»

«Es ist immerhin erstaunlich, dass sie es mit einem Sportlehrer-Diplom bis zum Dean gebracht hat», stellte der Rabbi fest.

«Warum? Was macht denn so ein Dean?»

«Na, er ist Dekan einer Fakultät», sagte der Rabbi, «und meistens wird das nur ein anerkannter Wissenschaftler.»

«Könnte da Ihre Meinung nicht ein wenig veraltet sein, Rabbi? Ich kenne den Dean des College von Lynn. Der war vor etwa sechs Jahren Lehrer für Werkunterricht und Trainer der Footballmannschaft an der hiesigen High School. Meines Wissens wollen sie heutzutage Leute, die sich durchsetzen können und mit den Studenten fertig werden.»

Während sie weiterfuhren, erzählte ihm der Rabbi von Dean Hanburys Angebot.

«Und Sie wollen es annehmen?»

«Ich glaube schon. Es ist eine interessante Abwechslung.»

«Was sagt denn Miriam dazu?»

«Ich hab noch nicht mal mit ihr darüber gesprochen.»

 

Als der Rabbi über den Lehrauftrag berichtete, gab es wenig Schwierigkeiten. Natürlich wäre es keine Vorstandssitzung des Synagogendirektoriums gewesen, wenn es keine Fragen gegeben hätte.

«Was ist, wenn es an dem Tag, wo Sie unterrichten, eine Beerdigung gibt, Rabbi?»

«Dann benachrichtige ich meine Studenten, dass ich nicht kommen kann.»

«Was ist mit dem minjan, Rabbi? Bedeutet das, dass Sie an den Tagen, an denen Sie in Boston sind, nicht teilnehmen können?»

«Nicht unbedingt. Übrigens verlangt meine Rolle als Rabbi nicht, dass ich immer als zehnter Mann beim täglichen minjan fungieren muss. Es scheint ja auch ohne mich sehr gut zu gehen, wenn ich jetzt mal verhindert bin.»

Nachdem er sie verlassen hatte, und sie zum Parkplatz zu ihren Autos gingen, sagten sie, was sie wirklich dachten.

«Mir ist aufgefallen, dass der Rabbi immer nur vom Windemere College gesprochen hat. In Wirklichkeit heißt es Christliches College Windemere. Vielleicht bin ich altmodisch, aber mir kommt es komisch vor, dass ein Rabbi an einem christlichen College unterrichten soll.»

«Heutzutage hat das gar nichts zu sagen. Heute gehen Jungen auf Mädchenschulen und Mädchen auf Jungenschulen. Und jüdische Kinder gehen sogar auf katholische Schulen.»

«Ja, aber muss dieses Christlich gleich noch im Namen stehen! Wenn es, sagen wir mal, Notre Dame hieße, würde ich ja nichts sagen.»

«Notre Dame! Weißt du, was das bedeutet? Es heißt ‹Unsere Dame›. Und du wirst ja wohl wissen, welche Dame damit gemeint ist?»

«Na und? Ich meine, da merkt man es nicht gleich am Namen. Außerdem war Maria ja wohl ein jüdisches Mädchen, wie?»

Sie lachten. Dann brachte ein anderer einen neuen Einwand auf. «Mich stört nur die Art, in der er es uns erzählt hat. Er verkündet einfach, dass er unterrichten wird. Er fragt uns nicht. Er teilt es uns einfach mit.»

«Glaubst du, dass er dafür bezahlt wird?»

«Soll das ein Witz sein? Hast du schon mal von einem Rabbi gehört, der was umsonst macht?»

«Ich kann nur sagen, dass er hier ganztägig beschäftigt ist. Wenn er also Geld bezahlt bekommt, soll er es, bei Gott, unserem Schatzmeister geben. Wenn ein Ingenieur beim E-Werk von General Electrics eine Erfindung macht, gehört sie General Electrics.»

«Ja, ja, und das glaubst du?»

«Nein, aber ich meine, jemand sollte ihn fragen.»

«Gut. Ich setze dich an die Spitze eines Ein-Personen-Ausschusses.»

«Ich rede nicht von mir. Der Präsident oder der Schatzmeister müssten das übernehmen.»

«Mann, das machen die doch andauernd. Wenn die irgendwohin fahren, um einen Vortrag zu halten, geben sie dann das Geld ab? Und einige von diesen progressiven Rabbis reden mehr außerhalb des Tempels als darin.»

«Mir wäre es gar nicht so unlieb, wenn ein paar von den Predigten des Rabbi draußen gehalten würden, um ehrlich zu sein.»

Sie lachten vor sich hin.

«Wenn es noch Harvard oder das Massachusetts Institute of Technology wäre», bemerkte Norman Phillips, der mit Werbung zu tun hatte. «Das würde der Synagoge Ansehen verschaffen. Aber Windemere?» Er machte eine abfällige Geste. Obwohl Norm schon Mitte vierzig war, kleidete er sich sehr modern: zweifarbige Schuhe, eine weit ausgestellte Hose, die auf der Hüfte saß und von einem breiten Ledergürtel mit einer schweren Messingschnalle gehalten wurde. Das lange Haar war nicht von einem Friseur, sondern von einem Haar-Stylisten geschnitten. Seine Meinungen hatten bei den anderen Mitgliedern des Vorstands ein gewisses Gewicht, da sie vermuteten, er wisse, was die jungen Leute aus der Gemeinde dachten.

«Was stimmt denn nicht an Windemere?», fragte Malcolm Selzer kriegerisch. «Mein Abner studiert da, und er sagt, es ist ein verdammt gutes College. Und er sollte es wissen, weil er im ersten Jahr in Harvard war, und ihm gefällt Windemere besser.» Malcolm Selzer war seiner Kleidung nach bestimmt nicht auf der Höhe der Zeit. Im Kühlschrank-Geschäft, wo man andauernd im Laden schwere Modelle herumschieben oder sogar beim Verladen Hand anlegen musste, war es schon schwierig genug, die Anzüge sauber und unzerknautscht zu halten.

«Hat dein Abner nicht in der Zeitung gestanden, als damals die Bombe hochgegangen ist? Mir ist so, als hätte er eine Stellungnahme der Studentenorganisation verkündet.»

Malcolm Selzer nickte stolz. «Ja, das hat er. Er hatte natürlich nichts damit zu tun, aber in der Studentenorganisation ist er ein großes Tier. Er hat dauernd Verhandlungen mit den Fakultätsausschüssen und der Verwaltung. Die heutige Jugend beteiligt sich an allem; es ist anders als früher bei uns.»

 

Miriam, die Frau des Rabbi, hatte ebenfalls Fragen. Sie war winzig, und die Last der blonden Haare schien sie fast aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie hatte große blaue Augen, die ihrem Gesicht etwas Treuherziges gaben, aber der festgeformte Mund und das kleine, runde Kinn sprachen von Energie. «Bekommst du deswegen vielleicht Ärger mit dem Vorstand, David?»

«Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall werde ich damit fertig.»

«Aber es bedeutet zusätzliche Arbeit für dich?»

«Gar nicht so schlimm. Hin und wieder werde ich Arbeiten korrigieren müssen. Aber die Vorbereitung der Vorlesungen braucht nicht viel Zeit.»

Sie fragte dann, ob er sich wirklich darauf freue, oder ob es ihm nur um das Geld gehe.

«Ach, das Geld ist schon sehr nützlich. Es ermöglicht uns leicht die nächste Reise nach Israel.»

«Und einen neuen Teppich fürs Wohnzimmer?»

Er lachte. «Und einen neuen Teppich fürs Wohnzimmer.»

«Auf jeden Fall ist es für dich mal was anderes. Es ist nur so …» Sie zögerte.

«Was ist?»

«Na, ich kenn dich doch. Ich weiß, dass es dir nicht um das Geld geht. Du möchtest gern unterrichten, nicht wahr?»

«Und?»

«Ach, ich hoffe nur, dass du nicht enttäuscht wirst. Die Colleges und die Studenten haben sich seit deiner Zeit sehr verändert.»

«Ach, das glaube ich nicht», sagte er zuversichtlich. «Im Grunde sicher nicht.»

3

Dean Hanbury lenkte den Wagen scharf um die Kurve, dann in eine enge Durchfahrt hinter zwei Reihen von Mietshäusern, bog nochmals ab und bremste schließlich vor dem Schutzgitter einer Reihe von Kellerfenstern ab.

«Ist das der Parkplatz der Schule?», fragte der Rabbi überrascht. Dean Hanbury hatte ihn mitgenommen, um ihm den Weg zu zeigen.

«Das ist mein Parkplatz», sagte sie und deutete auf ein kleines Holzschild, auf dem ihr Name stand. «Zumindest ist es meiner, seit wir vor ein paar Jahren dieses Wohnhaus auch übernommen haben. Ich finde ihn sehr praktisch, weil ich bei schlechtem Wetter durch die Hintertür gehen kann und dann genau gegenüber auf der anderen Seite der Straße der Eingang zum Verwaltungsgebäude liegt.»

Sie stiegen die Stufen des Verwaltungsgebäudes hinauf, das durch die Sandsteinplatten und roten Ziegelmauern sehr offiziell wirkte, während alle anderen Schulgebäude wie Wohnhäuser aussahen. «Dies ist das einzige echte Collegegebäude», erklärte sie. «Nachdem wir so angewachsen sind, haben wir hier draußen neu gebaut und nach und nach die angrenzenden Wohnhäuser aufgekauft.»

«Sind das denn alles Wohnheime für die Studenten?»

«O nein. Wir haben sie umgebaut. Das Haus da drüben kommt auch bald an die Reihe. Im obersten Stock sind die Mieter zwar schon ausgezogen, aber sie haben noch Möbel in den Wohnungen. Und dann wohnt Professor Hendryx dort. Im ersten Stock. Das hat sich ergeben, als er aus dem Süden zu uns kam und hier noch keine Wohnung gefunden hatte.»

Sie führte ihn eine breite Treppe mit einem schweren Mahagonigeländer hinauf. «Übrigens werden Sie sich mit ihm ein Büro teilen müssen. Der arme Mann ahnt noch nichts davon, aber ich weiß einfach nicht, wo ich Sie sonst unterbringen könnte. Professor Hendryx ist kommissarischer Leiter der englischen Abteilung. Ich glaube, dass er Ihnen gefallen wird. Übrigens stammt er ursprünglich auch aus Barnard’s Crossing. Da haben Sie schon etwas Gemeinsames.»

Sie schloss ihr Büro auf. «Meine Sekretärin hat die Woche zwischen den Trimestern frei», sagte sie. «Im Augenblick ist es hier wie in einer Leichenhalle, aber sobald der Unterricht beginnt, wimmelt es hier im Haus und in der Umgegend nur so von jungen Leuten. Sie haben Glück, wenn Sie einen Parkplatz finden. Es ist wichtig, dass Sie das einkalkulieren, denn Ihre Studenten warten nur acht Minuten nach dem offiziellen Beginn. Verlassen Sie sich drauf: Wenn Sie erst nach neun Minuten kommen, sind alle fort.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich verstehe es nicht. Wenn sie noch ein bestimmtes Ziel hätten; aber meistens sitzen sie nur vor dem Haus auf der Treppe. Aber sie bleiben nicht im Zimmer, selbst wenn sie Sie auf der Straße kommen sehen. Sie sind heute alle so ungeduldig. Allerdings hat sich bei uns die Lage im letzten Jahr wesentlich beruhigt. Die Änderung der Gesetze über die Wehrpflicht spielt dabei sicher eine große Rolle. Natürlich haben wir von Zeit zu Zeit noch Studentenunruhen, aber mit den Jahren 1968 und 1969 lässt sich das nicht mehr vergleichen. Trotzdem hatten wir voriges Jahr noch einen Bombenanschlag. Das haben Sie sicher in den Zeitungen gelesen.»

«Ja, ich erinnere mich.»

«Unsere Studenten hatten nichts damit zu tun, da bin ich ganz sicher», beeilte sie sich zu versichern. «Die Polizei nimmt an, dass die Tat von Außenstehenden begangen wurde, wahrscheinlich von der Weathervane-Gruppe. Natürlich könnten einige unserer Studenten Mitglieder sein. – Und wenn Sie mich nun entschuldigen würden. Ich muss mich um die Post kümmern. Nein, erst will ich sehen, ob Präsident Macomber frei ist.»

Sie telefonierte. «Ella? Dean Hanbury. Ist Präsident Macomber schon im Hause? So? Ja. Gut, ich bin mit Rabbi Small in meinem Büro. Sagen Sie mir Bescheid, ja?»

Sie legte auf. «Er ist im Augenblick beschäftigt.»

Jemand klopfte an die halb offene Tür, und dann streckte ein Monteur mit einem Werkzeugkasten den Kopf herein. «Is das das Büro von Professor Hendryx?»

«Nein», sagte Dean Hanbury. «Nebenan. Aber er ist sicher noch nicht da.»

«Macht nichts, ma’am. Ich kann hier anfangen. Ich muss Ihre Leitung anzapfen.» Der Mann folgte mit fachmännischem Blick dem Telefondraht, der hinter ihr an der Wand nach oben ging, am Schrankrand entlanglief und der Bilderleiste folgte. «Sein Büro liegt also direkt hinter der Wand?»

«Ja.» Von der anderen Seite der Wand war ein lauter Bums zu hören. «Aha, dann ist er gerade gekommen», sagte sie. «Kommen Sie mit, Rabbi, ich mache Sie gleich mit ihm bekannt.»

Sie gingen über den Flur und bogen in einen Seitenteil ab. Sie blieb vor einer Tür stehen, deren Milchglasscheibe von einem Riss durchzogen war. «Die muss ausgewechselt werden», sagte sie mechanisch, als hätte sie es schon sehr oft gesagt.

Sie klopfte, und Professor Hendryx öffnete ihnen. Er war mittelgroß und trug einen Van-Dyke-Bart, der die volle, sinnliche Unterlippe betonte. Aus dem einen Mundwinkel hing eine Pfeife. Die dunklen Augen wirkten durch die getönten Gläser der dicken Schildpattbrille noch dunkler. Er trug eine sportliche Hose und ein Tweedjackett mit Lederflecken auf den Ellbogen. Der Hemdkragen war offen, darunter trug er einen absichtlich leger geknoteten Seidenschal. Der Rabbi schätzte ihn etwas älter als sich ein, vielleicht achtunddreißig oder sogar vierzig.

Dean Hanbury machte die beiden Männer bekannt und sagte dann: «Tut mir Leid, John, aber Sie und der Rabbi müssen sich das Büro teilen. Wir haben keinen Raum mehr frei. Mr. Raferty muss noch einen Schreibtisch hereinstellen.»

«Wohin?», fragte Hendryx überrascht und ärgerlich. «In diesem Loch kann man sich so schon nicht mehr umdrehen. Wenn Sie noch einen Schreibtisch reinstellen, bleibt nicht mal ein Durchgang frei. Sollen wir über die Tische klettern, wenn wir uns setzen wollen?»

«Ich dachte an einen kleineren Tisch, John.»

«Ich brauche eigentlich gar keinen Schreibtisch», sagte der Rabbi schnell. «Einen Haken für meinen Hut und Mantel und einen Platz für ein, zwei Bücher.»

«Na, dann ist ja alles gut», sagte sie fröhlich. «Ich lasse Sie allein, damit Sie sich besser kennen lernen können.»

Hendryx ging um den Schreibtisch herum und riss den Drehstuhl mit so viel Schwung heraus, dass er gegen die Wand prallte, und dem Rabbi damit erklärte, wieso Dean Hanbury gewusst haben konnte, dass er in seinem Büro war. David Small, dem es Leid tat, der unschuldige Anlass zu Hendryx’ Verärgerung geworden zu sein, betrachtete die staubigen Bücherregale an der hinteren Wand. Die unteren Fächer waren mit Stapeln vergilbter Arbeitshefte gefüllt. «Es ist wirklich ziemlich eng», stellte er fest.

«Kaum mehr als ein Besenschrank, Rabbi, aber immer noch besser als der unerträgliche Lärm im Büro der englischen Abteilung im ersten Stock, wo ich zwei Jahre gehaust habe. Dies hier war früher ein Abstellraum für Anfängerarbeiten und Prüfungsaufsätze und alte Bibliotheksbücher. Es ist mehr als trist, aber ich habe vor, ein paar persönliche Dinge herüberzuholen und es etwas besser einzurichten, sobald ich mal die Zeit finde. Der Druck –» er deutete auf eine große, gerahmte Zeichnung des mittelalterlichen London – «gehört mir und die Büste von Homer auch.» Er machte eine Kopfbewegung zu dem großen Gipskopf auf dem obersten Fach direkt über ihm. Er schob den Stuhl weit zurück und streckte die Beine lang aus, sodass er fast im Stuhl lag – seine typische Stellung, wie der Rabbi bald erfahren sollte.

Er suchte in der Tasche herum und holte eine winzige Messingfigur heraus, mit der er den Tabak in der Pfeife feststopfte. Während dieses Manövers paffte er vorsichtig, und als die Pfeife zufrieden stellend zog, steckte er den Stopfer wieder ein.

«So, Sie sind also der neue Lehrer für Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie», sagte er. «Ich kannte Ihren Vorgänger, Rabbi Lamden. Laut einem meiner Studenten, der seine Vorlesung belegt hatte, hat er sich hauptsächlich über das Thema Moral ausgelassen – was für alle höchst befriedigend war. Soweit es die Studenten betraf, kassierten sie mühelos drei Punkte. Soweit es Lamden betraf, waren es ein paar angenehme Stunden in der Woche, für die er noch bezahlt wurde. Und sein Gewissen konnte er vermutlich mit dem Gedanken beruhigen, dass er seine Studenten zur Religion ihrer Väter zurückführte.»

«Aha.»

«Natürlich hatte die Verwaltung auch von der Vorlesung profitiert», fuhr Hendryx fort. «Sie wissen ja wohl, dass der offizielle Name Windemere Christian College lautet. Der Prospekt und die Begleitschriften, die wir an interessierte Studenten verschicken, betonen eigens, dass die Schule konfessionell nicht gebunden ist, und das entspricht auch den Tatsachen. Ich bin überzeugt, dass die Kuratoren – einer ist übrigens der große Versicherungsboss Marcus Levine; wenn man nach dem Namen geht, müsste er vermutlich zu Ihren Leuten gehören – das Wort christlich nur allzu gern streichen würden. Aber das brächte zu viele rechtliche Komplikationen mit sich. Und wir haben auch eine ganze Reihe jüdischer Studenten, nicht nur aus der Umgebung, sondern auch aus der Gegend von New York oder New Jersey. Es ist ein College, auf das sie zurückgreifen, wenn sie anderswo keinen Platz finden, und die Eltern könnten davor zurückscheuen, sie in eine Schule zu schicken, die sich betont als christlich bezeichnet. Daher ist es natürlich nützlich, wenn es eine Vorlesung über Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie gibt, die von einem waschechten Rabbiner gehalten wird.» Er grinste breit. «Von deren Standpunkt aus sind Sie eine Art Gottesgeschenk.»

«Sie mögen offenbar keine Juden?», fragte David Small neugierig.

«Wie kommen Sie denn darauf, Rabbi? Einige meiner besten Freunde sind Juden.» Er lächelte ironisch. «Ich weiß, Sie und Ihresgleichen halten das für die typische Redensart aller Antisemiten, aber ich habe den Verdacht, dass es in gewisser Weise richtig sein könnte. Die Juden sind in der Hinsicht das genaue Gegenteil der Iren. Die einzelnen Juden, die man kennt, sind offen, idealistisch und selbstlos; dennoch ist man überzeugt, dass alle anderen, die man nicht kennt, schlau, habgierig und krass materialistisch sind. Die Iren hinwiederum sollen fröhlich, phantastisch, ritterlich und weltfremd sein, obwohl die Iren, die man kennt, ständig betrunkene, streitsüchtige Schurken sein können, auf deren Wort kein vernünftiger Mensch was gibt.» Er lächelte und zeigte weiße, ebenmäßige Zähne. «Nein, ich halte mich wirklich nicht für antisemitisch, aber ich rede nun mal frei von der Leber weg, und wenn mir ein Gedanke kommt, spreche ich ihn auch gleich aus. Betrachten Sie mich als eine Art advocatus diaboli

«Dann zählen einige meiner besten Freunde zu Ihren Kollegen», sagte der Rabbi.

Jemand klopfte an der Tür. Hendryx richtete sich mit einem Ruck auf und ging um den Schreibtisch herum, um einen Mann mit einer kurzen Aluminiumleiter hereinzulassen. Es war der Mann von der Telefonfirma.

«Ich soll hier einen Apparat anschließen», sagte er. «Wo wollen Sie ’n hinhaben? Auf dem Schreibtisch?»

«Ja.»

Der Mann lehnte die Leiter gegen das Regal und maß die Wand mit einem Zollstock aus. Dann schob er die Leiter hinter den Drehstuhl und kletterte zum obersten Bord hinauf. Er umfasste die Gipsbüste mit beiden Händen, um sie herunterzuheben, fand sie dann aber zu schwer und schob sie nur ein Stück zur Seite.

«He! Was machen Sie denn mit meiner Büste, Mann?», rief Hendryx. «Lassen Sie sie da, wo sie ist.»

«Ich stell sie schon wieder hin, keine Angst», sagte der Mann. «Der Draht muss direkt dahinter durch die Wand, damit er gerade zum Schreibtisch kommt.»

«Na, dann vergessen Sie’s aber nicht.»

Der Mann bohrte das Loch und ging dann wieder ins Büro von Miss Hanbury. Hendryx hielt es offenbar für angebracht, sein ärgerliches Aufbrausen zu erklären. «Ich habe das Ding von der ersten Klasse geschenkt bekommen, die ich jemals unterrichtet habe. Gerade kein leichtes Gepäck. Es muss fünfzig, sechzig Pfund wiegen. Trotzdem hab ich es in den letzten zwölf Jahren von einem College zum nächsten mitgeschleppt.»

Der Rabbi nickte verständnisvoll, obwohl er vermutete, dass der Ärger mit dem Mann von der Telefonfirma immer noch von Hendryx’ Enttäuschung herrührte, sein Büro mit ihm teilen zu müssen.

Es klopfte abermals; diesmal war es Dean Hanbury. «Wir können jetzt zu Präsident Macomber gehen», sagte sie.

 

Präsident Macomber war ein großer, grauhaariger Mann. Er trug eine Flanellhose, ein Sporthemd und eine Windjacke. Eine Tasche mit Golfschlägern lag in einer Ecke des Büros auf dem Fußboden. «Ich habe gerade neun Löcher gespielt», sagte er zur Erklärung seiner Aufmachung. «Spielen Sie Golf, Rabbi?»

«Nein, leider nicht.»

«Schade. Sie haben eine Pfarre oder …»

«Eine Gemeinde in Barnard’s Crossing.»

«Ach, natürlich», er nickte lebhaft. «Sie sind aus der Heimatstadt von Dean Hanbury. Na, ich denke, es wird nicht viel anders sein als Pastor in einer Kirche oder Pfarrer einer Gemeinde. Ich meine, Sie haben sicher einen Kirchenvorstand, mit dem Sie sich arrangieren müssen.»

«Wir haben einen Synagogenvorstand.»

«Genau das meine ich. Ich meine auch, dass es Ihnen viel leichter fallen würde, mit diesem Vorstand zurechtzukommen, wenn Sie Golf spielten. Auf einem Golfplatz kann man sich so viel leichter verständigen als an einem Konferenztisch im grauen Anzug und mit Schlips und Kragen. Ein Collegepräsident ist heutzutage eine Kombination aus Verkäufer und Public-Relations-Mann; und Sie können es mir glauben: zum Geschäftemachen eignet sich nichts so gut wie ein Golfplatz. Denken Sie mal drüber nach. Auf jeden Fall, Rabbi, freue ich mich außerordentlich, dass Sie bei uns sind.»

Er streckte die Hand aus, um anzukünden, dass das Treffen beendet sei. «Was hören Sie von Betty?», fragte Dean Hanbury.

Präsident Macomber lächelte. «Sie hat die erforderliche Aufenthaltszeit beinahe abgeschlossen.» Er schüttelte erheitert den Kopf. «Verzeihen Sie, Rabbi, aber es ist schwer, seinen typischen Berufsjargon abzulegen. Meine Tochter ist in Reno, sie will sich scheiden lassen.»

«Oh, das tut mir aber Leid», sagte der Rabbi.

«Das braucht es nicht. So was kommt eben vor. Bei Ihnen gibt es doch Scheidungen, nicht wahr?»

«Doch. Als Lösung für unglückliche Ehen.»

«Na, das war es in diesem Fall.» Dann wandte er sich an Dean Hanbury. «Wenn alles so geht, wie es Hoyle vorausgesagt hat, kommt sie nächste Woche wieder als Betty Macomber zu mir zurück.»

«Ach, das ist schön», sagte Millicent Hanbury.

«Um es nochmal zu sagen, Rabbi, wir freuen uns, Sie bei uns zu haben. Und wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann genieren Sie sich nicht, gleich zu mir zu kommen.»

 

Rabbi Small ging in sein Büro zurück, um seinen Hut und Mantel zu holen. Da er Professor Hendryx in Zensurenlisten vertieft und wenig mitteilsam fand, wanderte er zum ersten Stock hinunter und wartete auf den Beginn der Professorenkonferenz. Sie sollte um elf Uhr stattfinden. Ab halb elf begannen die Lehrer zu kommen. Der Rabbi vertrieb sich die Zeit mit der Besichtigung von Ehrentafeln, düsteren Ölbildern und vergilbten Porträtfotos früherer Präsidenten und Deans – Frauen in hohen Spitzenkragen, mit ovalen Kneifern, genau so, wie er sich Dean Hanbury vorgestellt hatte. Die Bilder hingen an den Wänden des in einem Rundbau befindlichen Foyers mit Marmorfußboden. Die Lehrer begrüßten sich; gelegentlich trafen ihn neugierige Blicke, aber niemand kam auf ihn zu.

Dann wurde sein Name gerufen. Er drehte sich um und sah die große Gestalt Roger Fines näher kommen. «Ich dachte doch, das müssten Sie sein», sagte Fine, «aber ich konnte mir nicht vorstellen, warum Sie hier sein sollten.»

«Ich soll eine Vorlesung halten», sagte der Rabbi, erfreut über das bekannte Gesicht. «Ich unterrichte Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie.»

«Ich bin selber erst seit dem Februar hier», erklärte Fine. «Aber hat im Vorlesungsverzeichnis nicht ein anderer Rabbi gestanden?»

«Ja, Rabbi Lamden.»

«Ach, wechseln Sie sich während der Kurse ab?»

Rabbi Small lachte. «Nein. Er hatte in diesem Jahr keine Zeit, und da haben sie mich gebeten einzuspringen.»

«Ach, das ist ja prima», sagte der junge Mann. «Wenn es mit dem Stundenplan passt, könnten wir vielleicht zusammen fahren. Haben Sie denn schon ein Büro?»

«Der Dean hat veranlasst, dass ich bei einem Professor Hendryx untergekommen bin.»

«Im Ernst?» Er begann zu lachen.

«Habe ich etwas Komisches gesagt?»

Statt zu antworten, rief Fine einen jungen, dicklichen Mann, der gerade vorüberging. «He, Slim, komm mal einen Moment. Ich möchte dich mit Rabbi Small bekannt machen. Er hat mich verheiratet.»

Der junge Mann streckte die Hand aus. «Und jetzt kontrollieren Sie ihn, Rabbi?»

«Slim Marantz ist auch an der englischen Abteilung», erklärte Fine. «Der Rabbi hat den Kurs über Jüdische Philosophie übernommen, Slim, und Millie hat ihn gerade mit Hendryx in ein Büro gesteckt.»

«Das kann doch nicht dein Ernst sein?» Marantz lachte.

«Und du hast gedacht, Millie hätte keinen Sinn für Humor», sagte Fine.

Der Rabbi sah fragend von einem grinsenden jungen Mann zum anderen. Fine übernahm endlich die Erklärung. «John Hendryx hat seit zwei Jahren, seit er nach Windemere gekommen ist, um ein eigenes Büro gekämpft.»

Marantz ergänzte das noch: «Er hatte strikte Einwände gegen das laute, freundliche Chaos im englischen Büro.»

«Es erlaubt keine Konzentration», ahmte ihn Fine nach.

«Und schafft ein total feindseliges Klima für alle seine klugen, hochfliegenden Manifeste über philosophische, psychologische und soziologische Themen.»

«… und rassische, im Besonderen jüdisch rassistische», ergänzte Fine.

«Stimmt. Als er kommissarischer Leiter der Abteilung wurde, das war zu Anfang des Sommersemesters, forderte er ein Privatbüro, und Millie Hanbury fand denn auch einen etwas groß geratenen Schrank für ihn im zweiten Stock. Sehr klein, aber sein.»

«Das hat er wörtlich gesagt», erklärte Fine voller Entzücken. «Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass die Trauer über seinen Auszug aus dem englischen Büro nicht sehr lautstark war. Niemand hat ihm eine Petition geschickt, wieder zurückzukommen. Es gab auch keine schwarz umrandeten Resolutionen tiefsten Bedauerns.»

«Um bei der Wahrheit zu bleiben», sagte Marantz, «es ist weder zwischen noch auf den Schreibtischen getanzt worden, aber es herrschte, im Rahmen akademischer Gemessenheit, überall stille Freude.»

«Und nun erzählen Sie, Rabbi, dass Millie Sie mit ihm zusammengesperrt hat», sagte Fine. «Wundert es Sie, dass wir das lustig finden?»

«Und ausgerechnet ein Rabbi!» Marantz schüttelte fassungslos den Kopf.

«Was für eine Rolle spielt die Tatsache, dass ich ein Rabbi bin?»

«Er ist ein antisemitischer Hund. Oh, ich meine nicht von der Sorte, die es mit den Weisen von Zion hat», sagte Fine. «Eher der Typ, der sagt: Einige meiner besten Freunde sind Juden.»

«Das hat er mir heute Morgen erzählt», gab der Rabbi zu.

«Na bitte!»

«Ich fand das gar nicht beleidigend. Und im Übrigen werde ich das Büro nicht viel brauchen. Ich glaube kaum, dass wir uns oft begegnen werden.»

«Verstehen Sie mich nicht falsch, Rabbi», sagte Marantz, «höflich ist er bestimmt. Im englischen Büro habe ich zwei Jahre lang Schreibtisch an Schreibtisch mit ihm gelebt, und es hat nie Krach gegeben. Andererseits hat unser lieber Fine ein aufbrausendes Temperament. Ich möchte wetten, Roger, dass es größtenteils auf dein Konto geht, wenn er unbedingt aus dem englischen Büro rauswollte. Es sei denn, er hätte eine private Bleibe gesucht, um junge Damen empfangen zu können.»

«Um sie über das Versmaß bei Chaucer zu unterrichten?», fragte Fine lachend.

«Bei der dunklen Brille, die er immer trägt, ist das schwer zu sagen, aber mir scheint, ich habe ein interessiertes Aufflackern entdeckt, wenn eine wohlgestaltete Kommilitonin vorüberschritt.» Er grinste von einem Ohr zum anderen. «Au! Könnte es etwa sein, dass er ein Auge auf Millie geworfen hat und darum in den zweiten Stock gezogen ist?»

«Na, das wäre aber eine Sensation», sagte Fine kichernd und verstummte dann mit einem Schlag. «Vorsicht», sagte er, «da kommt sie.»

Dean Hanbury kam geradewegs auf sie zu. «Da sind Sie ja, Rabbi. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie wissen, wo die Konferenz stattfindet. Herzlich willkommen, Dr. Marantz und Professor Fine.»

4

Präsident Macombers sonst so heitere Züge verfinsterten sich beim Zuhören.

«Es steht einwandfrei fest», sagte Dean Hanbury. «Es sind zwei Arbeiten im Kurs dieser Miss Dunlop geschrieben worden: Fragen, die beantwortet werden mussten, und sie hat beide verhauen – gründlich verhauen. Die Abschlussarbeit war für alle sieben Kurse ihrer Abteilung dieselbe; sie bestand aus hundert Fragen.»

«Hundert?»

«Ja. Es sollte ein objektiver Test sein – es ging um kurze, zwei, drei Worte umfassende Antworten. Die jeweiligen Kursleiter reichten zehn Fragen ein, und Professor Hendryx fügte selber dreißig hinzu. Kein anderer hat die dreißig Fragen vorher gesehen, nur Professor Fine. Er hatte die Aufgabe, die Prüfungsblätter zu vervielfältigen.»

«Was ist mit Professor Hendryx’ Sekretärin?», fragte der Präsident.

«Er hat keine. Außerdem hat mir Professor Hendryx bestätigt, die Matrize selbst geschrieben zu haben.»

«Gut.»

«Kathy Dunlop hat bei der Prüfung ein A geschrieben, womit sie in der Gesamtnote mit C minus abschnitt.»

«Sie könnte ja auch sehr fleißig gearbeitet und sich verbessert haben», stellte der Präsident fest.

«Professor Hendryx hat mit Mr. Bailen, ihrem Tutor, Rücksprache gehalten. Das Mädchen hat jede einzelne Frage richtig beantwortet. Mr. Bailen sagt, das hätte er selber nicht gekonnt. Fünfundachtzig richtige Antworten sind ein A; hundert ist noch nie da gewesen. Nach der ganzen Anlage dieser Art von Arbeiten kann praktisch niemand alle richtig beantworten.»

«Schon gut. Aber warum nehmen Sie an, dass Professor Fine der Schuldige ist?», fragte Macomber. «Das Mädchen hätte ein schlecht abgezogenes Blatt aus dem Papierkorb nehmen oder von einem der Hausmeister bekommen können.»

Dean Hanbury schüttelte den Kopf. «Professor Fine wurde eigens angewiesen, das automatische Zählwerk abzulesen, ehe er mit der Vervielfältigung begann, und dann noch einmal am Ende. Die Differenz der Zahlen betrug einhundertdreiundfünfzig, und das ist die genaue Zahl der Kopien, die er Professor Hendryx gegeben hat.»

«Hm. Haben Sie mit Professor Fine gesprochen?»

«Nein. Ich hielt das nicht für ratsam, ehe ich mit Ihnen gesprochen hatte. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass sich, laut Professor Hendryx, Professor Fine bei mehreren Gelegenheiten über die Unsinnigkeit von Examen ausgelassen hat.»

«Oh, bei der Einstellung müsste Professor Fine bei seinen Studenten sehr beliebt sein», sagte Macomber sarkastisch.

«Ich glaube, das ist er», bestätigte sie, «übrigens auch bei den jüngeren Mitgliedern des Lehrkörpers. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und gilt als engagiert. Das ist heutzutage das neue Wort – engagiert. Er war Führer der Bewegung zur Anwerbung schwarzer Studenten und hat sogar einen Fortbildungskurs für sie organisiert, den die jüngeren Professoren abgehalten haben. Von ihm stammt der Artikel in The Windrift, den ich Ihnen gezeigt habe. Erinnern Sie sich?»

«O ja. Ist das der Rothaarige, der am Stock geht?»

«Ja. Der. Er ist mitten im Jahr gekommen und hat einen Einjahresvertrag. Wenn Sie ihn also entlassen wollen, dürfte es mit dem Verband der Hochschullehrer keinen Ärger geben.»

«Na, na», sagte Macomber, «nicht ganz so hastig. Dass er nicht auf Dauer angestellt ist und kein Recht hat, eine Anhörung zu verlangen, bedeutet noch lange nicht, dass es keinen Ärger gibt, wenn wir sie ihm verweigern. Sie sagen doch selbst, dass er bei den Studenten und jüngeren Lehrern sehr beliebt ist. Gerade so etwas kann aufgebauscht werden und zu Studentenprotesten führen. Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, Millicent, dass das das Letzte ist, was wir jetzt, drei Tage vor Semesterbeginn, brauchen können.»

«Aber ein Lehrer des College hat einem Studenten bei einem Betrug geholfen! Haben Sie eine Vorstellung, was passiert, wenn das herauskommt?»

«Oh, ich glaube nicht, dass damit zu rechnen ist. Nicht wenn man in der richtigen Weise mit Professor Fine verhandelt. Ich meine, wir sollten es so machen …»

 

Roger Fine, der im Besucherstuhl saß, wirkte völlig gelassen. Nur die Fingerknöchel der Hand, die den Stock umfassten, waren weiß. «Es ist Ihnen sicher klar, Miss Hanbury», sagte er, «dass Sie keinen stichhaltigen Beweis haben.»

«Streiten Sie es ab?»

«Ich streite nichts ab und bestätige nichts», sagte er gleichmütig. «Ich glaube nicht, dass ich überhaupt zu antworten brauche.»

Dean Hanbury trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch, während sie ihre Gedanken sammelte. Endlich fuhr sie fort: «Ich habe nicht mit Miss Dunlop gesprochen – noch nicht. Ich bin aber überzeugt, dass sie, wenn man ihr sagt, sie müsse wegen ihres phänomenalen Abschlussexamens eine Zusatzprüfung ablegen, alles gestehen wird.» Sie wandte den Blick ab. «Soviel ich weiß, hat sie ein kleines Stipendium einer religiösen Sekte in Kansas, bei der ihr Vater Pfarrer ist.»

«Was wollen Sie, Dean Hanbury?»

«Na ja, wir möchten keinen Skandal», sagte sie, den veränderten Tonfall verzeichnend, «und wir möchten keine neuen Auseinandersetzungen mit den Studenten.»

«Mit anderen Worten: Sie möchten, dass ich stillschweigend verschwinde.»

«Nein.»

«Nein?»

«Da das Semester bereits begonnen hat, werden einige Ihrer Freunde unter den Studenten möglicherweise vermuten, dass man Ihnen den Rücktritt nahe gelegt hat, und darum die Untersuchung des Falls verlangen – also das, was wir gerade vermeiden möchten.»

«Und was schlagen Sie vor, Dean Hanbury?»

Millicent Hanbury, die sich nun der Situation wieder gewachsen fühlte, nahm das Wollknäuel auf und begann zu stricken. «Sie haben einen Einjahresvertrag, der Ende dieses Semesters abläuft. Wir würden uns freuen, wenn Sie Ihren Vertrag erfüllten – allerdings mit dem gegenseitigen Einverständnis, dass er nicht erneuert werden wird.»

«Und wo ist der Haken?»

«Es gibt keinen Haken, Professor Fine. Aber als Rückversicherung, dass Sie Ende des Semesters ohne Widerstand gehen, bitte ich Sie, dieses Schriftstück zu unterzeichnen. Es ist Ihre Bestätigung, Miss Dunlop vorzeitig die Examensfragen gezeigt zu haben. Ich werde sie in einem versiegelten Umschlag in mein Safe legen, und damit ist das abgeschlossen.»

Im Zimmer war nur das Klicken der Stricknadeln zu hören. «Was verstehen Sie unter ‹abgeschlossen›?»

«Genau das», sagte sie. «Wir sind bereit, nicht mehr daran zu rühren, wenn Sie es auch sind. Wenn Ihr Vertrag abgelaufen ist, werden Sie Windemere verlassen, und dieser Umschlag wird vernichtet oder Ihnen zurückgegeben.»

«Und wie bekomme ich eine neue Anstellung?»

«Wir werden uns in keiner Weise einmischen», versicherte sie ihm.

«Ich möchte das gern klarstellen, Miss Hanbury. Wenn ich dieses Schriftstück unterschreibe, legen Sie es fort und sagen nichts. Sie erwähnen nichts davon, wenn ich mich anderswo um eine Stellung bemühe und man Sie um Referenzen bittet?»

«Wir werden den Inhalt dieses Briefes nicht erwähnen. Wir werden streng nach der Form verfahren und Ihre Beurteilungsschreiben kommentarlos weitergeben. Ich glaube, Professor Bowdoin hat Ihnen vor seiner Pensionierung ein solches gegeben?»

«Sogar ein vorzügliches.»

«Und wie ist die Beurteilung der Studenten?»

«Ebenfalls vorzüglich. Aber was ist mit Hendryx?»

«Er ist nur kommissarischer Leiter Ihrer Abteilung und wird daher nicht um eine Beurteilung gebeten werden.»

«Also gut. Geben Sie mir das Blatt. Ich werde es unterschreiben.» Er nahm den Stock in die linke Hand und holte aus der Brusttasche einen Füller. Er warf einen Blick auf den kurzen, getippten Absatz und setzte zur Unterschrift an, als ihm noch etwas einfiel. «Was ist mit Miss Dunlop?»

Dean Hanbury lachte leise auf. «Oh, über sie machen wir uns keine großen Gedanken. Sie hat trotz des A nur mit Ach und Krach bestanden. Und nach ihren übrigen Noten zu urteilen, glaube ich kaum, dass sie das Rennen bis zum Ende durchsteht.»

5

Seit seine Frau vor drei Jahren gestorben war, lebte Präsident Macomber ein einsames Leben in seiner großen Dienstvilla, die von seiner tüchtigen, aber langweiligen Haushälterin, Mrs. Childs, in Ordnung gehalten wurde. Nach außen hin führte er ein aktives, geselliges Leben, ging zwei-, dreimal in der Woche abends zu Treffen, Konferenzen oder offiziellen Dinners. Einmal im Jahr lud er alle Lehrer des College zu sich ein; es gab Sherry, Gebäck und Käse, Kaffee und Kuchen, überwacht von Mrs. Childs, die von einer Mannschaft aus der Collegekantine unterstützt wurde. Ebenfalls einmal im Jahr lud er die Mitglieder des Kuratoriums zum Abendessen ein. Das Dinner wurde von einem Restaurant geliefert – sehr zum Leidwesen der wackeren Mrs. Childs, die das als eine persönliche Zurücksetzung betrachtete.

An den Abenden, die er zu Hause verbrachte, las er nach dem Essen die Zeitung, ein Buch oder sah fern. Um zehn Uhr pflegte Mrs. Childs mit dem Tee aufzutauchen, den sie auf dem Tisch neben seinem Sessel servierte, ihm eine gute Nacht wünschte und sich in ihre Räume hinter der Küche zurückzog. Meistens blieb er dann bis zu den Elf-Uhr-Nachrichten auf und ging danach zu Bett.

Kurz vor Beginn des Herbstsemesters rief Macombers Tochter Betty aus Reno an, um die frohe Botschaft ihrer vollzogenen Scheidung zu verkünden, und dass sie mit dem nächsten Flugzeug eintreffen würde. Er gab sich freundlichen Träumen hin, dass sich nun alles ändern werde. Jetzt würde jemand da sein, mit dem er beim Frühstück und Abendessen sprechen konnte. Vielleicht konnte er sogar einmal nachmittags schwänzen und eine Partie Golf einplanen. Sie waren beide leidenschaftliche Golfspieler.

Sie würde die Rolle der Dame des Hauses übernehmen, und dann konnte er endlich wieder private Einladungen geben, die nichts mit dem Beruf zu tun hatten, und die er seit dem Tod seiner Frau so vermisst hatte. Natürlich, Betty war noch jung – fünfunddreißig – und nach einiger Zeit würde sie ihren eigenen Kreis finden, jüngere Leute, deren Interessen sich nicht mit seinen deckten. Aber noch nicht gleich. Nach der unglücklichen Ehe würde sie sicher erst einmal Ruhe und Frieden haben wollen.

Aber es kam leider nicht so. Sie traf am frühen Abend ein. Ihre Maschine war mit Verspätung abgeflogen und hatte dann fast eine Stunde auf die Landeerlaubnis warten müssen. Der fröhliche Tonfall vom Anruf aus Reno war fort; sie war müde und schlecht gelaunt.

«Diese widerliche Fliegerei!», rief sie zur Begrüßung. «Ich hatte gehofft, ich könnte mich noch ein bisschen hinlegen, und jetzt bleibt mir kaum Zeit zum Duschen und Umziehen.»

«Meinetwegen brauchst du dich nicht umzuziehen», sagte ihr Vater. «Mrs. Childs hat uns was zu essen gemacht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich darauf freue, mal wieder in Ruhe mit dir zu reden und alles Neue zu hören.»

Sie war zerknirscht. «O Dad, das tut mir Leid, aber die Sorensons erwarten mich zum Essen. Sie haben noch andere Gäste. Es soll eine Art Freiheitsparty für mich sein – weißt du, zur Feier meiner Scheidung. Und Gretchen hat gesagt, es käme ein fabelhafter Mann, den ich unbedingt kennen lernen müsste.»

Auch im Laufe der Zeit wurde das nicht viel anders. Er sah kaum mehr von ihr, als in der Zeit ihrer Ehe, als sie in einem entfernten Vorort wohnte. Sie ging fast jeden Abend aus, und selbst wenn sie mit ihm zu Abend aß, schien sie immer in Eile zu sein.

«Hör mal, Betty», sagte er leicht vorwurfsvoll, «musst du schon wieder ausgehen?»

«Das kann ich nicht ändern, Dad. Ich hab es versprochen.»

«Aber du bist in dieser Woche an jedem Abend ausgegangen.»

«Dad, ich bin fünfunddreißig –»

«Das weiß ich. Ich will ja auch nicht den strengen Familienvater spielen, aber …»

«Du bist ganz rührend, Dad, aber du musst verstehen, dass ich den Rest meines Lebens nicht allein verbringen will. Ich möchte wieder heiraten, und gerade weil ich fünfunddreißig bin, kann ich keine Zeit verschwenden.»

Er war altmodisch und die Krassheit, mit der sie ihm ihre Lage erklärte, machte ihn etwas befangen. «Ja, natürlich, ich möchte auch, dass du wieder heiratest, Betty. Wahrscheinlich bin ich auch ziemlich egoistisch, aber ich hatte gehofft, wir könnten manchmal abends zusammensitzen, nur wir beide. Weißt du, der Präsident eines College ist wie wahrscheinlich jeder andere Präsident auch ein ziemlich einsamer Mann. Er muss so viele Entscheidungen treffen, und fast jeder, an den er sich um Rat wendet oder mit dem er etwas besprechen möchte, bringt seine privaten Interessen ins Spiel.»

Sie lachte. «Armer Dad. Gut, morgen bleibe ich zu Hause und – au, morgen kann ich nicht, und Donnerstag auch nicht. Am Freitag vielleicht?»

Das Wochenende kam natürlich nicht in Frage, weil sie da nach New Hampshire fahren musste, um ihren Sohn Billy im Internat zu besuchen.

6

Am Montag mussten die Studenten sich einschreiben; die Kurse begannen am Dienstag, und daher war am Mittwochmorgen die erste Vorlesung von Philosophie, Nr. 268, Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie: Mo. u. Mi. 9 Uhr, Fr. 13 Uhr, Verwaltungsgebäude, Zimmer 22 (3 Punkte werden auf das Pensum angerechnet).

Um Viertel vor neun trafen die ersten ein. Die Studenten aus dem ersten Semester prüften die Nummer auf ihrem Stundenplan nach; die älteren Semester sammelten sich in einer Ecke.

«He! Hallo, Harvey!» Ein großer, überschlanker Junge in gelb karierter Hose, dunkelrotem Hemd und gelbem Seidenhalstuch tauchte unter der Tür auf und wurde sofort von der Gruppe in der Ecke begrüßt. «Wie steht’s denn so?»

«Hast du den Kurs auch belegt?»

Harvey sah sich nach allen Seiten um, um festzustellen, ob hübsche neue Mädchen aufgetaucht seien, und schlenderte dann herüber. «Na sicher hab ich belegt.» Harvey Shacter parkte sein elegant gekleidetes Hinterteil auf der Armlehne von Lillian Dushkins Stuhl. «Könnt ihr euch vorstellen, dass Onkel Harvey auf drei geschenkte Punkte verzichtet? Kennt ihr Cy Berenson? Der hat die Vorlesung letztes Jahr gehört und nicht mal die Abschlussprüfung gemacht. Der Rabbi hat ihn eine Fünfhundert-Wort-Arbeit schreiben lassen und ihm ein B gegeben.»

«Ja, aber Berenson hat jedes Mal die Jarmulke auf dem Kopf gehabt», sagte Henry Luftig, ein kleiner, dünner, eifriger junger Mann mit einer hohen, knochigen Stirn unter einer pechschwarzen Mähne. «Wahrscheinlich hat der Rabbi gedacht, er wüsste sowieso alles.»

«Jarmulke? Ach, du meinst diesen kleinen schwarzen Glatzendeckel? Okay, wenn das die Garantie für ein B ist, setze ich auch die Jarmulke auf.»

«Mann, ich kann’s kaum abwarten.»

Lillian Dushkin kicherte: «Wer weiß, vielleicht siehst du richtig süß damit aus.»

«Du, Lil», sagte Aaron Mazonson, «ich hab gehört, dieser Rabbi Lamden war ziemlich scharf. Ein Mädchen braucht sich nur in die vordere Reihe zu setzen und ihm schöne Augen zu machen, und schon hat sie ihr A.»

Ein jüngerer Student mischte sich ein. «Dieses Jahr ist es gar nicht Rabbi Lamden; es kommt ein anderer.»

«Woher weißt du das?»

«Vom Einschreiben. Mein Tutor hat es gesagt, als ich ihm mein Studienprogramm gezeigt hab.»

«Im Verzeichnis steht aber Rabbi Lamden.»

«Ja, weil es erst im letzten Moment geändert worden ist.»

«Na großartig!», rief Shacter entrüstet. «Das fehlt mir gerade noch. Meine einzige gemütliche Vorlesung! Und jetzt kriegen wir einen Neuen, der uns erst mal beweisen wird, was für ein harter Bursche er ist.»

«Also lassen wir ihm die Luft ab», sagte Luftig grinsend.

Shacter dachte darüber nach, grinste ebenfalls und sagte: «Recht hast du. Wir lassen ihm die Luft ab.»

 

Die Straße stand voll von Autos, und auf den breiten Steinstufen des Verwaltungsgebäudes wimmelte es von Studenten, sodass Rabbi Small sich im Zickzack bis zur Tür vorarbeiten musste. Im Haus, in der Marmorrotunde, standen Scharen von Studenten um Tische herum, auf denen große Schilder standen: HELFT EUREM COLLEGE – Kauft Sportkarten – Gültig für alle sportlichen Ereignisse. ABONNIERT THE WINDRIFT – Eure Zeitschrift! WERDET MITGLIEDER – Drama-Club. BETEILIGT? Kommt in die Democratic Party. ENGAGIERTE STUDENTEN kommen zum SDS. HÖRT DIE WAHRHEIT – kommt in die Socialist Study Group.

«He! Bist du ein Freshman? Dann musst du zu den Sportveranstaltungen. Unterschreib das!»

«Sandra! Kommst du dieses Jahr wieder in den Drama-Club?»

«Hier hast du ein Freiexemplar von The Windrift

Der Rabbi schaffte die Treppe, die zu seinem Büro führte, ohne etwas zu kaufen, etwas zuzusagen oder zu unterschreiben. Froh und erregt über den ungewohnten Trubel, blieb er vor dem Vorlesungsraum stehen, um Luft zu schnappen.

Achtundzwanzig Studenten waren anwesend; die ihm vor ein paar Tagen zugesandte Hörerliste enthielt dreißig Namen. Er stieg auf das Podest und schrieb an die Tafel: Rabbi David Small, Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie. Dann sagte er: «Ich bin Rabbi Small. Ich halte diese Vorlesung an Stelle von Rabbi Lamden, der im Vorlesungsverzeichnis genannt ist.»

Harvey Shacter blinzelte Lillian Dushkin zu und hob müde die Hand. Der Rabbi nickte.

«Wie reden wir Sie an? Professor oder Doktor?»

«Oder Rabbi?» Das kam von Henry Luftig.

«Oder David?», fragte Lillian süß.

«Ich bin weder Doktor noch Professor. Rabbi ist ganz richtig.» Er warf Miss Dushkin einen strengen Blick zu und fuhr fort: «Dies ist eine einsemestrige Vorlesung, und unser Gebiet ist sehr umfangreich. Wir können nur hoffen, ein gewisses Verständnis für die Grundprinzipien unserer Religion und ihre Weiterentwicklung zu erlangen. Wenn Sie Gewinn aus dieser Vorlesung ziehen wollen, müssen Sie sehr viel lesen. Ich werde Ihnen von Zeit zu Zeit Bücher nennen, und ich hoffe, Ihnen innerhalb der nächsten zwei Wochen eine vervielfältigte Liste mit Literaturangaben geben zu können.»

«Ist das Pflichtlektüre?», fragte ein erschütterter Harvey Shacter.

«Einiges werden Sie lesen müssen, anderes ist mehr ein Begleittext. Wir beginnen mit der Lektüre der Fünf Bücher Mose und der Thora, den Grundlagen unserer Religion. Ich erwarte, dass Sie das in den nächsten zwei bis drei Wochen gelesen haben, und werde dann eine einstündige Prüfung abhalten.»

«Das ist aber furchtbar viel», protestierte Shacter.

«So viel ist das gar nicht. Ich erwarte auch kein intensives Studium. Lesen Sie es wie einen Roman.» Er hielt ein mitgebrachtes Exemplar des Alten Testaments hoch. «Sehen wir mal nach. In dieser Ausgabe umfasst es etwa zweihundertfünfzig Seiten. Es ist ein großer, klarer Druck. Nicht mehr als der Umfang eines kurzen Romans. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das für College-Studenten zu viel sein sollte.»

«Welche Ausgabe sollen wir benutzen?»

«Ist es im Buchhandel zu kaufen?»

«Legen Sie auf eine bestimmte Übersetzung wert?»

«Können wir das Original lesen?» Das war Mazonsons Frage.

«Aber selbstverständlich, wenn Sie das können», sagte der Rabbi lächelnd. «Für alle übrigen genügt jede englische Ausgabe. Wenn es nicht in der Hausbuchhandlung ist, werden Sie es überall sonst kaufen können. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie es nicht bis zu den letzten Tagen vor dem Examen aufschöben. Wenn Sie sofort mit der Lektüre beginnen, werden Sie einen besseren Überblick über den Gegenstand meiner Vorlesung haben –»

«Was, soll das eine Vorlesung und Übung zugleich sein?» Henry Luftig war entgeistert.

«Was hatten Sie denn gedacht?», fragte der Rabbi nüchtern.

«Ja, ich dachte, es wäre eine – wissen Sie, nur eine Art Diskussion.»

«Und wie wollen Sie über etwas diskutieren, von dem Sie nichts wissen?»

«Ach, mehr als generelles Prinzip. Schließlich weiß doch jeder was über Religion.»

«Sind Sie da so sicher, Mr. …?», begann der Rabbi sanft.

«Luftig. Hank Luftig.»

«Sind Sie sicher, Mr. Luftig? Ich gebe zu, die meisten Menschen haben generelle Ideen, aber leider sind die meisten viel zu generell. Man kann sagen, die Religion ist eine Art Planzeichnung für unser Denken und unsere Einstellung zum Leben. Aber nun unterscheidet sich die jüdische Religion weitgehendst von der heute gültigen christlichen Religion. In manchen Punkten aber sind die Unterschiede sehr fein und differenziert.»

«Ja, und darüber müssten wir doch diskutieren, Rabbi», sagte Shacter.

Der Rabbi dachte nach und schüttelte den Kopf. «Sie meinen, dass Sie durch die Addition Ihrer Unkenntnis zu Kenntnis gelangen könnten?»

«Ja, also …»

«Nein, nein. Lassen Sie uns bei der traditionellen Methode bleiben. Wenn Sie einmal etwas wissen, dann können wir vielleicht über die Auslegung diskutieren.» Nachdem die Verfahrensfragen geklärt waren, begann der Rabbi mit seiner Einführung. «Ein sehr augenfälliger Unterschied zwischen dem Judentum und vielen anderen Religionen ist der, dass wir nicht durch ein offizielles Glaubensbekenntnis gebunden sind. Bei uns ist es mehr ein Zufall der Geburt. Wenn Sie als Jude geboren werden, sind Sie Jude; zumindest bis Sie offiziell zu einer anderen Religion konvertieren. Ein als Jude geborener Atheist ist darum immer noch Jude. Und andersherum: Jemand, der nicht als Jude geboren ist, aber unseren traditionellen Gebräuchen folgt und unseren traditionellen Glauben teilt, würde trotzdem nicht als Jude betrachtet, solange er nicht offiziell zum Judentum übergetreten wäre.»

Er lächelte. «Vielleicht kann ich noch zugunsten etwaiger heißblütiger Verfechterinnen der Emanzipation der Frau hinzufügen, dass nach dem rabbinischen Gesetz nur das Kind einer jüdischen Mutter – bemerken Sie bitte: Mutter, nicht Vater – Jude ist.»

«Wollen Sie uns auf den Arm nehmen, Rabbi?»

Er war durch die Unterbrechung durch ein hübsches Mädchen aus der ersten Reihe erschrocken.

«Ich verstehe nicht ganz, Miss …?»

«Goldstein. Und ich schreibe es Ms. Goldstein.»

«Verzeihen Sie mir, Ms. Goldstein», sagte der Rabbi ernst. «Ich hätte das wissen müssen.»

«Ich meine, ist das nicht ein Dreh, den jüdische, männliche Chauvinisten Frauen gegenüber anwenden, um zu vertuschen, dass sie sie doch nur für zweitklassig halten? Die Frauen machen eine Gehirnwäsche durch, bis sie glauben, an Wichtigkeit gewonnen zu haben, weil sie entscheiden dürfen, ob das Kind der jüdischen Rasse, Nation oder was es sonst sein mag, angehört. Na, wunderbar! Dabei war es in Wirklichkeit doch wohl so, dass es bei den Juden als überall verfolgter Minderheit sicherer war, wenn man die Abstammung von der Mutter herleitete?»

«Ach, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Ja, ich nehme an, dass das der Grund gewesen sein mag», gab er zu.

Ein frostiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. «Und stimmt es nicht auch, dass die Frauen bis zum heutigen Tag keinen Platz in der jüdischen Religion haben? In manchen Synagogen versteckt man sie sogar hinter einem Vorhang auf der Galerie.»

«Das gibt es nur in streng orthodoxen Gemeinden.»

«In unserer Synagoge sitzen sie an einer Seite», sagte Lillian Dushkin.

«Und sie dürfen nicht am Gottesdienst teilnehmen», fügte Ms. Goldstein hinzu.

«Das ist nicht wahr», sagte der Rabbi. «Der Gottesdienst ist die Rezitation einer Folge von Gebeten. Frauen, die am Gottesdienst teilnehmen, sprechen die Gebete genau wie die Männer.»

«Und was nützt das?», schnaubte Lillian Dushkin. «Sie werden nie aufgerufen, etwas vorzulesen oder vorzutragen.»

«Doch, das gibt es auch, in Reform-Synagogen», korrigierte der Rabbi.

«Ich weiß ganz genau, dass ein Mann sich von seiner Frau scheiden kann, indem er ihr einfach einen Brief schickt», sagte Mark Leventhal, nicht aus übergroßem Mitgefühl für die Frauen, sondern weil sie anscheinend ihren Lehrer in die Enge getrieben hatten. «Und sie kann sich von ihm nicht scheiden lassen.»

«Und wenn ihr Mann stirbt, muss sie ihren Schwager heiraten», sagte Mazonson aus demselben Grund.

Der Rabbi hielt beide Hände hoch, um sie zur Ruhe zu bringen. «Dies ist ein sehr gutes Beispiel», sagte er, «für die Gefährlichkeit von Diskussionen, die auf Unwissenheit und sehr begrenzten Kenntnissen basieren.»

Sie wurden nun wieder ruhiger.

«Erstens ist unsere Religion», fuhr er nun fort, «nicht so zeremoniell wie beispielsweise die katholische Religion, die einen geweihten, heiligen Ort, nämlich die Kirche, für ihre Ausübung braucht. Das Zentrum unserer religiösen Verrichtungen ist viel mehr das Heim als die Synagoge. Und im Heim nimmt die Frau nun ganz gewiss an jedweder Zeremonie teil. Sie bereitet das Haus für den Sabbat vor, und sie ist es, die die Sabbatkerzen segnet.»

Ms. Goldstein flüsterte ihrer Nachbarin etwas zu. Sie lachte.

«Wir sind nicht immun gegen die Einflüsse unserer Umwelt», der Rabbi hob die Stimme etwas an. «Solange es Geschichtsschreibung gibt, war die Gesellschaft patriarchalisch, aber die Zehn Gebote fordern, dass man Vater und Mutter ehrt, und normalerweise sprechen wir auch von Vater und Mutter, viel öfter als von dem schwächlichen Kollektivwort Eltern. Sogar in biblischer Zeit konnte eine jüdische Frau nicht gezwungen werden, gegen ihren Willen zu heiraten. Die Strafe für Ehebruch war der Tod, aber beide Ehebrecher traf dieselbe Strafe. Wenn eine Frau heiratete, blieb sie im Besitz ihres Vermögens, und wenn sie geschieden wurde, nahm sie es nicht nur mit, sondern sie erhielt auch eine hohe Summe, die vorher im Heiratsvertrag für den Fall einer Scheidung festgelegt worden war.»

«Aber ein Mann konnte sich jederzeit von seiner Frau scheiden lassen; sie konnte das nie.» Es war wieder Leventhal.

«Nein. Die Regeln dieses Vorgangs verlangten, dass der Mann die Scheidung gab und die Frau sie entgegennahm. Aber er muss vor ein rabbinisches Gericht gehen und die Richter überzeugen, ehe sie ihm ein get geben, einen Scheidebrief. Die Frau kann dasselbe tun. Der Unterschied ist, dass das rabbinische Gericht dann dem Mann befiehlt, ihr die Scheidung zu geben.»

«Und wenn er das nicht will?»

«Dann können die Rabbiner alle Zwangsmaßnahmen ergreifen, über die sie verfügen. Im modernen Israel stecken sie ihn ins Gefängnis, bis er einwilligt. Ich sollte noch hinzufügen, dass schon in früheren Zeiten, sogar nach heutigem Standpunkt, die Gründe für eine Scheidung sehr liberal waren, liberaler als in den meisten westlichen Staaten heute. Es gab zum Beispiel die Scheidung aus gegenseitigem Übereinkommen. Die Frau konnte die Scheidung verlangen, wenn ihr Mann ihr physisch unangenehm war, oder wenn er der in der Grundlage für das eheliche Leben festgelegten Pflicht nicht nachkam. ‹Lass einen Mann seine Frau mehr ehren als sich selbst und sie so lieben, wie er sich liebt› Nein, Ms. Goldstein, ich sehe in den Scheidungsgesetzen nichts, was eine Frau als zweitklassig erscheinen lässt.»

«Wie ist das mit der Witwe, die ihren Schwager heiraten muss?», fragte Mazonson.

«Oder andersherum?», fragte der Rabbi lächelnd. «Es kommt immer auf den Blickpunkt an.»

«Jetzt verstehe ich Sie nicht.»

«Offenbar kennen Sie das Gesetz oder vielmehr seine Absicht nicht. Das Gesetz verlangte nur dann die Heirat zwischen Witwe und Schwager, wenn sie kinderlos war. Aber der Zwang galt für beide, und nach der Bibel war die Absicht die, dass, falls sie ein Kind bekam, es nach ihrem toten Ehemann benannt würde, ‹dass sein Name nicht vertilget werde aus Israel›.»

«Ja, aber ich hab gehört –»

«Warum sollte –»

«Mir kommt es so vor –»

«Und was ist mit Golda Meir?»

Der Rabbi klopfte mit den Knöcheln auf das Pult, um Ruhe zu erlangen.

«Und warum müssen wir dann in der Synagoge getrennt sitzen?», fragte Miss Dushkin.

«Bestimmt nicht, weil Frauen als minderwertig betrachtet werden», sagte er lächelnd. «Das geht noch auf primitive Zeiten zurück, als bei vielen Religionen ein Gottesdienst, an dem beide Geschlechter teilnahmen, in einer Orgie endete – was völlig im Sinne der Planung war, da es um Fruchtbarkeitsriten ging. In jüngerer Zeit war man der Meinung, dass die natürliche Anziehung der Geschlechter der Konzentration auf das Gebet hinderlich wäre.» Er spreizte die Hände und sagte trocken: «Wie lange ist es her, dass die Koedukation durch die Behauptung verunglimpft wurde, Jungen und Mädchen, die in einem Klassenzimmer säßen, könnten sich nicht auf den Unterricht konzentrieren? Aber sehen Sie», fuhr er fort, «Sie machen alle den Fehler, sich Ihre Meinungen nach einzelnen kleinen Brocken von Informationen oder Fehlinformationen, statt nach Ihren Erfahrungen zu formen. Denken Sie an Ihre eigenen Familien, und dann fragen Sie sich, ob die Frauen, ihre Mütter, Großmütter oder Tanten von ihren Ehemännern oder ihren Familien als untergeordnet angesehen werden.»

Als sie am Ende der Stunde hinausgingen, drehte sich Harvey Shacter zu Henry Luftig um. «Ich dachte, du wolltest ihm die Luft ablassen?»

Luftig schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht. Ich dachte schon, wir hätten ihn in den ersten Runden in die Ecke gedrängt, aber dann hat er kolossal aufgeholt. Passt bloß auf – der Bursche kann sich als ganz harter Brocken herausstellen.»