15

Blume

 

Das Erste, was wir im Ozeanografischen Museum sehen, ist ein Polarbär.

»Auch wenn ich einiges erwartet hätte, aber einen Bären in einem Meeresmuseum auszustellen, das kann nur den Franzosen einfallen«, mokiert sich Sepia.

»Monegassen«, korrigiere ich sie.

»Ist doch dasselbe«, behauptet Sepia.

»Habt ihr übrigens gewusst, dass das der größte Fleischfresser der Welt ist?«, berichtet Sonja, während sie die Informationstafel neben dem ausgestopften Vieh liest.

»Ah ja, interessant«, gebe ich lahm zurück, während Sepia ausgiebig gähnt.

Als Nächstes begeben wir uns zur Unterwasserausstellung, und die ist schon viel besser. Erstens ist es dort herrlich kühl, und zweitens gibt es gleich beim Abgang einen Getränkeautomaten, aus dem wir uns ein paar eiskalte Dosen Cola ziehen.

Dann stehen wir andächtig vor einem riesigen Aquarium. Darin schwimmt allerlei Getier, von verschiedenen Fischen bis hin zu Meeresschildkröten, und auch Clownfische wie in Findet Nemo entdecken wir. Sie sehen besonders niedlich aus.

Aber dann plötzlich, im Hintergrund, ein Hai! Der ist bedeutend größer als die anderen Fische und steuert geradewegs auf einen ganz kleinen bunten Kerl zu, und der scheint das gefräßige Monster gar nicht zu bemerken.

Moment mal, das soll hier jetzt aber nicht so etwas wie eine Lebendfütterung werden, oder?

»Hau ab, Kleiner, schnell!«, rufe ich, und als er nicht reagiert, hämmere ich gegen die Scheibe.

»Was hast du denn?«, fragt Sonja erstaunt.

»Der verdammte Hai will den Kleinen fressen!«

Sonja lacht. »Unsinn, das sind doch zwei getrennte Aquarien. Der Hai befindet sich hinter einer Trennscheibe.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja. Sieh nur, da oben kannst du den Rand der Scheibe erkennen.«

Sie hat recht, und ich atme erleichtert auf. So muss ich den Kleinen wenigstens nicht rächen, indem ich beim nächsten Restaurantbesuch Haifischsteak esse. Zufrieden gehen wir einen Stock tiefer. Dort ist es ziemlich dunkel, und man kann sehen, dass es im Haifischbecken nur so wimmelt von diesen Fressmaschinen. Aber auch in den anderen Becken gibt es jede Menge unheimlicher Meereswesen. Wir entdecken riesige Stachelrochen, Skorpionfische, furchterregende Muränen und gigantische Quallen. Langsam frage ich mich, wie überhaupt noch ein Mensch auf dem offenen Meer ins Wasser springen kann, wenn solche Monster darin schwimmen.

»Das reinste Gruselkabinett«, stelle ich fest. »Wenn ich da an die Verrückten denke, die vorhin ins Wasser gesprungen sind, kann ich nur sagen, ganz schön leichtsinnig.«

»Na ja, in diesen Gewässern sind solche Viecher ja nicht besonders häufig«, schwächt Sonja ab.

»Trotzdem, mir würde es schon reichen, wenn nur eines von diesen Horrorgeschöpfen daherkäme. Okay, für meinen Teil bin ich hier durch. Was gibt es sonst noch in dem Laden?«, frage ich.

»Die Jacques-Cousteau-Ausstellung, die ist im oberen Stock«, sagt sie.

»Gut, sehen wir sie uns an, wenn wir schon mal hier sind.«

Die Ausstellung besteht hauptsächlich aus langweiligen Fotos von Booten und Tauchern.

»Ziemlich öde, findet ihr nicht?«, meine ich schon nach wenigen Minuten.

»Stinklangweilig«, stimmt Sepia mir zu. »Lasst uns gehen!«

Wir nehmen beim Getränkeautomaten noch drei Dosen mit, dann spazieren wir wieder Richtung Théâtre du Fort Antoine. Dort legen wir eine kurze Rast ein, indem wir uns auf die obersten Stufen setzen und den Ausblick auf den Hafen genießen.

»Sagte Bodo nicht, er hätte zu arbeiten?«, fragt Sonja auf einmal.

»Ja, wieso?«

»Weil er gerade faul in der Sonne liegt, wenn ich mich nicht irre. Das ist doch die Scene it, dort neben dem Segler?« Sie zeigt in die Richtung, und ich strenge meine Augen an.

Tatsächlich, Bodo scheint es sich auf dem Sonnendeck gemütlich gemacht zu haben, genau wie ich vorhin.

»Ja, das müsste er sein«, sage ich.

»Nach Arbeit sieht das aber nicht aus«, meint jetzt auch Sepia mit einem aufsässigen Unterton in ihrer Stimme.

»Vielleicht ist er schon fertig, er sprach bloß von ein paar Telefonaten«, suche ich nach einer Erklärung. »Oder er legt eine Pause ein.«

»Oder er wollte bloß seine Ruhe haben«, schlussfolgert Sonja.

Ja, weil ihr ihm auf den Wecker geht, denke ich gereizt.

Es stört mich, dass sie sich so viele Gedanken darüber machen, was Bodo mit seiner Zeit anstellt. Er wird schon wissen, wann er zu arbeiten hat, und wann nicht. Bei Geschäftsleuten ist das eben so, die müssen nicht täglich acht Stunden im Büro hocken.

»Wir können ja bei ihm vorbeischauen, dann werden wir es gleich erfahren«, vermelde ich kurz entschlossen, und um weitere Kommentare zu vermeiden, marschiere ich los.

Wieder am Hafen angelangt, kommen wir an drei Jetskis vorbei, die an Halteleinen im Wasser hängen.

»Wow, geil, mit so einem Ding wollte ich schon immer fahren!«, begeistert sich Sepia sofort dafür.

»Sag bloß, du bist noch nie mit so etwas gefahren?«, fragt Sonja amüsiert.

Es klingt wirklich seltsam, dass ausgerechnet Sepia noch nie mit einem Jetski gefahren ist, wo einem die Gefährte doch in jedem Ferienklub förmlich aufgedrängt werden.

»Nein, hat noch nie hingehauen«, bekennt Sepia und beäugt mit funkelnden Augen die bunten Flitzer.

»Und du, Heidi, bist du schon mal mit so einem gefahren?«, fragt Sonja mich.

»Logo, schon vor einer Ewigkeit in Griechenland, und auch danach diverse Male«, gebe ich lässig zurück.

Wobei das mit Griechenland stimmt, da habe ich das tatsächlich einmal ausprobiert, allerdings eher passiv, als Beifahrerin bei meinem damaligen Freund, und es hat Spaß gemacht. Aber die Einzelheiten lasse ich natürlich weg, weil es mich reizt, Sepia glauben zu lassen, dass es ein motorisiertes Fahrzeug auf dieser Welt gibt, das ich schon gefahren bin und sie nicht. Und mit dem Zusatz »diverse Male« habe ich noch zusätzlich Wirkung erzielt.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, stöhnt Sepia auf. »Ihr zwei Trantüten habt das schon ausprobiert und ich nicht, das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Sonja, frag mal, ob man sich die ausleihen kann!«, fordert sie plötzlich.

»Fragen? Wen denn?«, fragt Sonja entgeistert.

Es ist weit und breit niemand zu sehen, der für die Jetskis zuständig wäre, und ich bin heilfroh darüber. Obwohl ich es damals in Griechenland lustig gefunden habe, bin ich mir doch nicht ganz sicher, ob es dasselbe ist, wenn man selbst am Steuer sitzt.

Aber Sepia gibt jetzt keine Ruhe mehr. »Was weiß ich, irgendjemandem müssen die doch gehören. Frag im Jachtklub!«

»Im Jachtklub? Glaubst du etwa, die Snobs vom Jachtklub verleihen Jetskis?«, wehrt Sonja ab.

»Hm«, macht Sepia, dann runzelt sie nachdenklich die Stirn. »Ich hab’s: Wir fragen Bodo, der kennt doch die ganzen Leute hier!«

Ohne uns weiter nach unserer Meinung zu fragen, latscht sie drauflos, und uns bleibt nichts anderes übrig, als ihr hinterherzurennen. Bodo blinzelt überrascht, als sie plötzlich vor ihm steht und ihm die Sonne nimmt.

»Bodo, wir wollen Jetski fahren!«, konfrontiert sie ihn übergangslos mit ihrem Wunsch.

»Ah ja?«, reagiert er säuerlich. »Ich will zum Mond fliegen, und das interessiert auch keinen.«

»Das ist etwas ganz anderes. Da drüben stehen Jetskis!« Sepia zeigt zur Pier hinüber. »Kann man die ausleihen?«

Bodo setzt sich auf und schirmt die Augen mit der Hand ab, während er ihrem Blick folgt.

»Ach so, die. Die gehören Bertrand«, meint er dann.

»Und, kann man die ausleihen?«

»Normalerweise nicht«, winkt Bodo ab. »Die sind privat.«

»Was heißt normalerweise?«, hakt Sepia nach.

»Das heißt, dass Bertrand sie normalerweise nicht an Touristen verleiht«, versucht Bodo zu präzisieren.

»Und wenn er jemanden kennt, macht er dann mal eine Ausnahme?«

Bodo zuckt die Achseln.

»Kann schon sein, aber ihr kennt ihn ja nicht.«

»Aber du kennst ihn!«, argumentiert Sepia beharrlich weiter. »Komm mit rüber, wir fragen ihn.«

Bodo zögert.

»So gut kenne ich ihn auch wieder nicht, außerdem will ich das nicht ausnutzen«, hält er dagegen.

»Du kannst doch wenigstens fragen«, drängt Sepia. »Heidi zuliebe!«, fügt sie dann plötzlich hinzu.

Heidi zuliebe? Hat sie noch alle Tassen im Schrank?

Bodo zieht eine Augenbraue in die Höhe.

»Will Heidi denn auch fahren?«, fragt er verwundert.

»Ja, will sie«, behauptet Sepia, bevor ich noch etwas sagen kann.

»Könnt ihr das denn überhaupt?«, versucht Bodo einen letzten Einwand.

»Heidi ist ein alter Hase auf dem Gebiet«, erklärt Sepia, und der Ausdruck »alter Hase« passt mir eigentlich überhaupt nicht. »Sonja kann es auch, und ich fahre Motorradrennen, also werde ich wohl auch mit so einem Wassermoped zurechtkommen.«

»Moped würde ich die Dinger nicht nennen, das sind immerhin Elfhunderter«, betont Bodo. »Du fährst wirklich Motorradrennen?«, fragt er dann.

»Allerdings!«, sagt Sepia trotzig.

»Auf welchem Motorrad denn?«

»Auf einer FZR 1000

»Eine FZR 1000? Nicht schlecht.« Bodo nickt anerkennend, dann gibt er seinen Widerstand endgültig auf und wuchtet sich in die Höhe. »Also gut, ich kann Bertrand ja mal fragen«, meint er achselzuckend.

Und dann: »Heidi zuliebe!«

 

Erika Eleniak hat es meines Wissens nie getan, und Alexandra Paul auch nicht. Auch nicht Carmen Electra, ja nicht einmal Pamela Anderson, wobei es bei der wahrscheinlich eher daran lag, dass Baywatch am Nachmittag lief und die Szenen deswegen jugendfrei bleiben mussten.

Sie alle haben nie Bikinis getragen, wenn sie sich auf einen Jetski schwangen, und die haben genau gewusst, warum.

Bodo hat Bertrand – einen schmierigen Typen in mittleren Jahren, den man auf den ersten Blick als Drogenschmuggler einstufen würde – im Hafenbüro ausfindig gemacht, und als er ihm jetzt unsere Wünsche auseinandersetzt, setzt der sofort ein anzügliches Grinsen auf. Dann sagt er etwas in einem Kauderwelsch aus Englisch und Französisch und mustert uns drei von oben bis unten.

»Was sagt er?«, will Sepia wissen.

»Er fragt, ob ihr überhaupt Badekleidung mithabt«, übersetzt Bodo.

Das bejahen wir, denn auch Sonja und Sepia tragen unter ihren Kleidern Bikinis, vermutlich, weil sie insgeheim auch auf ein Sonnenbad an Deck der Scene it gehofft haben.

»Also, wie sieht’s aus? Dürfen wir fahren?«, zappelt Sepia ungeduldig herum, während Bodo noch mit Bertrand verhandelt.

»Alles klar, ihr dürft«, erklärt Bodo dann und erntet dafür helle Begeisterung von Sepia. »Ihr sollt euch schon mal die Kleider ausziehen, er holt inzwischen Schwimmwesten und Sturzhelme.«

Ich zucke unwillkürlich ein bisschen zusammen. Sturzhelme? Ist das denn nötig? Wir wollen doch keinen Geschwindigkeitsweltrekord aufstellen.

Beim Ausziehen der Kleider bemerke ich, dass Sepia einen Stringbikini trägt.

»Äh, Sepia, findest du nicht, dass das etwas gewagt aussieht auf so einem Ding?«, frage ich vorsichtig.

»Mir doch egal«, kommt es resolut zurück. »Wir sind hier schließlich an der Côte d’Azur, da sollen die Promis ruhig was zu sehen kriegen.«

Okay, wenn sie meint. Als Bertrand mit den Schwimmwesten und Helmen zurückkommt, grinst er noch unverschämter als vorhin, und jetzt ist mir auch klar, dass er die paar Liter Benzin nur dafür opfert, dass wir vor ihm einen Striptease hinlegen.

»So, wer von euch fährt am besten?«, übersetzt Bodo dann eine Frage von ihm.

»Heidi«, antworten Sonja und Sepia wie aus einem Mund.

»Wozu will er das wissen?«, frage ich mit leichtem Unbehagen.

»Dann kannst du den Roten nehmen, das ist der Schnellste«, kommt es als Erklärung.

Der Schnellste? Mir wird sofort mulmig. Andererseits, niemand sagt, dass ich Vollgas geben muss, nicht wahr?

Schließlich hocken wir auf den Jetskis, und zu meiner Beruhigung liegen diese Gefährte recht stabil im Wasser. Bertrand hat jeder von uns einen Anhänger mit einer Art Zündschlüssel um das rechte Handgelenk gebunden, dann erklärt er uns gestenreich, wie man diese Dinger startet. Vorsichtig drücke ich den Startknopf, und mit einem drohenden Schütteln erwacht die Maschine unter mir zum Leben. Bertrand löst die Halteleinen hinter uns.

»Die Hafeneinfahrt seht ihr ja«, ruft Bodo zur Erklärung. »Ihr müsst nur um die eine Pier herumfahren, dann kommt ihr geradewegs dorthin. Und im Hafen nicht zu viel Gas geben, das sieht der Hafenmeister nicht gern! Ach ja, und Heidi …«

»Ja?« Ich drehe mich um.

»Bertrand sagt, du sollst es besser vorsichtig angehen, dein Ding geht nämlich höllisch ab!«

Vorsichtig angehen?

Worauf er wetten kann!

»Alles klar!«

Ich drücke mit einem Heidenrespekt ganz sachte aufs Gas, der Motor kommt auf Drehzahl, und plötzlich – setzt sich der Jetski in Bewegung.

Ich werd verrückt. Das funktioniert ja wirklich. Ich fahre!

Okay, mal sehen. Wie steuert man denn nun dieses Ding? Vorsichtig drehe ich den Lenker einen Tick nach rechts, und der Jetski fährt nach rechts. Ich gebe einen Millimeter mehr Gas, und er beschleunigt, und zwar ganz gemächlich, genau so, wie ich es mir wünsche. Dann lenke ich nach links, und ich fahre nach links, einfach so.

Das ist ja kinderleicht!

Und ich naives Lieschen habe immer einen Riesenrespekt vor den wilden Kerlen gehabt, die damit übermütig auf dem Wasser herumtobten – dabei kann das doch jeder!

Die Erkenntnis lässt mich gleich ein bisschen lockerer werden. Ich lege noch ein bisschen an Tempo zu und steuere die Wasserdurchfahrt zwischen den Jachten an. Zufrieden registriere ich die bewundernden Blicke der Menschen auf den Booten, was auch kein Wunder ist, sehen wir in unseren schwarzen Schwimmwesten und den Helmen samt Sonnenbrillen doch aus wie schwarze Ritter, und unsere Kehrseiten in den Bikinihöschen, die man unweigerlich rausstrecken muss, wenn man auf einem Jetski sitzt, bilden dazu sicher einen reizvollen Kontrast. Ich fahre als Erste, und als ich mich umdrehe, sehe ich Sonja und Sepia, die mir gehorsam folgen.

Ha! Das finde ich jetzt gleich noch besser. Ich komme mir vor wie der Staffelführer eines Düsenjetgeschwaders, schade nur, dass wir keine Funkverbindung haben wie in diesen coolen Fliegerfilmen.

»Foxtrott an Leader, Foxtrott an Leader! Wo fahren wir überhaupt hin?«, würde es dann von den anderen kommen, und ich könnte antworten: »Leader an Foxtrott! Leader an Foxtrott! Klappe halten, Foxtrott, sonst fällt Leader noch auf die Schnauze!«, denn ein bisschen konzentrieren muss ich mich natürlich schon noch am Anfang, habe ich doch das heißeste Gerät von uns dreien unter mir.

Nachdem wir den Anlegebereich der Jachten hinter uns gelassen haben, kommen wir zur breiten Hafenausfahrt, vorbei an der Stelle, wo die großen Passagierschiffe anlegen. Die Touristen an Bord machen natürlich sofort große Augen, als wir an ihnen vorbeiziehen, und zücken sensationslüstern ihre Kameras, um Fotos von den vermeintlichen Society-Tussis zu schießen, die auf ihren Jetskis durch fürstliche Hoheitsgewässer pflügen.

Dann endlich das offene Meer. Die plötzliche Weite macht mir ein bisschen Angst, andererseits ist es aber auch eine gute Gelegenheit, um ein bisschen Dampf zu machen. Ich drücke wieder leicht am Gashebel, und ohne Vorwarnung macht mein Jetski einen Satz und schießt vorwärts. Es ist wie ein Schock. Bertrand hat kein bisschen übertrieben mit seiner Warnung, das ist wahrhaftig ein Höllengefährt. Meine Geschwindigkeit ist jetzt so hoch, dass ich bei jeder noch so kleinen Welle abhebe, und erschrocken nehme ich das Gas wieder zurück, um mich erst einmal an das Tempo zu gewöhnen.

Dann plötzlich, ohne jede Vorwarnung, taucht er vor meinen Augen auf: Der Spanner vom Segelboot! Er hockt immer noch in seinem lächerlichen Kajak – oder schon wieder, denn so lange kann er doch unmöglich herumgepaddelt sein. Er befindet sich etwa hundert Meter vor mir und steuert geradewegs auf den Hafen zu.

Was mich ganz spontan auf eine Idee bringt.

Mit dem Helm und der Sonnenbrille kann er mein Gesicht nicht erkennen, und falls doch – ist es mir eigentlich auch völlig schnuppe, weil ich finde, dass er eine kleine Strafe verdient hat für seine widerwärtige Zudringlichkeit. Also gebe ich wieder mehr Gas. Der Jetski reagiert sofort darauf, indem er vorne hochsteigt und in wildem Galopp über die Wellen zu fliegen beginnt, und mit rasender Geschwindigkeit schieße ich auf den Mann zu.

Der registriert erst jetzt, dass ich geradewegs auf ihn zuhalte, und ich glaube zu erkennen, dass seine Augen unter der Krempe des Käppis riesengroß werden. In geradezu lächerlicher Hilflosigkeit reißt er sein Paddel in die Höhe und beginnt wie wild damit herumzufuchteln, um mich auf ihn aufmerksam zu machen.

Was ich natürlich ignoriere, und erst im allerletzten Moment ziehe ich den Jetski nach links. Dabei unterschätze ich mein Tempo ein bisschen, weshalb ich noch knapper an ihm vorbeiziehe als ursprünglich geplant. Und dennoch: Das Ergebnis ist allererste Sahne. Ich knalle so dicht an ihm vorbei, dass ich ihm mühelos sein doofes Käppi vom Kopf ziehen könnte, und als ich mich nach ihm umdrehe, vollführt er eine perfekte Eskimorolle. Aber auch das hilft ihm nicht lange, denn schon in der nächsten Sekunde donnert auch Sepia, die mir natürlich in rennmäßigem Ehrgeiz gefolgt ist und ihn erst im allerletzten Moment gesehen hat, in Zentimeterabstand an ihm vorbei, und in seiner Panik geht er gleich noch einmal auf Tauchstation. Als er erneut hochkommt, hat er sein Käppi verloren und schüttelt sich wie ein nasser Hund.

Ich grinse bis über beide Ohren. Das hat gesessen. Der Widerling hat gekriegt, was er verdient hat.

Sepia fährt näher an mich heran, als ich meine Fahrt verlangsame, und dann auch Sonja, die vorhin etwas zurückgefallen war. Beide schütteln fassungslos die Köpfe.

»Heidi, bist du verrückt geworden?! Hast du den Mann gar nicht gesehen?«, ruft Sepia.

»Keine Bange, der hatte das verdient!«, gebe ich zurück.

»Willst du etwa sagen, das war Absicht?«

»Ja, aber das erkläre ich euch später! Und jetzt seht doch mal zu, ob ihr mir nachkommt!«, rufe ich übermütig, dann gebe ich wieder Gas.

Mein Jetski schießt sofort wieder los, und ich ducke mich tief über den Lenker und schieße mit Höllentempo über das Wasser. Dann, als ich gerade den Geschwindigkeitsrausch genieße und mir gleichzeitig Gedanken darüber mache, wie weit Korsika eigentlich von der französischen Küste entfernt ist, weil ich dort nicht aus Versehen an Land krachen will, zieht plötzlich ein halb nackter schmaler Hintern an mir vorbei.

Sepia!

Was erlaubt die sich eigentlich? Die überholt doch glatt ihren Leader!

Hätte ich jetzt Sprechfunk, würde ich sie natürlich sofort zurückpfeifen: »Leader an Little Butt! Leader an Little Butt! Gehen sie sofort wieder zurück in die Formation, Little Butt!« Aber diese Möglichkeit habe ich ja nicht, also bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr anderweitig Respekt beizubringen – indem ich ihr zum Beispiel zeige, wer der wahre Meister ist.

Ich habe ja noch Reserven, also gebe ich Vollgas. Jetzt erst zeigt mein Jetski, was wirklich in ihm steckt. Ich habe keine Ahnung, womit Bertrand das Ding aufgetankt hat, aber es muss eine Mischung aus Raketentreibstoff und Nitroglyzerin gewesen sein. Der Jetski berührt die Wasseroberfläche kaum noch, nur dann und wann knallt er mit harten Schlägen und aufheulendem Motor auf die Wellenkämme, und mit zusammengebissenen Zähnen rausche ich wild entschlossen an Sepia vorbei. Gleichzeitig drehe ich den Kopf nach ihr und jauchze übermütig auf, doch keine Sekunde später mache ich die Erfahrung, dass man eben das nicht machen sollte, wenn man gerade mit Überschallgeschwindigkeit übers Wasser rast.

Ich muss eine größere Welle übersehen haben oder etwas Ähnliches, denn plötzlich fühle ich, wie ich in die Luft katapultiert werde, und als ich wieder nach vorne blicke, sehe ich mich schon im Sturzflug auf die Wasseroberfläche zurasen. Dann schlage ich ein wie ein Kugelblitz und verliere augenblicklich die Orientierung. Schlagartig wird es unwirklich leise um mich herum. Ich vernehme bloß noch ein leises Blubbern, vermischt mit dem entfernten Geräusch von Motoren. Als ich die Augen wieder öffne, schwebe ich auf einer Wolke, die mich höher und höher trägt, dann sehe ich ein Licht, das auf mich zuzukommen scheint. Es wird immer heller, und die Berichte von Leuten mit Nahtoderfahrungen zucken durch mein Gehirn: Wie sie dem ewigen Licht entgegenschwebten, und wie angenehm das für sie war, und wie befreiend. So ist es jetzt auch bei mir, dieses Licht ist im Moment alles, wonach ich mich sehne, und es kommt näher und näher. Ich strecke meine Hand aus, will danach greifen, und dann – tauche ich aus dem Wasser auf und schnappe gierig nach Luft.

Ich sehe, dass sich mein Jetski inzwischen wieder aufgerichtet hat und herrenlos auf dem Wasser treibt. Auch Sepia und Sonja sind da, und sie schauen sorgenvoll auf mich herunter.

»Mensch, Heidi, hast du dich verletzt?«, ruft Sonja.

Ich treibe auf der Wasseroberfläche wie ein harpunierter Fisch und muss mich erst einmal sammeln.

»Alles in Ordnung bei dir, Heidi?«, fragt auch Sepia sorgenvoll, als ich nicht gleich antworte.

Ich versuche, meine Beine zu bewegen, und dann meine Arme, und alles scheint unversehrt zu sein.

»Ich bin okay, macht euch keine Sorgen«, sage ich so lässig wie möglich.

»Bist du dir sicher?«, fragt Sonja. »Dein Sturz sah wirklich böse aus.«

»Ach, das war doch eine Kleinigkeit, so etwas kann passieren«, beruhige ich sie und ärgere mich gleichzeitig über meine wackelige Stimme. »Und kaputtgegangen ist auch nichts.«

»Na ja, jedenfalls fast nichts«, bemerkt Sepia plötzlich.

»Was meinst du damit?«

Sepia sieht an meinem Körper entlang ins Wasser hinunter.

»Deine Bikinihose …«, sagt sie dann.

»Meine Bikinihose? Was ist damit?« Ich greife hastig nach unten – und erstarre. Da ist nichts – jedenfalls keine Bikinihose –, und ich taste weiter in der Hoffnung, dass sie vielleicht nur etwas tiefer gerutscht ist, aber auch an meinen Beinen kann ich sie nicht finden.

»Verdammt, wo ist die denn hin?«, rufe ich aus und blicke mich suchend um. »Seht ihr sie von da oben?«

Auch Sonja und Sepia beginnen die Wasseroberfläche abzusuchen.

»Ich kann sie nirgendwo sehen«, schüttelt Sonja den Kopf.

»Ich auch nicht«, bekennt Sepia.

»Das gibt’s doch nicht, die kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« Mit zunehmender Verzweiflung suche ich weiter. Langsam wird es mir unheimlich, hier so weit von der Küste entfernt im Wasser zu treiben. Die Unterwasserausstellung fällt mir wieder ein, mit den Haien und Muränen und Skorpionfischen und den riesigen Quallen. Eine unkontrollierbare Panik erfasst mich. Das Wasser unter mir ist tiefschwarz. Wer weiß, was sich da unten schon alles zusammengerottet hat, möglicherweise stehe ich ja bereits auf dem Speiseplan eines gefräßigen Tiefseemonsters …

Verdammt. Ich muss zusehen, dass ich aus diesem Wasser herauskomme, und zwar schnell!

Gerade will ich das meinen Freundinnen mitteilen, als Sonja plötzlich ihren Arm hochreißt und auf irgendetwas hinter mir deutet.

»Auweia! Seht mal, was da kommt!«, ruft sie aus.

Ich drehe mich hastig um, und dann sehe ich es auch.

Es kommt geradewegs auf uns zu, groß, bedrohlich und unaufhaltsam. Ich kenne es, ich habe es heute schon gesehen, und ich weiß, welche Gefahr von ihm ausgeht. Es ist das schrecklichste aller Monster!

Es ist die Neptun, und bei dem Kurs, den sie steuert, wird sie direkt an mir vorbeifahren, den Bauch voll gieriger Touristen samt ihren verdammten Kameras. Ich kann mir schon ausmalen, wie sie durcheinanderschnattern und sich an die Scheiben pressen, wie sie es vorhin bei den Nackten getan haben, die ins Wasser gesprungen waren.

Nur, diesmal bin ich die Nackte!

Mist, verdammter! Ich muss schleunigst raus hier, und genauso schleunigst brauche ich etwas zum Überziehen, denn auf der Neptun gibt es auch Fenster an Deck, wie ich nur zu gut weiß.

»Gebt mir was zum Anziehen, schnell!«, schreie ich.

»Was denn? Wir haben doch selber nichts an außer unseren Bikinis«, sagt Sonja hilflos.

»Zieh doch einfach deine Schwimmweste aus und unten rum an«, schlägt Sepia vor.

»Keine Chance, das schaffe ich nicht hier im Wasser«, rufe ich in zunehmender Verzweiflung, weil die Neptun immer näher kommt. Täusche ich mich, oder hat der Kapitän jetzt extra beschleunigt, um seinen Gästen eine kleine Show zu bieten? Dieser elende Mistkerl!

»Sepia, gib mir deine Schwimmweste!«, habe ich dann den rettenden Einfall. Wenn ich meine nicht ausziehen muss, müsste ich in ihre auch so hineinkommen.

»Wieso ich?«, ziert sie sich.

»Ist doch egal, wer von euch beiden, gebt mir einfach eine Weste!«, kreische ich unbeherrscht.

Endlich streift Sepia ihre Schwimmweste ab und wirft sie mir zu. Ich ergreife sie hastig und versuche, sie über meine Beine zu ziehen, aber auch das gestaltet sich schwieriger als gedacht, weil sich eine Schwimmweste aufgrund ihrer Konstruktion nicht so einfach unter Wasser drücken lässt. Ich unternehme mehrere Versuche, dann lege ich mich flach auf den Rücken und lasse meinen nackten Unterleib und meine Beine hochtreiben, um mit den Füßen voran in die Ausnehmungen für die Arme schlüpfen zu können, eine mehr als peinliche Prozedur vor meinen Freundinnen. Dann endlich gelingt es mir, die Weste an meinen Beinen hochzuziehen und die Haltebänder zu verknoten, und schließlich liege ich wie eine überdimensionale Knackwurst auf dem Rücken treibend im Wasser. Das Ganze hat seine Zeit gedauert, und die Touristen in der Neptun sind natürlich voll auf ihre Kosten gekommen bei meiner textilfreien Unterwasseraerobic.

So, jetzt muss ich nur noch auf meinen Jetski gelangen. Aus dem Wasser heraus ist das gar nicht so einfach, und wir brauchen zu dritt mehrere Anläufe, bis es endlich klappt.

Zu allem Überdruss verfallen Sonja und Sepia dann auch noch in völlig kindisches Gekicher, als ich in meiner Jumbo-Windelhose auf dem Jetski hocke, wodurch sich meine Laune nicht gerade bessert.

Aber das Schlimmste liegt noch vor mir: Die Rückkehr in den Hafen. Überflüssig zu beschreiben, welche Demütigung es bedeutet, in einem solchen Aufzug durch den Hafen von Monte Carlo zu kreuzen, und als ich dann von meinem Jetski klettere, bin ich natürlich der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.

Bertrand und Bodo – dem ich das übrigens ziemlich übel nehme – fallen fast um vor Lachen, als sie erfahren, dass da draußen jetzt möglicherweise ein weiblicher Hammerhai in einem Bikinihöschen von Hermès seine Runden zieht, und ich verziehe mich voller Scham und Wut zwischen ein paar Boote auf dem Trockendock, wo ich die beiden Schwimmwesten loswerden und mein Kleid wieder überstreifen kann.

Das Grinsen von Bertrand geht danach beinahe um seinen ganzen Kopf herum, weil er natürlich genau weiß, dass ich jetzt kein Höschen anhabe, und seine Einladung auf einen Drink lehne ich höflich, aber bestimmt ab.

Dann verabschiede ich mich mit knappen Worten und trete einen taktischen Rückzug an, weil mein Körper dringend eine Totalrestauration braucht.

Und von meinem Ego will ich jetzt gar nicht erst reden.