*
Mit äußerster Vorsicht und einem künstlerischen Fingerspitzengefühl veränderte Dr. Lombard in täglichen kleinen Operationen das Gesicht Carola Donanis. Er raffte die Gesichtshaut, er veränderte den Brauenschwung, er nahm winzige Knorpelstückchen aus den Ohren und formte sie um. Dann – als letztes, gewissermaßen als Generalprobe – ließ er die Haare schwarz färben und sie nach spanischer Art frisieren.
»Herrlich!« sagte Schwester Anne, als Carola unter der Trockenhaube hervorkam. »Sie sind wirklich ein ganz neuer Mensch, Madame –«
Carola schwieg. Die Erregung machte sie stumm. Sie wandte den Kopf um und suchte nach einem Spiegel. Aber nirgendwo war eine blanke Scheibe, selbst die Fenster waren aus Milchglas und spiegelten nichts wider.
»Noch eine Woche, Madame.« Dr. Lombard betrachtete sie wie ein Maler sein fertiges Gemälde, kritisch, in der Hoffnung, durch Aufsetzen einiger Lichter noch mehr an Wirkung herauszuholen. »Noch ahnt man die Narben hinter den Ohren und an den Nasenseiten. In einer Woche ist es so weit, daß man durch ein leichtes Make-up die letzten Spuren überdecken kann …«
»Und wie … wie sehe ich aus, Doktor …«, fragte Carola kaum hörbar. Dr. Lombard hob die Hand und führte Zeigefinger und Daumen an die Lippen.
»Unbeschreiblich! Carmen war ein Dorftrottel dagegen.«
»Wirklich –?«
»Mein Ehrenwort, Madame …«
Carola sah Dr. Lombard kritisch an. Er log nicht, sie erkannte es an seiner ehrlichen Begeisterung.
»Ich … ich werde nicht vor mir erschrecken, Doktor?« fragte sie noch einmal. Dr. Lombard wurde plötzlich ernst und nickte.
»Doch, Madame …«
»Doch?«
»Sie haben sich in Erinnerung … und wenn Sie sich in einer Woche wiedersehen werden, ist es nicht mehr Ihr Gesicht. Und doch ist es Ihr Gesicht … Das zu begreifen, das anzuerkennen, wird ein Schock sein. Sie werden sich an sich selbst erst gewöhnen müssen.«
»Es wird nicht so schwer sein, Doktor.« Carola lächelte verkrampft. In den vergangenen Wochen hatte sie sich immer diese Minute vorgestellt: Ich werde einen Spiegel bekommen, ich werde ihn vor mein Gesicht halten, und mir wird eine fremde Frau entgegensehen, die meine Stimme hat, meine Worte spricht, die Lippen nach meinen Sätzen formt … ich werde mich ansehen und mich betrachten wie eine Begegnung mit einer Fremden. Und ich werde mir immer vorsagen müssen: Du bist es. Du bist es. Du bist so, wie es dir der Spiegel zeigt … Und du bist nie anders gewesen –
Die Woche, die Dr. Lombard angekündigt hatte, verlängerte sich auf zehn Tage. Carola nahm alle Geduld in sich zusammen. Sie schlief jetzt viel … Dr. Lombard ließ ihr ins Abendessen immer ein geschmackloses Schlafmittel geben, von dem sie nichts wußte. Die Nerven sollten sich entspannen. Der Tag, an dem sie in den Spiegel sah, würde mehr an Kraft verbrauchen, als sie im Augenblick besaß.
Von Jean Leclerc war wieder ein Brief gekommen … nach langen Wochen endlich ein Brief. Er wohnte wieder im ›Atlantic‹ und schrieb zärtlich von seiner Sehnsucht. Wo er gewesen war, sagte er nicht … er schrieb nur, daß er Geld brauche, und Carola ließ ihm wiederum 2.000 Francs überweisen.
Es war ein trüber Spätherbstmorgen, als Dr. Lombard und Schwester Anne nach dem Frühstück zu Carola ins Zimmer kamen. Schwester Anne trug unter dem Arm ein rechteckiges Etwas … einen Holzrahmen, auf der Rückseite billige, gelbe Pappe. Carola sprang von ihrem Stuhl. Ihr Herz machte ein paar heiße, den ganzen Körper durchglutende Schläge.
»Der … der Spiegel …«, sagte sie leise. Sie lehnte sich gegen die Wand, sie fühlte, wie ihre Knie einknickten. Dr. Lombard nickte und setzte sich auf das Bett.
»Wir hatten den Mut, Madame, das Gesicht zu verlieren … haben wir nun auch den Mut, das Gesicht wiederzufinden.«
»Kann … kann ich es nicht allein ansehen …«, sagte Carola kaum hörbar.
»Ich möchte Ihnen beistehen, Madame …«
»Ich bin stark genug, mich anzusehen …«
»Ich befürchte einen Schock …«
Carola schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor … bestimmt nicht … Ich habe mich innerlich auf diese Minute vorbereitet. Sie mußte ja einmal kommen, man kann ihr ja nicht ausweichen. Bitte … Doktor … lassen Sie mich allein mit dem Spiegel …«
Dr. Lombard zögerte. Dann nickte er Schwester Anne zu. Sie legte den Spiegel mit dem Glas nach unten auf den Tisch und ging hinaus. Dr. Lombard drehte sich an der Tür noch einmal um.
»Ich stehe draußen auf dem Flur zu Ihrer Verfügung, Madame. Bitte, läuten Sie, wenn Sie mich brauchen …«
»Danke, Doktor. Danke.«
Die Tür fiel zu. Carola war allein. Die größte, schrecklichste, schwerste Minute ihres Lebens lag in ihrer Hand. Sie starrte den Spiegel an und zögerte. Mit beiden Händen tastete sie über ihr Gesicht … sie fühlte die Nase, die Ohren, die Augenbrauen, die Wimpern … alles fühlte sich so wie immer, wie früher … und doch war es anders, war es ein anderes, neues Gesicht.
Sie setzte sich und ergriff mit beiden Händen den hölzernen Spiegelrahmen.
Jetzt, sagte sie sich. Jetzt! Ein Ruck nur, und du siehst dich, wie du von heute ab immer sein wirst. Es hat keinen Sinn, Angst zu haben … es war dein Wille –
Carola schloß die Augen. Sie preßte die Lider ganz fest aufeinander und hob mit zitternden Händen den Spiegel hoch. Sie stellte ihn aufrecht auf den Tisch und hielt ihn umklammert, als müsse sie sich an ihm festhalten.
Jetzt steht er richtig, dachte sie. Jetzt steht er genau vor meinem Gesicht.
Langsam, ganz langsam öffnete sie die Augen.
Es war nur ein kurzer Blick, ein Wimpernzucken … dann schloß sie die Augen wieder und lehnte die Stirn gegen die kalte Glasfläche des Spiegels.
Schwarze Haare, dachte sie … mandelförmige Augen … eine kleine, gerade Nase, zierlich, mit einem schmalen Sattel … sie hatte das alles in diesem kurzen Wimpernzucken gesehen, so wie die Grellheit einer Explosion ins Auge fällt. Und noch etwas hatte sie gesehen … eine fremde Frau, ein völlig unbekanntes Gesicht … ein Gegenüber, zu dem man nicht die geringste innere Verbindung hatte.
Wie lange Carola Donani so vor dem Spiegel gesessen hatte, wußte sie nicht. Sie spürte nur, daß sie weinte und daß die Tränen über die blanke Spiegelfläche liefen und sich über der Oberlippe sammelten. Da wandte sie sich ab, um dieses fremde Gesicht nicht jetzt zu sehen, in diesem Augenblick völliger seelischer Auflösung, sprang auf, lief zum Waschbecken und wusch sich die Augen. Dann stand sie am Fenster und starrte hinaus in den verwilderten Park der Villa und strich mit den Fingerspitzen wieder über die Nase, die Augen, die Brauen, die Lippen, die Ohren, den Hals.
Hinter ihr klopfte es an die Tür. Dr. Lombard hatte auf eine Reaktion gewartet; als sich im Zimmer nichts rührte, wurde er ungeduldig und nervös.
»Ja?« sagte Carola schwach. Dr. Lombard und Schwester Anne traten ein. Sie sahen beide auf den Handspiegel … er lag mit der Glasseite nach oben. Dr. Lombard atmete auf. Sie hat sich angesehen, dachte er. Und sie ist ruhig.
»Madame –«, sagte er mit seiner gütigen Stimme, die mehr zu einem Psychiater paßte als zu einem kosmetischen Chirurgen. »Man muß sich daran gewöhnen –«
»Ich will es versuchen, Doktor.« Carola lächelte gequält.
»Wie finden Sie sich?« Dr. Lombard nahm den Handspiegel vom Tisch. In Carolas Augen trat ein gehetzter Ausdruck. Wenn er jetzt mit dem Spiegel zu mir kommt, flüchte ich, dachte sie. Ich springe aus dem Fenster in den Garten. Ich kann mich noch nicht sehen. Ich kann es einfach noch nicht –
»Sie müssen zugeben, daß Prosper Mérimée an solche Schönheit dachte, als er seine ›Carmen‹ schrieb.« Lombard versuchte, mit Schwärmerei den sichtbaren Schock Carolas zu lockern. Selbst für ihn, unter dessen Händen dieses neue Gesicht geboren war, war es unheimlich, wenn er das Foto, das er von Carola vor den Operationen gemacht hatte, verglich mit dem Kopf, der jetzt im vollsten Sonnenlicht stand … der Kopf einer Südländerin mit all der Faszination, die unter südlicher Sonne gedeiht.
Er legte den Spiegel auf das Bett. Carola atmete auf.
»Wann … wann kann ich entlassen werden …?«
»In fünf Tagen, Madame.«
»Ich werde abgeholt.«
»Das nehme ich an.« Dr. Lombard legte die Hände aneinander. »Ich möchte vorschlagen, Madame, daß ich den Herrn vorher in meinem Zimmer über das aufkläre, was ihn erwartet. Männer sind von einer seltenen Dummheit in solchen Situationen … sie stehen herum, starren mit offenem Mund, zeigen überdeutlich, wie vor den Kopf geschlagen sie sind, alle Würde des Überlegenen schwindet dahin … es ist wirklich peinlich, wie sie sich benehmen. Ich erlebe es immer wieder, und dabei handelt es sich nur um kleine Korrekturen … nicht um eine so weitgreifende Umwandlung wie bei Ihnen, Madame.«
Carola schüttelte den Kopf. »Danke, Doktor … aber ich möchte es nicht …«
»Was?«
»Daß Sie Jean vorher aufklären –«
Dr. Lombard hob die Schultern. Jean heißt er also, dachte er. Zum erstenmal nennt sie vor mir diesen Namen. Jean, für den sich eine schöne Frau noch schöner macht. Ein Opfer, das sich vielleicht nie lohnen würde … eine Illusion, die in ein paar Jahren weggeblasen sein wird wie eine schillernde Seifenblase vom Wind.
»Er wird Sie nicht erkennen, Madame«, sagte Dr. Lombard vorsichtig.
»Das soll er auch nicht.«
»Ich verstehe nicht –«
»Ich will sehen, wie er mich ansieht, bevor er erkennt, daß ich es bin. Er soll kein Theater spielen vor mir … er soll mich so ansehen, wie er eine Frau betrachtet, die ihm gefällt … oder die ihn gleichgültig läßt …«
»Und was erwarten Sie, Madame?«
»Ich – ich weiß es nicht.« Das klang wieder kläglich und unendlich hilflos. Dr. Lombard verspürte Mitleid mit dieser Frau, die es möglich gemacht hatte, eine Illusion sichtbar werden zu lassen.
»Sie haben Angst, Madame?«
»Ja«, sagte sie ehrlich. »Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn er an mir vorbeisieht wie an einer Alltäglichkeit.«
»Vielleicht sollte ich doch vorher mit Monsieur Jean …«
»Nein! Nein!« Carola hob beide Hände zur Abwehr.
Dr. Lombard setzte sich auf die Bettkante und spielte mit dem Handspiegel. »Sie haben ein großes Opfer gebracht, Madame, für eine Liebe, die in Ihrem Herzen die Erfüllung Ihres Lebens bedeutet …«
»Ja …«, sagte Carola leise und lehnte sich gegen die Wand.
»Wir waren in den ganzen Wochen immer ehrlich zueinander, seien wir es jetzt auch. Ich habe Ihnen geholfen – für 20.000 Francs natürlich –, eine neue Idealwelt aufzubauen mit dem Wegzaubern des Letzten, was Sie an die vergangene Welt erinnert. Ihr Gesicht. Nun, nach diesem einmaligen Schritt ins Unabänderliche, müssen Sie auch den Mut haben, die Illusion weiterzuspinnen – auch wenn Sie sehen, daß dieser Monsieur Jean – ich beneide ihn, daß er eine solche Kraft über eine Frau wie Sie besitzt – im ersten Augenblick des Erkennens, daß diese neue Frau in Wahrheit Sie sind, erschrecken oder sich, wie ich sagte, dumm benehmen wird. Es ist das Vorrecht der Männer, in solchen Fällen miserabel zu reagieren, weil sie in der Kenntnis der weiblichen Seele reine Analphabeten sind. Ertragen Sie es mit Ruhe und Würde, Madame … wir alle wissen, welche Schönheit Sie mitbringen … und, seien wir ganz hart in unserer Vertrautheit, die erste Nacht wird alle Probleme lösen.« Dr. Lombard lächelte mokant. »Die Sünde ist der beste Emulgator –«
Carola Donani schwieg. Sünde, dachte sie. Es ist eigentlich ein primitives Wort für die Himmel und Höllen, die unsere Seelen durchwandern können. Ein kindliches Wort, eine Bibelvokabel … aber welch eine Welt steckt dahinter, wieviel Teufelei und wieviel paradiesische Herrlichkeit. Gott hätte uns kein Herz geben sollen, und in diesem Herzen kein Gefühl … es wäre der beste Schutz vor der Sünde gewesen. Aber so …
Dr. Lombard erhob sich und legte den Spiegel auf das Bett zurück. »Sie können auch schon in drei Tagen entlassen werden, Madame …«
»Nein!« Carola sah zu dem Spiegel. Die Sonne blitzte in ihm und blendete sie. »Ich muß mich erst an mich selbst gewöhnen, ehe ich andere an mich gewöhnen kann –«
Dr. Lombard zwinkerte Schwester Anne zu und verließ mit ihr das Zimmer. Auf dem Flur knöpfte er seinen weißen Kittel auf, als sei es ihm zu heiß geworden.
»Bleiben Sie in der Nähe, Anne«, sagte er. »Oft kommt die Reaktion später. Halten Sie auf jeden Fall eine Injektion mit Cardiazol bereit. Ich glaube nicht an diese starre Ruhe … sie ist mir zu steinern –«
*
Die Sorgen Dr. Lombards waren unbegründet. Carola Donani zeigte eine Haltung, die Bewunderung verdiente. In der Stille ihres schönen Zimmers bereitete sie den Weg in das neue Leben vor, so wie man eine lange Reise um die Welt plant und alle Möglichkeiten, die sich ergeben könnten, in den Vorbereitungen einschließt.
Sie mietete durch einen Makler ein kleines Haus an der Riviera, südlich Cannes, ein Haus auf einem Felsen über dem Meer. Das Nest eines Liebesvogels, wie der Makler poetisch und prophetisch sagte. Sie brauchte das Haus nicht vorher zu sehen, sie nahm es in Besitz, weil es in kurzer Zeit doch den Hauch ihrer Persönlichkeit ausströmen würde.
Sie schrieb an einen Juwelier in Nizza, den sie von einigen Gastspielen Donanis in Monaco her kannte, und bot ihm einen Teil ihres Schmucks an. Sie beschrieb die Steine genau und mit Fachkenntnis und nannte auch den Wert, wie er auf der internationalen Diamantenbörse gehandelt wurde. Von diesem Preis bot sie einen Kaufnachlaß von 20 Prozent.
Zuletzt schrieb sie an Jean Leclerc ins Hotel ›Atlantic‹.
»Liebster –«, schrieb sie.
»Du kannst mich übermorgen abholen. Ich werde um 3 Uhr nachmittags aus dem Tor kommen und Dich umarmen. Ich verrate Dir nicht, wie ich aussehe … ich weiß, die Augen Deiner Liebe werden mich sofort erkennen. Ich küsse Dich – wenn die Sehnsucht den Himmel aufreißen könnte … die Welt ginge heute unter … Wie kann man nur so lieben –?«
Jean Leclerc bekam diesen Brief ausgehändigt in einer peinlichen Situation. Die Geschäftsführung des Hotels ›Atlantic‹ hatte ein Schreiben bekommen. Einen Warnbrief aus London. Absender ein gewisser Hilman Snider. Er warnte die Geschäftsleitung vor dem Betrüger Jean Leclerc, der sich als großer Geiger ausgebe und nichts sei als ein kleiner Ganove.
Der zweite Direktor des ›Atlantic‹ maß diesem Brief, so selten Schreiben solcher Art in diesem Hause waren, immerhin soviel Bedeutung bei, daß er Jean Leclerc zu sich ins Büro bat. Auch ein Krokodillederkoffer und das Aussehen eines Gentleman können täuschen. Ohne Kommentar, höflich, ein Spieler des Fairplay, legte er Jean Leclerc den Brief vor.
»Bitte, Monsieur«, sagte er dabei. »Es ist meine Pflicht, Sie davon zu informieren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich Ihrerseits informieren wollten –«
Leclerc las zunächst die Unterschrift. Hilman Snider. Ein schwaches Lächeln huschte über seine schönen, weichen Züge. Die schwarzen Locken fielen ihm in die Stirn. Eine Frau mit mütterlichen Ambitionen hätte ihn jetzt in den Arm genommen und gestreichelt.
»Snider –«, sagte er gedehnt. »Verbrennen Sie den Wisch –«
»Sie kennen den Absender, Monsieur?«
»Sehr gut sogar. Ein alter Giftzwerg!«
»Welchen Grund hat er, uns so etwas zu berichten?«
»Ich bin fünfundzwanzig Jahre, Monsieur, und Hilman Snider ist neunundfünfzig. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie als Sechziger eine Zwanzigjährige lieben und sie an den Fünfundzwanzigjährigen verlieren …?« Jean Leclerc lächelte breit. Er hatte das Herz getroffen, und zwar dort, wo es bei jedem Franzosen verwundbar war. Nichts versteht ein Franzose mehr als alle Komplikationen, die sich mit Frauen ergeben können. Der zweite Direktor faltete den Brief gedankenvoll zusammen.
»So etwas ist schmerzlich –«, sagte er verschlossen. »Aber wieso –?«
»Sie haben Angst um die Rechnung?« Leclerc griff in die Brusttasche. Es war eine schnelle, sichere Bewegung. Sein Gesicht wurde plötzlich hochmütig. »Wenn es so ist, Monsieur – ich bezahle im voraus. Aber nur zwei Tage. In einem Haus, das Schmierfinken mehr traut als seinen Gästen, fühle ich mich nicht gut aufgehoben. Wieviel macht es? Lassen Sie bitte die Rechnung ausstellen …«
Der zweite Direktor nagte an der Unterlippe. Er war im Zweifel. »Monsieur«, sagte er begütigend. »Ich verstehe die Peinlichkeit dieser Situation. Ich hatte Sie auch nur gebeten, klärend bei der Beurteilung des Briefes zu sein. Ich wäre unglücklich, wenn Mißverständnisse …«
»Wieviel?« sagte Leclerc steif und mit hartem Gesicht. »Mein Gepäck ist schnell gerichtet –«
In diesem Moment kam der Brief Carolas. Ein Boy brachte ihn auf einem silbernen Tablett. Jean Leclerc zerriß den Umschlag und überflog die wenigen, seligen Zeilen. Sichtbar atmete er auf und faltete den Brief langsam und mit bedeutungsvollem Lächeln zusammen. Der zweite Direktor sah ihm erwartungsvoll zu.
Endlich, dachte Leclerc. Endlich …
»Ich werde bleiben müssen«, sagte er äußerst gönnerhaft. »Soeben habe ich die Nachricht bekommen, daß ich von Bekannten hier aufgesucht werde.« Er steckte das Schreiben in die Rocktasche und drückte das Kinn an den Kragen. »Trotzdem können Sie die Rechnung fertigmachen lassen und mir aufs Zimmer schicken. Ich liebe absolute Klarheiten –«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Direktionsbüro. In der großen, palmengeschmückten Hotelhalle atmete er noch ein paarmal tief durch und zwang sich, den leichten Schimmer kalten Schweißes nicht von seiner Stirn zu wischen. Man hätte es beobachten können.
Jean Leclerc hatte zu dieser Stunde noch 110 Francs in der Tasche.
*
Der Entlassungstag, ein Mittwoch, war kühl und herbstlich. In der Nacht hatte es geregnet, und nun hing die Feuchtigkeit an den Bäumen und auf dem Mauerwerk, die Erde roch herb nach Moos und Humus. Ein grauer Himmel lag über Marseille, das sonst azurblaue Meer sah schmutzig und feindselig aus.
Dr. Lombard hatte den Rest seines Honorars kassiert. Er schob die 10.000 Francs in die Schublade seines Schreibtisches, als sei es Altpapier. Sie würden nicht lange darin liegenbleiben. Ein neues Massagegerät war angekommen, eine Ultraviolett-Strahllampe war angekündigt – was sind da 20.000 Francs?
»Ich wünsche Ihnen alles Glück, das Sie erhoffen, Madame Burger –«, sagte er, als er Carola den letzten Dienst der Klinik über den Tisch schob … die Fotos des neuen Gesichtes. Carola Donani mußte sich erst besinnen, daß sie für Dr. Lombard ja Magda Burger hieß, wohnhaft in Gießen, ehe sie lächelnd dankte und die Fotos in die Hand nahm.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, Bilder eines völlig fremden Gesichtes anzusehen und zu sagen: Das bist du. Dein Auge kann sich irren, der Spiegel kann verzerren – die Linse der Kamera ist unbestechlich.
So siehst du aus – so und nicht anders. Und so mußt du jetzt immer bleiben. Du wirst altern, natürlich, Falten werden sich in die Haut graben … aber auch im Alter werden dies jetzt deine Nase sein, deine Augen, deine Ohren, dein Kinn –
»Monsieur Jean ist noch nicht gekommen«, sagte Dr. Lombard, als Carola ihren Mantel zuknöpfte.
»Er wartet draußen.«
»Draußen?« Dr. Lombard hob die Augenbrauen. Seit wann läßt man seinen Geliebten draußen vor der Tür warten wie einen Hund? Was ist das für eine Frau? Carola schien seine Gedanken zu erraten und stellte den Kragen des Mantels hoch. Draußen vor den Fenstern tropfte die Feuchtigkeit von den Bäumen.
»Ich weiß, Sie denken jetzt: Diese Frau ist ein Rätsel. Lieber Doktor, jede Frau ist es. Leben Sie wohl …«
»Wir sehen uns nicht wieder?«
»Ich glaube kaum. Ich werde Marseille spätestens übermorgen verlassen.« Sie sah auf die Koffer, die neben dem Schreibtisch Dr. Lombards standen. »Das Gepäck schicken Sie bitte zum ›Atlantic‹.«
»Auf den Namen Burger –«
»Nein, auf Jean Leclerc.«
»Leclerc.« Dr. Lombard sah Carola mit nachdenklichen Augen an. »Ich habe Ihnen ein neues Gesicht gegeben, Madame. Darf ich mir als Ihr Arzt die Freiheit herausnehmen, offen mit Ihnen zu sprechen.«
»Ich denke, das haben Sie immer getan, Doktor.«
»Ich rate Ihnen ab, Madame …«
»Ach –«
»Ich warne Sie vor dem, was Sie tun wollen. Es könnte mir gleichgültig sein … Aber ich habe Sie in den vergangenen Wochen beobachtet: Sie reißen sich von etwas los, von dem sie innerlich gar nicht loskommen können. Sie spüren das, und Sie wollen sich zwingen, es nicht zu spüren. Dabei werden Sie sich aufreiben, Madame … Man kann Realitäten nicht verscheuchen, indem man in Träume flüchtet. Aus Träumen muß man einmal erwachen, und das ist schrecklich.«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Doktor«, sagte Carola steif. »Ich brauche keine Warnungen –«
»Wohin kann ich Ihnen schreiben, Madame?«
»Warum?«
»Ich möchte den Kontakt nicht abreißen lassen.«
»Aber ich.« Carola nahm ihre Handschuhe. Ihre Stimme war hart und fast unhöflich. Dr. Lombard nahm es ihr nicht übel; er ahnte, wie es in ihrem Inneren aussah, jetzt, in dieser Stunde, da sie den ersten Schritt hinaus in das neue, gewollte Leben treten würde.
»Sie wollen mir Ihre künftige Adresse nicht geben, Madame?«
»Nein.«
Dr. Lombard erhob sich und reichte Carola die Hand hin.
»Adieu, Madame«, sagte er, ein wenig bedrückt bei dem Gedanken, daß eine so herrlich schöne Frau sich in das Abenteuer einer Liebe stürzte, von der er annahm, daß sie nur eine Blendung war. »Sie werden es vielleicht für sentimental und kitschig halten, wenn ich sage, Gott möge Ihnen beistehen.«
Carola senkte den Kopf. Plötzlich hatte sie wieder den Gesichtsausdruck eines kleinen, schutzsuchenden Mädchens.
»Danke, Doktor«, sagte sie leise. »Es heißt, Gott sei bei den Liebenden … aber ich glaube, hier werde ich mir selbst helfen müssen.«
Sie wandte sich brüsk ab und ging aus dem Zimmer. Schwester Anne wollte ihr nachgehen, aber Dr. Lombard hob die Hand und schüttelte den Kopf.
»Nicht –«, sagte er, als sei er schrecklich müde. »Ab jetzt können wir nichts mehr für sie tun …«
Vor der Villa stand Jean Leclerc und wartete.
Er hatte einen großen Strauß blutroter Astern in der Hand und ging unruhig vor der Toreinfahrt hin und her. Ab und zu blieb er stehen und musterte die Frauen, die über den Parkweg kamen. Wenn er erkannte, daß es nicht Carola war, nahm er seine Wanderung vor dem Tor wieder auf, die Blumen auf den Rücken haltend, den Kopf gesenkt.
Er hatte keine Vorstellung davon, wie Carola jetzt aussehen konnte. Sie hatte ihm nie geschrieben, was Dr. Lombard an ihr verändert hatte, nur soviel wußte er, daß sie die herrlichen blonden Haare gefärbt hatte und nun dunkel war. Warum dies einige Wochen dauerte, hatte er nie begriffen. Er blieb stehen und sah wieder hinüber zu dem Parkweg. Ich werde sie sofort erkennen, dachte er. Allein schon ihr Gang, ihr wiegender, aufreizender Körper … er spürte, wie er einen trockenen Mund bekam und die Erinnerung an die gemeinsamen Nächte wie ein Flimmern durch seinen Körper glitt.
Carola stand im Eingang der Klinik, noch im Schatten des Vorbaues, und sah zu ihm hinüber. Über vier Wochen hatte sie Jean Leclerc nicht gesehen, sie hatte in der Erinnerung gelebt und von der Sehnsucht gezehrt … nun, da sie ihn sah, in seinem Trenchcoat, mit feuchten, schwarzen Locken, das Jungengesicht ernst und irgendwie verhärmt und enttäuscht, war es ihr schwer, an die Verzauberung zu denken, in der sie in seiner Nähe gelebt hatte.
Sie beobachtete ihn und mußte an die Worte Dr. Lombards denken: Man kann Realitäten nicht verscheuchen, indem man in Träume flüchtet. Er hatte recht. Die Realität war der große, schwarzlockige Jüngling da vor dem Tor, war eine Frau, die ein anderes Gesicht bekommen hatte … und was sonst noch? Liebe? Alles vergessende Seligkeit? Carola senkte den Kopf. Es war ihr furchtbar, sich einzugestehen, daß sie jetzt zögern mußte, aus dem Schatten des Einganges zu treten, weil ihr dieser große Junge mit dem Blumenstrauß auf dem Rücken seelisch nichts mehr sagte. Nicht in diesem Augenblick. Vielleicht würde es anders werden, wenn sie wieder in seinen Armen lag, wenn der Traum sich fortsetzte, wenn die Leidenschaft ihrer Natur stärker wurde als ihr Gewissen und ihre Vernunft. Im Rausch leben – das hatte sie gewollt, dem hatte sie ihr Gesicht geopfert, alles hinter sich geworfen. Vielleicht –
Und wenn der Zauber nicht wiederkehrte?
Jean Leclerc blieb stehen und spähte in den Park. Er sah die Frau in der Tür stehen, sein Blick glitt über sie hinweg und hinauf zu den Fenstern. Warum läßt sie mich so lange warten, dachte er. Es ist kalt und feucht, das richtige Wetter für einen Schnupfen.
Carola trat aus dem Eingang und ging langsam den Weg hinab zum Tor. Jeder Schritt schmerzte sie bis unter die Kopfhaut, es war, als ginge sie über feurige Steine.
Noch zwanzig Schritte … noch zehn – noch fünf –
Am Tor.
Jean Leclerc hatte gerade der Mauer den Rücken zugewandt. Er steckte sich eine Zigarette an, in der hohlen Hand flammte das Streichholz auf. Er blies den ersten Zug in die kalte Luft und drehte sich dann um.
Die Blicke Carolas und Jeans trafen sich. Nur eine Sekunde blieben sie ineinander, dann sah Leclerc weg und zog wieder an seiner Zigarette.
Eine schöne Frau, dachte er. Sie kann eine Spanierin sein, oder sie kommt aus Süditalien. Ein schmales, aristokratisches Gesicht, ein Körper wie eine Gazelle.
Jean Leclerc schielte zu ihr hinüber. So etwas nennt man eine Traumfrau, dachte er. Und ein traumhaftes Geld wird sie auch kosten. Sie ist ein Kleinod, das man in Brillanten faßt.
Carola war im Tor stehengeblieben und sah Leclerc mit zitternden Lippen an. Daß er mich nicht erkennt, ist selbstverständlich. Würde er auf mich zugestürzt sein, wäre die Operation schlecht gewesen. Aber er beachtet mich nicht, ich hinterlasse keine Wirkung auf ihn, ich spreche seinen männlichen Instinkt nicht an. Ich bin ihm als Frau gleichgültig.
Sie kam auf Leclerc zu, suchte in den Taschen ihres Mantels und blieb nahe vor ihm stehen. Leclerc blickte schnell zum Tor und zum Eingang der Klinik. Niemand kam. Er lächelte. Es war sein verlegenes, jungenhaftes Lächeln, das Carola zum erstenmal auf der Place de l'Opéra in Paris bezaubert hatte.
»Madame –«, sagte er. Durch Carola ging ein heißer Stich. Auch jetzt erkennt er mich nicht.
»Können Sie mir bitte eine Zigarette geben?« sagte sie. Sie wunderte sich, daß ihre Stimme tiefer klang als sonst. Jean Leclerc riß die Augen erstaunt auf. Sie spricht ein merkwürdiges Französisch, dachte er. Nicht wie eine Spanierin, nicht wie eine Italienerin … sie spricht wie eine Nordländerin. Eine Zigarette –
»Bitte Madame –« Er holte seine Zigarettenpackung aus dem Mantel und reichte sie Carola hin.
»Danke. Und Feuer, bitte …«
»Bitte –« Leclerc ließ sein Streichholz aufflammen. Während sie sich über seine Hand beugte und die Zigarette anbrannte, lagen ihre Haare kurz vor seiner Nase. Er schnupperte und roch das herbe Parfüm, das von ihr ausging.
Woher kenne ich das, dachte er. Irgend jemand hat es getragen. Er sah über Carolas Kopf wieder zum Eingang. Niemand kam.
»Sie erwarten jemanden?« fragte sie und steckte die Zigarette zwischen die bebenden Lippen.
»Ja«, antwortete Leclerc kurz. Ihm war diese Begegnung peinlich. Wenn jetzt Carola aus der Klinik kam und sah ihn mit dieser schönen Frau zusammenstehen und rauchen, würde es nach vier Wochen eine enttäuschende Begrüßung geben.
»Ihre Frau?«
»Ja.«
»Sie hat sich dort operieren lassen?«
Jean Leclerc fand dieses Verhör unerhört. Gleich kommt Carola, dachte er. Und so schön diese Frau ist … ich warte auf eine andere Frau, die mich kein Geld kosten wird, sondern die mich rettet aus der Misere, mit 20 Francs in der Tasche aufzutreten wie ein Millionär.
»Sie entschuldigen mich bitte, Madame …«, sagte er höflich und verbeugte sich leicht. »Ich möchte nicht so ungalant sein, durch ein Gespräch meine Frau nicht rechtzeitig zu sehen –«
Er wollte zum Tor gehen, als ihn ein fester Griff am Mantel festhielt. Verblüfft drehte er sich um. Die fremde Dame hielt ihn fest, ihr schmales, wundervolles Gesicht war nahe vor ihm.
»Küß mich –«, sagte sie mit fast kläglicher Stimme.
Jean Leclerc spürte einen Schlag auf seinem Herzen.
»Madame –«, stotterte er. »Ich bitte Sie –«
»Gefalle ich dir nicht …?«
»Madame. Meine Frau …«
»Bin ich hübsch?«
»Sie sind ein Engel, Madame. Aber bitte, lassen Sie mich los.«
»Könnten Sie mich lieben?«
»Es wäre der Himmel!« Leclerc sah verzweifelt zur Klinik. Wenn jetzt Carola kommt, dachte er.
»Dann küssen Sie mich! Zeigen Sie, daß Sie mich lieben könnten.«
Eine Verrückte, sie muß eine Verrückte sein, dachte Leclerc. Irren soll man, soweit es möglich ist, nicht widersprechen, sonst werden sie bösartig. Aber hier war es nicht möglich.
»Lassen Sie uns in den Park gehen«, sagte er heiser. »Ich küsse nicht gern auf der Straße …«
Nur nachts auf der Place de l'Opéra, dachte Carola und lächelte.
Im Park werde ich sie stehenlassen, dachte Leclerc. Vielleicht sieht uns jemand aus der Klinik und befreit mich von ihr.
Sie gingen zusammen zurück zur Villa; am Tor blieb Carola ruckartig stehen.
»Genug mit dem Spiel –«, sagte sie leise. Jean Leclerc sah in den Park. Hilfe, dachte er, Hilfe. »Du bist wirklich ein großer, dummer Junge –« Jetzt sprach sie deutsch; alle Kraft hatte sie verlassen.
Leclerc stockte der Atem. Die Blumen fielen aus seiner Hand und lagen im Schmutz der Straße.
»Che… Chérie –«, stammelte er. »Nein … du … mein Gott … Chérie –«
Er breitete die Arme weit aus und umfing sie. Sie fiel fast an seine Brust, krallte sich an seiner Schulter fest, und als er sie küßte, war es wie früher … alle Angst war gewichen, alle Zweifel versanken, alle Gedanken lösten sich auf in dem einen Gefühl: Er liebt mich – er liebt mich –
Der Zauber kam wieder über sie, der Traum vom großen Glück.
Dr. Lombard ließ die Gardine fallen und trat vom Fenster zurück. Schwester Anne hinter ihm hatte große, verwunderte Augen.
»Sie kann grausam sein«, sagte er und begann, seine Brille zu putzen. »Grausam wie das Feuer, das alles verzehrt, wenn es erst einmal brennt …«
*
Die Hotelrechnung bezahlte Leclerc mit der Geste, als wenn man einem Bettler ein Fünf-Francs-Stück in den Hut wirft. Er bezahlte die Rechnung auf den Centime, und keinen Sou mehr. Er gab kein Trinkgeld, er bedankte sich nicht einmal. Der zweite Direktor des ›Atlantic‹ biß die Zähne aufeinander und schluckte die unwürdige Behandlung. Auch als Leclerc sagte: »Schreiben Sie Ihrem Freund Hilman Snider, daß Sie nicht nötig hatten, meine Unterhosen als Pfand zu behalten …«, blieb er ruhig, schwieg und setzte das betroffene Gesicht eines Unglücklichen auf, der keine Möglichkeit sieht, seine Schuld irgendwie wiedergutzumachen.
Dann kaufte Leclerc in der Blumenhandlung des Hotels einen Strauß gelber Teerosen und fuhr wieder hinauf in das Appartement. Er sah müde und übernächtig aus. Mit einem Löwen zu ringen, ist schon ein sinnloses Unterfangen … wieviel schwerer ist es, den Vulkan einer hungrigen Frau zu löschen. Es war ihm, als seien seine Knochen hohl und jeder Schritt halle in ihm wider bis hinauf unter die Hirnschale.
Carola wartete auf ihn. Sie saß auf dem Bett, nackt und weißhäutig, die schwarzen Haare aufgelöst um den schmalen, rassigen Kopf. Sie dehnte sich, als Leclerc eintrat, stützte die Arme nach hinten und beugte sich zurück. Sie schämte sich nicht, sie war in ihrer Welt.
Leclerc bemühte sich, nicht hinzuschauen. Er ging zum Fenster, setzte sich an den kleinen Schreibtisch und legte die Rosen und eine flache Mappe darauf.
»Du heißt ab heute Vera Friedburg …« sagte er.
»Wie heiße ich?«
»Es war kein anderer Paß zu haben. Nur dieser deutsche mit diesem Namen. Woher er kommt, wollte man mir nicht sagen. Ausgestellt ist er in Kiel.«
»Vera Friedburg –« Carola kam zu Leclerc ans Fenster. Sie beugte sich über ihn und las den Paß. Ihre nackte Nähe, das Atmen ihrer Brust, die gegen seinen Rücken drückte, der Geruch ihrer Haut machten ihn hilflos und willenlos. Er faßte nach hinten und umgriff ihre Hüfte.
»Zieh dich an, Chérie …«, sagte er heiser.
»Es ist so schön, nackt zu sein.«
»Du bringst mich um den Verstand.«
Sie küßte ihm den Nacken. »Hast du überhaupt jemals Verstand gehabt, mein Liebling …«, sagte sie zärtlich.
»Der Paß kostet mehr, als sie vorher verlangt haben. Es sind alles widerliche Ganoven. Sie nutzen unsere Zwangslage aus. Sie verlangen 1.000 Francs mehr.«
»Er ist es wert.« Carola nahm den Paß vom Tisch und trat damit ans Fenster. Das Sonnenlicht umspielte ihren zarten weißen Körper; Leclerc starrte sie an, als sehe er sie so zum erstenmal. Es war unmöglich, sich an dieser Frau sattsehen zu können. Man mußte sie bewundern, immer, wenn ein Blick auf sie fiel. Man konnte gar nicht anders.
»Der Stempel ist gut, alles stimmt«, sagte sie und klappte den Paß zu. »Vera Friedburg … wirst du dich daran gewöhnen können, mich Vera zu nennen?«
»Ja, Chérie –«, sagte er heiser.
Sie sah ihn plötzlich fragend an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ihre Nacktheit glänzte in der Sonne.
»Bist du glücklich?« fragte sie.
»Atemlos glücklich.«
»Du wirst nie eine andere Frau lieben?«
»Nie, Chérie.«
»Ich bringe dich um, wenn du es tust … weißt du das?«
»Ja –«, sagte er, jetzt wirklich atemlos.
»Wir fahren in zwei Stunden weg –«
Leclerc sprang auf. »Wohin?« rief er entgeistert.
»Nach Cannes. Wir haben südlich von Cannes, zwischen Juan les Pins und Antibes, ein Haus.«
»Du bist eine Göttin!« schrie Leclerc voll Begeisterung. »Man sollte dich anbeten!«
»Tue es –«, sagte sie und schloß die Augen.
Die Abreise wurde verschoben.
Sie nahmen einen anderen Zug, vier Stunden später.
*
Nach seiner Nordlandtournee kehrte Bernd Donani zunächst nach Berlin zurück. Von dort wollte er nach München fliegen, um eine Woche in Starnberg in seiner ›Villa Alba‹ sich zu erholen und mit den Kindern zu spielen. Außerdem wollte er mit einem Bildhauer die Gestaltung eines Grabsteines für Carolas Grab besprechen. Sie sollte einen würdigen Stein haben, der die Familiengruft der Donanis zierte und Kunde gab von der Liebe, die hier begraben lag.
Aber der Aufenthalt in Berlin gestaltete sich länger als vorgesehen. Kriminalkommissar Fritz Weghart hatte der Tod Carola Donanis keine Ruhe gelassen. Er hatte immer wieder die Akte durchstudiert und blieb an einer Unglaubwürdigkeit hängen, die allen unerklärlich war. Für Fritz Weghart, den großen Verehrer Donanis, war es mehr als nur eine kriminalistische Fleißarbeit, es war für ihn ein Herzensanliegen, Licht in gewisse dunkle Stellen des Unfalls zu tragen.
Er bat darum, Bernd Donani sprechen zu dürfen. Pietro Bombalo ließ es zu, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, Termine einzuhalten. Der Weiterflug nach München wurde verschoben. Man soll mit der Polizei immer in einem freundlichen Verhältnis stehen.
Donani hatte sich erst geweigert, noch etwas über den Unfall Carolas zu hören. »Man soll endlich der Toten ihren Frieden lassen«, sagte er bitter. »Es ist schrecklich, daß ein Mensch in den Akten weiterleben muß, wenn man ihm schon einen Grabstein setzt.«
Kommissar Weghart war da anderer Ansicht. Er hatte eine Liste mitgebracht mit Fragen, die unbeantwortet geblieben waren. Darunter waren zwei Fragen, die Anlaß gaben, äußerst nachdenklich zu werden.
»Ich weiß, es ist schmerzlich, Herr Generalmusikdirektor«, sagte er, »daß wir noch einmal auf den tragischen Tag zurückkommen müssen.«
»Machen Sie es bitte so kurz wie möglich.« Donani legte die Hand über die Augen. Er machte einen müden Eindruck. Fritz Weghart hatte nur mit Mühe ein Erschrecken verbergen können, als er Donani wiedersah. Der große Dirigent war rapid gealtert … man sah es nur aus der Nähe. Auf dem Podium, im Scheinwerferlicht von Fernsehen und Film, wirkte er noch immer wie ein weißhaariger, aber jugendlicher Gott.
»Ich fliege morgen nach Starnberg, um einen Grabstein auszusuchen. Bitte, lassen Sie die Tote auch endlich in den Akten sterben …«
Kommissar Weghart nickte. »Wir werden den Fall als endgültig abgeschlossen ansehen, wenn die offenstehenden Fragen geklärt sind.«
»Den ›Fall‹?« Donani sah Fritz Weghart mit einem versteinerten Gesicht an. »Seit wann ist meine Frau ein ›Fall‹?«
»Das ist so ein Fachausdruck, Herr Generalmusikdirektor.« Weghart legte seine Liste auf den kleinen Rauchtisch. »Darf ich fragen?«
»Bitte –«
»Vom Konto Ihrer Gattin ist einen Tag nach ihrem tödlichen Unfall der gesamte Betrag durch einen Unbekannten abgehoben worden. Wir haben diesen Unbekannten nicht bestimmen können. Haben Sie die leiseste Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
»Nein. Ich sagte das schon damals.«
»Ein Verwandter Ihrer Gattin?«
»Nein.«
»Warum löste Ihre Gattin ihr Konto auf?«
»Ich weiß es nicht.« Donanis Gesicht war bleich und unbeweglich.
»Hatten Sie eine Auseinandersetzung vor dem Unfall? Gab es überhaupt in der letzten Zeit Ihrer Ehe Streitigkeiten?«
»Nein.«
Es war ein klares Nein, das keine weiteren Fragen in dieser Richtung mehr zuließ. Ich lüge, dachte Donani dabei. Ich muß lügen. Soll ich sagen, daß ich selbst den Verdacht habe, Carola hat ihr Geld durch einen Mittelsmann abheben lassen, um sich von mir zu trennen? Sie hatte es angedroht, damals, als die Kinder die Masern hatten und sie allein von Rom nach Starnberg fuhr. Immer habe ich daran denken müssen, seit ihrem Tod gab es keine Nacht, in der ich nicht ihre Stimme höre: »Ich werde nicht zurückkommen …« – Soll ich das alles sagen? Nein. Das geht nur mich etwas an. Jetzt liegt Carola in der Gruft, und man soll sie in Ruhe lassen –
»Noch etwas, Herr Generalmusikdirektor –«
Donani sah ärgerlich auf. »Noch?«
»Ihre Gattin hatte wertvollen Schmuck. Jeder weiß das von Bildern und Berichten. Im Banktresor befindet sich nur ein kleiner Teil, in Starnberg – wir erlaubten uns nachzufragen – liegt ein kleines Schmuckkästchen … den Hauptteil aber hatte Ihre Gattin auf den Tourneen mit. Auch der Schmuck ist bis auf den relativ wertlosen Schmuck, den sie bei dem Unglück trug, verschwunden –«
»Was soll das alles?« sagte Donani ärgerlich.
»Geld abgehoben, Schmuck nicht vorhanden … das stimmt jeden Kriminalisten nachdenklich.«
»Ich bin kein Kriminalist – ich bin der Witwer einer Toten, die ich über alles geliebt habe.« Donani stand auf. Es war deutlich, daß er damit die Unterredung beenden wollte. Fritz Weghart blieb sitzen. Es tat ihm weh, so unhöflich zu sein … aber er war nicht nur Bewunderer Donanis, er war auch Beamter.
»Es kann sein, daß die Tote beraubt worden ist«, sagte er. »Diese Möglichkeit zogen wir schon damals in Betracht. Wir wußten da nichts von dem Bankkonto.« Weghart beugte sich über seine Aufzeichnungen. »Die Kriminalpolizei arbeitet wie ein Archäologe, der Tonscherben zu einer Vase zusammensetzt. Wir haben uns die Mühe gemacht, das Signalement aller in diesem Zeitraum vermißten weiblichen Personen zu sammeln. Wir haben dabei entdeckt, daß zum Tage des Unfalls Ihrer Gattin von 73 gesuchten Frauen neun blond waren und auch figürlich stimmten. Von diesen neun Frauen sind vier gefunden worden … fünf werden noch immer vermißt –«
Donani fuhr herum. Er wußte, was Fritz Weghart mit dieser Aufzählung unbekannter Tragödien bezweckte. »Das ist doch kompletter Unsinn!« rief er. »Das ist ja billigste Kolportage!«
»Haben Sie Ihre Gattin einwandfrei identifizieren können?«
»Mit hundertprozentiger Sicherheit! Das Kleid, die Haare, die Ringe, der Wagen, die Papiere –«
»Vom Kleid war nichts mehr vorhanden … Sie erinnern sich, daß der Körper …«
»Bitte –« Donani hob beide Hände. Sein Gesicht verzog sich voll Qual. Er hatte den Anblick der verbrannten, auf Kindergröße zusammengeschrumpften Leiche nie mehr vergessen können.
»Es war Carola!« sagte er laut.
»Dann müssen wir die Akten schließen mit einigen offenen Rätseln –«
»Ich bitte darum.« Donani drückte den Kopf an den Kragen. »Dieser Unglücksfall war das einschneidendste Ereignis in meinem Leben. Ich habe alles verloren, was mir das Leben liebenswert machte. Bitte, geben Sie der Toten jetzt ihre Ruhe … und auch mir …«
Kommissar Fritz Weghart erhob sich und verließ nach kurzem Händedruck das Zimmer. Er kam sich vor wie ein Schuldiger, obwohl er nur seine Pflicht getan hatte.
Ich schließe die Akten, dachte er. Ich teile der Staatsanwaltschaft mit, daß nichts mehr zu ermitteln ist. Wirklich, die Tote soll ruhen. Jeder Mensch nimmt Geheimnisse mit ins Grab – wir sollten sie bis zu einer gewissen Grenze respektieren.
Eine Stunde später betrat Pietro Bombalo das Appartement Donanis, nachdem er mehrmals geklopft und auf einen Anruf gewartet hatte. Donani saß am Fenster und starrte hinaus auf die Straße. Auch als Bombalo zu sprechen begann, drehte er sich nicht um. Es war nicht einmal sicher, ob er Bombalo überhaupt hörte oder verstand, was er sagte.
»Maestro –« Bombalo kratzte sich den Kopf und schabte mit den Schuhspitzen über den Teppich. »Ich habe vierzehn Tage Urlaub herausgeholt. Wir können zwei Wochen in Starnberg bleiben. Und dann … dann geht es für drei Monate nach Südamerika. Es ist alles schon ausgebucht. Das erste Konzert ist in Santiago de Chile.« Bombalo wartete auf eine Äußerung Donanis. Doch dieser schwieg und wandte sich nicht einmal um. »Es ist also alles in Ordnung, Maestro?« fragte Bombalo.
Keine Antwort.
»Ich kann fest zusagen?«.
Keine Antwort.
Bombalo seufzte. Man muß ihn aus dieser Lethargie herausreißen, dachte er wieder. Aber wie? Madonna, wie? Mit Frauen – das war eine Fehlspekulation. Mit weiten Reisen … das war nur eine räumliche Trennung, aber keine seelische. Donani mußte vergessen können, man mußte ihn zwingen, an das Heute und nicht immer an das Gestern zu denken. Er mußte sich von der Toten lösen. Er gehörte ausschließlich und ganz allein dem Leben.
»Wann fliegen wir?«
Die Stimme Donanis riß Bombalo aus den Gedanken.
»Morgen, Maestro. Mit der 10-Uhr-Maschine.«
»Wissen die Kinder, daß ich komme?«
»Ja. Sie werden in München am Flugzeug sein.«
»Ich freue mich auf sie.« Donani atmete tief auf, als müsse er etwas vom Herzen drücken. »Findest du nicht, daß sie beide Carola sehr ähnlich sehen …«
Bombalo seufzte leise. »Sehr ähnlich«, sagte er. »Wir werden vierzehn Tage mit ihnen spielen können.«
»Was sind vierzehn Tage –«, sagte Bernd Donani bitter.
*
Das kleine Haus über dem Meer hinter Cannes und vor Antibes war wirklich wie ein Liebesnest. Es bestand aus einem großen, fast gläsernen Wohnraum, der einen märchenhaften Blick auf das Meer freigab, einem großen Schlafzimmer mit einem französischen Bett, einer kleinen Küche, einem Bad und einem Fremdenzimmer, das wohl nie würde benutzt werden. Erreichen konnte man das Nest nur durch eine Kletterei über viele, in den Fels eingehauene Stufen – der Versuch, einen Fahrstuhl zum Haus zu legen, war an den Kosten gescheitert. Daher war der Mietpreis auch so niedrig und der Makler froh, es an diese Deutsche losgeschlagen zu haben, denn niemand hatte sich nach dem Tode des Besitzers bereit gefunden, jeden Tag mehrmals einen Felsen hinaufzuklettern und wieder hinabzusteigen. Auch war das Plateau, auf dem das Häuschen stand, so klein, daß an eine Erweiterung des Baues nicht gedacht werden konnte … wie eine weiße Krone saß es oben auf dem Felsengipfel, umgeben von schroffen Abhängen, von Meer, Himmel und Sonne.
Leclerc sah schaudernd in die Tiefe. Er lehnte am Geländer der Terrasse und ließ den Seewind durch seine schwarzen Locken blasen.
»Ich bin nicht schwindelfrei –«, sagte er und sah wieder hinunter zum Meer. Die Wellen brachen sich an den Klippen, der Gischt sprühte schaumig über die spitzen Steine. Carola, die jetzt Vera Friedburg hieß, saß an einem Korbtisch und übte auf einem Bogen Papier die Unterschrift, wie sie im Paß stand. Vera Friedburg … Vera Friedburg … Es fiel ihr schwer. Die richtige Vera Friedburg hatte eine steile Schrift, die sich völlig unterschied von den weichen Linien, in denen Carola Donani schrieb.
»Wer hier hinunterstürzt –«, sagte Leclerc.
»Hoffentlich nicht du.«
»Ich?«
»Wenn du eine andere Frau liebst, werfe ich dich da hinunter …«
Es klang wie ein Scherz, Carola lachte auch dabei, aber beide wußten, wie ernst es war. Leclerc trat vom Gitter zurück, als habe er schon jetzt das Gefühl, in die Tiefe gezogen zu werden. Er setzte sich gegen die Hauswand und hob sein jungenhaftes Gesicht der Sonne entgegen. Tiefe, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Diese Frau höhlt mich aus, dachte er. Zum erstenmal habe ich nicht das Gefühl des Siegers … ich bin der Besiegte, sie hat mich unterworfen, ich bin ein Sklave geworden. Ich hätte nie geglaubt, daß es jemals eine Frau gibt, die mich in die Knie zwingt. Sie kann es, in einer einzigen Nacht.
»Wie soll das nun weitergehen?« fragte er, als Carola weiter stumm den Namenszug Vera Friedburg nachahmte.
»Du wirst arbeiten, mein Liebling.«
»Gern. Aber wo und wie?«
»Du wirst Konzerte geben.«
»Konzerte.« Leclerc lachte rauh. Er hatte Carola alles erzählt, kaum daß sie im Hotel waren und die erste Glut des Wiedersehens abgebrannt war. Er hatte von seiner Rundreise durch Europa berichtet, von seinem Bettelgang von Manager zu Manager, von seinem Vorspiel in Köln bei Hans Bartschleger und den Angeboten, die er bekommen. Tanzkapellen, Tivoli, Schauorchester … und wieder als zehnter Geiger in irgendeinem Sinfonie- oder Opernorchester. »Soll ich mich an eine Straßenecke stellen?«
»Rede nicht so dumm, Liebling.« Carola zerknüllte das Papier mit den geübten Unterschriften, trat an das Geländer und ließ das Knäuel hinunter in das Meer flattern, wo es von dem Gischt aufgesaugt wurde. »Du wirst ein Violinkonzert in einem der größten Säle in Cannes geben –«
»Im Traum.« Leclerc ballte in jungenhafter Wut die Fäuste. »Oh, ich hätte in diese Managerfratzen hineinschlagen können! Diese Überheblichkeit! Dieses mokante Lächeln: Ein junger Geiger, sieh an, sieh an. Will Solist werden! Ein zweiter Menuhin, hahaha! Was sich die jungen Hüpfer einbilden. Als ob wir mit Menuhin, Ricci, Oistrach, Heifetz und Campora nicht genug Solisten hätten. Soviel Violinkonzerte gibt's ja gar nicht, daß man sie alle beschäftigen kann –«
»Du bist ein Wirrkopf, Liebling«, sagte Carola und zerwühlte mit einer schnellen Handbewegung die Locken Leclercs. »Man muß warten können, das ist alles. Auch ich habe lange gewartet, bis ich dich fand …«
Er nickte wie ein braver Knabe, nahm ihre Hände und küßte ihre Innenflächen.
Noch hat sie Geld, dachte er dabei. Noch können wir von Sonne und Liebe leben. Man darf nur nicht denken, wie es sein wird, wenn der letzte Franc verbraucht ist –
Nach dem Mittagessen ging Carola allein den Felsen hinunter und nahm sich eine Taxe nach Cannes. Jean Leclerc blieb im Liebesnest, setzte sich auf die Terrasse und spielte eine Chaconne von Bach. Es war eine der berühmtesten und schweren Fingerübungen für eine Solovioline.
In Cannes empfing der italienische Impresario Franco Gombarelli die ihm unbekannte Vera Friedburg auf der Terrasse des Golfhotels. Man erkannte sich sofort … Gombarelli sah aus wie Bombalo, rundlich, beweglich, temperamentvoll, mit weiten Armbewegungen beim Sprechen, voller schauspielerischer Brillanz, aber steinhart bei Verhandlungen um Geld. Sie sind wirklich alle gleich, dachte Carola, als Gombarelli sie mit einem devoten Handkuß begrüßte und ihr in drei Sätzen zwanzig Komplimente machte. Und wie Bombalo wird er gleich die Augen zum Himmel heben und seufzen, als hinge er am Galgen.
»Kommen wir zur Sache, Signore Gombarelli«, sagte sie, kaum daß sie saß und der Ober ihr einen Campari gebracht hatte. »Ich habe Ihren Namen durch Bekannte bekommen.« Bombalo sagte immer, dieser Gombarelli ist ein Schurke, dachte sie. Wenn Bombalo einen anderen Impresario einen Schurken nennt, muß er Qualitäten haben. »Sie sollen ein guter Manager sein.«
»Das macht mich glücklich, Signora«, sagte Gombarelli, schon ein wenig vorsichtiger und lauernder. Was soll's, dachte er. Soll ich sie managen?
»Ich möchte, daß Sie sich eines jungen Geigers annehmen.«
»Oh, Signora …« Gombarelli hob die Augen gegen die Wolken. Es war der typische Bombalo-Blick. »Was soll ich mit einem Geiger? Die musikalische Welt besteht fast nur aus Geigern –«
»Ein Solist. Sie werden ein Solistenkonzert in Cannes veranstalten.«
»Sehe ich aus wie ein Selbstmörder?«
»Ich werde das Konzert bezahlen –«
Franco Gombarelli hörte etwas von bezahlen und verlor sofort seinen weltentsagenden Blick. Er beugte sich über den kleinen Tisch vor und starrte Carola an.
»Was verstehen Sie darunter, Signora?«
»Sie mieten einen Saal, den größten …«
»Sie bezahlen die Miete?«
»Richtig. Sie lassen Plakate drucken, Eintrittskarten, Sie engagieren ein Orchester. Es braucht kein Weltorchester zu sein, es genügt ein örtliches Orchester, das den Solisten vernünftig begleiten kann.«
»Das alles bezahlen Sie?«
»Ja.«
Gombarelli begann zu schwitzen. Es gibt viel Verrückte in unserer Branche, dachte er. Aber das ist das Verrückteste. Ein Konzert finanzieren, das niemand besuchen wird. Wenn sie zuviel Geld hat, soll sie es mir geben … ich wäre sogar bereit, Gegendienste jeder Art zu leisten.
»Was kostet das?« fragte Carola. Gombarelli schob die Unterlippe vor.
»Das muß man genau kalkulieren, Signora.«
»Sie gehen kein Risiko dabei ein. Wird das Konzert ein Erfolg, verdienen wir beide … wird es ein Reinfall, trage ich allein die Unkosten.« Carola schob ihm eine Karte zu. Auf ihr stand eine Adresse.
Jean Leclerc, Cap d'Invalle. Sur le roc …
Gombarelli starrte auf die Buchstaben.
»Was ist das, Signora.«
»An diese Adresse schreiben Sie in drei Tagen einen Brief. Sie schreiben, daß Sie die Anschrift auf großen Umwegen bekommen haben und der Impresario François Parthou in Marseille Sie auf Jean Leclerc aufmerksam gemacht hat. Sie bitten ihn, Ihnen am Freitag um 17 Uhr vorzuspielen. So wird alles logisch sein … Empfehlung – Vorspielen – Konzert – Bitte.«
Carola legte 500 Francs auf den Tisch. Gombarelli schnaufte. 500 Francs für einen Brief und einmal Vorspielen. Man konnte diesen Blödsinn mitmachen, wenn er weiter so lukrativ war.
»Sie werden den Brief schreiben?« fragte Carola.
»Ja, Signora. Signor Leclerc wird glücklich sein …«
»Und ich habe Ihr vollstes Schweigen?«
»Ich werde ein Fisch sein, Signora.«
»Guten Tag, Signore Gombarelli.«
»Buon giorno, Signora.« Er küßte wieder ihre Hand, wartete, bis sie gegangen war, bewunderte ihren Gang und ihre Figur und winkte dann dem Ober.
»Ein Kognak … hoch bis zum Rand!« sagte er.
Ein bezahltes Solistenkonzert. Es war etwas Neues in der langen Laufbahn Gombarellis als Impresario.
Zufrieden fuhr Carola zurück nach Antibes. Schon von weitem sah sie ihr kleines, weißes Haus hoch oben auf dem Felsen.
In drei Wochen werde ich aus ihm einen großen Künstler gemacht haben, dachte sie. Er wird doppelt glücklich sein … auf der Bühne und in meinen Armen.
Man kann ein Paradies kaufen … man muß nur wissen, wo es liegt –
*
Pünktlich, wie verabredet, traf der Brief ein.
Leclerc trug ihn selbst vom Postkasten an der Straße die steile Felsentreppe hinauf.
Carola lag auf der Terrasse im Liegestuhl und sonnte sich. Da sie mit Himmel und Meer allein war und niemand auf das Haus sehen konnte, lag sie nackt in der Sonne, lang hingestreckt mit ausgebreiteten Armen und Beinen, ein herrlicher, braunrosa schimmernder Körper. Nur über das Gesicht hatte sie ein feuchtes Tuch gedeckt; Dr. Lombard hatte ihr die starke Sonneneinstrahlung für die ersten drei Monate verboten, da die Haut sonst zu sehr austrocknete und gerade die neu geformte Nase äußerst empfindlich gegen zu hohe Temperaturen war.
Jean Leclerc bemühte sich, beim Anblick des nackten Körpers nicht wieder unruhig zu werden. Er ließ die Terrassentür klappen als Zeichen, daß er zurückgekommen war. Carola drehte unter dem schützenden Tuch den Kopf zu ihm.
»Ist Post gekommen?« fragte sie. Dann merkte sie, wie unlogisch die Frage war. Sie hob den Arm und winkte Leclerc. »Wie dumm von mir … wer soll uns schon schreiben? Wer weiß denn, daß wir hier unser Paradies haben?«
»Ein Brief ist gekommen.«
»Was?« Sie sprang auf, warf das Tuch vom Gesicht und beugte sich vor. Leclerc sah an ihr vorbei, das Blut rauschte wieder in seinen Schläfen. Diese Frau ist nur geschaffen für die Liebe, dachte er. Alles, was sie tut, jede Bewegung, jeder Ton, alles an ihr ist Lockung und Bereitschaft. »Von wem ist er denn?«
»Ein Unbekannter.« Leclerc las den Absender. »Ein Franco Gombarelli.«
»Nie gehört.« Carola erhob sich von dem Liegestuhl und kam auf Leclerc zu. Sie nahm ihm den Brief aus der Hand und schlitzte ihn mit ihren langen Fingernägeln auf. Dann entfaltete sie den Briefbogen und reichte ihn Leclerc wieder hin. »Lies bitte, mein Liebling.«
Leclerc nagte an der Unterlippe. Er überflog das Schreiben, stutzte dann, seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, sein Jungengesicht bekam den Ausdruck tiefster Verblüffung, dann las er den Brief noch einmal und diesmal mit schnellerem Atem.
»Etwas Unangenehmes, Liebling?« fragte Carola.
»Ich soll vorspielen –« Es war wie ein Schrei. »Stell dir vor … ein Impresario bittet mich vorzuspielen. Am Freitag! In Cannes! François Parthou, dieses Scheusal in Marseille, hat mich ihm empfohlen … Ist denn so etwas zu glauben?«
»Zeig einmal …« Carola nahm ihm den Brief aus der Hand und las die wenigen Zeilen, die genau das enthielten, was sie Gombarelli gesagt hatte. »Wie schön … nun geht dein Stern auf, mein Liebling.« Sie warf den Brief auf einen Tisch und legte die Arme um Leclercs Hals. »Ich glaube an dich«, sagte sie mit leiser, zärtlicher Stimme. »Du wirst einmal ein ganz, ganz großer Mann werden … du wirst so spielen, wie du lieben kannst. Und das wird unerreichbar sein.«
Leclerc küßte sie und streichelte ihren heißen Rücken. »Freitag –«, sagte er und blickte an ihr vorbei auf die gischtumtosten Klippen unter sich. »Das sind noch drei Tage. Ich werde jetzt wie ein Irrer üben … ich werde mit Menuhin ein Doppel spielen … ich will ihnen zeigen, was Jean Leclerc kann.«
Gleich nach dem Mittagessen fuhren sie nach Antibes und kauften einen guten Plattenspieler und alle erreichbaren Schallplatten der großen Violinvirtuosen. Sie hielten sich nicht lange in der Stadt auf, kehrten in ihr Felsenhaus zurück, und schon zehn Minuten später stand Leclerc im großen Wohnzimmer vor dem Plattenspieler und übte die schwierigen Passagen. Dann stellte er die Platten ab und spielte allein, sich immer wieder aus der Partitur korrigierend. Carola mußte ihn mit sanfter Gewalt aus seinem Rausch herausreißen und vom Notenständer wegziehen.
»Auch ein Genie muß etwas essen«, sagte sie und nahm ihm die Geige aus der Hand. »Schluß jetzt.«
»Wie war ich?« fragte er, die alte, immer wiederkehrende Frage der Künstler. Auch Donani stellte sie nach jedem Konzert, wenn er mit Carola endlich allein war. Wie war ich … Carola wandte sich ab. Ein Stich jagte ihr durchs Herz. An den kleinen Dingen scheitert das Vergessen, dachte sie. Ein Wort, eine Bemerkung nur … und schon steht die Vergangenheit wieder auf.
»Ich weiß nicht –«, sagte sie mit mühsam fester Stimme. »Ich kann die Feinheiten nicht unterscheiden … aber ich finde dich immer wunderbar –«
Leclerc war glücklich wie ein beschenkter Junge. Aber er träumte nicht nur vom Erfolg … er arbeitete auch dafür. Drei Tage lang gab es keine Ruhe in dem Haus auf dem Felsen, stundenlang schwebten die Klänge der Geige über das Meer, immer und immer wieder die gleichen Stellen, die artistischen Kapriolen Paganinis, die Doppelgriffe Kreislers und Sarasates. Carola ließ Leclerc in diesen drei Tagen seine innere und äußere Ruhe, nur des Nachts lagen sie sich in den Armen und redeten nach den Ekstasen von ihrer Zukunft und von dem Glück, sich gefunden zu haben.
Am Freitag war Jean Leclerc blaß und fahrig, mißmutig und knurrig. »Ich bin kein Schuljunge!« schrie er, als Carola ihm die Krawatte band und ihm mit einer Bürste über die schwarzen Haare fuhr. »Verdammt noch mal … ich komme mir vor, als müsse ich vor Onkel Hubert ein Gedicht aufsagen! Laß mich endlich in Ruhe!«
Carola schwieg. Das Lampenfieber kannte sie … es gab Sänger, die hinter der Bühne, Sekunden vor ihrem Auftritt, keinen Ton mehr aus der Kehle bekamen, um dann, hinaustretend ins Rampenlicht, zu singen wie ein Gott. Bernd Donani schwitzte vor seinem Hinaustreten auf das Podium, Caruso – so sagt man – habe jedesmal Bauchschmerzen bekommen – Jean Leclerc benahm sich wie ein ungezogener Junge, schimpfte und knurrte und rannte herum wie ein gefangener Tiger.
Franco Gombarelli hatte alles so arrangiert, wie es Carola vorgeschrieben hatte. Im Musikzimmer des Golf-Hotels erwartete er Leclerc und nickte mehrmals, als er ihn auf sich zukommen sah.
Natürlich, dachte Gombarelli, so muß er aussehen, um reichen Frauen die Vernunft aus dem Gehirn zu saugen. Ein Spielknabe mit schwarzen Locken und den melancholischen Augen einer Dogge. Hände, weich zum Streicheln, Lippen, voll zum Küssen, ein schlanker Körper, der nicht belastet und noch mit Muskeln spielt. Es sind immer die gleichen Typen, auf die die Frauen hereinfallen. Man kann es einfach nicht verstehen –
»Willkommen, zukünftiger Meister!« rief Gombarelli, getreu seiner Instruktion und mit dem Gedanken, durch diesen Blödsinn Geld zu verdienen. »Ich habe gehört, daß Sie auf dem Wege sind, alles an die Wand zu spielen. Kollege Parthou hat mir von Ihnen vorgeschwärmt … wenn nur ein Viertel dessen stimmt, sind Sie der kommende Mann.«
Leclerc ging auf diesen Enthusiasmus nicht ein. Er packte seine Geige aus, straffte den Bogen und stimmte die Saiten. Carola war draußen geblieben, sie saß in der Halle und wartete. Er hatte es so gewünscht.
»Können wir?« fragte Leclerc, als er die Geige gestimmt hatte. Gombarelli putzte sich laut die Nase.
Man muß es durchstehen, dachte er. Das Benehmen eines Virtuosen hat er schon. Er ging zum Flügel, sah auf die Noten, die Leclerc hingelegt hatte, und sah erstaunt auf.
»Das wollen Sie spielen?«
»Dachten Sie, ich spiele Ihnen Twist vor?«
»Das ist das Schwerste, was es auf dem Violinsektor gibt. Allein die Kadenz …«
»Haben Sie Angst, mich zu begleiten?«
Gombarelli wurde rot und setzte sich vor den Flügel. Ein eingebildeter Laffe, dachte er. Wenn er dieses Konzert fehlerlos spielen kann, ist er wirklich ein Könner. Aber wir werden es ja gleich hören … es wird das Gewimmer einer gebärenden Katze sein.
»Ich spare mir die lange Einleitung«, sagte Gombarelli kurz. »Ich fange vier Takte vor Ihrem Einsatz an. Also denn –«
Jean Leclerc schloß die Augen. Keine Angst, dachte er. Du brauchst keine Angst zu haben, du kannst es ja, du hast es oft genug geübt, in deinen Fingern lebt jeder Ton.
Schon beim ersten Bogenstrich sah Gombarelli erstaunt auf. Dann, je weiter sie zusammen spielten, kam Gombarelli in das Glücksgefühl hinein, eine schöne Stunde zu erleben, einen jener kurzen Augenblicke im Leben eines Menschen, die man nie mehr vergessen würde.
Als die Solokadenz begann, legte Gombarelli die Hände in den Schoß und starrte Jean Leclerc an. Er hatte die Augen geschlossen, seine Finger glitten über die Saiten, der Bogen flog, die schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn, sein ganzer Körper schien Musik geworden zu sein, ein Instrument, das mit den Tönen vibrierte. Ein neuer Paganini, dachte Gombarelli ergriffen. Mein Gott, was haben wir da entdeckt. Was da aus diesem Jungen herausbricht, ist wirklich ein Wunder. Wenn die Welt erkennt, was da heranwächst, ist ein neuer Stern aufgegangen. Wenn sie es erkennt –
Die Schlußtakte waren ein Jubelschrei. Erschöpft legte Gombarelli die Hände auf die Klaviertasten und atmete ein paarmal tief durch. Jean Leclerc erwachte wie aus einer Betäubung. Er drückte die Geige gegen seine Brust und starrte Gombarelli an.
»Wunderbar –«, sagte Gombarelli nach einer Zeit des Schweigens. »Einfach wunderbar!«
»Ist … ist das wahr?« Leclercs Stimme war kaum hörbar.
»Ich würde es nie sagen, Jean! Sie haben einen ganz großen Weg vor sich –«
»Und Sie werden ein Konzert arrangieren?«
»Das fragen Sie noch?« Gombarelli erhob sich und streckte Leclerc beide Hände entgegen. »Jean, ich danke Ihnen für diese Stunde. Ich habe Ihnen vieles abzubitten … ehrlich … ich hatte zuerst gedacht, daß Parthou übertrieben habe und mir da ein Kuckucksei ins Nest legen will. Aber nun weiß ich, daß Sie alles in sich haben, einer der ganz Großen zu werden …«
Gombarelli drückte Leclerc die Hände. Die Begabung hat er, dachte er dabei. Aber ob sein Charakter mitkommt? Was bindet ihn an diese Frau? Wer ist diese Vera Friedburg? Was hat er bisher getan?
Die Frage, die Leclerc fürchtete, kam, weil sie kommen mußte.
»Wo waren Sie bisher?«
Leclercs Gesicht wurde hart. »Bei den Pariser Philharmonikern.«
»Unter Donani?«
»Ja.«
»Und Donani hat Ihr Talent nicht erkannt?«
»Nein.«
»Merkwürdig!« Gombarelli schüttelte den Kopf. »Und warum sind Sie von Donani weg?«
»Weil ich nicht mehr wollte!« Leclerc schrie plötzlich. Gombarelli wich zurück, als fürchte er, mit der Geige einen Schlag gegen den Kopf zu bekommen. »Ich kann Arroganz und Mißachtung nicht vertragen! Und ich wollte weiter … weiter … ich wollte nicht mein Leben als Geiger in der letzten Reihe beenden! Ich weiß, was ich kann!«
Gombarelli nickte. Er wird verbrennen, dachte er, fast traurig. Er wird an sich selbst zugrunde gehen … ein Genie, das sich nicht pflegen läßt und in kurzer Zeit übergärt wie ein schlecht gelagerter Wein. Er hat nicht die innere Stärke, sich selbst in der Gewalt zu halten. Sein Charakter wird den Künstler in ihm ermorden.
»Wann soll das Konzert sein?« fragte Leclerc.
»In drei Wochen. Ich will es gründlich vorbereiten.«
Gombarelli strich sich nervös über den Kopf. »Plakate, Zeitungsanzeigen, Handzettel, zwei Presse-Interviews … ich will sehen, ob ich sogar Radio Monaco interessieren kann. Es soll ja ein voller Erfolg werden.«
»Zweifeln Sie noch daran?«
»Nein.« Gombarelli klappte den Deckel über die Tastatur des Flügels. »Wir werden auf unsere Kosten kommen.«
Und diese Frau Vera Friedburg wird sie bezahlen, dachte er. Es ist eigentlich ein schändliches Spiel, das wir mit ihm treiben. Wir züchten einen Künstler, der nicht die menschlichen Qualitäten hat, es zu sein. Man sollte ihm sagen: Du kannst zauberhaft spielen, mein Junge, aber innerlich bist du ein fauler Apfel, wurmstichig und morsch. Bleibe, was du jetzt bist – ein Spielzeug reicher Frauen, deren Bankkonten dir offenstehen. Du brauchst keinen Frack anzuziehen, um zu leben … du lebst besser vom Ausziehen.
»Ich schicke Ihnen den Vertrag zu, Jean«, sagte Gombarelli. »Und ich habe mich gefreut, daß wir uns kennengelernt haben. Nach dem Konzert reden wir eingehend über einen Managervertrag, nicht wahr?«
Müde, ausgepumpt bis auf die Knochen, verließ Leclerc das Musikzimmer und suchte Carola in der Hotelhalle. Sie saß am Fenster, trank einen Tee und las in einer Modezeitung. Als sie ihn kommen sah, sprang sie auf und rannte ihm entgegen. Sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn wie eine Mutter, die ihren Sohn nach einer bestandenen Prüfung begrüßt. Leclerc entzog sich ihren Händen mit einem Ruck des Kopfes.
»Ist alles gut gegangen?« fragte Carola, plötzlich ängstlich.
»Alles –«
»Du gibst ein Konzert?«
»Ja.«
»Hier in Cannes?«
»Ja.«
»Das ist ja wunderbar!« Carola wirbelte herum und winkte einem der livrierten Kellner. »Eine Flasche Champagner!« rief sie. »Liebling, das werden wir feiern!«
Leclerc schüttelte den Kopf. Er preßte den Geigenkasten unter den Arm und atmete schwer.
»Laß uns gehen, Chérie –«, sagte er heiser. »Ich will nach Hause. Ich will allein sein.«
»Aber Liebling –«
Leclerc wandte sich ab und verließ die Hotelhalle. Carola warf einen Geldschein auf den Tisch und rannte ihm nach. Auf der Promenade holte sie ihn ein … er ging, den Kopf vornübergebeugt wie ein Rammbock, durch die Menschenmenge, mit einem verkniffenen Gesicht, als habe er nicht vor wenigen Minuten den größten Triumph seines bisherigen Lebens errungen. Als Carola die Hand unter seinen Arm schob, schüttelte er sie ab wie eine lästige Fliege.
Jetzt werde ich ein Solist, dachte er. Ein großer Geiger. Mir wird die Welt offenstehen. Aber diese Frau wird mich hindern, sie wird immer um mich sein, sie wird immer bestimmen wollen, sie wird mich am Tage immer wie ein Kind behandeln und in den Nächten wie einen nie erschöpften Mann. Sie wird eine Hölle für mich werden, während ich mich in den Himmel spiele.
»Was hast du?« fragte Carola leise.
»Nichts!«
Es klang so, daß sie nicht weiterfragte. Auch im Hause sprachen sie nicht miteinander … Leclerc saß am Gitter der Terrasse und starrte hinunter auf das Meer und die schaumumtosten Klippen.
In dieser Nacht schliefen sie zum erstenmal getrennt … zwar nebeneinander in einem Bett, aber niemand tastete hinüber zu dem anderen, kein Körper drängte sich an, keine Hand suchte Wärme und Weichheit. Eine rätselhafte Wand war plötzlich zwischen ihnen, die erst verschwand, als Carola gegen Morgen zaghaft ihren Kopf auf Leclercs Brust legte und seine Hand im Halbschlaf über ihren Leib glitt.
Sie seufzte und schlief wieder ein.
*
In den nächsten Tagen war alles wieder wie vordem. Im Gegenteil – Leclercs Leben pendelte zwischen Geigenübungen und Zärtlichkeiten, und Carola genoß den Rausch seiner jugendlichen Tatkraft wie ein betäubendes Gift.
Als die ersten Plakate an den Wänden und Tafeln von Cannes hingen, ließ sich Leclerc neben ihnen fotografieren und hing ein Plakat in der kleinen Diele des Hauses auf. Oft stand er davor und las mit lauter Stimme:
Gala-Konzert
Beethoven – Tschaikowskij – Prokofieff
Es spielt
Jean Leclerc, Violine
begleitet von dem Sinfonie-Orchester Turin
Leitung Mario Brandelli
im Großen Saal des Künstlerhauses Cannes
»Wie das klingt«, sagte er glücklich. »Es spielt: Jean Leclerc – begleitet von – Mein Gott, ich kann es noch gar nicht fassen. Und wenn ich an den Abend denke, habe ich schon jetzt wahnsinnige Angst. Meine Finger werden wie gelähmt sein, Chérie …«
»Ich werde bei dir sein.« Carola lehnte den Kopf an seine Schulter. »Du wirst spielen wie noch nie –«
Und dann war plötzlich der Abend gekommen, so schnell, daß Leclerc immer wieder auf den Kalender sah, weil er es nicht glauben wollte. Gombarelli hatte Nachricht gegeben. Der Kartenverkauf sei schleppend, aber im Hinblick auf den neuen Namen sei man zufrieden. Die Turiner Kapelle reiste an, am Vormittag hatte Leclerc eine Verständigungsprobe mit dem Orchester und dem Dirigenten. Es war ihm nichts Neues, er kannte das ja alles, nur hatte er bisher immer in der Musikerreihe gesessen und immer mit Neid auf den Mann geblickt, der neben Donani vor dem Orchester stehen durfte. Nun war er es. Nun stand er neben dem Dirigentenpult und besprach mit Mario Brandelli die einzelnen Tempi. Nun konnte er sagen: Ich möchte das so haben, und diese Stelle spiele ich im Gegensatz zur Partitur mehr piano. Das Orchester darf also nicht zudecken. Nun war er es, der angab, nach dem man sich zu richten hatte, der vor ihnen allen stand. Es war ein herrliches Gefühl, ein triumphales Herzklopfen, eine tiefe Befriedigung nach den Jahren der Wünsche.
Der Vormittag flog vorüber mit der Probe. Zu Mittag aß Leclerc kaum etwas … er spürte, wie sich seine Kehle langsam wieder zuschnürte. Am Nachmittag wurde er nervös. Als sie von Antibes nach Cannes fuhren, saß er in seinem Frack blaß und eingefallen neben Carola, deren silbernes Abendkleid mit den schwarzen Perlenstickereien glitzerte. Eine Locke ihres schwarzen Haares hatte sie mit einem Clip aus Brillanten und Rubinen festgesteckt. Ihre Schönheit war faszinierend. Sie war eine Demonstration südländischer Frauenvollkommenheit.
Leclerc hatte keinen Blick dafür. Er starrte vor sich hin und bewegte stumm die Lippen. Eine Stelle bei Tschaikowskij machte ihm Schwierigkeiten, jetzt sagte er sie im Geiste immer wieder her.
Franco Gombarelli empfing sie am Hintereingang des Künstlerhauses und umarmte Leclerc in überschwenglicher Begeisterung. Hinter den Fenstern hörte man das Klingen der Instrumente, ein wirres Durcheinander von Tönen. Das Orchester machte sich warm.
Gombarelli ließ Leclerc ins Künstlerzimmer vorgehen und hielt Carola am Arm zurück.
»Signora –«, sagte er leise, nahe ihrem Ohr. »Bevor es losgeht, muß ich Ihnen noch etwas sagen: Die Saalmiete kostet 2.000 Francs, das Orchester kostet, alles in allem mit Unterkunft, Fahrt und Honoraren, 8.000 Francs. Ich bekomme 1.000 Francs, machen bisher 11.000 Francs.«
»Ich schreibe Ihnen gleich einen Scheck aus.« Carola sah Gombarelli fragend an. »Wie ist der Kartenverkauf?«
»Schlecht, Signora …«
»Wieviel Zuhörer werden im Saal sein?«
»Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen –« Gombarelli wurde tatsächlich rot. Carola nagte an der Unterlippe.
»Wieviel?«
»Zweiundvierzig, Signora –«
»Was?« Das Herz stockte ihr einen Augenblick.
»Zweiundvierzig und keiner mehr. Ein unbekannter Geiger –«
»Das ist doch nicht möglich! Der Saal faßt eintausenddreihundert Personen … und nur zweiundvierzig –« Carola strich sich über die Augen. »Er … er wird ja vor einem leeren Saal spielen –«
»Es hat den Eindruck, Signora.«
»Das wird Jean seelisch völlig zerbrechen.«
Gombarelli hob beschwörend beide Hände. »Ich kann es nicht ändern, Signora. Ich kann die Zuhörer nicht an den Haaren herbeiziehen. Ich habe gestern noch Freikarten angeboten … nicht einmal abgeholt hat man sie. Ja, wenn es Menuhin wäre …«
»Auch er hat einmal anfangen müssen!« rief Carola.
Gombarelli nickte. »Ja, als Wunderkind! Wenn Sie Ihrem Jean kurze Hosen anziehen und verbreiten, er sei vierzehn Jahre alt, haben wir vielleicht auch einen vollen Saal.«
Carola antwortete nicht auf diese sarkastische Bemerkung. Sie ließ Gombarelli stehen und lief Leclerc nach, um ihm Mut zu machen.
Als sie in das Künstlerzimmer kam, stand Leclerc am Fenster und hieb mit der Faust gegen die Wand. Die Gardine hatte er abgerissen, sie lag zerknüllt, zerfetzt und zertreten unter seinen Füßen.
»Jean«, schrie Carola entsetzt. »Was ist denn?«
Leclerc drehte sich nicht um. Nur sein Kopf sank nach vorn auf die Brust.
»Hast du in den Saal gesehen?« fragte er dumpf.
»Nein.«
»Sieh hinein –«
»Ich weiß –«
Leclerc fuhr herum. Seine dunklen Augen waren wie irr.
»Was weißt du?!«
»Es sind zweiundvierzig Zuhörer im Saal –«, sagte sie kaum hörbar. Sie hob beide Hände und kam auf Leclerc zu. Aber kurz vor ihm blieb sie stehen, sie hatte Angst, daß er ihr die Hände wegschlug. Sein Gesicht zuckte wild.
»Immerhin! Zweiundvierzig! Eine stolze Zahl. Ich dachte, der Saal wäre völlig leer. Die zweiundvierzig müssen sich versteckt haben. Oder sie frieren in der Einsamkeit und haben sich an die Heizung gesetzt.« Leclerc stampfte auf und hob die Faust. »Bande!« brüllte er. »Bastarde alle! Banausen! Ich spiele nicht! Ich denke nicht daran! Ich spiele nicht vor leeren Stühlen! Eher stelle ich mich auf den Marktplatz!«
»Liebling –«, versuchte sie schwach, ihn zu beruhigen. Leclerc warf den Kopf in den Nacken.
»Laß diese blöden Worte! Wenn das Orchester will, kann es spielen. Ich gehe nicht hinaus.«
»Du mußt, Jean!«
»Ich muß? Wer will mich dazu zwingen?«
»Ich.«
»Du? Ich lache! Hörst du – ich lache! Hahaha! Du hast die Möglichkeit, mich ins Bett zu zwingen … aber hier bestimme ich.«
»Du bist gemein, Jean«, sagte Carola leise.
»Eine lächerliche Figur bin ich!« schrie Leclerc. »Ein Popanz! Warum hat mir dieser Schuft von Gombarelli nicht gesagt, daß nur zweiundvierzig Karten verkauft wurden? Ich wäre nie gekommen!«
»Eben darum hat er es nicht gesagt.«
»Und nun trete ich nicht auf!« brüllte Leclerc.
»Doch!«
»Nein! Nein! Neineineinein –«
»Wenn du dich wie ein dummer Junge benimmst, gehe ich weg«, sagte Carola ernst. Leclerc warf beide Arme in die Luft. Seine schwarzen Locken wirbelten um seinen Kopf.
»Dann geh doch! Geh!« seine Stimme wurde schrill, alle Weichheit, alle Zärtlichkeit waren explodiert durch seinen Zorn. »Geh zurück, woher du gekommen bist! Kümmere dich wieder um das Glas kalte Milch! Tupf ihm den Schweiß von der Stirn! Bilde Hinter- und Vordergrund für Fotos mit ihm! Mach wieder bitte-bitte, damit er zu dir ins Bett kommt –«
Carolas Augen wurden starr. Mit einem langen Schritt stand sie vor ihm. Dann holte sie weit aus und schlug ihn mitten ins Gesicht. Er taumelte von dem Schlag zurück, hielt sich mit beiden Händen die Backe und stöhnte.
Carola wartete, ob er zurückschlug. Tu es doch, dachte sie, und es war wieder in ihr die eisige Entschlossenheit wie damals auf der nächtlichen Straße zum Wannsee, als sie vor der unbekannten Toten standen und den Schritt in das neue Leben wagten. Schlag zu, dachte sie. Ich habe es nicht anders verdient.
Aber Jean Leclerc rührte sich nicht. Er wandte sich nur um, drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe und schwieg. Erst als hinter ihm die Tür klappte, wirbelte er herum. Carola war gegangen. Statt ihrer war Gombarelli gekommen, mit einem verlegenen Lächeln, händereibend und mit dem Gesicht eines geprügelten Hundes.
»Raus!« brüllte Leclerc.
»In zehn Minuten beginnt das Konzert –«, sagte Gombarelli stockend. »Ich möchte nur noch …«
»Raus!« Leclerc bückte sich und ergriff einen Hocker. Gombarelli hob abwehrend beide Arme.
»Signore … es sind zehn Pressevertreter im Saal.«
»Also auch noch zehn Freikarten von den zweiundvierzig!«
»Es sind mittlerweile einundfünfzig. An der Abendkasse standen noch einige Konzertliebhaber –«
»Raus!« Leclerc schleuderte den Schemel gegen Gombarelli. Mit einem Sprung rettete sich der Impresario und stürzte aus dem Zimmer. Hinter ihm knallte die Tür zu. Schwer atmend lehnte sich Leclerc an die Wand und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Vor der Tür hörte er Stimmengewirr, das Organ Gombarellis hörte er deutlich heraus. Als sich die Tür wieder öffnete, sah sich Leclerc nach einem neuen Wurfgegenstand um und entdeckte seinen Geigenkasten.
Ins Zimmer kam der Dirigent Mario Brandelli. Leclerc nahm die Hände von dem Geigenkasten. »Was wollen Sie denn noch hier?« keuchte er.
»Sehen, wie weit Sie sind. Das Orchester sitzt bereits. Sie sollten sich vor dem Auftritt noch einmal kämmen.«
»Ich spiele nicht!«
»Wir aber!« Mario Brandellis Stimme war fordernd. »Es geht nicht um die Besucherzahl – es geht um die Kunst.«
»Ich pfeife darauf!«
»Das hätten Sie bei Donani nicht sagen dürfen –«
Leclerc streckte den Kopf weit vor. Sein bleiches Gesicht war verzerrt.
»Wer noch einmal in meiner Gegenwart den Namen Donani nennt, den bringe ich um …«, sagte er heiser. »Verstehen Sie mich: Den bringe ich um! Dieser Name ist für mich, als stoße man mir ein Messer in den Leib!«
»Wie Sie wollen.« Mario Brandelli hob die Schultern. Er kontrollierte den Sitz seiner weißen Frackschleife und straffte den Frackrock. Dann sah er auf die Uhr und nickte.
»Noch zwei Minuten. Ich gehe jetzt hinaus … Sie können nachkommen oder nicht, es ist mir gleich. Wir spielen … und wir werden Ihre Solostellen schweigend absitzen. Es wird das merkwürdigste Violinkonzert werden. Auch so kann man von sich reden machen … da haben Sie recht.«
Er öffnete die kleine Tür zum Saal und betrat das Podium. Schwaches Klatschen flatterte zu ihm hin. Leclerc sah, wie er sich verbeugte und die Partitur aufschlug.
Mit zitternden Händen ergriff Leclerc seine Geige. Ihm war, als läge er in einem Backofen. Unerträgliche Hitze drückte auf sein Gehirn. Ich gehe nicht, dachte er immer wieder. Nein, ich gehe nicht. Aber er ging doch … er drückte die Geige an sich, klemmte sie unter den Arm und schwankte hinaus auf das Podium.
Wieder Beifall, schwach, blechern, widerhallend im leeren Saal. Er sah, verteilt in den leeren Sitzreihen, ein paar Köpfe, wie helle Tupfen auf einem dunklen Tuch mit Waffelmustern. Er verbeugte sich, suchte im Saal das weiße, schillernde Kleid Carolas und fand es nicht. Sie ist gegangen, dachte er. Sie ist für immer gegangen. So schnell kann man auseinandergehen, so leicht ist es.
Eine grenzenlose Einsamkeit überfiel ihn plötzlich. Er kam sich ausgesetzt vor, frierend in einer eisigen Welt.
Mario Brandelli hatte den Taktstock gehoben. Das Orchester begann. Mit den ersten Tönen schrak Leclerc auf … er starrte auf Brandelli, klemmte seine Geige unter das Kinn, umkrallte den Bogen und hörte um sich ein Gewirr von Tönen, ohne die Melodie erkennen zu können.
Auch er läßt mich im Stich, auch er, jammerte es in ihm. Alle sind gegen mich. Was habe ich denn getan? Warum stößt mich die Welt aus?
Brandelli wandte den Kopf zu ihm, die linke Hand streckte sich einladend Leclerc entgegen, eine weiße, offene Hand. Ein Zucken der Finger, ein leichtes Anheben … das Zeichen … der Einsatz … mein Gott, mein Einsatz –
Und Leclerc spielte. Seine Geige sang – aber es war nur ein Herunterspielen der Töne, wie sie der Komponist aufgeschrieben hatte. Die Seele fehlte, die Deutung, das Unaussprechliche, das in der Musik Verzauberung und Entrückung auslöst. Es war ein schulmäßiges Spielen, kein Virtuosenkonzert.
Das Konzert ging vorüber, ohne daß Jean Leclerc mehr empfand als den Zwang, die Zeit überstehen zu müssen. Er verbeugte sich vor dem mageren Beifall und kam nicht mehr aus dem Künstlerzimmer heraus, als die einundfünfzig Besucher weiterklatschten. Er überließ es Mario Brandelli, sich dafür zu bedanken, daß die Zuhörer geduldig ausgehalten hatten.
Dann war er wieder allein. Brandelli war gegangen, ohne ihm noch ein Wort zu sagen. Franco Gombarelli ließ sich nicht blicken, Carola war für immer gegangen. Nur zwei Putzfrauen erschienen, wunderten sich, daß noch jemand da war, und begannen, das Podium zu kehren.
Müde packte Leclerc seine Geige ein und verließ das Konzerthaus. Auf der Straße sah er hinauf zu den noch erleuchteten Fenstern. Dort saß das Orchester mit Gombarelli und feierte bei einigen Flaschen Wein. Er hörte sie lachen. Sie lachen mich aus, dachte er bitter. Sie lachen über mich.
Da sah er das Plakat. Es hing an der Hauswand, ein großes Stück Papier mit gelben Buchstaben.
Gala-Konzert.
Leclercs Finger wurden zu Krallen.
Gala-Konzert mit einundfünfzig Personen.
Er trat an das Plakat, ergriff es und riß es von der Wand. Ein Pärchen, das eng umschlungen an ihm vorbeiging, starrte ihn verwundert an. Über ihm, aus den Fenstern, schallte noch immer Lachen.
Aufhören! wollte er schreien. Hört doch auf! Bitte, bitte, hört auf … ich weiß, daß ich ein Idiot bin! Hört doch auf mit dem Lachen!
Aber er schrie nicht. Er umfaßte den Geigenkasten mit beiden Händen und rannte davon. Er rannte hinunter zum Meer und dann an der Küste entlang, hinaus aus der Stadt.
*
Carola schlief tief, als er ins Schlafzimmer schlich und leise die Türe hinter sich zuzog. Fast eine Stunde hatte er unten an der steilen Felsentreppe auf der Straße gesessen und nicht gewagt, hinaufzusteigen. Er hatte Angst, daß das Haus verlassen war, und hier, über den Klippen, würde ihn die Einsamkeit mit zerstörender Gewalt überfallen. Dann war er doch die Treppen hinaufgestiegen, hatte die Tür aufgeschlossen und stand in der Diele, lauschend, mit angehaltenem Atem. Alles dunkel, dachte er. Alles still und verlassen. Der Traum vom großen Jean Leclerc ist zerronnen.
Er tappte durch die Finsternis zum Schlafzimmer. Ein unendliches Glücksgefühl stieg in ihm hoch, als er Carola im Bett sah … leise zog er sich aus und schlug die Bettdecke zurück. Carola schlief wie immer, auf dem Rücken, die Beine etwas angewinkelt und nackt.
Da legte er sich zu ihr, kroch an sie, heran, schob seinen Kopf auf ihre Schulter und küßte sie in die Halsbeuge. Sie wachte nicht auf … sie flüsterte im Schlaf, legte den Arm um Leclercs Körper und umfaßte ihn, wie eine Mutter ihr schutzsuchendes Kind umfängt und an sich drückt.
Leclerc schloß die Augen. Mit einem Lächeln schlief er ein.
Er war glücklich und fühlte sich geborgen.
Es war heller Morgen, als er erwachte. Carola war schon aufgestanden … er rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Da sprang er auf und rannte rufend durch das Haus, bis er ihren Zettel neben dem gedeckten Frühstückstisch fand.
»Bin in Cannes«, stand kurz darauf. »Komme gegen Mittag zurück.«
Neben dem Zettel lagen zwei Morgenzeitungen. Der Kulturteil war aufgeschlagen. Leclerc beugte sich herunter und las die kurze Kritik der ersten Zeitung.
»Das Gala-Konzert des jungen Geigers Jean Leclerc mit den sauber spielenden Turinern unter Mario Brandelli im großen Saal des Künstlerhauses ließ eine große, brennende Frage über das Beste an diesem Abend unbeantwortet: Wo ließ Jean Leclerc seinen Frack arbeiten?«
Leclerc zerknüllte die Zeitung und schleuderte sie, zusammen mit der anderen, ungelesenen Zeitung, hinunter ins Meer. Aber die große Wut, die ihn noch gestern nacht gepackt hatte, kam nicht zurück. Er hatte geschlafen, der innere Druck war vorbei, die Sonne schien, und er saß auf der Terrasse über dem leuchtend blauen Mittelmeer.
Ich habe Zeit, dachte er jetzt. Carola ist nicht gegangen, es wäre auch zu merkwürdig gewesen, daß sich eine Frau von mir lösen kann. Solange Carola bei mir bleibt, wird das Leben sorglos sein … und in diesen Monaten wird man sich umsehen müssen, wo die neuen Chancen liegen. Die Liebe allein ist keine harte Währung.
Mit gutem Appetit frühstückte er und saß dann später am Radio und hörte Tanzmusik. Wie man sich nur so aufregen kann über einen mißlungenen Abend, dachte er und dehnte sich in der Sonne. Man sollte viel kaltschnäuziger dem Leben gegenüber sein, viel mitleidloser. Hat jemand Mitleid mit mir? Carola? Er verzog den Mund zu einer Grimasse. Auch bei ihr ist es kein Mitleid. Sie füttert in mir nur einen Automaten, aus dem sie sich die Liebe zieht. Sie bezahlt mich auf ihre Art. In Wahrheit bin ich nichts als eine männliche Hure.
Er zuckte mit den Schultern und schloß die Augen. Die Sonne blendete zu sehr.
*
Es kostete Carola nicht nur eine stundenlange Überredungskunst, sondern auch 2.000 Francs, bis sie Franco Gombarelli so weit hatte, daß er ein neues Konzert organisierte.
»Ich arbeite nicht mehr für diesen Verrückten, Signora!« rief Gombarelli und trank zur Auffrischung seiner Stimme einen Apéritif. »Und wenn Sie mir 10.000 bieten – ich tue es nicht.«
»Ich gebe Ihnen 2.000 und keinen Sou mehr. Und dafür werden Sie sich bemühen, auf meine Kosten wieder ein Orchester zu engagieren und einen Saal zu mieten. Diesmal in Monte Carlo.«
»Kompletter Wahnsinn! Verzeihung, Signora, aber es wäre besser, Sie stellten sich an eine Straßenecke und verteilten die Geldscheine. Dann kämen Sie wenigstens noch in die Zeitung.« Gombarelli zog den Schlipsknoten herunter und öffnete den Kragenknopf. Die Erregung verbreitete in ihm drückende Hitze. »Wen locken Sie mit einem Violinkonzert eines Unbekannten in Monte Carlo in einen Saal? Wenn man so etwas laut sagt, sperren sie einen sofort in die Anstalt. Monte Carlo! Soll ich dem Fürsten auch eine Einladung schicken?«
»Natürlich. Eine Freikarte.«
»Sie haben Humor, Signora.« Gombarelli lehnte sich zurück. Er resignierte. »Ihr junger Freund benimmt sich wie ein Wilder. Wirft Hocker nach mir und droht Mario Brandelli einen Totschlag an. Er kann spielen, zugegeben – aber er hat nicht die geringste charakterliche Reife und Festigkeit, um anders zu leben, als er es bisher getan hat. Als Freund schöner, reicher Frauen –«
»Sie sind geschmacklos, Gombarelli!« sagte Carola steif.
»Wie soll ich Ihnen sonst anders die Wahrheit sagen, Signora?«
»Sie sollen nicht reden – Sie sollen handeln. Hier.« Sie schob ihm einen Packen Geldscheine über den Tisch. Gombarelli sah sich konsterniert um. Sie saßen in der Halle des Golfhotels, aber Gott sei Dank stand ihre Sesselgruppe in einer Ecke und nicht im Blickfeld der anderen Gäste. Schnell griff Gombarelli zu und schob die Geldscheine in seine Tasche.
»2.000 Francs, zählen Sie nach«, sagte Carola hart.
»Ihnen glaubt man alles, Signora. Wozu nachzählen?«
»Und wann ist das Konzert?«
»So schnell wie möglich. Aber ich befürchte, Ihr kleiner Jean wird nicht wollen.«
»Das überlassen Sie mir. Mieten Sie einen intimen Saal, nicht mehr als vierhundert Sitzplätze.«
»Vierhundert!« Gombarelli hob den Blick an die Decke. »Wenn jeder zweite Sitz besetzt ist, wallfahre ich nach Lourdes und melde ein neues Wunder an –«
»Es werden vierhundert Zuhörer im Saal sein. Der Saal wird ausverkauft sein. Und wenn Sie die Karten verschenken.« Carolas Gesicht war hart, und ihr Blick duldete keinen Widerspruch. »Nach dem Konzert rechnen Sie mit Jean Leclerc den Überschuß der Einnahmen ab.«
»Ich werde wahnsinnig, Signora! Warum schenken Sie ihm das Geld nicht gleich? Wozu der Umweg?«
»Er soll das Gefühl haben, es verdient zu haben. Er soll an sich glauben lernen.«
»Und wozu? Braucht er das bei Ihnen? Was haben Sie davon?«
Carola sah Gombarelli erstaunt an. Zum erstenmal war sie ohne Antwort. Plötzlich aber erkannte sie auch, wie recht Gombarelli hatte. Warum das alles? Vor einem Virtuosen des Taktstockes war sie in ein neues Leben geflüchtet, und nun begann sie, einen neuen Virtuosen großzuziehen. Wenn ihr dies gelungen war, würde es genauso werden wie bei Donani … Reisen kreuz und quer durch die Welt, Proben, Konzerte, Empfänge, schlaffe Müdigkeit und erneutes Aufraffen am Morgen – denn es ging ja weiter … Proben, Konzerte, Empfänge … die Welt wollte Jean Leclerc hören … im Konzertsaal, im Fernsehen, im Rundfunk, auf der Schallplatte …
Carola strich sich nervös über die Augen. Daß ich daran nie gedacht habe, daß mich ein Mann wie Gombarelli darauf stoßen muß. Bisher hatte sie in Jean Leclerc nur die Jugend gesehen, die Leidenschaft des Liebhabers, den Zauber des Vergessenkönnens, ihr seliges Glück, das sie belohnen wollte mit Erfolg und Ruhm. Plötzlich sah sie auch die andere Seite, jenes Leben im Schatten des Ruhmes, dem sie entflohen war. Es ist genau wie damals, als ich Donani kennenlernte, dachte sie mit eisigem Schrecken. Ich war geblendet von seinen Erfolgen, ich schwärmte ihn an, ich dachte überhaupt nicht mehr, weil es unendlich schöner ist, nur glücklich zu sein, weiter nichts als gedankenlos glücklich. Und was ist daraus geworden …
Franco Gombarelli trank seinen Apéritif aus und schob den Schlipsknoten wieder hoch.
»Ich gebe Ihnen die 2.000 – gerne wieder, Signora«, sagte er höflich. Carola schüttelte den Kopf.
»Noch dieses eine Konzert. Vielleicht gelingt es –«
»Es ist Ihr Geld, Signora.« Gombarelli erhob sich. »Ich werde alles tun, was ich kann. An mir soll es nicht liegen. Ich möchte nur im voraus sagen, daß ich mich weigern werde, die Zuschauer vorher zu betäuben und dann in den Saal zu schaffen. Mehr als die Karten verschenken kann ich nicht.«
»Wie und was Sie machen, ist mir gleichgültig.« Auch Carola erhob sich. »Ich erwarte von Ihnen einen gefüllten Saal. Keinen leeren Stuhl, nicht einen einzigen –«
Gombarelli nickte. Es war sinnlos, noch etwas zu sagen. Er dachte nur: Mein Gott, was muß der Junge für Qualitäten haben, daß eine solche Frau so verrückt wird.
Aber so ist es im Leben … bevorzugt werden immer die Falschen.
*
Die folgenden drei Wochen waren ein harter Kampf. Jean Leclerc weigerte sich, noch einmal zu spielen. Er weigerte sich mit wilden Ausbrüchen und mit weinerlichem Klagen, er zerschlug eine Vase und legte sich krank ins Bett. Erst als Carola drohte, ihn zu verlassen, wurde er wieder normal und berechnend.
»Wovon sollen wir leben?« sagte Carola und legte den letzten Bankauszug auf den Tisch. Leclerc schielte mißtrauisch auf das Papier. »Ich habe noch 39.000 Francs!«
»Ein schönes Stück, Chérie.«
»Es ist eine Handvoll, wenn man ausschließlich davon leben soll, ohne etwas dazuzuverdienen.«
»Du hast noch deinen Schmuck.« Leclerc sagte es ganz nüchtern.
»Auch das ist bald aufgebraucht. Du weißt, daß Schmuck, wenn man ihn verkauft, nur noch die Hälfte wert ist.«
»Für zwei oder drei Jahre reicht es, Chérie.«
»Und dann?«
»Wer weiß, was in zwei Jahren ist.« Leclerc legte den Arm um ihren Hals. »Ein Atomkrieg, ein Weltuntergang –«
»Rede keinen Unsinn.« Sie befreite sich aus seinem Griff und lehnte sich zurück. Er versuchte, ihre Brust zu streicheln, aber sie schlug seine Hand weg. Leclerc hob die Schultern. Na, dann nicht, dachte er und wölbte die Unterlippe vor. Ich kann es aushalten, aber nicht du. Wenn es dunkel wird, fängst du an zu zittern.
»Du mußt in diesem einen Jahr so weit sein, daß du als Solist genug Geld verdienst«, sagte sie unbeirrt. »Man kann nicht einfach resignieren und seine Begabung wegwerfen, nur weil es einmal nicht geklappt hat.«
»Es wird nie klappen! Nie!« Leclerc sprang auf. Ein unbändiger Drang, ihr weh zu tun, stieg in ihm auf. »Ich habe auf das falsche Pferd gesetzt, das ist alles!« rief er. »Ich habe gedacht, Geld und Liebe reichten aus, einen Weg zu ebnen. Das war falsch, das war idiotisch! Jetzt sehe ich ein, daß es nur einen gegeben hat, der mich ans Licht gebracht hätte, der allein dazu die Möglichkeit hatte: Donani –« Carolas Gesicht wurde weiß. Ihre Finger krampften sich um den Bankauszug.
»Wir hatten uns versprochen, den Namen nie mehr zu nennen …«, sagte sie tonlos.
»Versprochen!« Leclerc lachte rauh. »Man kann der Wahrheit nicht ausweichen. Was sind wir denn? Ein Mann und eine Frau, die sich morgens, mittags, abends und nachts in die Arme fallen, die sich selbst belügen, wenn sie glauben, das höchste Glück zu genießen, und denen doch die Angst im Nacken hockt: ›Was wird werden? Wie soll das enden?‹« Er fuhr herum und beugte sich zu Carola vor. »Weißt du es, ja?« schrie er. »Weißt du, wie es weitergehen soll?«
»Ja. Du wirst das Konzert geben.«
»Nein!«
»Doch!« Sie sah ihn an, und er erkannte in ihrem Blick die gleiche Grausamkeit, zu der er eben fähig gewesen war. Da hielt er den Atem an und biß die Zähne aufeinander.
»Doch! Du spielst!« sagte Carola noch einmal. »Du spielst, weil ich dich bezahle –«
»Du … du bezahlst?«
»Ich miete den Saal, ich lasse die Plakate drucken, ich bezahle Gombarelli, damit er dich managt. Ich habe alles gekauft … auch das Orchester, das dich begleitet.« Ihr Gesicht war wie aus Stein. Leclerc spürte, wie seine Beine nachgaben, wie seine Hände zitterten und kalter Schweiß über seine Stirn zog. »Du kannst durch mich alles werden – oder nichts!«
»Du Aas«, sagte er kaum hörbar.
»Ich glaube, wir sind quitt.« Sie stand auf und zerriß den Bankauszug. »So verfliegen Illusionen, mein Lieber. Sie explodieren wie Seifenblasen. Du liebst mich wegen des Geldes … Habe ich das richtig verstanden? … Ich liebe dich wegen deiner schäumenden Jugend … Ist das auch klar ausgedrückt? Sollen wir uns etwas vormachen, mein Liebling? Als ich in Berlin alles von mir wegwarf, glaubte ich an die große, ewige Liebe. Ich glaubte noch an sie, als ich in Marseille mein Gesicht verlor, ich träumte von ihr, als wir dieses Haus hier bezogen. Ich träumte bis vor fünf Minuten noch davon. Ein Satz von dir, ein einziger Satz hat alles verändert. Du hast dich mir neu vorgestellt … nicht wie damals auf der Place de l'Opéra in Paris, jungenhaftfrech und charmant, mit deiner Jugend blendend – nein, du hast dich als das vorgestellt, was du jetzt bist: Ein bezahlter Liebhaber!«
»Chérie –«, stotterte Leclerc.
»Laß das dumme Wort!« Carola trat an das Gitter und blickte hinunter auf die gischtumtosten Klippen. »Sparen wir uns diese Komödie. Für jede Nacht erhältst du deinen Preis, für jede Umarmung deinen Obolus. Du hast etwas anzubieten, und ich kaufe es dir ab …«
»Carola –«, schrie Leclerc. Er ballte die Faust und bebte am ganzen Körper.
»Und noch eins! Noch habe ich Geld. Noch kann ich dich bezahlen. Aber auch, wenn ich keines mehr habe, sind wir aneinandergekettet auf Gedeih und Verderben. Ich habe mein Gesicht für dich geopfert, um für immer bei dir zu sein … es ist kein großes Verlangen von mir, wenn ich dein billiges Leben als Gegenwert verlange. Du wirst wie jeder Mann für seine Frau auch für mich arbeiten … ganz gleich, wie und wo und womit. Es ist deine Pflicht, du kannst ihr nicht ausweichen. Ich kann dich zwingen –«
»Womit?« Leclerc stampfte auf. »Womit, he?« schrie er. »Wie willst du mich zwingen?«
»Indem ich dich umbringe, mein Liebling –«, sagte sie ganz ruhig. »Ich habe die alte Carola Donani getötet und wurde Vera Friedburg … was macht es mir aus, einen Jean Leclerc zu töten –«
»Du … du bist unheimlich …«, stotterte Leclerc. Er drehte sich um und rannte von der Terrasse zurück ins Haus. Er wußte, daß die Worte Carolas kein dramatisches oder leeres Reden waren. Er hielt sie zu dieser Tat für fähig.
Carola lehnte den Kopf an die Hauswand, als Leclerc weggelaufen war. Ihr Herz schmerzte, und sie hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick kraftlos umfallen zu müssen. Was habe ich da alles gesagt, dachte sie und spürte, wie das unterdrückte Weinen in ein Zittern ihres Körpers überging. O Gott, was habe ich alles gesagt. Es ist ja nicht wahr, es ist ja alles gelogen, ich kann ja ohne ihn nicht sein, ich brauche ihn ja wie das Atmen, wie das tägliche Brot, wie der Verdurstende das Wasser. Ich wäre ja nichts ohne ihn, ich lebe ja nur durch ihn.
Sie preßte die flachen Hände gegen das Gesicht und hatte einen Augenblick lang den sehnlichen Wunsch, über das Geländer zu fallen und auf den Klippen inmitten der schäumenden See zu zerschellen.
In der Nacht kroch Jean Leclerc an ihre Seite und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Wie ein Hund war er, der Wärme und Liebkosung sucht.
»Ich spiele –«, sagte er leise, als sich Carola nicht rührte, obgleich sie wach war. »Ich tue alles, was du willst – nur sprich mit mir … sag, daß du mich liebst … bleibe meine Chérie –«
Sie blieb stumm, aber sie legte den Kopf zur Seite und drückte ihr Gesicht in seine schwarzen Locken. Sie seufzte leise, als seine Hände über ihren Leib glitten.
Ein oder zwei Jahre, dachte Jean Leclerc dabei. Wer weiß, wie die Welt dann aussieht. Es wäre dumm, sich diese zwei Jahre zu verderben –
*
Das zweite Konzert war ein voller Erfolg. Der Saal war gefüllt bis auf den letzten Platz, achthundert Hände klatschten frenetischen Beifall, denn für eine Freikarte muß man etwas leisten. Die Kritiker der Zeitungen, die ebenfalls mit Freikarten im Saal saßen, aber nicht wußten, daß auch die anderen Zuhörer gekauft waren, wunderten sich über den tosenden Erfolg des jungen Mannes, der seinen Solopart auf der Violine heruntergespielt hatte wie eine Schullektion und der nun mit einer Lässigkeit sich verbeugte, als wolle er sagen, daß dieser Beifall ihn wenig rühre.
Im Künstlerzimmer rannte Franco Gombarelli auf Leclerc zu und wollte ihm gratulieren. »Welch ein Erfolg! Welch ein Tag!« rief er enthusiastisch. »Darf ich schon Maestro zu Ihnen sagen? Sie werden die Welt auf den Kopf stellen!« Gombarelli spielte seine Rolle vollendet. Er setzte sich an den Tisch und packte einen Stapel Geldscheine auf den Tisch. »Sehen Sie her, mein Lieber! Die Tageskasse! Der Überschuß. 2.000 Francs … das ist überwältigend für das erste richtige Konzert! Wissen Sie, wie hoch das erste Honorar Paganinis war? Zwei Butterbrote mit Käse, haha! Sie sind ein Glückspilz, Jean!«
Leclerc antwortete nicht. Er trat an den Tisch, ergriff das Bündel Banknoten, hob es hoch und schleuderte es dem verblüfften Gombarelli ins Gesicht.
»Nehmen Sie auch das, Sie Kreatur Veras!« sagte er ganz ruhig. »Ich weiß nicht, was sie Ihnen gegeben hat, damit diese Komödie gespielt wird … aber es war nicht genug für diese meisterhafte Inszenierung, das da fehlt noch. Stecken Sie es ein … wenn ich Geld brauche, hole ich es mir einfacher und amüsanter – im Bett. Gute Nacht!«
»Signore Leclerc!« Gombarelli sprang auf. »Noch etwas!«
»Was denn noch? Stecken Sie Ihren Judaslohn ein.«
Gombarelli stand dicht vor Leclerc. Seine dunklen Augen glühten.
»Ich habe etwas vergessen. Ich möchte Ihnen meine Begeisterung über Ihr Können und Ihren Charakter zukommen lassen. Bitte –«
Er hob beide Hände und ohrfeigte Leclerc auf beide Wangen. Leclerc hob die Fäuste, aber der große Gombarelli war wesentlich stärker als er. Mit einem Hieb lähmte er die Arme Leclercs und versetzte ihm anschließend noch zwei Schläge ins Gesicht.
»So«, sagte Gombarelli tief befriedigt. »Das war es! Dafür gebe ich 10.000 Francs her, wenn's nötig ist. Meine gute Erziehung hindert mich daran, Ihnen ins Gesicht zu spucken. Aber nehmen Sie als Letztes mit: Ich betrachte Sie als das erbärmlichste Schwein von Mann, das je von einer Frau ausgehalten wurde. Und jetzt wirklich – gute Nacht!«
Leclerc lehnte sich kraftlos gegen die Wand. Sein Gesicht brannte, als habe es in Feuer gelegen. Seine Arme waren durch den harten Schlag Gombarellis gefühllos. Erst langsam, wie lange es gedauert hatte, wußte er nicht, kam wieder Leben in ihn. Seine Beine bewegten sich und trugen den Körper zum Tisch.
Das Geld lag noch auf dem Boden, die verlogene Abrechnung auf der Tischplatte. Daneben lag die Geige, dunkelbraun, zart gemasert, in ihrem Lack spiegelten sich die Deckenlampen.
Mit beiden Händen griff Leclerc zu. Er hob die Geige auf, schwang sie hoch über seinen Kopf und schleuderte sie an die Wand. Mit einem hellen Laut, fast wie der Schrei eines Kindes, zerschellte das Holz, die Saiten flirrten durch die Luft, nur der Geigenhals blieb in seiner Hand. Mit einem Schrei warf er auch ihn in die Ecke des Raumes.
Jean Leclerc wandte sich ab und verließ das Haus durch den Hintereingang. Ihn ekelte alles an … als er sein Gesicht im Spiegel sah, den eine Fensterscheibe gegen einen dunklen Hintergrund bildete, dieses Strichjungengesicht, von den Schlägen Gombarellis aufgetrieben, als habe er Hefe unter der Haut, da streckte er vor sich selbst die Zunge aus und bespuckte sein Bild auf der Scheibe.
*
Mit verbissenem Gesicht wanderte Jean ziellos über die Straße nach Cannes. Warum er dorthin ging, was er in Cannes wollte, wie es in den kommenden Tagen und Wochen mit Carola weitergehen sollte, wie überhaupt das Leben, dieses verpfuschte und auf Leidenschaften aufgebaute Leben fortgesetzt werden sollte, wußte er nicht. Er hatte das Bedürfnis zu laufen … wegzulaufen vor den Konsequenzen, die nun von ihm verlangt wurden.
Als er damals, auf der Place de l'Opéra in Paris, die berauschend schöne Frau des Dirigenten Donani ansprach und mit einer ihm damals selbst verwunderlichen Kühnheit küßte, hatte er an einen lukrativen Flirt gedacht. An eine Tändelei ohne Tiefe, ohne Tragödien, ohne Folgerungen vor allem. Aber dann war alles wie eine riesige Woge über ihm zusammengeschlagen, hatte ihn mitgerissen hinaus auf ein Meer, obwohl er nicht schwimmen konnte und auch nicht schwimmen wollte. Nun lag er erschöpft an einem fremden Strand, ein Robinson der Liebe. So wenigstens kam er sich vor, und er war dabei, sich tief und schmerzlich zu bedauern.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch hielt ein Auto neben ihm und nahm ihn mit nach Cannes. Es war ein Engländer, der wortlos seine Pfeife rauchte, den Wagen mit einer Hand lässig lenkte und sich um seinen neuen Reisebegleiter nicht kümmerte.
Jean starrte durch die Scheibe der Autotür. Was soll ich tun, dachte er immer wieder. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wegzugehen von Carola und damit einer ungewissen Zukunft ausgesetzt sein, oder bei ihr zu bleiben, sie immer wieder in den Nächten zu betören, so lange, bis sich eine Möglichkeit fand, aus diesen Fesseln wieder zu entweichen in einen anderen, noch nicht bestimmbaren Abschnitt des Lebens, in dem es sich ruhiger, aber mit gleicher Sorglosigkeit leben ließ.
Am Hafen setzte der Engländer ihn aus dem Wagen. Leclerc stand an der Kaimauer und starrte über die weißen Segel, die Motorjachten und das elegante Promenieren unter der Lichterfülle der Croisette. Ihm war weinerlich zumute, er fühlte sich hundeelend und war wütend.
Man sollte sich besaufen, dachte er. Regelrecht besaufen. Und abwarten, wie alles werden würde. Was blieb ihm anderes übrig? Es gab natürlich viele Wege, in ein normales Leben zurückzukehren. Man konnte wieder als Geiger in der letzten Reihe eines Orchesters sitzen, man konnte in Bars spielen, man konnte sich einem Reiseorchester anschließen – aber immer würde Carola bei ihm sein, die Frau, die seinetwegen ein reiches Leben weggeworfen hatte, so endgültig mit der Verwandlung ihres Gesichtes, daß es kein Zurück mehr gab.
Jean wich allen Problemen an diesem Abend aus. Er streifte durch das Hafenviertel von Cannes, in einer Kneipe am Segelhafen betrank er sich und lernte ein Mädchen kennen, das nach einem fragenden Blick gleich den Arm um seinen Nacken legte.
»Komm!« sagte er mürrisch. »Es ist doch alles am Ende!« Er steckte dem Mädchen 500 Francs in die Bluse, hakte sich bei ihr unter und ließ sich durch die Altstadtstraßen schleifen. Später lag er in einem Eisenbett, schlief röchelnd und zuckte im Traum mit den Beinen.
Es war merkwürdig … die Hafendirne Fifi Bareuge hatte Mitleid mit dem unbekannten, betrunkenen, schönen Jüngling, mehr Mitleid, als man mit 500 Francs kaufen kann. Sie ließ ihn bis gegen Morgen schlafen und warf ihn nicht aus dem Zimmer wie andere Kunden.
Das Schicksal ließ ihn nicht los – was er auch tat und wo er auch war … Jean Leclerc entrann nie den Frauen.
*
Carola hatte die ganze Nacht wach gesessen. Erst auf der Terrasse, über das Meer starrend und sich in wilder Verzweiflung quälend, dann im Wohnzimmer, zusammengeduckt in einem Sessel.
Sie konnte mit Gedanken und Entschlüssen ringen, sie wieder verwerfen, neue Anklagen erheben und auch diese wegwischen. Als sie damals in der Klinik des Dr. Lombard über sechs Wochen Zeit hatte, während der Verwandlung ihres Gesichtes von ihren Gedanken zu leben, war es nur Sehnsucht nach dem neuen Leben gewesen, nur Liebe zu Jean, nur eine irre Verblendung, wie sie es jetzt plötzlich nannte und vor dieser Erkenntnis schauderte. Geblieben war nun die Asche eines zu schnellen Brandes und das grauenhafte Wissen, ein Leben für ein Nichts weggeworfen zu haben. Ein Nichts, das Jean Leclerc hieß … ein junger Körper, ein Paar warme Lippen, eine weiche, streichelnde Hand, eine Reihe von sündigen Nächten, Versuche, zwei Schicksale auf dem Fundament des völligen Vergessens der Vergangenheit zu gestalten … eben ein Nichts.
Wogegen sich Carola in den zurückliegenden Monaten immer wieder gewehrt hatte, was sie in sich unterdrückte und vor dem sie – wenn sie merkte, daß ihr Wille versagte – in die Arme Jeans geflüchtet war, kam jetzt übermächtig in ihr hoch, und es gab nichts mehr, was sich ihm entgegenstemmen konnte: der Gedanke an Donani und an ihre Kinder.
Es war ihr, als zerrisse das Herz. Die Einsamkeit, die sie umgab, das Haus oben auf dem Felsen, um sich das Meer und die Klippen, das nicht mehr durch Selbstbetrug zu überdeckende Wissen, in Jean Leclerc eine neue Welt gesehen zu haben, wo er in Wahrheit nur eine Handvoll Staub war, diese grausame Ernüchterung war so schrecklich, daß sie meinte, der Atem versage ihr. Sie sprang auf, rannte hinaus auf die Terrasse, beugte sich über das Geländer und starrte wieder hinunter auf das um die Klippen kochende Meer.
Hinab, dachte sie. Wie einfach das alles ist. Ein Schwung über das Geländer, ein sekundenschneller Fall, zwei Atemzüge lang, und dann war Ruhe … endlich Ruhe …
Sie stand auf der Terrasse, bis sie zu frieren begann. Warum soll ich hinabspringen, dachte sie. Vielleicht wartet Jean nur darauf. Er wird nach außen erschüttert sein, aber im Innern aufatmen.
Sie zog die Schultern hoch und ging ins Haus zurück. Wie gut ich ihn kenne, dachte sie weiter. Ich habe es nie gestanden, ich habe mich immer selbst belogen. Er ist ein großer Junge, habe ich zu mir gesagt. Ein lieber Junge. Ein leichtsinniger Junge. Aber gerade dieser Leichtsinn ist es, der ihn so liebenswert macht.
Sie legte wie in einem maßlosen Erstaunen die Hände gegen den Mund. Mein Gott, das habe ich gedacht. Das habe ich noch vor ein paar Tagen gedacht. Ich bin mit geschlossenen Augen umhergegangen und war glücklich, wenn ich nur fühlen durfte. Ich war blind, weil ich nicht sehen wollte … aus Angst, das zu erkennen, was jetzt nicht mehr zu verleugnen ist.
So saß sie die ganze Nacht und wartete auf die Rückkehr Jeans. Was sie sagen würde, wußte sie noch nicht. Es wird eine Entscheidung geben – das war das einzige, was für sie sicher war.
Jean kam am frühen Morgen heim. Sein Gesicht sah zerstört aus, entstellt und aufgedunsen. Er roch nach billigem Parfüm und Alkohol, eine Mischung, die Übelkeit erzeugte. Leicht schwankend lehnte er sich gegen die Tür und winkte Carola zu. Sie hockte im Sessel und starrte ihn stumm an.
»Bonjour, Chérie!« sagte er und entblößte bleckend die Zähne. »Gut geschlafen? Wie du siehst, hat Herrchen dich nicht vergessen … er ist wieder da.«
»Wo warst du?« fragte Carola steif.
Jean machte eine alles umfassende Armbewegung. Sein Gesicht glänzte. Der noch in seinem Körper kreisende Alkohol trieb ihm den Schweiß aus den Poren.
»Im achten Himmel!« rief er. »Den siebten hast du ja für dich reserviert! Aber im achten Himmel, das sag' ich dir, da herrscht eine Stimmung! Da blasen die Engelein auf Kognakflaschen! Du solltest mal aus dem siebten Himmel rauskommen und mit mir in den achten fliegen!«
»Du bist betrunken«, sagte Carola angewidert.
»Und wie! Ist trinken auch verboten?«
»Du benimmst dich wie ein unreifer Junge.«
»Bin ich das nicht?« Jean drehte sich mühsam um sich selbst und hielt sich dann wieder am Türrahmen fest. »Wer hat mich reif gemacht? Na? Wer will aus mir einen großen Mann machen? Mit Zehntausenden Francs? Wer denn? Meine kleine Chérie … mein teufelsschönes, ehrgeiziges Luder –«
Carola wandte sich ab. Sie erhob sich aus dem Sessel, trat ans Fenster und sah hinaus auf das in der Morgendämmerung wie aus Nebeln aufsteigende Meer.
»Du kannst von jetzt ab tun, was du willst!« sagte sie hart.
Jean schüttelte den Kopf, als käme er aus dem Wasser. Seine etwas glasigen Augen wurden plötzlich ernst; es war, als habe jemand einen Vorhang weggezogen, der die Gegenstände verzerrte. »Was heißt das?« fragte er mit klarer Stimme.
»Es ist aus.« Carola drehte sich langsam zu ihm um. »Warum siehst du mich so entgeistert an? Es ist aus. Ich wundere mich selbst, mit welcher Ruhe ich dieses Wort sagen kann. Ich müßte toben und schreien, ich müßte dir eine Liste dessen präsentieren, was ich deinetwegen aufgegeben habe –«
»Bitte –« Jean hob die Hand, sein Gesicht drückte Langeweile aus. »Keine Leporello-Arie. Habe ich das, was du geopfert hast, jemals von dir verlangt?«
»Nein.«
»Na also.« Jean schwankte durch das Zimmer und warf sich in einen der Sessel. Er legte die Beine auf den Rauchtisch und stützte den Kopf nach hinten gegen die Sessellehne. »Wir trennen uns also?«
»Ja –«, sagte Carola. Ihre Stimme klirrte fast vor Kälte.
»Du hast es leicht, ja zu sagen.« Jean betrachtete seine Fingernägel. »Du hast noch ein dickes Bankkonto, deinen Schmuck, na ja, und am Ende auch noch ein körperliches Kapital –«
»Schweig!« schrie Carola plötzlich. »Sprich nicht weiter – ich warne dich! Halt den Mund!«
Leclerc zuckte mit den Schultern. »Mich hast du aus der Bahn geworfen –«
»Was habe ich?« fragte Carola fast atemlos zurück. Sie senkte den Kopf. Das ist doch nicht möglich, dachte sie. Das kann er doch nicht ernst gemeint haben. Soviel Gemeinheit kann es doch gar nicht geben.
»Ich hatte eine gute Stellung. Ich war Geiger bei Bernd Donani. Das ist etwas, um das mich Hunderte Kollegen beneiden. Was bin ich jetzt?«
»Ein betrunkener Lump!« schrie Carola.
»Betrunken aus Kummer über mein verpfuschtes Leben! Ich bin aus meiner Bahn gerissen worden, man hat mich zu einem Hampelmann gemacht, ich bin ein Tierchen, das man mit ins Bett nimmt …«
»Red nicht weiter«, sagte Carola gefährlich leise. »Red nicht weiter –«
»Warum denn nicht? Tut es weh?« Er grinste breit und faltete die Hände über dem Bauch. »Das freut mich, Chérie. Weißt du, daß auch ich es satt habe?«
»Du hast alles in mir zerstört, alles! Die Illusion, die ich von der Liebe hatte, den Glauben an eine Zukunft, die Gemeinsamkeit von zwei Menschen, die alle Widerstände sprengt und alle Pläne Wahrheit werden läßt –«
»Pläne!« Jean schüttelte wie mitleidig den Kopf. »Du hattest Geld, das war alles! Und du hattest einen einflußreichen Mann. Darum warst du interessant, Chérie, nicht weil du eine schöne Frau bist. Schöne Frauen gibt's genug – nur kosten sie Geld. Du warst die Ausnahme, die Geld bringen sollte. Und was habe ich nun?« Jeans Stimme wurde quengelig wie bei einem boshaften Kind. »Der einflußreiche Donani ist fern wie der Mann im Mond, und aus der schönen, reichen Frau wurde –«
»Ich vergesse mich, wenn du weiterredest!« schrie Carola wild. Sie war mit zwei großen Schritten bei ihm vor dem Sessel und spreizte die Finger. Jean Leclerc zog den Kopf in die Schultern, als wolle er seinen Hals vor ihren Händen verstecken. Seine Augen begannen zu flimmern.
»Du hast mich gebraucht«, sagte er langsam. »Nicht ich dich. Du hast mich dafür bezahlt … hast du es nicht selbst gesagt? Wieviel Geld hast du noch? 30.000? 40.000? Wie lange reicht es? Du mußt anders kalkulieren, Chérie – ich bin teurer geworden –«
Carola schloß einen Moment die Augen. Sie kämpfte gegen die Versuchung, vorzustürzen und Jean zu töten. Mit den eigenen Händen … mit ihren Nägeln das höhnisch lächelnde Gesicht zerfleischen und dann zudrücken, den Kopf abgewandt, um ihn nicht ansehen zu müssen, um die großen Kinderaugen nicht erstarren zu sehen.
Kinderaugen –
Alwine und Babette.
Meine Kinder.
Die Gedanken zerstückelten sie innerlich. Sie warf den Kopf zurück und trat vom Sessel ins Zimmer. Jean atmete hörbar auf.
»Geh –«, sagte sie leise. Jean erhob sich und zog seinen Schlipsknoten gerade.
»So plötzlich?«
»Noch in dieser Minute!«
»Ich werde doch noch packen dürfen.«
»Nein!«
»Also, so geht es nun auch nicht!« Jean steckte die Hände in die Hosentaschen. Ein Zittern überfiel ihn. Vor dem Fenster stieg die Sonne aus dem Meer empor, ein runder, goldroter Ball. Es war, als stehe der Himmel in Flammen. »Wo soll ich denn hin?« fragte er laut.
»Dorthin, wo du eben hergekommen bist!«
»Das kostet Geld.« Jean schob wie ein trotziges Kind die Unterlippe vor. »Wir wollen es mal klar aussprechen, Chérie: Nicht ich bin für dich verantwortlich, sondern du für mich. Alles, was geschehen ist, ging von dir aus … die Tote in Berlin, die in deinem Wagen die verunglückte Carola Donani spielen mußte, die Gesichtsoperation, der falsche Paß … alles hast du getan.«
»Aus Liebe zu dir!« Carola wirbelte herum. »Ich war wahnsinnig! Wahnsinnig! Jetzt sehe ich es!« Sie rannte zu einem Schrank, riß eine Schublade auf und griff nach einem Papierbündel. Jean ging im Zimmer hin und her, mit gespitzten Lippen, als wolle er pfeifen. Seine Gedanken, von der letzten Alkohollähmung befreit, arbeiteten rasend. Es ist zu Ende, das ist nun sicher, dachte er. Irgendwie ist das eine Befreiung, aber, genau betrachtet, läuft es auf eine Katastrophe hinaus. Wovon soll ich leben? Zumindest die ersten Tage müssen gesichert sein, eine Woche, ein Monat. In dieser Zeit würden sich neue Quellen entdecken lassen.
Er blieb stehen, suchte in den Taschen und klimperte mit ein paar Francstücken. »Das ist alles, was ich habe«, sagte er frech und hielt die Hand auf. »Ein armer Musiker bittet um eine milde Gabe. War ich nicht – immer fleißig …?«
Carola umkrallte die aus der Schublade gerissenen Papiere. Was ist aus mir geworden, schrie es in ihr. Mein Gott, kann es noch tiefer hinabgehen als mit mir? Wie gerecht und wie schnell du strafen kannst …
»Ich werde dir alles nachzahlen«, sagte sie dumpf. »Du sollst nicht das Gefühl haben, auch nur eine Stunde Liebe unterbezahlt geopfert zu haben. Hier –« Sie hob beide Hände und öffnete sie. Die Augen Jeans weiteten sich. Geldscheine. Sie hat einen dicken Packen Geldscheine in den Händen. Lauter Hundertfrancsscheine. Er machte einen Schritt auf sie zu, aber sie kam ihm entgegen, und als er ihre Augen sah, diese vor Erregung und Haß blitzenden Augen, ließ er die Arme sinken.
»Ich will zahlen!« schrie Carola plötzlich mit greller Stimme. Sie riß einen Schein aus dem Packen und warf ihn Jean ins Gesicht. »Da – für eine Nacht! Und für die zweite! Die dritte … die vierte – fünfte –« Bei jedem Wort warf sie ihm einen Hundertfrancsschein ins Gesicht. Sie stand nahe vor ihm, bei dem Wort sechs trennte sie kein halber Meter mehr, und auch die Scheine flatterten nicht mehr um ihn herum, sondern sie lagen jetzt auf der Handfläche Carolas, und jedes »hier! hier!« war ein Klatschen auf seine Wangen, war eine Ohrfeige mit einem Geldschein.
Jean rührte sich nicht. Seine Augen blickten an Carola vorbei, er ertrug die Schläge und zählte mit. Tausend Francs, dachte er. Tausenddreihundert … vierhundert … fünfhundert … Sie hat noch Geld in der Hand, sie schreit noch immer, sie schlägt noch immer zu … siebenhundert … neunhundert … zweitausend …
Er nahm den Kopf zurück, die zuschlagende Hand zischte ins Leere.
»Es waren mehr Nächte!« schrie Carola. Sie zitterte am ganzen Körper wie in einem Schüttelfrost. »Ich will keine Schulden hinterlassen. Die Sünde ist teuer! Ich will bezahlen! Seit wann nimmst du kein Geld mehr?« Sie kam Jean, der einen Schritt zurückgewichen war, wieder nach und schlug erneut mit einem Geldschein in der Handfläche zu.
»Einundzwanzig! Und noch eine Nacht! Zweiundzwanzig! Du kannst reich werden, mein Liebling! Du kannst ein Krösus werden! Du kannst dich ausruhen auf deinem schwer erarbeiteten Vermögen! Vierundzwanzig! Fünfundzwanzig! Heb nicht die Hand, du Schuft! Ich zahle in bar! Hier … hier …«
Sie schleuderte den Rest des Geldpackens Jean ins Gesicht und taumelte dann zurück. Erschöpft lehnte sie sich an die Wand und preßte die Hände vor ihre Augen.
Jean Leclerc strich sich mit einer eleganten Bewegung die in die Stirn gefallenen Locken zurück. Seine Fingerspitzen fuhren tastend über die geschlagene Wange. Sie ist geschwollen, dachte er. Aber man kann sie kühlen. Das ist das kleinere Übel. Er sah sich um und lächelte spöttisch. Er stand inmitten einer Wiese von Geldscheinen, auf seinen Schuhen lag das Geld, an seinem Rock hingen die Scheine.
Ohne Hast bückte er sich und sammelte die Banknoten auf. Er schob sogar die Sessel zur Seite, um die weggeflatterten Scheine zu suchen. Dann ordnete er sie auf dem Rauchtisch, klopfte sie zu einem Block und steckte sie in die Rocktasche.
»Merci, Madame –«, sagte er höflich. »Eine Quittung brauchen Sie wohl nicht –«
Er verbeugte sich, bückte sich noch einmal, weil er hundert Francs hinter einer Blumenvase liegen sah, zögerte und legte dann den Geldschein auf den Tisch zurück.
»Ein Beitrag für die Blumen zu diesem Festtag, Madame«, sagte er voll beißender Ironie. »Ich schlage ein großes Gebinde aus vielfarbigen Stiefmütterchen vor –«
Carola hatte die Hände nicht von den Augen genommen. Erst, als die Tür klappte, als Jean Leclerc das Zimmer verlassen hatte, ließ sie die Arme sinken. Ein heißer Schmerz durchzuckte sie plötzlich, ein wilder Krampf, sie preßte die Hände gegen die Brust und versuchte, einen der Sessel zu erreichen. Mein Herz, dachte sie. O Gott, mein Herz –
Sie spürte, wie sie zusammensank, sie sah sich niederfallen, sie schloß entsetzt die Augen, als das Blumenmuster des Teppichs auf sie zukam, als presse jemand ein geblümtes Tuch auf ihren Mund … dann lag sie mitten im Zimmer, die Decke fiel auf sie herab, das Haus schien sich von den Felsen zu lösen und wegzufliegen. Sie wollte schreien, aber sie hatte keine Stimme mehr – und dann wurde es dunkel um sie, die rote Sonne explodierte.
Das Ende, dachte sie noch. So ist das Ende –
Während Carola ohnmächtig umsank, verließ Jean Leclerc fast fluchtartig das weiße Haus auf dem Felsen. Er nahm nichts mit, nur seinen kleinen Koffer aus Krokodilleder. Er war ein erster Ausweis von Wohlstand, auf den er nicht verzichten wollte.
*
Den ganzen Vormittag hatte Jean genug zu tun, sich an seine neue Situation zu gewöhnen und sich auf sie einzustellen. Kaum daß er das Haus verlassen hatte, setzte er sich auf die steile Steintreppe, die zur Straße hinabführte, und holte die Geldscheine wieder aus der Tasche. Zählend ließ er sie zwischen Daumen und Zeigefinger durchlaufen. Dreitausendsechshundert Francs! Genug, um das kurze Niemandsland zwischen Vergangenheit und Zukunft zu überwinden?
Er rechnete schnell, was er brauchte. Einen neuen Anzug, einen Smoking, dazu die nötige Wäsche, die Schuhe, einen Abendmantel, eine Woche lang ein Zimmer in einem guten Hotel – 3.600 Francs sind da nicht allzuviel, im Gegenteil, Beeilung tat not, das Vakuum seines Lebens mit neuem, erquickendem Sauerstoff zu füllen.
Mit dem Bus fuhr Leclerc nach Cannes. Dort kleidete er sich ein, mietete sich einen Wagen und fuhr nach Monte Carlo. Im Hotel ›Splendid‹ stieg er ab, wünschte nicht gestört zu werden und legte sich in seinem Zimmer, mit Blick über das Meer und das Fürstenschloß, ins Bett und schlief sich erst einmal aus. Er erwachte am späten Nachmittag, ließ sich Toast mit Schinken und Ei und einer halben Flasche Pommery aufs Zimmer bringen und zählte dann noch einmal sein übriggebliebenes Geld.
900 Francs.
Jean Leclerc spürte ein unangenehmes Kribbeln unter der Kopfhaut. Mit 900 Francs ist man in Monte Carlo ein armseliger Bettler. Jeder Straßenkehrer, jeder Netzflicker am Hafen war ein König gegen ihn. Aber er besaß jetzt einen Smoking, der wie über seinen Körper gegossen aussah, er hatte ein Hemd mit einem diskreten Spitzenbesatz auf der Brust, die Lackschuhe waren beste italienische Arbeit.