Mit Pietro Bombalo war in diesen Minuten nicht mehr zu sprechen. Wer ihn anredete, wurde niedergebrüllt; um so mehr verlangte Bombalo von denen, die um ihn herumschwirrten. Er stand in der Mitte des Raumes, raufte sich die schwarzen, gelockten Haare und stieß dann die Arme anklagend nach oben.

»Diabolo!« schrie er. »Wo ist der Sekt? Und wo sind die Schnittchen?! Und wo ist der große Rosenstrauß für die Fernsehaufnahmen? Um alles muß man sich allein kümmern, um alles!«

Das Zimmer war voll von Fotografen, Reportern, Filmleuten, Herren im Frack und zwei Saaldienern, die in ihren goldbetreßten Uniformen würdevoll und unberührt von Bombalos Brüllen an der Tür standen und warteten, bis sie sie öffnen durften. Immer wieder wurden neue Blumenkörbe hereingetragen, Rosensträuße in großen Zellophanhüllen, Orchideenkästen … man wußte nicht mehr, wohin man alles stellen sollte, und stapelte sie einfach an der Längswand aufeinander.

An dieser Wand lehnte auch eine mittelgroße, schlanke, blonde Frau in einem hellroten, langen, im altgriechischen Stil geschnittenen Abendkleid. Niemand beachtete sie – man lief um sie herum, stapelte die Blumenkästen und Tüten neben ihr auf, nickte ihr vielleicht freundlich zu … aber in diesen Minuten kam es niemandem in den Sinn, sie anzusprechen und ihr zu sagen, wie glücklich sie sein dürfte, einen solchen Abend zu erleben. Sie erwartete es auch gar nicht … sie kannte diese hektische Aufregung seit Jahren, sie wiederholte sich immer wieder, nur die Sprache der Anwesenden wechselte ständig, mal Französisch, mal Englisch, mal Spanisch, mal Japanisch. Früher hatte sie mit Pietro Bombalo die Blumen arrangiert und Interviews gegeben und mit einem fotogenen Lächeln gesagt: »O ja, ich bin so glücklich, mit einem Mann wie Bernd verheiratet zu sein. Es ist ein wundervolles Leben …« Sätze, die ihr Bombalo als Interview-Sprache vorgeschrieben hatte, weil sie nach seiner Ansicht ›den Leser ins Herz trafen‹. Später dann hatte sie sich abseits gestellt und geschwiegen. Es widerte sie an, mit einem Lächeln zu lügen.

Sie blickte auf den gestikulierenden, schreienden Bombalo, zündete sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf. Immer dasselbe, dachte sie. Ein Irrenhaus! Eine Aufregung, als ob die Welt unterginge … und wenn dann alles vorbei war, wenn die Reporter ihre Interviews hatten, die Fotografen ihre Aufnahmen im Kasten, die Filmleute ihre Filmmeter abgekurbelt, saß Pietro Bombalo erschöpft, aber glücklich in einem Sessel, trank einen Campari und sagte stolz: »Na, Freunde … war das nicht wieder eine Inszenierung? Man muß der Welt nur zeigen, wie berühmt man ist … dann glaubt sie es auch.«

Bombalo hob in diesem Augenblick wieder beide Arme. Das Stimmengewirr verstummte einen Moment. Er rannte zur Tür und lauschte.

Nur noch wenige Takte, dann war das Konzert zu Ende. Die Posaunen bliesen schon, die Kesselpauken rumpelten, die Geigen erklangen im Fortissimo … in ein paar Sekunden würde der Saal wie ein sturmgepeitschtes Meer sein, wildbewegt und donnernd, eine einzige Woge, die zum Podium brandete und »Bravo! Bravo!« schrie.

Bombalo trat von der Tür zurück. Die goldbetreßten Saaldiener nahmen Haltung an.

»Noch zehn Sekunden, meine Herrn!« sagte Bombalo stolz.

Die Anwesenden verharrten schweigend. Durch die Tür, von dem riesigen Konzertsaal her, dröhnten jetzt die Blechbläser und Pauken.

»Er verzaubert das Orchester …«, sagte jemand in die Stille hinein.

Die schlanke, blonde Frau zerdrückte die kaum angerauchte Zigarette in einem Blumentopf und strich sich dann mit beiden Händen durch die langen Haare. Die Reporter und Filmleute sahen zu ihr hinüber; es war, als bemerke man sie erst jetzt. Zwei Fotografen machten eine Blitzlichtaufnahme von ihr. Sie gab sich keine Mühe zu lächeln, sie sah geradeaus. Morgen wird darunter stehen – und Tausende werden es lesen –: Carola Donani, die schöne, strahlende Frau des berühmten Dirigenten Bernd Donani. Man sagt, allein ihr Halsschmuck sei 200.000 Mark wert. Und Frau Meyer wird beim Kaffeetrinken seufzen und denken: Wie glücklich muß diese Frau sein …

Carola Donani wandte den Kopf weg und sah Bombalo an. Pietro Bombalo, der Impresario, der alles machte, was den Namen Bernd Donani zu einem Wertbegriff in der Welt der Musik werden ließ, der Verträge zwei Jahre im voraus abschloß, der Flugzeuge für Donani charterte, der Meldungen in die Presse gab, Donani sei verunglückt, aber wie durch ein Wunder gerettet worden, der Aufnahmen herstellen ließ, auf denen Donani Hand in Hand mit bekannten Filmsternen zu sehen war und die beschrieben waren mit: »Eine neue Affäre? Selten sah man Donani so glücklich …« Pietro Bombalo, der sein Geschäft virtuos verstand … nur von Carola Donani hatte er keine Ahnung, von dem, was sie dachte, was sie fühlte, was sie innerlich zerriß. Sie war in den Augen Bombalos eine reiche Frau – was verlangte sie mehr vom Leben?

Die Blicke Bombalos und Carolas trafen sich, kreuzten sich wie zwei Klingen … dann schnellte Bombalo herum zur Tür. Der letzte Takt … eine Sekunde Stille, dann das Aufdonnern von Tausenden klatschender Hände. Rufe, Füßegetrampel … die Saaldiener rissen die Tür auf, die Reporter drängten nach vorn … Klatschen, Stimmengewirr, Getrampel drang in das Zimmer … dann sah man in der Menge an der Tür einen gebräunten Kopf auftauchen, umweht von weißen Haaren, bedeckt mit Schweißperlen, erschöpft und trotz der lachenden Augen voll Müdigkeit und Sehnsucht nach Ruhe.

Er hat schon wieder die Frackschleife schief sitzen, dachte Carola und löste sich aus dem Blumenmeer. Niemand sieht es, auch nicht Bombalo, der sonst alles sieht. Und dabei hat er immer die Frackschleife schief, wenn das Konzert zu Ende ist … seit acht Jahren …

Sie drängte sich durch die Menge, und als Donani sie sah, wußte er schon, was sie wollte. Er hob das Kinn und lächelte. Carola zupfte die Krawatte gerade und tupfte mit ihrem Taschentuch die letzten Schweißperlen von Donanis Nase.

»Danke, mein Engel –«, sagte er leise.

Dann stellte er sich zurecht, sie trat zurück, und die Kameras blitzten, und die Filmapparate surrten.

Premiere in Paris.

Ein Beethoven-Konzert mit Bernd Donani am Pult.

Das gesellschaftliche Ereignis der Theater-Saison an der Seine.

Zehnmal mußte Donani hinaus in den Saal und sich verbeugen. Dann stand er den Reportern zur Verfügung und ergänzte das, was Bombalo schon erzählt hatte. Um Carola kümmerte sich niemand mehr … sie saß zwischen den Blumen und wartete.

Eine Stimme schreckte sie auf. Sie hatte sie schon vorher gehört, aber nicht geglaubt, daß die Worte ihr galten. Erst als die Stimme sagte: »Gnädige Frau … darf ich auch gratulieren?« merkte sie, daß man sie ansprach.

Vor Carola stand ein junger, schlanker Mann mit dem leicht gebräunten, mädchenhaften Aussehen des Südfranzosen. Seine großen, dunkelbraunen Augen leuchteten. Die schlanken Hände faßten nach Carolas Hand und hoben sie zu einem hingehauchten Kuß an die weichen, geschwungenen Lippen.

»Sie kennen mich nicht?« fragte er. Sein Deutsch mit französischem Akzent war singend und weich wie sein Jungengesicht.

»Nein –«, sagte Carola Donani gedehnt.

»Wie kann ein so kleiner Mann auch auffallen?« Er sah hinüber zu Donani, der in einem Kreis befrackter Herren stand und Sekt trank. »Neben ihm, da sind wir ja nur piepsende Mäuse …«

Carola lachte leise. Piepsende Mäuse, wie das klingt, dachte sie. Aber er trifft es genau, es gibt genau die Stimmung wieder, die um den großen Donani herrscht. Er ist die Sonne … und unter ihm ist die andere Kreatur, die sein Strahlen wachsen und gedeihen läßt.

»Ich heiße Jean Leclerc …«, sagte der junge Mann.

»Leclerc.«

»Ich bin Geiger im Pariser Philharmonischen Orchester.« Leclerc lächelte bitter. »Ich glaube kaum, daß Ihr Mann als Chef unseres Orchesters mich überhaupt bemerkt hat. Er merkt mich nur, wenn ich statt f ein fis spiele. Donani, sagt man, hat das absolute Gehör –«

»Er hat es …«, Carola strich die Haare aus der Stirn. »Sie können es in jedem Interview lesen. Bombalo vergißt nie, darauf hinzuweisen.«

»Sie machen keinen glücklichen Eindruck, gnädige Frau«, sagte Leclerc leise. Carola sah ihn abweisend an.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie fast grob zurück.

»Ich beobachte Sie schon seit Monaten, gnädige Frau.« Leclerc sah sich um. Donani erzählte Anekdoten aus seinem Leben, die Bombalo erfunden hatte. Am lautesten lachte Bombalo, der die Anekdoten schon Hunderte Mal gehört hatte. »Seit unser Orchester mit Donani durch die Welt reist, habe ich Sie beobachtet …«

»Sie sollten sich mehr um Ihr fis als um mich kümmern«, sagte Carola und erhob sich von dem Polsterstuhl. Sie war ein klein wenig größer als Leclerc, aber das machten nur ihre hohen Absätze.

»Sie sind unglücklich, Madame«, sagte Leclerc.

»Was berechtigt Sie, so unverschämt mit mir zu sprechen?« Carola wollte zu Donani, um dem Gespräch ein Ende zu machen. Verwundert spürte sie, wie Leclerc sie am Arm zurückhielt. Die Berührung seiner Hand war wie ein heißer Druck … sie blieb stehen und sah ihn mit wütenden, dunkelblauen Augen an.

»Was soll das?«

»Sie haben mich etwas gefragt, Madame. Ich möchte antworten: Wenn ein Mann eine schöne Frau leiden sieht, ist er verpflichtet zu helfen. So wenigstens ist es die Ansicht der Männer unseres Landes … unsere Ahnen waren die ritterlichen Troubadoure.«

»Sie stammen aus der Provence?«

»Ja. Aus Arles.«

»Sie sprechen ein gutes Deutsch.«

»Ich habe auf dem Konservatorium in Berlin studiert, Madame.« Jean Leclerc ließ Carola los, die keine Anstalten mehr machte, wegzugehen. Sie sah ihn an, und ihr Blick war nicht mehr wütend und abweisend … er war eine Mischung von Erstaunen, stummer Frage und verhaltener Angst.

»Ich bin nicht unglücklich …«, sagte sie plötzlich leise.

»Doch, Madame.«

»Sie irren.«

»Und Sie belügen sich selbst. Ich habe Sie angesehen, wenn Sie glaubten, nicht gesehen zu werden. Der Glanz, der Sie umgibt, ist wie der Goldhimmel, der eine starre Buddhastatue einhüllt. Sie gehen wie eine Königin durchs Leben und beneiden die Bettlerin.«

»Dummheit!« Carola winkte ihrem Mann zu, der sein Sektglas hochhielt und ihr zuprostete.

»Komm doch zu uns!« rief er ihr zu.

Leclerc lächelte spöttisch. »Der große Meister winkt. Bitte, Madame, springen Sie … es wird Ihnen ein Glas Champagner gegönnt …«

»Sie sind ein impertinenter Bursche!« Carola atmete heftig. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen länger zuhöre –«

»Weil Sie hören wollen, was Sie sonst nur denken, Madame. Carola Donani, die Frau des größten Dirigenten unserer Zeit. Das ist ein Traum von Millionen Frauen, nicht wahr? Sie haben in Deutschland eine schloßartige Villa, Sie fahren einen weißen Sportwagen, Sie tragen Brillanten und Saphire, Rubine und Smaragde, Sie haben Nerzmäntel und Chinchilla, und Sie brauchen nicht zu fragen: Was kostet ein Steak? Geld hat für Sie den Begriff verloren. Wer möchte nicht ein solches Leben führen?« Jean Leclerc machte eine kleine Pause und sah Carola an. Ihre Augen flimmerten. »Und wie ist es wirklich? Ihre Augen Madame, verraten es, wenn Sie allein sind … Sie träumen davon, wieder ein Mädchen zu sein und von vorn beginnen zu können. Sie würden vieles anders machen … vor allem würden Sie sich einen Mann suchen, der Zeit für Sie hat und der mit Ihnen verheiratet ist und nicht mit den Sinfonien von Beethoven bis Mozart.«

»Sie sind unverschämt!« sagte Carola Donani. Sie warf den Kopf in den Nacken und ließ Leclerc stehen. Mit schnellen Schritten ging sie zu Bombalo und nahm ein Glas Sekt aus seiner Hand. Der Kreis der schwarzen Fräcke saugte sie in sich auf. Man hörte nur noch ihr Lachen. Es klang kalt und einstudiert.

Jean Leclerc blieb zwischen den Blumenbergen stehen und steckte sich eine Zigarette an. Gierig rauchte er drei Züge und zerdrückte sie dann wieder.

Es war gelungen … er hatte Carola Donani angesprochen. Der erste Schritt war getan. Er hatte eine Tür aufgestoßen und gesehen, daß es die richtige gewesen war.

Unbemerkt verließ er das Künstlerzimmer.

Im Foyer des Konzerthauses traf er die letzten heimgehenden Besucher. Smokings, Pelze um nackte Schultern, erlebnisgerötete Gesichter.

»Er dirigiert wie ein Gott –«, hörte er eine Frau sagen.

Leclerc lächelte böse. Auch Götter sind verwundbar, dachte er. Und Göttinnen sehnen sich nach Menschsein –

Über Paris lag eine warme, helle Sommernacht.

*

Das Hotelzimmer hatte, wie immer, Bombalo ausgesucht. Es war ein Schlafsaal mit großen Fenstertüren zu einem Balkon, der hinaus zur Seine ging. Die Türme von Notre Dame schwebten im Nachthimmel.

Bernd Donani saß schon ausgezogen im Bett und las noch in einer Partitur. Es war die Sinfonie eines modernen Komponisten, die ein Musikverlag zur Lektorierung an Donani geschickt hatte. Der Komponist hatte einen Namen, aber die Sinfonie war trotzdem schlecht. Außerdem hielt Donani nichts von moderner 12-Ton-Musik. Für ihn war eine Sinfonie von Beethoven oder Tschaikowskij wie ein riesiger Berg, den man immer wieder erobern mußte und der sich jedesmal mit neuen Schwierigkeiten ihm entgegenstellte. Um so schöner war es dann, am Ende eines Konzertes den Taktstock auf den Rand des Notenpultes zu legen und sich erschöpft gestehen zu können, daß man mehr, als gehört worden war, aus der Musik nicht herausholen konnte. Was war dagegen die Musik der Modernen, die wie das Instrumentestimmen des Orchesters klang?

Carola Donani kam vom Balkon ins Zimmer zurück. Sie war noch angezogen. Bernd Donani warf die Partitur auf die Bettumrandung und lehnte sich an die Rückwand. Er gähnte, unter vorgehaltener Hand, und streckte dann die Rechte aus. Es sah aus, als wolle er den Celli und Holzbläsern einen Einsatz angeben.

»Komm ins Bett, mein Engel«, sagte er und gähnte wieder. »Ich bin wie erschlagen. Immer diese Feierei am Ende eines solchen Tages …«

»Nein!« sagte Carola hart und lehnte sich an die offene Balkontür. Donani hob den Kopf.

»Was nein?«

»Ich komme nicht.«

»Ich nehme an, die Nacht über Paris ist zauberhaft. Sie wird es sicherlich auch noch morgen sein, mein Engel.« Donani rutschte unter die Steppdecke und seufzte. »Wenn du wüßtest, wie müde ich bin. Laß uns schlafen und nicht die Nacht ansehen …«

»Wer zwingt dich, so zu leben, wie du es seit Jahren tust?« Ihre Stimme war heiser vor Erregung.

»Welche Frage, Liebling, Bombalo …«

»Verdient er das Geld, oder verdienst du es? Ist er dein Angestellter, oder bist du sein Äffchen, das er ausstellt?«

»Er ist … mein Gott, Engelchen … komm schlafen.«

»Engelchen, Liebling, Prinzeßchen, Goldkind … ich habe diese Namen satt!« Carolas Stimme wurde laut. »Neun Jahre sind wir verheiratet –«

»Gott segne jede Stunde dieser 108 Monate!« Donani stützte sich wieder auf und lehnte sich an die Bettrückwand. »Was hast du eigentlich? Nervös? Migräne? Willst du einen Arzt?«

»Ich will keinen Arzt … ich will einen Mann!« schrie Carola. Plötzlich brach es aus ihr heraus. Sie nahm keine Rücksicht mehr auf die offene Balkontür, auf die Nebenzimmer, auf das Aussehen einer Frau, die ihr Glück nur wie einen Mantel getragen hat. Sie warf alles von sich ab, es war wie eine Explosion, die ihr die Kleider vom Leib riß, alle Kostbarkeiten, mit denen ihr Mann sie in den vergangenen Jahren behängt hatte, verblichen in dem grellen Blitz, der durch ihr Herz zuckte.

Donani saß im Bett, mit den großen, fragenden Augen eines Kindes, das seine Umwelt nicht mehr versteht, mit der es immer gespielt hatte und die nun zu ihm sagt: Geh, ich will nicht mehr. Und das so plötzlich, so ohne Anzeichen.

»Was … was ist denn, Carola?« fragte er erschüttert.

»Was bin ich denn?« Sie schloß die Tür zum Balkon. Nach dem ersten Aufschrei kehrte die Vernunft zurück. »Sage bitte nicht: Du bist meine Frau. Natürlich bin ich sie … im Paß steht dein Name mit meinem Vornamen, unsere beiden Kinder tragen den Namen Donani, in den Zeitungen lese ich es jeden Tag, auf den Rechnungen steht er – es läßt sich nicht leugnen: Ich bin Frau Carola Donani. Aber ist es genug, nur so zu heißen? Wenn du dir die Mühe machen würdest, neben dem zweiten Satz der ›Eroika‹ auch einmal an mich zu denken, müßtest du eine Antwort allein finden. Aber du denkst nur an deine Sinfonien –«

»Davon leben wir –«

»Ich möchte lieber hungern, aber wissen, daß ich eine Frau bin.«

Donani strich sich nervös über die weißen Haare. »Du weißt nicht, was Hunger ist, Carola.«

»Aber ich weiß, was es heißt, die Frau eines Mannes zu sein, der nie Zeit hat. Der heute in Paris und morgen in London dirigiert, übermorgen in Mailand und am Ende der Woche in Brüssel. Ich kenne alle Luxuszimmer der Grand-Hotels von Tokio bis Montreal, ich weiß, daß der Portier vom ›Miramar‹ in Palermo eine rote Nase hat und der Oberkellner vom ›Park-Hotel‹ in Kopenhagen drei Kinder ernähren muß … ich bin überall zu Hause, ich muß überall zu Hause sein … nur dort, wo ich sein sollte, bei meinen Kindern Alwine und Babette, da bin ich zwei Wochen im Jahr. Und einen Mann habe ich, der am Vormittag im Hemd Orchesterproben abhält, am Nachmittag Solistenproben, am Abend im Frack vor zweitausend Menschen steht und Brahms oder Chopin zelebriert und der dann müde und gähnend im Bett liegt und schon im Halbschlaf sagt: Komm ins Bett, mein Engelchen … Ist das ein Leben?«

Donani schwieg. Der kindliche Ausdruck in seinen Augen war verschwunden. Nachdenklich sah er seine Frau an. Carola stand in ihrem wundervollen, roten griechischen Kleid am Fenster und zitterte vor Erregung. Der fahle Nachthimmel hinter ihr rahmte sie ein … wie eine japanische Lackarbeit auf einem Onyx, dachte er unwillkürlich.

»Warum sagst du nichts?« rief sie, als er noch immer schwieg.

»Was soll ich dazu sagen, Carola?« Seine Stimme war ruhig. Er sah sie noch immer an und schüttelte jetzt den Kopf. »Ich verstehe das einfach nicht –«

»Du verstehst nicht, daß ich vom Leben mehr will als Schmuck, Pelze, Geld, Empfänge, leere, hohle Lobreden und volle Champagnergläser?« Sie machte ein paar schnelle Schritte, stand am Fußende des Bettes und beugte sich weit zu ihm vor. Er konnte in den Ausschnitt ihres Kleides sehen, und er lächelte jungenhaft. Wie schön sie ist, dachte er.

»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt –«, sagte sie laut.

Donani nickte. »Wenn mir das einer von dir sagen würde, würde ich ihn ohrfeigen. Du siehst aus wie damals, als ich dich kennenlernte. Damals warst du achtzehn.«

»Ist man mit siebenundzwanzig Jahren nur noch ein Ständer, den man mit Geschmeide und Kleidern behängt?«

»Engelchen –«

»Ich kann nicht mehr, Bernd.« Carola setzte sich auf die Bettkante und schlug beide Hände vor die Augen. »Es mag sein, daß du mich wirklich nicht verstehst, daß die Musik allein das ist, was du mit deiner Seele begreifst, daß du mich liebst, auf deine Art … wie andere das Foto ihres Motorbootes herumreichen oder ihre Gäste durch ihren Park führen, so präsentierst du deine Frau als sichtbarsten Beweis deines Erfolges. Und du merkst gar nicht, wie schrecklich das ist, wie seelentötend, wie erstickend für eine Frau.« Sie wandte sich um und legte beide Hände gegen seine Brust. »Bernd, laß uns einmal, nur einmal in diesem Jahr Menschen sein. Laß uns in unser Haus fahren, vier, sechs Wochen lang … wir wollen mit den Kindern spielen, Wanderungen machen, uns ausruhen, uns wieder kennenlernen, uns lieben, so wie früher, als du noch zweiter Kapellmeister in Bielefeld warst und ich dich trösten konnte, weil man dich die versprochene Butterfly-Premiere doch nicht dirigieren ließ. Weißt du noch … damals sind wir hinausgewandert und haben uns unter einen Apfelbaum gelegt …«

»Es war ein Birnenbaum, Engelchen …«

»Stimmt. Ein Birnenbaum. Du weißt es noch?«

»Ich vergesse nie, was wir zusammen erlebt haben.«

»Und wie ist es jetzt? Hast du noch Zeit, mit mir einmal hinauszugehen auf das Land und Hand in Hand wie zwei Kinder durch die Wälder zu streifen?«

»Die Termine, mein Liebling. Du kennst sie ja …«

»Sie fressen uns auf, Bernd!« Carola sprang auf. »Siehst du denn nicht, daß wir vom Ruhm gefressen werden? Ich hatte mich in deiner Liebe so geborgen gefühlt … jetzt friere ich. Was haben die Kinder von uns? Jede Woche eine Postkarte aus irgendeinem Land. Was habe ich von dir? Jeden Morgen ein paar Zeitungsartikel, in denen ich nachlesen kann, wie berühmt mein Mann ist und wie souverän er Bela Bartók dirigiert. Seit vier Jahren lebe ich als Frau fast wie eine Nonne … weißt du, was das heißt, mit dreiundzwanzig Jahren schon wie abgeklärt leben zu müssen? Mein Gott … muß ich mich hinstellen und dich anflehen: Sieh mich an … ich bin eine Frau … faß mich an, nimm mich, ich gehöre dir doch … ich warte ja darauf, dir zu gehören … – aber wann soll ich das sagen? Selbst dazu habe ich keine Zeit. Empfänge, Partys, Soirées bis zum Morgengrauen … und dann die bleierne Müdigkeit und der Zwang zur Ruhe … denn am Morgen geht es ja weiter … Orchesterprobe, Solistenprobe … Tag für Tag … Nacht für Nacht … Bernd, ich halte das nicht mehr aus. Ich halte das nicht mehr aus!«

Sie schrie wieder und preßte die Hände gegen ihre Ohren, als könne sie ihre eigene Stimme nicht mehr hören.

Donani schwieg. Er war ein wenig bleich geworden, er suchte nach Erklärungen, nach beruhigenden Worten. Er war müde, mußte ein neues, drängendes Gähnen unterdrücken und sehnte sich ehrlich nach Ruhe. Sein Körper genoß schon das herrliche Gefühl, langzuliegen und sich strecken zu können. »Dem unbekannten Erfinder des Bettes gebührt in jedem Haushalt eine Gedenkecke«, hatte er einmal gesagt. Das war ein echtes Donani-Bonmot, aber Bombalo ließ es für die Presse nicht zu. Ein Dirigent, der gern im Bett liegt, ist nicht werbewirksam. Es sei denn, er läge nicht allein im Bett.

»Wir machen morgen einen Spaziergang in den Bois de Boulogne. Zufrieden, Engelchen?« Er dehnte sich und reckte die Arme hoch. Morgen zwischen 11 und 12 Uhr würde es gehen. Das Adagio konnte das Orchester auch unter dem 1. Konzertmeister durchspielen. »Eine ganze Stunde …«, dachte er laut. »Von 11 bis 12 Uhr … Und nun komm schlafen, Liebling.«

Carola stand vor dem Bett und starrte Donani an. Wie fremd er auf einmal ist, dachte sie erschrocken. Es ist, als ob mit den Worten alles aus mir herausgeschleudert worden ist, was mich mit ihm verband. Nun bin ich leer … mit siebenundzwanzig Jahren eine brillantblitzende Hülle, die nichts umschließt. Wenn er mich jetzt anfaßte, würde ich mich wehren, dachte sie. Ich würde um mich schlagen und kratzen und beißen, als wenn ein fremder Mann mich zwingen wollte. So gleichgültig ist er mir plötzlich … so … so … widerlich …

Sie atmete tief auf und spürte das Entsetzen über ihre innerliche Wandlung. Donani gähnte wieder und rutschte unter die Bettdecke. Wie mich das alles anekelt, dachte sie. Er ist nichts weiter als ein alter, verbrauchter Mann. Er ist mit seinen achtundvierzig Jahren schon ein Greis. Ich aber bin jung, ich habe noch das Leben vor mir, ich bin erst siebenundzwanzig Jahre … Einundzwanzig Jahre jünger als dieser Bernd Donani, dessen Namen ich trage. Vielleicht ist es wirklich so, daß man Altersunterschiede nicht einfach verleugnen kann, auch wenn man glaubt, es durch die Liebe doch zu können. Es ist ein Selbstbetrug, der sich einmal bitter rächt. Man kann ein paar Jahre überspringen … aber einundzwanzig Jahre, fast ein Vierteljahrhundert … das wiegt keine Liebe auf, weil sie einfach einmal aufhören muß, stark genug zu sein, das Doppelte zu geben, was die Natur bereithält.

»Du hättest nie heiraten dürfen –« sagte sie leise, aber deutlich.

Donanis Kopf hob sich aus dem Kissen.

»Das sagt Bombalo auch. Sie haben alle nicht eine so herrliche Frau wie ich. Sieh mal …«

Donani tastete zu Carolas Bett, schob das Kopfkissen zur Seite und holte eine flache Schachtel hervor. Sie hätte sie finden müssen, wenn sie sich ins Bett gelegt hätte.

»Das solltest du entdecken, Engelchen …«, sagte er mit müder Stimme. »Ich wußte nicht, daß du heute nacht so nervös sein würdest. Sieh es dir an …«

Er klappte das Etui auf und hielt es ihr hin. Auf einem roten Samtkissen lag eine Halskette aus Platin, besetzt mit Rubinen und Brillanten. Der Schmuck einer Königin.

Carola sah kurz auf die blitzende Kette. Sie rührte sich nicht, sie griff nicht zu, sie sah an dem Etui vorbei in das erwartungsvolle Gesicht Donanis.

»Wie wenig kennst du mich«, sagte sie endlich langsam. »Gold und Brillanten … was ist das? Ich könnte das alles verschenken, wenn ich mir damit unser früheres Glück zurückkaufen könnte … wenn alles wieder so werden könnte wie damals … Ich gäbe alles hin, wenn du mir gehören könntest und nicht nur deinem Beruf … Aber das begreifst du nicht … vielleicht darfst du es nicht begreifen, um das zu bleiben, was du bist … der große Donani … Aber ich, ich kann so nicht mehr weiterleben … Ich kann es einfach nicht mehr.«

Sie drehte sich um und lief aus dem Zimmer. Auf dem Gang hörte sie noch seine fast klagende Stimme.

»Aber Engelchen … wo willst du denn hin?«

Dann klappte die Tür zu. Es war ihr, als schlüge die Pforte hinter einer Welt zu, der sie glücklich entflohen war.

*

Die Place de l'Opéra lag verlassen in der Nacht. Vereinzelte Taxis drehten ihre Kreise um die Springbrunnen, ein Betrunkener stand an einem der beleuchteten Becken und erbrach sich.

Über Paris lag eine warme, helle Sommernacht. Wie Samt war die Luft, wie Seide der Himmel, bestickt mit Diamanten. Carola Donani sah auf ihre Armbanduhr.

3 Uhr morgens.

Sie war, nachdem sie das Hotel verlassen hatte, ziellos herumgelaufen. Erst am Seineufer entlang, von Brücke zu Brücke, wo unter den Bogen die Clochards schnarchten oder auf den Bänken lagen, zugedeckt mit auseinandergefalteten Zeitungen. Zwei Schutzmänner, die ihr begegneten, betrachteten sie kritisch und blieben stehen, bis sie aus ihrem Blickfeld entschwand. Eine Frau um diese Zeit an der Seine verhieß nichts Gutes, vor allem wenn sie allein war. Oft genug sah man sie am Morgen dann wieder, im Leichenschauhaus der Polizei. Die Seine ist ein beliebtes Endziel für Liebeskranke.

Von den Flußbrücken war Carola Donani dann zurück in die Innenstadt gelaufen, bis zur Place de l'Opéra. Nun stand sie auf dem weiten Platz, sah hinüber zu der angestrahlten Oper und fror trotz der warmen Luft. Sie zog die Schultern zusammen und drückte das Nerzcape enger um ihren Oberkörper.

»Darf ich Ihnen meine Jacke anbieten, Madame?« fragte eine Stimme. Carola fuhr herum. Hinter ihr, umsprüht von den Kaskaden des beleuchteten Springbrunnens, stand Jean Leclerc. Er lächelte freundlich und machte Anstalten, den Rock auszuziehen. Carola hob abwehrend die Hand.

»Danke. Ich friere nicht.« Sie legte die Hand über ihre Brust und wandte sich wieder zur Oper um. »Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Gehen Sie oft nachts spazieren?«

»Nicht öfter als Sie, Madame.«

»Ich konnte nicht einschlafen.«

»Ich ebensowenig. Und sicherlich hat der Arzt Ihnen – wie mir – frische Luft und Bewegung verordnet …«

Carola lachte, aber es klang gequält. »Sie haben eine freche Art der Konversation, Monsieur Leclerc. Gute Nacht …«

»Bitte –«, Leclerc hob die Hand, aber er berührte Carola nicht.

»Ja?« Sie blieb stehen, obwohl sie es nicht wollte.

»Wo wollen Sie hingehen, Madame?«

»Zurück ins Hotel. Mein Quantum an frischer Luft und Bewegung ist erfüllt –«

»Sie laufen davon?«

»Ich wüßte nicht, vor wem.«

»Vor sich selbst. Sie sind vorhin davongelaufen … und jetzt tun Sie es wieder. Sie sind immer auf der Flucht vor sich selbst.«

»Es ist lächerlich, Ihnen zuzuhören.« Carolas Stimme klang gepreßt. Sie wandte sich ab und ging über den großen Platz. Leclerc folgte ihr, ging an ihrer Seite und schwieg. Erst als sie das Ende des Platzes erreicht hatte, blieb er stehen. Wie unter einem Zwang verhielt auch Carola Donani den Schritt.

»Was ist denn?« fragte sie, als Leclerc schwieg.

»Merken Sie nicht, daß Sie in völlig falscher Richtung gehen? Das Hotel liegt an der Seine … hinter Ihnen …«

»Ich liebe Umwege …«

»Ich nicht.«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Sagte ich Ihnen nicht schon, daß meine Ahnen Troubadoure waren? Es ist uns unmöglich, eine Frau leiden zu sehen.«

»Und ich wiederhole Ihnen zum letzten Male: Lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Ihren Beistand nicht nötig.«

»Sie lügen schon wieder, Madame.«

Durch Carola lief ein Zittern. Sie bemühte sich, es nicht zu zeigen, aber ihre Hände verrieten sie. Die Finger krallten sich in den Pelz des Capes. Jean Leclerc sah sie aus seinen dunklen Augen fragend an. Sein jungenhaftes Gesicht war jetzt viel reifer und männlicher, seine weichen Lippen schmal und entschlossen.

»Es war kein Zufall, daß ich Sie auf der Place de l'Opéra traf, Madame …«

»Ich weiß …«, sagte Carola leise.

»Ich bin Ihnen den ganzen Weg gefolgt … vom Hotel, die Seine entlang, bis hierher … Ich ahnte, daß Sie aus dem Hotel kommen würden. Sie waren nicht in der Verfassung, sich hinzulegen und zu schlafen. Sie würden die Nacht suchen … das wußte ich.«

»Kennen Sie Frauen so gut?« Sie sah ihn groß an.

Leclerc lächelte leicht.

»Es ist uns angeboren, Madame.«

»Bei mir irren Sie sich.«

»Ich würde mich töten, wenn es wahr wäre.«

»Bitte, tun Sie es … aber erst, wenn ich weg bin. Adieu …«

Sie wollte gehen, aber Leclerc hielt sie wieder fest. Jetzt war sein Griff hart, fordernd, unausweichlich. Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. Das Gefühl, von ihm festgehalten zu werden, nahm ihr fast den Atem.

»Lassen Sie mich los«, keuchte sie und riß an seiner Hand.

»Warum haben Sie Angst?« Seine Stimme war warm wie die Nacht, die sie umgab. Sie hatte den samtenen Ton einer verhängten Laute. »Ich kenne Sie besser als Sie sich selbst, Madame. Ich sehe jeden Tag Sie und Ihren Mann … ich sehe die wundervolle Komödie von Glück und Liebe, die man der Öffentlichkeit vorspielt, und ich höre die Leere, die in Wahrheit um Sie ist. Sie verstehen es wie keine andere Frau, Madame, Schmuck, Pelze und Abendkleider zu tragen … aber noch besser stände es Ihnen, wenn in Ihren Augen der gleiche Glanz funkelte wie aus den Brillanten. Aber diese Augen sind traurig, Madame … und niemand sieht sie, weil alles nur auf die Kleider und Pelze und Perlen schaut. Aber ich habe es gesehen … mich können Sie nicht belügen, Madame.«

»Und … und was soll das alles?« Carolas Stimme war tonlos vor Erregung.

»Ich will Sie glücklich machen, Carola –«

»Sie sind total verrückt, Leclerc!«

»Nicht verrückter, als Sie ängstlich sind. Sie sind schön wie eine seltene Blume … warum wollen Sie in der Dunkelheit Ihre Blüte verlieren, wo Sie für die Sonne geschaffen sind?«

»Lassen Sie mich sofort los!« Carola zerrte an seinem Griff. Jean Leclerc hob den Kopf. Bewundernd sah sie, wie einige Strähnen seiner schwarzen Locken über seine hohe Stirn fielen.

Mit einem Ruck zerstörte er ihren Widerstand, zog sie an sich und küßte sie. Er spürte das Zittern ihres Körpers, die Kälte ihrer zusammengepreßten Lippen … da legte er die Arme wie schützend um sie und strich mit beiden Händen über ihre blonden Haare. Sie öffnete die Lippen, erwiderte seinen Kuß, aber in der nächsten Sekunde stieß sie mit beiden Fäusten gegen seine Brust, befreite sich aus seinen Armen und holte mit der rechten Hand weit aus. Es klatschte laut in der nächtlichen Stille, als Leclerc die Ohrfeige bekam … er hinderte sie nicht daran, obgleich er dazu die Möglichkeit gehabt hätte.

»Danke, Madame …«, sagte er leise, als sie keuchend und bebend vor ihm stand. »Ich liebe Sie … und nun weiß ich, daß auch Sie mich lieben …«

Als fliehe sie vor etwas Entsetzlichem, rannte Carola davon. Sie rannte zurück über die riesige Place de l'Opéra, ein kleiner, rotblonder, flatternder Vogel, der in seiner Angst nicht mehr weiß, wohin er fliegen soll.

Bernd Donani saß noch wach in seinem Bett, als sie endlich ins Hotel zurückkam. Er warf die Partitur der Sinfonie wieder auf den Boden, als Carola ins Zimmer trat.

»Ist dir besser, Engelchen?« fragte er. Auf Carolas Kopfkissen lag das Etui mit dem Halsschmuck. »Hat dir die Nachtluft gutgetan?«

»Ja.« Sie warf den Pelz ab und löste die Verschlüsse des roten Abendkleides. »Hast du dir keine Sorgen gemacht?«

»Nein, mein Kleines.« Donani lächelte gütig. »Frauen haben manchmal Launen … da schweigt man besser. Ich weiß doch, daß alles nur eine dumme Stimmung ist … daß du mich liebst …«

»So, das weißt du?«

Sie löste die Haare und stand nackt vor dem Spiegel, ein weißer, schlanker Körper, wie eine gemalte Schönheit. Durch den Spiegel sah sie ihren Mann an.

»Ja, das weiß ich ganz sicher.« Donani gähnte und blickte auf die auf dem Boden liegende Partitur. »Übrigens, was sich die modernen Komponisten da zurechtschreiben … ein unspielbarer Schmarren –«

Wortlos löschte Carola das Licht.

Das Etui mit dem Halsschmuck schob sie mit einer wilden Handbewegung zur Seite. Es fiel zwischen Donani und sie; er merkte es schon gar nicht mehr. Sein Atem ging ruhig und zufrieden. Mit der Dunkelheit hatte ihn der Schlaf überfallen.

Sie drückte den Kopf in das Kissen und begann zu weinen. Aber während sie weinte, sah sie wieder die schwarzen Locken vor sich, wie sie über die hohe, braune Stirn Leclercs fielen. Und sie sah die weichen Lippen, die näher und näher kamen und so riesengroß wurden, daß sie sie aufsaugten.

So schlief sie ein, im Traume lächelnd.

Sie schlief so gut wie lange nicht mehr –

*

Seit der Nacht in Paris sah Carola Donani den Geiger Jean Leclerc nur noch auf seinem Stuhl im Orchester, dritte Reihe der ersten Geigen, der vierte von links.

Er suchte nicht mehr ihre Nähe, und Carola war zu stolz, ihm entgegenzukommen. Aber was sie nie getan hatte, wurde in diesen Tagen zur Gewohnheit … durch einen Spalt der geöffneten Tür des Künstlerzimmers sah sie auf das spielende Orchester und beobachtete Leclerc während des Konzertes. Pietro Bombalo sah es anders. Er glaubte, Carola sehe sich ihren Mann an, ein Genuß, den er widerspruchslos verstand.

»Achten Sie einmal darauf, Signora, wie er beim crescendo beide Arme ausbreitet, als wolle er das ganze Orchester umarmen. Das ist wirkungsvoll, da geht das Publikum von den Stühlen, da sieht man, wie man völlig in Musik aufgehen kann.«

Carola nickte und sah auf Jean Leclerc. Er schwitzte. Der Geigenbogen tanzte über die Saiten, die schlanken Finger der linken Hand griffen die Töne, vibrierten, lösten singende Melodien aus dem toten Material. Seine Blicke wanderten vom Notenblatt zu Donani und zurück zu den Noten, immer wieder, einmal fragend, dann kontrollierend, dann abwartend … ein Mensch, untergeordnet dem Willen des einzigen Mannes, der vor ihm stand und die Tempi angab und unter seinen beschwörenden Händen aus aneinandergereihten Tönen ein Kunstwerk entstehen ließ. Ein Sklave des großen Bernd Donani, solange er hinter dem Notenständer saß und eine Geige an sein Kinn drückte. Ein Sklave, der küssen konnte, daß Härte wie Zärtlichkeit wirkte.

Auch Donani sprach nicht mehr über die laute Nacht von Paris. Allem Anschein nach hatte er sie vergessen oder maß ihr keinerlei Bedeutung bei. Er war wie immer … auf dem Podium, vor seinem Sinfonie-Orchester, ein souveräner Herrscher – zu Hause, das heißt in den Hotelzimmern, ein großes Kind, das sich nach Ruhe sehnte, mit einer Puppe im Arm, die Carola hieß. Allein mit seiner Frau fiel das Königliche, das man am Dirigentenpult an ihm bewunderte, völlig ab … in Pantoffeln und einem seidenen Morgenmantel saß er dann im Sessel, las oder diskutierte eine Operninszenierung, trank ein großes Glas Milch, aß mit Pudding gefüllten Kuchen, sogenannten Bienenstich, und war der glücklichste Mensch, wenn Carola ihm zuhörte und ihn lautlos bemutterte.

Carola tat ihre Pflicht wie bisher … nur an den Aufführungsabenden überfiel sie eine nie gekannte Unruhe, die sich erst glättete, wenn sie am Türspalt stand und auf Jean Leclerc sah, auf seine schlanken Finger, auf die schwarzen Locken, die ihm immer wieder in die Stirn fielen wie einem trotzigen Jungen.

Ich bin verrückt, sagte sie sich oft. Wirklich, ich bin verrückt. Ich habe einen berühmten Mann, ich habe zwei entzückende Kinder, ich habe alles, was eine Frau sich wünschen kann … und ich sehe auf einen jungen Geiger, schmachtend wie ein Schulmädchen.

Aber habe ich wirklich auch alles, was eine Frau sich wünschen kann? Bin ich nicht leer? Bin ich nicht an einen über zwanzig Jahre älteren Mann gefesselt, der müde ist, wenn ich erst erwache?

Sie saß dann, nach solchen Gedanken, wieder zwischen den Blumenbergen und wartete das Ende des Konzertes ab. Sie rückte wieder die Frackschleife gerade, ehe die Fotografen ihre Bilder machen durften, sie tupfte Donani wieder die Schweißperlen von der Nase, und sie hörte – wie seit acht Jahren – seinen mit strahlendem Lächeln hingeschmolzenen Dank: »Danke, mein Engel –«, Worte, die sie dann in jeder Zeitung wiederfand. Das Glück der Donanis, stand einmal darunter.

Wie betrogen sie alle werden, dachte Carola bitter. Wie groß die Lüge ist, die wir jeden Tag erneuern. Wie ungeheuerlich der Betrug an uns selbst. Warum haben wir nicht den Mut, die Wahrheit hinauszuschreien? Warum müssen wir uns jeden Tag quälen, anstatt mit einem großen, mutigen Schritt in ein anderes Leben zu treten?

In Rom war es endlich soweit.

Bernd Donani kam von einer Probe zurück, wie immer erschöpft und angefüllt mit einer großen Sehnsucht: ein großes Glas kalte Milch. Er fand Carola bleich und mit zitternden Händen am Sofa sitzen, einen Zettel zwischen den weißen Fingern. Ihre Augen waren mit Tränen verschleiert.

»Welch eine Hitze, Engelchen«, sagte Donani und suchte in dem kleinen Zimmereisschrank nach seiner Milch. »Und der dritte Satz klappt noch immer nicht. Die Bratschen und Celli sind zu hart, und es ist den Jungen nicht beizubringen, daß man gerade ein Saiteninstrument streicheln kann …«

»Ein Telegramm ist gekommen, Bernd …«, sagte Carola leise.

»Absagen!« Es war Donanis erste Reaktion auf Telegramme. Was bisher mit Depeschen gekommen war, waren nur Einladungen gewesen. »Haben wir keine Milch mehr, Goldkind?«

»Ein Telegramm von zu Hause, Bernd.«

»Ach.« Donani wandte sich um. Jetzt erst sah er, daß Carola weinte. Er starrte sie entgeistert an und strich sich hilflos über seine weißen Haare. »Engelchen … was ist denn? Unangenehmes?«

»Alwine ist krank …«

»Wir rufen sofort an, was los ist.«

»Wir rufen nicht bloß an … wir fahren sofort hin!«

»Aber Engelchen«, Donani zupfte nervös an seiner Krawatte. »Heute abend, das Brahms-Konzert …«

»Du dirigierst deinen Brahms oder Prokofieff auch noch, wenn deine Kinder im Sterben liegen!« schrie Carola. Sie warf das Telegramm auf den Boden und sprang mit einem wilden Satz auf. »Ich hasse dich und deinen Beruf! Ich hasse dich!«

»Aber Engelchen …«, stotterte Donani. »Laß uns doch erst anrufen …«

»Wenn man ein Telegramm schickt, ist es schlimm genug. Soll ich allein fahren?«

»Du wirst es müssen. Das Konzert –«

Carola hatte ihre Haltung wiedergefunden. Es kostete Mühe, beherrscht zu sein, aber in diesem Augenblick war es das beste, klar zu denken und ebenso klar zu sprechen.

»Weißt du, daß ich nicht wiederkomme, wenn ich jetzt allein fahre?« sagte sie mit einer unheimlichen Kälte in der Stimme. Bernd Donani nagte an der Unterlippe.

»Aber das ist doch Dummheit, Goldkind –«

»Ich bleibe bei den Kindern.«

»Aber du weißt doch, daß ich ohne dich nicht reisen kann. Du weißt, daß ich dich brauche –«

»Als Staffage, ja. Als brillantenbehängter Kammerdiener. Du hast Geld genug, dir einen richtigen Diener zu leisten. Außerdem hätte Bombalo einen neuen Reklamespruch: Bernd Donani mit Kammerdiener –«

»Carola.« Donani sah sie aus bettelnden Augen an. So herrisch er vor dem Orchester war, so gefürchtet seine Ausbrüche waren, wenn jemand einen falschen Ton blies … außerhalb des Konzertsaales war er fast hilflos und hatte sich glücklich damit abgefunden, daß Carola der Mittelpunkt seines Privatlebens war.

»Ich fahre mit dem Nachtzug!« Carola hob das weggeworfene Telegramm auf. »Wenn es dich überhaupt interessiert … hier der Text: ›Alwi erkrankt. Ärzte noch ratlos. Graudenz‹.« Sie legte das Telegramm auf den Tisch. »Du fährst also nicht mit?«

»Ich kann doch nicht, Liebes –«

Es klang so kläglich, daß Carola so etwas wie Abscheu vor dieser Hilflosigkeit empfand.

»Gut. Dann wissen wir, was ab heute zwischen uns ist.«

»Die Graudenz ist eine alte Jungfer, Carola. Wenn jemand hustet, denkt sie gleich an Tuberkulose. Sie telegrafiert: Alwi erkrankt. Nicht ›schwer‹ erkrankt. Alwi wird sich den Magen verdorben haben … ich nehme an, zu viel Eis geleckt …«

»Du nimmst an! Du nimmst einfach an! Das ist bequem, sehr bequem! Auch wenn Alwi schon im Sarg liegt, nimmst du an, es könnte ein Irrtum sein!« Mit zitternden Händen riß Carola ihre Handtasche an sich. »Ich habe nie gewußt, daß selbst dein Herz aus einem Notenschlüssel besteht … jetzt weiß ich es!«

An dem bewegungslosen Donani vorbei rannte sie aus dem Zimmer und schlug hinter sich die Tür mit einem lauten Knall zu.

Bernd Donani trat an das Fenster und sah auf die Straße. Carola verließ nicht das Hotel. Sie ist unten beim Chefportier und bestellt die Fahrkarten und das Schlafwagenabteil, dachte er. Wie nervös sie in der letzten Zeit ist. Nichts erfreut sie mehr, kein Geschenk, keine zärtlichen Worte, sie ist wie gehetzt. Und dabei tue ich alles, um ihr Ruhe zu geben, Zufriedenheit und Geborgensein.

Er schüttelte den Kopf und ging zu dem Tisch. In aller Ruhe las er das Telegramm durch und meldete dann ein Gespräch nach Deutschland an. Dabei erfuhr er vom Portier auch, daß Carola das Hotel verlassen hatte. Sie hatte eine Taxe bestellt.

Nach fast einer Stunde schellte das Telefon. Fräulein Erna Graudenz, die Hausdame der Villa ›Alba‹ – den Namen hatte Donani aus den Anfangsbuchstaben der Vornamen seiner Kinder, ALwine und BAbette, zusammengestellt –, war am Apparat. Sie war durchaus nicht aufgeregt und berichtete, daß der Arzt meinte, es könnten die Masern werden. »Er nennt sie atypisch«, sagte sie. »Aber Alwi hat schon die roten Pünktchen auf dem Bauch, und das Fieber ist auch da. Todsicher wird Babette sie nun auch bekommen … hoffentlich schnell, dann ist's ein Aufwaschen.«

Donani atmete auf. Die Masern, dachte er. Soll Carola ruhig nach Hause fahren … an den Masern wird eine Ehe nicht scheitern. Sie wird einsehen, daß ich wieder recht hatte … Aufregung lohnt sich erst dann, wenn man genau weiß, was los ist. Sie wird zurückkommen und sagen: »Berni … ich war ein dummes Schaf.« Und sie wird mir wieder die Frackschleife binden.

Er holte seinen Terminkalender und sah nach, wo Carola hinfahren mußte, wenn sie ihn nach den Masern beider Kinder wieder treffen wollte. Er rechnete fünf Wochen Zeit. Im Kalender stand: Beethovenkonzert in Chikago.

Bernd Donani klappte den Terminkalender zu und ließ sich mit Petro Bombalo verbinden.

»Bombalo«, sagte er, und seine Stimme hatte wieder den herrischen Klang des berühmten Orchesterleiters. »Das Konzert in Chikago wird um zwei Wochen verschoben. Entweder früher oder später …«

»Unmöglich!« rief Bombalo. Er lag auf der Couch und schnellte hoch, als sei er gestochen worden. »Maestro … ich flehe Sie an … keine Verschiebungen! Verschiebungen sind der Tod des Ruhmes. Es ist völlig unmöglich!«

»Es gibt kein Unmöglich, Bombalo. Sie verschieben, und damit basta!«

Donani wartete keine weiteren Jammereien Bombalos ab. Er legte auf und schellte nach dem Etagenkellner.

Er hatte einen wahnsinnigen Durst nach seiner kalten Milch.

*

Während das Brahmskonzert die oberen Zweitausend Roms um Bernd Donani und die Pariser Philharmoniker versammelte und im dritten Satz wirklich die Celli und Bratschen sangen und nicht zu hart waren, fuhr von der Stazione Termini der Zug rumpelnd und ruckend aus der Halle.

Carola hatte nicht gleich das Schlafwagenabteil aufgesucht, sondern saß erst im Speisewagen und trank ein Glas Tee mit Zitrone. Der Abschied von ihrem Mann war kurz gewesen. Sie hatte nicht gefragt, ob er zu Hause angerufen hatte … da er nichts sagte, nahm sie an, daß er es nicht getan hatte. Das machte sie doppelt wütend. Er hat kein Herz, dachte sie immer wieder. Er kennt nur seine Musik, seine verdammten fis und ges und moll und dur, er ist nichts als ein atmender Taktstock. Ich, seine Kinder, seine Ehe, alles ist ihm gleichgültig, wenn nur die Posaunen in der Eroika richtig einsetzen und man Smetanas Moldau im Orchester rauschen hört.

Mein Gott, waren diese neun vergangenen Jahre wirklich nur ein einziger Irrtum gewesen? Habe ich neun Jahre weggeworfen?

Sie rührte in dem Teeglas, obwohl sich der Zucker längst aufgelöst hatte. Als ein Schatten über ihren Tisch fiel, sah sie erstaunt auf. Dann setzte ihr Herzschlag einen Augenblick aus; wie eine Lähmung kam es über sie.

Jean Leclerc verneigte sich höflich und lächelte sein schönes, weiches Jungenlächeln.

»Darf ich Platz nehmen, Madame?«

»Bitte –«, Carolas Stimme war tonlos.

»Danke.« Leclerc setzte sich und faltete die Hände auf dem Tisch wie ein braver Junge. Aber seine Augen glänzten, und zwei Strähnen seiner schwarzen Locken hingen wieder in seiner Stirn.

»Was … was machen Sie in diesem Zug …« Carola suchte nach der Kraft, ihren inneren Aufruhr zu dämpfen. Es war schwer, die Stimme ruhig zu halten, wenn das Herz bis zum Kehlkopf klopft. »Ich denke, heute ist das Brahmskonzert.«

»Ich habe mich krank gemeldet, Madame. Ob ich in der letzten Reihe der ersten Geigen mitspiele oder nicht … das wirft einen Brahms und auch einen Donani nicht um. Ich habe mir den Magen erkältet, eine exogene akute Gastritis, wie der Mediziner sagt. Ich habe sogar ein Attest eingereicht beim 1. Konzertmeister. Alles muß seine Ordnung haben, Madame …«

»Und wo … wo fahren Sie jetzt hin?«

»Nach Deutschland. Mit Ihnen, Madame.«

Carola umklammerte mit beiden Händen das heiße Teeglas. Sie spürte die glühende Hitze nicht, sie spürte nur, wie sie zitterte.

»Das ist doch ein schlechter Scherz, Leclerc …«

»Ich weiß, daß eines Ihrer Kinder erkrankt ist. Donani erzählte es dem 1. Konzertmeister. Er läßt Sie allein fahren … es war für mich unmöglich, das zuzulassen. Gerade jetzt brauchen Sie Beistand, Madame. Wenn die deutschen Männer nicht wissen, was ihre Pflicht gegenüber Frauen ist – ich weiß es und handle danach. Ich möchte Ihnen helfen, Madame. Ich bin Ihr Diener …«

Carola sah aus dem Fenster und schwieg. An ihr vorbei raste die hügelige Landschaft der Vorapenninen. Pinienhaine, Zypressenwälder, Steinbrüche, kleine, wie verfallen aussehende Dörfer.

»Sie machen diese Fahrt umsonst«, sagte sie endlich. Sie trank den inzwischen erkalteten Tee aus und erhob sich. Leclerc schnellte von seinem Sitz hoch. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Madame. Ob umsonst oder nicht … es beruhigt, zu wissen, daß ich in Ihrer Nähe bin. Schlafen Sie gut, Madame …«

In dieser Nacht schlief Carola nicht. Sie lag auf ihrem Schlafwagenbett und starrte gegen die Decke. Einen Wagen weiter hatte sich Leclerc in die Ecke seines Sitzes gezwängt und rauchte eine Zigarette nach der anderen.

Es gibt ein Unglück, dachte Carola und legte die Hände unter ihren Kopf. Ich werde ihn wieder schlagen müssen … Ich darf mich nicht vergessen … ich habe zwei Kinder, ich habe einen Mann … Ich habe die Pflicht, treu zu sein …

Am nächsten Vormittag donnerte der Zug in den Münchener Hauptbahnhof.

Wortlos nahm Leclerc die Koffer Carolas, als der Schlafwagenschaffner sie aus dem Wagen hob. Wortlos folgte er ihr wie ein Diener, etwas nach vorn gebeugt von dem Gewicht des Gepäckes. Wortlos gingen sie hinüber zum Starnberger Bahnhof.

Es war, als müßte es so sein, ja, als sei es nie anders gewesen …

*

Die Erkrankung Alwines war wirklich nur die Masern. Sie lag mit hohem Fieber im Bett, ihr Kopf glühte, aber sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, als Carola unverhofft ins Zimmer kam.

»Mami! Mami!« schrie sie. »Wie schön, daß du da bist! Ist Papi auch mitgekommen?«

Carola legte Alwine zurück ins Bett und deckte den fiebernden Körper zu.

»Nein, du weißt doch, Papi muß dirigieren. Er kann doch nicht zweitausend Menschen nach Hause schicken, nur weil Alwinchen die Masern hat …«

»Warum kann er das nicht, Mami?«

Carola schwieg. Ja, warum kann er das nicht? Sie küßte Alwine auf die heiße Stirn, streichelte über die blonden Haare und ging hinaus. Babette, die Kleinere, tobte draußen im Garten … sie spürte noch nichts von den Masern und hatte sofort mit Jean Leclerc Freundschaft geschlossen. Sie warfen sich einen dicken Wasserball zu, und Babette quiekte vor Freude, wenn Leclerc ihn nicht auffing und ihm über die große Wiese nachlaufen mußte, weil der Wind den leichten Ball wegtrieb.

Wie soll das alles werden, dachte Carola und beobachtete das Spiel Babettes und Leclercs. Sie erinnerte sich nicht, Bernd Donani jemals in den kurzen Urlaubstagen mit den Kindern so fröhlich und losgelöst spielen gesehen zu haben. Im Gegenteil … in den Ferien saß er hinten unter dem hohen Buchenbaum in einem gepolsterten Liegestuhl und löste Kreuzworträtsel. Milch, Orangenlimonade und Kreuzworträtsel … das waren die Ferienerinnerungen Carolas.

So kann es nicht weitergehen, dachte sie und strich sich die blonden Haare von den Augen. Ich bin jung, ich habe ein Recht an das Leben, ich will nicht vergreisen in einem Alter, in dem andere Frauen erst aufblühen und reifen.

Am Abend saßen sie um das Feuer des offenen Kamins in der großen Wohnhalle. Der Blick durch die breiten Fenster ging über den See und hinüber zu den Bergen, die als schwarze Wand gegen den fahlen Nachthimmel standen. Im Haus war es still. Die Kinder schliefen längst, Erna Graudenz war nach Starnberg ins Kino gefahren.

Jean Leclerc stocherte mit dem Kamineisen in der Glut und schob einen Buchenklotz nach. Zwischen ihm und Carola war eine innere Spannung, die kein Wort und keine Bewegung mehr verdrängen konnten.

»Wie alt sind Sie, Leclerc?« fragte Carola plötzlich.

»Fünfundzwanzig Jahre, Madame.« Er richtete sich auf. Sein Jungengesicht war von der Kaminglut gerötet. »Ich weiß, ich bin jünger als Sie …«

»Wo leben Ihre Eltern?«

»Ich bin Waise. Mein Vater fiel im Krieg gegen die Deutschen, meine Mutter starb vor vier Jahren an Krebs. Damals studierte ich in Berlin. Ich habe mir das Ende des Studiums mit Musikunterricht erarbeiten müssen.«

»Und nun sind Sie Geiger im Pariser Philharmonischen Orchester.«

»Letzte Reihe, Madame. Und ich träumte davon, einmal Solist zu sein, ein Virtuose …«

»Sie sind ja noch so jung, Leclerc …«

»In meinem Alter waren Menuhin und Heifetz schon weltberühmt. Ricci spielte mit dem Bostoner Orchester …« Jean Leclerc sah Carola groß an. Seine dunklen, nun fast schwarzen Augen glänzten. »Es ist vielleicht mein Schicksal, in der letzten Reihe zu sitzen. König Donani wird sich nie herablassen, daß ich ihm einmal vorspiele –«

»Sprechen wir jetzt nicht von Donani –«, sagte Carola leise. »Sprechen wir von Ihnen, Leclerc. Wann müssen Sie wieder zurück?«

»Wie lange bleiben Sie hier, Madame?«

»Bestimmt vier oder fünf Wochen …«

»Dann werde ich morgen fahren müssen.«

»Morgen schon?« Sie sah ihn an. Die schwarzen Locken, der weiche Mund, das ebenmäßige Gesicht, die schlanken, nervösen Finger. Er ist so jung wie ich, dachte sie. So jung …

Sie erhob sich brüsk, nickte ihm zu und wandte sich ab. »Gute Nacht. Es ist schon spät.«

»Gute Nacht, Madame.«

Er verbeugte sich, ließ Carola an sich vorbei, ohne sich zu bewegen, ohne sie aufzuhalten. Sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde mit dem nächsten Schritt, dann hob sie stolz den Kopf und ging weiter.

Leclerc sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufging, mit geradem Rücken, wie eine aufgezogene Puppe, Schritt für Schritt. Sie blickte sich nicht um, aber sie spürte im Nacken, daß er ihr nachstarrte. Dann war sie um eine Biegung der Treppe verschwunden. Irgendwo klappte eine Tür.

Leclerc blieb am Kamin stehen und schob mit dem Feuereisen den Buchenklotz tiefer in die Glut. Er wartete eine Zigarettenlänge, warf den Rest in den Kamin, schob das eiserne Schutzgitter vor die Glut und ging dann langsam die Treppe hinauf, den gleichen Weg, den Carola Donani gegangen war.

Am nächsten Morgen, mit dem Frühzug, fuhr Jean Leclerc wieder zurück nach München und von dort weiter nach Rom.

Niemand verabschiedete ihn, nur Erna Graudenz war schon auf, kochte ihm eine kleine Kanne starken Kaffee, toastete zwei Weißbrotschnitten und richtete den Kaffeetisch her. Leclerc rührte nichts an … er trank nur eine Tasse Kaffee, starrte wortlos hinaus in den Garten und über den in der Morgensonne spiegelnden See, bedankte sich bei Erna Graudenz und verließ das Haus. Die Kinder schliefen noch und ahnten nicht, daß ihr Spielgefährte wie ein Dieb aus dem Hause schlich, Erna Graudenz war es gleichgültig, sie machte sich keine Gedanken über diesen merkwürdigen Besuch, und auch Carola Donani ließ sich nicht sehen, Leclerc zu verabschieden. Sie lag mit weit offenen Augen auf dem Bett und starrte gegen die rosafarben getünchte Decke … als sie leise Schritte auf dem Kies des Gartenweges hörte, stand sie auf und trat vorsichtig an das Fenster. Die Falten der dichten Übergardine verdeckten sie, durch einen Spalt sah sie hinunter auf den Weg.

Jean Leclerc ging langsam dem schmiedeeisernen Tor zu. Er ging wie ein alter Mann, nach vorn gebeugt, mit hängenden Armen, gesenktem Kopf, schweren Füßen. Kurz vor dem Tor blieb er ruckartig stehen und blickte zurück. Er suchte das Fenster des Schlafzimmers. Carola trat noch weiter zurück, obgleich es unmöglich war, daß er sie sah.

Eine schreckliche Leere war in ihr. In der grellen, entzaubernden Morgensonne sah Leclerc schmal, kindlich und irgendwie unfertig aus. Wie er so dastand an dem schmiedeeisernen Tor, sein Köfferchen in der Hand, mit einem bleichen, übernächtigen Gesicht, dem auch die natürliche Bräune nicht mehr den Eindruck des Gesunden leihen konnte, glich er mehr einem verhungerten Hausierer, der irgendwo im Heu geschlafen hatte, als einem heimlichen Geliebten, der es vermochte, eine Nacht zum lodernden Feuer werden zu lassen.

Bin ich schon so alt, dachte Carola erschrocken, daß ich solche Dinge sehe? Bin ich mit meinen siebenundzwanzig Jahren schon so weit über die Zeit der großen Liebesillusionen hinaus, daß ich den Morgen fürchten muß, weil er die Wahrheiten zeigt und nicht mehr die Fortsetzung des nächtlichen Vergessens ist? Verliere ich die Fähigkeit, bedingungslos und blind zu lieben?

Sie sah, wie Leclerc zögerte, wie er zum Fenster hinaufstarrte, wie er wartete, daß sie die Gardine beiseite schob und ihm zuwinkte.

Geh, dachte sie mit einem bitteren Geschmack im Mund. Bitte, geh! Ich habe mich schändlich benommen. Ich habe meinen Mann betrogen mit einem Jüngling, der nun dasteht wie ein ausgesetzter Hund und bei dem es nicht verwundern würde, wenn er jetzt losheulen würde.

Geh … bitte, bitte … geh –

Sie wandte sich schroff ab, lief ins Zimmer zurück, warf sich auf das Bett und kniff die Augen zu, als könne sie damit alles auslöschen.

Das Schloß des großen, schweren Eisentores fiel zu.

Jean Leclerc zuckte zusammen, als er den dumpfen Klang hinter sich hörte. Langsam drehte er sich um. Der Garten, die Blumen, das weiße Haus, das Schwimmbecken, dahinter der silberblau leuchtende See, und zwischen ihm und dieser Schönheit nun das Gitter, wehrhaft, trennend … So schlug einmal auch die Pforte des Paradieses zu, dachte er und strich sich über die Augen. Und es war endgültig. Ist es auch dieses Mal endgültig?

Bis zum Bahnhof war es eine gute halbe Stunde Weg zu Fuß. Er sah auf seine Uhr und atmete tief auf.

Auf Wiedersehen, Chérie, dachte er. Uns werden keine eisernen Tore trennen … Ich weiß, daß du mich nicht mehr vergessen kannst –

*

Pietro Bombalo hatte es erreicht … die Termine der Konzerte wurden verschoben. Bernd Donani blieb in Europa, die große Amerika-Tournee wurde um vier Wochen verlegt.

»Tun Sie das nie wieder, Maestro, nie wieder«, stöhnte Bombalo, als er die telegrafischen Zusagen hatte und vor Donani auf den Tisch legte. »Diese vier Wochen haben mich zehn Jahre älter gemacht … noch zweimal solche Dinge, und ich bin ein zitternder Greis.«

»Aber Sie sehen – es geht, wenn man nur will.« Donani las die Telegramme gar nicht … er schob sie Bombalo wieder zu. »Wo sind wir in vier Wochen?«

Bombalo überflog seine Terminliste. »In London, Maestro. Drei Konzerte. Chopin, Brahms und Beethoven.« Er sah mißtrauisch zu Donani. »Bitte, bitte … nicht verschieben …«, klagte er schon im voraus.

»Aber nein. London ist gut.« Donani sah auf seine langen, schmalen Hände und auf den dünnen, einfachen Goldring, den er als einzigen Schmuck an der rechten Hand trug. Er hatte zu Hause angerufen. Es waren wirklich nur die Masern. Carola hatte er nicht sprechen können, sie war zum Arzt gefahren. Migräne. Über Starnberg lag der Föhn. Erna Graudenz hatte ihm genau berichtet über die Kinder. Von Jean Leclerc hatte sie nichts erwähnt. Der kurze Besuch kam ihr zu unwichtig vor, um damit auch noch den vielbeschäftigten Donani zu belasten.

»Warum ist London gut?« fragte Pietro Bombalo ahnungsvoll.

»Wenn meine Frau zurückkommt, kann ich mit ihr zwei Tage hinauf nach Schottland fahren. Aufs Hochland, Bombalo. Die gesunde Luft wird ihr guttun nach den vielen Aufregungen.«

»Unmöglich.« Bombalo starrte auf seinen Terminplan. »Von London fahren wir nach Birmingham zu den Festspielen.«

»Na und?«

»Die Proben –«

»Ich werde mit einer Verständigungsprobe auskommen. Sagen Sie das jetzt schon in Birmingham.«

Pietro Bombalo fuhr sich mit beiden Händen in die schwarzen, gekräuselten, leicht melierten Haare. Seit fünf Jahren, in denen er der Impresario Donanis war, vollführte er diese theatralischen Bewegungen. Donani kannte sie auswendig und wußte im voraus, wie Bombalos Verzweiflung aussehen würde, aber immer wieder bewunderte er den kleinen, dicken Italiener, mit welcher Intensität er seinen inneren Zusammenbruch glaubwürdig spielen konnte.

»Ich werde wahnsinnig!« stöhnte Bombalo. »Ha … ich merke es … mein Gehirn brennt … meine Zunge wird ganz schwer … ich taumele … Maestro, Sie haben mich auf dem Gewissen, Sie töten mich! Oh!« Er setzte sich auf den Stuhl und stützte den Kopf in beide Hände, ein Bild des Jammers. »Einen Tag Schottland, Maestro … das geht. Einen Tag –«

»Zwei, Bombalo! Basta!« Donani lachte. Aber ebenso plötzlich wurde er wieder ernst und legte Bombalo die Hand auf den Arm. Der Impresario zuckte zusammen.

»Haben Sie nicht gesehen, wie nervös meine Frau in der letzten Zeit ist?« fragte Donani. Bombalo hob die Schultern.

»Frauen sind wie Chamäleons … man weiß nie, wie sie in der nächsten Minute aussehen. Die meisten nennen das interessant … mich belastet so etwas nur.«

»Carola hatte nie Launen, das wissen Sie, Bombalo. Aber seit ein paar Monaten beobachte ich bei ihr eine Wandlung. Ich habe nie darüber gesprochen … aber ich glaube, sie fühlt sich nicht wohl.«

»Sie sollte wieder ein Bambino haben«, sagte Bombalo sachverständig. Donani erhob sich. »War doch nur ein Scherz, Maestro!« rief der Impresario und sprang auch auf. »Gut, ich sage in Birmingham Bescheid. Aber ich warne Sie, Maestro. Bis heute galt Bernd Donani als der zuverlässigste Dirigent, der nie eine Laune hatte, keine Starallüren, keine Skandale. Donani war ein Gott der Musik … geben Sie zu, ich habe das gemacht. Ich, Pietro Bombalo. Bitte, bitte fangen Sie jetzt nicht an, so zu sein, wie Sie es sich leisten könnten. Bleiben Sie so, wie Sie sind … leben Sie nur der Musik.«

»Ich muß mich um Carola mehr kümmern, Bombalo.«

»Und die Musik? Auf Kosten der Kunst?«

»Irgendwo muß ich die Zeit dazu hernehmen –«

»Aber nicht von der Kunst! Unmöglich!« Bombalo hob beide Arme beschwörend gegen die Decke. Donani blieb an der Tür stehen.

»Was soll ich sonst tun? Wissen Sie einen Rat?«

»Die Kunst ist das Höchste, Maestro! Entweder man lebt ganz für sie und in ihr, oder man verzichtet auf sie. Sie dürfen nicht verzichten, Maestro … Sie gehören nicht mehr allein Ihrer Frau, sondern den Millionen Menschen, denen Sie Glück und Ergriffenheit schenken. Wenn es nicht anders geht – lassen Sie sich scheiden …«

»Sie sind verrückt, Bombalo!« Donani öffnete die Tür. Aber bevor er hinausging, sah er noch einmal zurück. Bombalo stand am Tisch. Er war ehrlich verzweifelt. »Ich liebe meine Frau«, sagte Donani leise. »Und diese Liebe gibt mir Kraft – verstehen Sie das, Bombalo? Wir fahren doch zwei Tage nach Schottland –«

*

Wie Carola es vorausgesagt hatte, geschah es auch: Eine Woche nach der Erkrankung Alwines bekam auch Babette die Masern. Über Nacht wurde sie rotbetupft, hatte 39° Fieber und phantasierte von ihren Puppen und Bären. Erna Graudenz und Carola wechselten sich in den Nachtwachen ab. Den Vorschlag des Arztes, eine Pflegerin einzustellen, lehnte sie ab. »Wozu, Doktor?« fragte sie. »Endlich habe ich eine Aufgabe. Endlich kann ich Mutter sein und mich um meine Kinder kümmern. Bis jetzt hatte ich nur ein großes Kind zu umsorgen, und das merkte es nicht einmal. Ich bin glücklich, nachts an den Bettchen zu sitzen und auf meine Kinder zu sehen …«

Das klang alles sehr bitter und voll unverhüllter Anklagen. Der Arzt schwieg und nahm das Thema Krankenpflegerin nicht wieder auf. Babette war es, die etwas sagte, was Carola tief ins Herz schnitt.

»Wie schön, Mami, daß du bei uns bist«, sagte sie und hielt mit ihren fieberheißen Händchen den Arm Carolas umklammert. »Bleibst du jetzt immer hier?«

»So lange, bis ihr wieder ganz gesund seid.«

»Dann wollen wir immer krank sein, Mami … damit du immer bei uns bleibst.«

Und Alwine fragte: »Warum ist der Onkel Jean wieder weg, Mami?«

»Er mußte zurück, mein Kleines«, antwortete Carola heiser.

»Er konnte so schön mit Puppen spielen …«

»Ja, das konnte er.« Carola starrte gegen die Wand. »Er verstand es, Puppen zum Lachen zu erwecken.«

»Ja, Mami, ja.« Babette jubelte. »Er hat den Waldo richtig bellen lassen … wie einen richtigen Hund, einen lebendigen. Kommt Onkel Jean wieder?«

»Ich glaube nicht, Kleines.«

»Wie schade, Mami –«

»Vielleicht –«

Carola sah gegen das verhängte Fenster. Die Erinnerung an Leclerc war in ihr wie Blei. Es lag auf ihrem Herzen und hemmte den Schlag. Sie hatte sich bemüht, nicht mehr an diese einzige Nacht zu denken, sich einzureden, sie sei nie gewesen, nichts als ein Alptraum … aber dann stand sie abends vor dem Spiegel, starrte auf ihren herrlichen, nackten Körper und sah die jetzt langsam verblassenden blauen Flecke, wo die Finger Leclercs sie gepackt hatten, Finger, die in der Leidenschaft die Kraft einer eisernen Zange bekommen hatten. Aus diesem Griff war kein Entrinnen mehr gewesen, und sie hatte auch gar nicht entfliehen wollen, sie war ihm entgegengetaumelt wie ein Verdurstender der Quelle und hatte die eisernen Finger gar nicht gespürt. Jede Berührung war wie Feuer gewesen, jedes Wort wie ein heißer Schrei, jede Bewegung wie ein vulkanisches Beben, jeder Kuß wie ein brennendes Siegel … du gehörst mir … mir … mir … mir …

Bis jener grauenvolle Morgen kam … die völlige Leere in ihr … die grelle Sonne, in der Jean Leclerc dastand wie ein verhungerter Hausierer, entblößt aller Dämonie, ein Jungengesicht, in das sie hätte hineinschlagen mögen, weil es so schrecklich unverständlich war, daß ein Betrug so aussehen konnte.

Es war nicht möglich, die Erinnerung auszulöschen, so wie die blauen Flecken auf ihrer weißen Haut langsam vergingen. Neben der Schalheit des Betruges blieb in einem Winkel des Herzens doch noch ein Glimmen übrig, jener verwerflich-kitzelnde Gedanke, daß das Unrechte schön gewesen sei, schön in dem Augenblick, in dem es geschah.

»Mami, warum kommt Papi nicht?« fragte Babette und rüttelte an Carolas Arm.

Sie schrak empor und beugte sich über das rotgesprenkelte Gesichtchen.

»Papi muß doch dirigieren, Spätzchen.«

»Och … immer dirigieren. Können die nicht mal allein spielen?«

»Nein, das geht nicht.«

»Dann muß Papi immer bei ihnen sein?«

»Ja, mein Kleines.«

»Ich werde nie einen Mann heiraten, der dirigiert, Mami …« Babette schloß die Augen. Das Fieber machte sie müde und schlapp. »Warum haben wir keinen anderen Papi?« sagte sie leise. »Einen, der kommt, wenn wir krank sind …«

Carola schwieg. Heiß stieg es in ihr empor, ihr Herz krampfte sich zusammen. Ich werde es ihm schreiben, dachte sie. Ich werde ihm die Gedanken seiner Kinder schreiben. Dann wird er aufwachen, dann muß er aufwachen, wenn sein Herz wirklich nicht zu einem Notenschlüssel geworden ist. Wie weit ist unser Leben schon, wenn ein Kind so sprechen kann –

Babette schlief. Auch Alwine träumte nebenan in ihrem Bett. Carola deckte beide Kinder zu und verließ auf Zehenspitzen das Kinderzimmer.

Unten in der Halle traf sie Erna Graudenz. Erna hatte den Tisch gedeckt und war bereit, Carola bei den Kindern abzulösen.

»Es ist alles fertig, gnädige Frau«, sagte das Mädchen. »Der Tee steht in der Warmhaltekanne.«

»Danke, Erna. Es ist gut …«

Carola trat hinaus auf die Terrasse und sah über den abenddunklen See. Am Horizont, über der schwarzen Wand der Berge, wetterleuchtete es.

Was soll werden, dachte sie. Wie soll unser Leben weitergehen? Jetzt steht der große Bernd Donani in Lausanne vor dem Sinfonie-Orchester, und viertausend Augen starren auf seinen Rücken, auf seine beschwörenden Hände, auf seine weißen Haare, die um seinen Kopf flattern. Ein Magier der Musik, werden morgen die Zeitungen schreiben.

Und zweimal nur hat er bisher angerufen und gefragt, wie es den Kinder geht. Zweimal … wegen der Kinder … aber kein Wort der Frage: Wie geht es meiner Frau?

Ist das ein Leben?

Carola lehnte sich an die Balustrade, die den Garten von dem Hang zum See hinunter trennte.

Ich werde ihm auch nicht schreiben, dachte sie. Wenn die Kinder gesund sind, fahre ich wieder zu ihm. Es wird unsere letzte Chance sein … seit Jahren waren wir nicht vier Wochen voneinander getrennt, immer waren wir zusammen. Nach diesen vier Wochen wird es sich zeigen, wie er denkt, wie er fühlt … ob er die Kraft hat, den letzten Funken der Erinnerung an eine verbotene Nacht in mir zu löschen, daß ein Nichts übrigbleibt, ein vollkommenes Vergessen …

Sie ging zurück ins Haus und setzte sich an den einsamen Tisch. Sie aß nichts, sie trank nur ein paar Schluck Tee.

Wir wollen es noch einmal versuchen, Bernd, dachte sie, und plötzlich merkte sie, daß sie den Gedanken laut vor sich hinsprach. Schon wegen unserer Kinder –

*

Knapp vier Wochen später fuhr Carola Donani ab. Pietro Bombalo hatte ihr rechtzeitig den neuen Plan zugesandt. Donani hatte wirklich die Route geändert … er war in London statt in Chikago. Dieses bisher nie vorgekommene Ereignis, daß Donani Absagen und Veränderungen herumreichen ließ, löste in Carola die fast überschwengliche Erwartung aus, ihr Leben könne wirklich anders werden.

Um den Kindern und sich selbst den Abschied nicht allzu schwerfallen zu lassen, hatte Erna Graudenz mit Babette und Alwine eine Almhütte bezogen, die Donani als Wintersportplatz gekauft, aber bisher nie bewohnt hatte. Dort sollten die Kinder in der frischen Bergluft sich vollends erholen. Carola griff zu einer Notlüge, als sie Alwine und Babette bis zum Zug begleitete.

»Mami kommt bald nach«, sagte sie. »Seid schön brav, hört ihr? Und wenn wir ganz großes Glück haben, bringt Mami den Papi mit.«

Sie hatte den Jubel der Kinder noch im Ohr, als der Zug längst davongerattert war und sie auf der Straße stand.

Noch drei Stunden, dann sitze ich in dem Flugzeug nach London, dachte sie. Um 16 Uhr lande ich in Croydon … um 20 Uhr dirigiert Bernd Beethoven in der Concert Hall … und ich werde wieder im Künstlerzimmer sitzen, zwischen Blumen und Plastikkästen, schnatternden Reportern und dem aufgeregten Bombalo, der erfundene Anekdoten aus dem Leben des großen Donani erzählt … Und ich werde Jean Leclerc wiedersehen … in der letzten Reihe der ersten Geigen, eine schwarze Locke in der Stirn, schwitzend und mitgerissen von der Hand Donanis … Werde ich ihn ansehen können wie jeden anderen Geiger? Wird er mir so gleichgültig sein, wie er es noch vor sechs Wochen war? Und wie wird er mich ansehen …?

Sie spürte, wie ihr Atem stoßweise ging, wie ihr Puls jagte. Sie hatte Angst.

Angst vor dem ersten Blick zwischen ihr und Jean Leclerc. Und sie wußte, daß sie diesem Blick nicht entrinnen konnte.

*

Bernd Donani empfing seine Frau nicht auf dem Flugplatz Croydon, obwohl sie ihm die Ankunftszeit telegrafiert hatte. Statt seiner stand Pietro Bombalo am Flugfeld und schwenkte seinen Hut.

»Proben, Signora«, sagte er, als Carola nach ihrem Mann fragte. »Es ließ sich nicht vermeiden. Zum Konzert hat sich die königliche Familie angesagt. Donani soll ihr vorgestellt werden … wenn ich daran denke, trifft mich jetzt schon vor Ergriffenheit der Schlag. Wie glücklich müssen Sie sein, Signora, solch einen Mann zu haben –«

Bombalo sagte diesen Satz mit Bedacht. Carola schwieg. Auch der Handkuß einer Königin war nicht so wichtig, ihre Enttäuschung zu glätten. Er probt, dachte sie nur. Nach vier Wochen Trennung steht er vor seinem Orchester und probt. Ich bedeute ihm nichts, gar nichts. Ich bin für ihn ein Besitz wie seine elfenbeinernen Taktstöcke und seine Partiturenbände in Schweinsleder.

Er probt.

Im Hotelzimmer fand sie einen großen Strauß gelber Rosen vor. Zwischen den Blüten stak ein Zettel, von Donani selbst beschrieben.

»Willkommen in London, mein Engelchen.«

Sinnend stand Carola vor dem schönen Rosenstrauß. Sie kannte sich nicht mehr aus. Aber es stimmte sie versöhnlich, daß er sie wenigstens mit Blumen begrüßte. Es war ein Beweis, daß er sich freute über ihre Rückkehr.

Carola zog sich um. Ihre Koffer waren in den vergangenen vier Wochen immer mitgereist. Sie wählte ein weißes, besticktes Abendkleid. Die langen, blonden Haare steckte sie wie zu einer Krone. Im Spiegel bewunderte sie dann ihre eigene Schönheit. Nur die Augen sind traurig, dachte sie. Traurig und ängstlich. Mach, daß beides verschwindet, Bernd … Gib mir das Glück zurück, jung zu sein. Du kannst es … wenn du dich nur ein klein bißchen um mich kümmerst –

Sie wartete, bis Bernd Donani von der Probe zurückkam. Von dem kleinen Balkon vor dem Hotelzimmer, der mehr ein Austritt war, sah sie ihn kommen. Er entstieg der Taxe, zahlte und rannte leichtfüßig wie ein junger Mann ins Hotel. Carola trat ins Zimmer zurück und schloß die Balkontür. Einen Augenblick hatte sie das gleiche Gefühl wie vor neun Jahren, jenes seligdumme Jungmädchengefühl, das sie ergriffen hatte, als Bernd Donani vor ihr stand und sie mit seinen strahlenden blauen Augen ansah, als sei sie etwas ganz Kostbares. Damals hatte er gesagt: »Wo die Sprache aufhört, setzt die Musik ein … aber selbst der begnadetste Tonsetzer könnte nicht schildern, was in mir vorgeht …« Sie hatte diesen Satz als den schönsten aller bisherigen Sätze empfunden. Jetzt, in den wenigen Minuten, bis Donani das Zimmer betreten würde, war es wieder so. Aber diese Empfindung war nur mehr ein Wunsch als eine Tatsache … sie war ein Gedanke: Laß uns wieder jung sein, Bernd … laß uns so lieben wie damals … ich habe mich nicht geändert, ich bin im Herzen das kleine Goldengelchen von damals geblieben. Ich sehne mich so nach dir –

Die Tür sprang auf, Donani kam herein. Er breitete die Arme aus, zog Carola an sich, küßte sie auf die Stirn und seufzte tief auf.

»Mein Goldkind, wie schön, daß du gekommen bist!« sagte er laut. »War das eine Probe! Als ob der Teufel in den Celli säße.« Er sah sich um und streichelte dabei ihre Haare. »Weißt du, ob hier irgendwo Milch zurechtgestellt ist?«

Die Probe. Die Celli. Milch.

Die Illusion des Glückes löste sich auf. Der Jungmädchentraum stürzte zusammen. Vier Wochen … oder vier Jahre Trennung … es blieb alles, wie es war. Es hatte keinen Sinn mehr zu hoffen, es war Kraftverschwendung, auf etwas anderes zu warten als auf die Angewohnheit des großen Donani, nach den Proben und dem Konzert ein Glas kalte Milch zu trinken. Es war einfach alles sinnlos, völlig sinnlos –

»Ich weiß nicht, Bernd.« Carola löste sich aus seinen Armen. Er hat weder das Kleid bemerkt noch die Frisur, dachte sie. Er hat nur bemerkt, daß ich wieder da bin. Ob er überhaupt nach den Kindern fragt?

Donani tat es tatsächlich. Er riß sich den Schlips vom Kragen und warf den Rock über die Lehne des Stuhles.

»Alwine und Babette geht es gut, wie ich höre?«

»Ja. Von wem hörst du das denn?« Ihre Stimme war spröde wie gesprungenes Glas. Donani löste die Schnürbänder seiner Schuhe. – Die Schuhe waren neu und drückten.

»Von der Graudenz. Ich habe gestern angerufen.«

»Ach.«

»Sie hat dir nichts davon erzählt?«

»Nein. Sicherlich hast du nicht nach mir gefragt oder mir Grüße bestellt.«

»Ich glaube doch, Engelchen.« Er lachte und faßte nach ihrer schlaffen Hand. »Du siehst blaß aus.«

»Findest du?«

»Ja. Vier Wochen Krankenschwester, das ist für dich eine Schwerarbeit. Aber ich werde dafür sorgen, daß du dich erholst.«

»Ich habe endlich etwas zu tun gehabt.« Carola entzog ihm ihre Hand. »Du behandelst mich, als sei ich aus zerbrechlichstem Porzellan … nur hat das Porzellan noch den Vorteil, daß es ab und zu benutzt wird.« Sie schwieg betroffen ob soviel Frivolität und starrte auf die weißen Haare Donanis. Was wird er jetzt antworten? dachte sie. So habe ich noch nie mit ihm gesprochen.

Bernd Donani antwortete nichts … er lachte nur wieder und zog Carola erneut zu sich. Dieses Mal küßte er sie auf die Lippen, aber sie waren kalt und blieben geschlossen und blühten nicht auf wie unter dem Kuß Jean Leclercs auf der Place de l'Opéra, morgens um 3 Uhr.

»Du siehst, ich kann auch Porzellan anfassen!« rief Donani fast übermütig. »Und heute abend mach dich besonders schön … auch du sollst der Königin vorgestellt werden.« Er küßte Carola noch einmal auf die Augen und wandte sich dann wieder suchend im Zimmer um. »Ist denn wirklich keine Milch da?«

»Ich werde sofort dem Etagenkellner läuten.« Carola ging zur Tür und zum Klingelknopf ›Service‹. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und die Lippen fest zusammengepreßt.

Ich werde Leclerc wiedersehen, dachte sie. Ich muß ihn wiedersehen. Auch wenn er jünger ist und aussieht wie ein Straßenjunge. Ganz gleich, was kommt – in dieser Luft hier kann ich nicht mehr atmen –

Sie klingelte und sagte rauh, als der Etagenkellner kam:

»Bitte, die Milch für Herrn Donani … aber kalt, eiskalt –«

Donani saß am Balkonfenster und reckte sich. Er fühlte sich ausgesprochen wohl.

»Du bist so lieb, Engelchen –«, sagte er voller Zärtlichkeit.

*

Das Konzert war ein Erfolg, wie immer. Die Vorstellung Donanis, Carolas und der beiden Ersten Konzertmeister vor der Königin war ein Triumph Carolas. Ihr herrliches weißes Duchesse-Abendkleid mit den wertvollen Spitzenbesätzen, ihr Halscollier, das Diadem in dem aufgesteckten, goldblonden Haar, ihre langen Ohrgehänge, ihr zartes, unwirklich schönes Gesicht mit den großen, sprechenden Augen beeindruckten die königliche Familie. Man sah es an den Blicken der Damen, die mehr aussprachen als die konventionellen Worte. Auch Pietro Bombalo fiel auf … er war der Mann, der am meisten und am auffallendsten schwitzte. Als die Königin ihm die Hand hinhielt und ihn begrüßte, schnaufte er wie ein Walroß, stotterte ein paar unverständliche Worte und war auf die Frage, woher er stamme, nur fähig, zu stammeln: »Aus Sizilien, Majestät.« Sein italienisches Temperament transpirierte weg … hinterher ärgerte er sich maßlos, beschimpfte sich selbst im Spiegel und war zu Morden bereit, wenn jemand neckend zu ihm sagte: »Wie ist das Pietro … gekrönte Häupter können sich dir nur im Badeanzug nähern, stimmt das? Die Königin soll ja vor dir nasse Füße bekommen haben –«

Für Carola war mit der Vorstellung vor der Königin der Abend zu Ende. Bernd Donani wurde beschlagnahmt von einem Schwarm von Lords, die ihn in einen der feudalen Londoner Clubs entführten, wo seit Jahrhunderten die Anwesenheit eines weiblichen Wesens als völlig unmöglich galt. Auch heute wurde dieses Tabu nicht durchbrochen … Donani wurde von Carola getrennt, um die sich die Ladys kümmerten, die es nicht anders kannten. Mit dem letzten Rest von Haltung schlug Carola die Einladungen zum Tee in einem Damenclub aus und fuhr zurück zum Hotel.

Dort warf sie das Abendkleid in die Ecke, schleuderte den Schmuck auf das Bett und weinte vor Wut und Enttäuschung. Ihre Erregung wurde maßlos, als sie auf dem Nachttisch ein großes Glas Milch stehen sah … sie ergriff es, trug es in das Badezimmer und schüttete es aus. Dann erst schleuderte sie es auf die Fliesen und freute sich über den splitternden Knall.

Schluß! Schluß! Schluß! schrie es in ihr. Ich kann nicht mehr … ich kann nicht mehr –

Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, stand Jean Leclerc im Zimmer. Carola blieb erstarrt stehen. Ihr Blick glitt zur Tür, sie war wieder verschlossen. Leclerc lächelte sein unschuldiges Jungenlächeln, seine schwarzen Haare schimmerten matt in der Deckenbeleuchtung.

»Was … was wollen Sie hier?« fragte Carola. Sie hörte selbst, wie tonlos ihre Stimme war. Leclerc sah sie groß an.

»Das fragst du noch?«

»Gehen Sie, bitte.«

»Ich habe dich vier Wochen lang nicht gesehen.«

»Hat Sie jemand bemerkt?«

»Natürlich. Ich habe mich beim Portier ordnungsgemäß gemeldet. Ich habe gesagt: Ich habe der gnädigen Frau etwas von Herrn Donani abzugeben. – Und ich bin als offizieller Besucher mit dem Lift nach oben gekommen.«

»Ich will Sie nicht mehr sehen! Gehen Sie!« Carola drehte sich um und ging mit steifen Beinen zum Balkon, als biete er Rettung vor der Anwesenheit Leclercs. Der Geiger senkte ein wenig den Kopf.

»Warum mußt du immer lügen, Chérie –«

»Wenn mein Mann jetzt zurückkommt –«

»Er kommt nicht vor 1 Uhr. In den englischen Clubs ist eine mitternächtliche Whisky-Runde der letzte Hochgenuß. Rauchiger Whisky am rauchenden Kamin … den großen Donani sehen wir vor einigen Stunden nicht wieder.«

»Ich habe vergessen!« sagte Carola laut.

»Ich nicht.« Leclerc kam langsam näher. »Wie könnte man dich vergessen? Man könnte die Sonne vermissen, wenn man weiß, daß es eine ewige Nacht mit dir geben kann.« Er blieb nahe vor ihr stehen und blickte zurück zur Tür des Badezimmers. »Du hast ein Glas zertrümmert?« Seine Stimme war wieder warm und weich. »Warum läßt man eine Frau wie dich allein …«

»Geh, ich bitte dich … geh …« Carola lehnte den Kopf gegen die Wand. »Damals war ich verrückt … weiter nichts.« Ihr Herz zuckte, als sie es sagte, und ihre Stimme zuckte mit. Sie hatte sie nicht mehr in der Gewalt. »Meine Kinder … ich muß mich um sie kümmern, und –«

Sie sprach nicht weiter. Leclerc hatte sie stumm an sich gezogen. Seine weiche Hand streichelte ihr zuckendes Gesicht, löste die aufgesteckten Haare und ließ sie über ihre Schulter fließen.

»Du bist so schön …«, sagte er leise. »Du kannst so glücklich sein … Unser Leben beginnt doch erst …«

Als er sie küßte, krallte sie sich an ihm fest … sie klammerte sich an seine Haare und riß seinen Kopf zu sich hinunter, als er atemlos das Gesicht hob.

»Du Lump!« sagte sie heiser. »Du erbärmlicher Schuft … du darfst mich nie vergessen … Du gehörst mir … mir ganz allein –«

Um diese Zeit sagte Bernd Donani zu Lord Brookfield, am flammenden offenen Kamin stehend:

»Es ist eigentlich eine Unsitte, Lord, daß Frauen nicht hier sein dürfen. Ich hätte meine Frau gern bei mir …«

*

Am Morgen nach dem Konzert überraschte Bernd Donani seine Frau mit der streng gehüteten Neuigkeit. Er war erst gegen 2 Uhr morgens aus dem Club zurückgekommen und fand Carola schlafend vor. Sie schlief wie ein kleines Kind, auf der Seite, mit offenen Haaren, den Mund trotzig, mit vorgeschobenen Lippen, als wolle sie geküßt werden. Donani überlegte, ob er sich hinunterbeugen und die Lippen küssen solle … dann unterließ er es doch. Sie ist müde, sie braucht Schlaf, dachte er. Die Nachtwachen bei den Kindern, das hat sie mitgenommen. Jetzt soll sie sich erholen.

Leise zog er sich aus, kroch ins Bett und sah Carola noch einmal an, bevor er das Licht löschte. Wenn du wüßtest, wie schwer die vier Wochen ohne dich für mich waren, dachte er. Zweimal wollte ich alles hinwerfen und nach Hause fahren … einfach fliehen vor dem Terminkalender und diesem Bombalo, der nur aus Daten besteht. Ich wollte zu dir, nur zu dir … wenn du wüßtest, wie sehr ich dich liebe.

»Gute Nacht, Engelchen …«, sagte er leise.

Dann drehte er sich um und schlief ein. Er war glücklich, nach vier langen Wochen wieder Carola neben sich zu haben. Er schlief wie auf paradiesischen Wolken.

Am Morgen überraschte er dann Carola. Es gelang ihm vorzüglich, als er leichthin sagte:

»Goldkind, pack einen kleinen Koffer ein mit dem Allernötigsten. Wir fahren weg –«

»Nach Birmingham – ich weiß.« Carola vermied es, Donani anzusehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, einzuschlafen mit dem Jungengesicht Leclercs vor Augen und aufzuwachen mit dem Anblick der zerwühlten weißen Haare Donanis. Es ist nicht leicht, sich an die Kaltschnäuzigkeit einer Hure zu gewöhnen, dachte sie voll Bitterkeit gegen sich selbst. Aber die Übung wird es bringen –

Donani lächelte geheimnisvoll und hob die Hand. »Nicht nach Birmingham, Engelchen … Wir fahren nach Schottland.«

»Schottland? Wieso?«

»Zwei Tage Ferien vom Ich. Nur wir zwei, ohne diesen widerlichen Kalender Bombalo. Ich habe zwei Tage für uns allein herausgeschunden –«

»Für uns –«, Carola schluckte und atmete tief auf. »Aber das ist ja etwas ganz Neues, Bernd …«

»Freust du dich?«

»Es kommt so plötzlich –«

»Überraschungen haben plötzlich zu sein, sonst sind es keine. Los, pack das Köfferchen …«

Er ging singend ins Badezimmer, sah die Glasscherben und stutzte.

»Pech gehabt, Engelchen?« rief er.

Carola nickte. »Ja –«, sagte sie dumpf.

»Pack einen Pullover ein.« Die Brause rauschte. Donani prustete und ächzte, er brauste sich kalt, weil er es für gut für den Kreislauf hielt. »In Schottland kann es jetzt schon kühl sein.«

»Ich habe keine Lust«, sagte Carola matt und setzte sich. Ihre Lippen waren aufgesprungen von den Küssen Leclercs, auf ihrem Körper spürte sie noch das Streicheln seiner heißen Hände.

»Was sagst du?« rief Donani unter der Brause.

»Ich habe keine Lust –«

»Lust! Die kommt, wenn du unterwegs bist, genau wie der Appetit beim Essen! Los, los, Goldkindchen … pack alles ein. In einer Stunde rauschen wir ab …« Er kam aus dem Badezimmer, nackt, tropfend von Nässe, eine großgewachsene Gestalt, muskulös und mit einem kleinen Bauchansatz, den man im Frack nicht sah. »Du wirst sehen, wie gut dir die schottische Luft bekommt. Die Seen, die Weite des Landes, der Wind, die Weiden, die riesigen Schafherden, diese herrliche Ruhe … Nirgendwo ist der Himmel so weit wie in Schottland, mit Ausnahme von Ungarns Pußta. Du wirst begeistert sein …«

Ruhe, dachte Carola. Das ist seine Welt. Ruhe … Einsamkeit, deren Stille mich anschreit.

»Ich pack' ja schon«, sagte sie schwach und griff willkürlich nach einem Handtuch. Dann zuckte ihre Hand zurück. Es war das Handtuch, an dem sich Leclerc den Schweiß der Nacht abgetrocknet hatte. Ihre Augen wurden dunkel und gehetzt. »Ja, laß uns fahren!« rief sie und sprang auf. »Laß uns weg von hier … weit weg …«

Donani nickte und klatschte mit den Händen auf seinen Bauch. »Ich wußte, daß es dich begeistert, Engelchen«, sagte er fröhlich. »Wann haben wir in den letzten Jahren zwei Tage für uns allein gehabt …?«

*

Jean Leclerc nahm die Zweitagereise Carolas gelassen hin. Er erfuhr es am gleichen Morgen von anderen Orchestermitgliedern, denen man schon gesagt hatte, daß die Proben der Erste Konzertmeister übernehme, weil der Chef nach Schottland gefahren sei.

Leclerc schwänzte die erste Probe mit Hinweis auf seinen chronischen Magen und fuhr nach Chelsea. Etwas außerhalb wohnte Hilman Snider in einem schönen, alten Häuschen mit dem riesigen Zentralschornstein, wie ihn die alten englischen Bauernhäuser seit Jahrhunderten haben. Ein schöner Garten lag um das Anwesen. Sonnenblumen leuchteten und die ersten Herbstastern.

Jean Leclerc hatte keinen Blick für den Garten. Was ihn nach Chelsea zu Hilman Snider führte, war nicht das Interesse an Blumen. Er läutete und war nicht erstaunt, als Hilman Snider, ein Mann Ende der Fünfzig, ihm die Tür mit einem »Ach, Sie sind's!« öffnete. Ein Ausruf, mit dem man gewöhnlich keine Freunde begrüßt.

»Was wollen Sie denn nun schon wieder?« fragte Snider, als Leclerc in der Diele stand.

»Sie werden lachen … Geld.«

»Ich lache gar nicht. Sie bekommen keins.«

»Ich denke, Hilman Snider ist ein Geldverleiher?« fragte Leclerc.

»Aber nur an die, die es mir zurückzahlen. Einmal bin ich auf Sie hereingefallen … ein zweites Mal müßte ich verrückt sein. Sie schulden mir noch 100 Pfund.«

»Sie bekommen sie auf den letzten Penny wieder … sogar 250 Pfund, wenn Sie mir noch einmal 100 leihen.«

»Einen Teufel werde ich!« sagte Snider grob. »Welche Sicherheiten haben Sie?«

»Meine Begabung als Violinist.«

»Ein angerosteter Kochtopf ist mir sicherer als das.« Snider griff zur Klinke, um Leclerc wieder aus dem Haus zu lassen. »Vor einem Jahr habe ich Ihnen noch geglaubt … an Ihre große Zukunft. Was ist in diesem Jahr geschehen? Nichts. Ich habe meine 100 Pfund nicht wieder, und Sie sitzen noch immer in der letzten Orchesterreihe und fiedeln sich einen weg.«

»Nicht mehr lange, Snider …«

»Wenn schon, dann Mr. Snider.« Der Alte sah Leclerc fragend an. In der Stimme des Jungen klang so etwas wie Sicherheit. »Was ist los? Was hat sich getan?«

»Vieles. Wenn Sie schweigen können –«

»Davon lebe ich ja«, sagte Snider entrüstet.

»Die Frau des großen Donani ist meine Geliebte … oder ich bin der Geliebte der großen Frau Donani … wie man's nimmt. Der Effekt ist der gleiche. Merken Sie was, Mr. Snider?«

Human Snider verzog den Mund. »Ein faules Ei, mein Junge. Launen einer Frau. Das ist kein verzinsliches Kapital.«

»In diesem Falle doch. Carola – so heißt sie – wird sich bei ihrem Mann einsetzen, daß ich ein Solistenkonzert gebe. Verstehen Sie, was das bedeutet, Mr. Snider? Mein Name wird von einem Tag auf den anderen bekannt sein. Wer einmal als Solist mit Donani gespielt hat, ist ein gemachter Mann. Ihre lumpigen 250 Pfund sind dann ein Klacks für mich.«

»Bis jetzt sind es nur 100 Pfund«, sagte Snider trocken.

»Was wollen Sie mehr als Sicherheit?« fragte Leclerc erregt.

»Das Plakat, auf dem Ihr Name als Solist steht. Dann weiß ich, daß es Wahrheit ist.«

»Ich bringe Ihnen dieses Plakat. Aber vorher leihen Sie mir noch 100 Pfund. Verstehen Sie doch, Mr. Snider … auch als Geliebter einer reichen Frau muß man anfänglich etwas investieren … es zahlt sich nachher hundertfach aus.«

Hilman Snider zögerte. Aber dieses Zögern war schon ein halbes Entgegenkommen.

»Und wenn es nicht klappt mit dem Solist?« fragte er.

»Es klappt.«

»Wie wollen Sie beweisen, daß Frau Donani Ihre Geliebte ist?«

»Wir spielen in zwei Tagen in Birmingham. Nach dem Konzert werde ich mit ihr zur ›Klause‹ fahren. Sie können es sich ansehen …«

Hilman Snider winkte ab. »Kommen Sie rein, Sie Windhund«, sagte er. »Sie bekommen Ihre 100 Pfund … aber wehe, wenn ich sie im Dezember nicht als 250 Pfund wiederhabe! Dieses Mal lasse ich Sie auffliegen!«

»Nicht nötig.« Leclerc lächelte und klopfte dem Alten auf die Schulter. »Und wenn alles schiefgeht … Carola Donani wird es bezahlen, machen Sie sich da gar keine Sorgen«, sagte er kühn.

Er lachte sogar, und es war ein triumphierendes Lachen. Es war so einfach, zu leben … man mußte nur den Frauen gefallen.

*

Bis kurz vor dem Konzert in Birmingham hatte Jean Leclerc keine Gelegenheit, Carola wiederzusehen und zu sprechen. Erst als Donani der Presse vorgestellt wurde, schlich sich Leclerc an Carola heran und berührte mit den Fingerspitzen ihre nackte Schulter. Sie zuckte zusammen, aber sie drehte sich nicht um, um zu sehen, wer sie anfaßte. Sie wußte es ohnehin.

»Du bist verrückt!« zischte sie. »Geh weg, ehe dich jemand sieht …« Dabei sah sie hinüber zu dem Kreis der Journalisten, in dem Donani gefangen war und aus dem das laute Organ Bombalos klang.

»Ich muß dich sprechen, Chérie.«

»Nein!«

»Nach dem Konzert. Hinter dem Opernhaus. Wir fahren ein Stück aufs Land.«

»Nein.«

»Ich liebe dich, Chérie –«

»Geh endlich …«

»Wenn du nicht zusagst, küsse ich deinen wundervollen Nacken …«

»Ich komme ja.« Carola trat einen Schritt vor. Sie bemühte sich, ihre Erregung zu verbergen.

»Danke, Chérie.« Leclerc berührte wieder ihre nackte Schulter. Wie ein Hauch war es, wie ein ganz leises Kratzen. Carola schauderte zusammen und hob die Schultern in dem rückenfreien Abendkleid. Sie wartete, was Leclerc noch sagen würde, aber nichts erfolgte. Da drehte sie sich um. Hinter ihr war niemand mehr, nur die angelehnte Tür zur Bühne.

Donani winkte ihr zu und lachte. Auch der dicke Kopf Bombalos tauchte in dem Journalistenkreis auf. Jetzt komm' ich dran, dachte sie. Jetzt werde ich das gleiche erzählen wie seit acht Jahren. Die Memoiren einer glücklichen Frau …

Sie setzte ihr Lächeln auf, richtete sich stolz empor und ging in königlicher Haltung auf die Journalisten zu. Die Blitze der Kameras zuckten auf … das Aushängeschild eines berühmten Mannes wird fotografiert, dachte sie.

*

»Du mußt es möglich machen«, sagte Leclerc und streichelte ihren weißen Körper. Unter seinen Händen dehnte und reckte sie sich wie eine schnurrende Katze. Sie hatte die Augen geschlossen, lächelte entrückt und gab sich seinen Liebkosungen hin.

»Es geht nicht …«, antwortete sie leise.

»Du mußt es ihm einreden, Chérie …« Leclerc unterbrach seine Zärtlichkeit. Seine berufliche Zukunft war jetzt wichtiger. Carola öffnete die Augen, sie dehnte sich und legte ihren Kopf auf seine Brust.

»Er hat so etwas noch nie getan –«

»Weil du ihn noch nie darum gebeten hast.« Leclerc schob Carolas Kopf etwas abrupt von seiner Brust. Er fiel auf das zerwühlte Kissen, die blonden Haare wehten wie ein Schleier über ihre Augen. Sie strich sie weg und sah Leclerc aus großen, flimmernden Augen an.

»Komm –« Ihre Stimme war dunkel vor Sehnsucht.

Leclerc stützte sich auf und legte den Kopf in beide Hände. Er betrachtete Carola mit der Gleichgültigkeit eines Mannes, der das Erreichbare bekommen hatte. Ihre Stimme, ihre Augen, ihr innerlich bebender Körper erreichten ihn nicht mehr als bis zur bloßen Wahrnehmung. Er hatte jetzt ein anderes Ziel, und was bisher gewesen war, betrachtete er nur als einen Schlüssel, der die Türen zu der erträumten anderen Welt für ihn aufschloß.

»Du allein hast die Möglichkeit, ihn dazu zu bringen. Er liebt dich und wird daher –«

»Schweig davon –«, sagte sie lauter. Aber sie war so voll Sehnsucht, daß es nicht heftig klingen konnte.

»Nein!« Leclercs Gesicht verzog sich wie das eines trotzigen Jungen. »Du überblickst nicht die Lage, Chérie. Wenn Donani mich bei sich vorspielen läßt und ich bestehe diese Prüfung – und ich werde sie sicher bestehen –, wenn er dann mit mir ein Solistenkonzert macht, bin ich ein bekannter Mann. Dann brauchen wir ihn nicht mehr, dann habe ich meinen eigenen Manager, dann verdiene ich genug Geld, um uns zu ernähren. Dann können wir in die Welt ziehen und unser Glück suchen. Dann gibt es nur noch uns zwei … Begreifst du das denn nicht? Es geht allein um uns. Du bittest ihn um uns.«

»Ich verstehe alles …« Sie griff nach seinen Haaren und zog seinen Kopf wieder auf ihre Brust. »Küß mich … schnell –«

»Du wirst ihn fragen?«

»Ja … ja …«

»Morgen schon?«

»Morgen …«

Leclerc lächelte. Er küßte Carolas offene Lippen und schielte dabei auf die Uhr.

Noch eine Stunde –

*

Bernd Donani saß selbst am Flügel und sah Jean Leclerc etwas gelangweilt entgegen. Der riesige Konzertsaal wirkte in seiner Leere und Kahlheit bedrückend und feindlich. Leclerc hatte es noch nie so empfunden … bei den Proben waren immerhin fünfzig andere Musiker auf dem Podium, man war ein Teil der Masse. Jetzt aber stand er allein mit dem großen Donani in dem halbdunklen Saal, klemmte seine Geige unter den Arm, fingerte nervös an dem Bogen herum und spürte, wie das Lampenfieber ihn innerlich auffraß. Aller Mut, alle Großsprecherei waren gestorben … er fühlte sich elend, sein Magen rumorte, seine Hände zitterten, und in den Schläfen klopfte es wie mit tausend Hämmern.

»Guten Morgen!« sagte Bernd Donani beiläufig. Er trug ein offenes Hemd mit einem Seidenschal um den Hals, eine alte Hose und Segeltuchschuhe. Es war eine Angewohnheit Donanis, bei den Proben mehr als salopp zu erscheinen, um so mehr glänzte er dann im Frack. »Meine Frau sagte mir, daß Sie aus der Reihe der Geiger hinaus wollen und sich als Solist reif genug fühlen.«

»Wer möchte nicht weiterkommen, Herr Generalmusikdirektor …« Leclerc schluckte. Habe ich überhaupt was gesagt, dachte er. Ich habe ja meine eigene Stimme gar nicht gehört.

»Aufstieg ist eine Frage des Könnens. Sie wissen, daß ich sonst nie solche Talentproben mache … wirkliches Können setzt sich schlagartig von selbst durch. Aber meine Frau hat mich gebeten …« Donani blickte Leclerc kühl an. »Woher kennen Sie meine Frau?«

»Es war ganz merkwürdig … In Paris, glaube ich, war es. Da probte ich in meinem Zimmer … und plötzlich geht die Tür auf und Ihre Gattin steht im Zimmer. ›Ich wollte nur sehen, wer da so herrlich spielt‹, sagte sie …« Leclerc sah Donani unschuldig an. »Verzeihung, aber das hat Ihre Gattin wörtlich so gesagt. Und so kam es … das hat mir Mut gemacht, sie zu bitten, bei Ihnen zu fragen, ob ich –«

»Schon gut.« Donani drehte sich zu der Tastatur des Flügels um. Das sieht Carola ähnlich, dachte er dabei. Hört jemanden fiedeln und glaubt, es sei ein Talent. »Was wollen Sie mir vorspielen?«

»Das Adagio aus dem Violinkonzert von Max Bruch –«

Donani schüttelte den Kopf. »Nein!« Er sah, wie Leclerc erschrak. »Als Solist gibt es andere Klippen als dieses Adagio. Was haben Sie noch?«

»Das … das Violinkonzert Nr. 1 von Beethoven …«, stotterte Leclerc verwirrt.

»Mit der Kadenz von Kreisler?«

»Natürlich –«

Donani lächelte bitter. »Sie trauen sich viel zu, junger Mann.«

»Ich will vorwärtskommen, Herr Generalmusikdirektor.« Leclerc legte seine Geige ans Kinn. Seine Hände waren vor Aufregung schwitzig, er wischte sie an den Hosenbeinen schnell ab. Donani zeigte auf Leclercs Hosen.

»Das dürfen Sie zum Beispiel bei einem Konzert nicht. Auch wenn Sie Lampenfieber haben und Ihnen das Gesäß brennt – das Publikum darf es nie merken.« Er suchte aus einem Stapel Noten das Violinkonzert Beethovens heraus. Donani hatte alle etwa in Frage kommenden Konzerte mitgenommen. Er wußte, was zum Repertoire eines Geigers gehörte. »Und die Haltung, mein Junge! Die Haltung! Ein Solist ist ein König! Also sei die Haltung königlich!« Er legte die Hände auf die Tasten und überflog den Beginn des Violinkonzertes. »Ich kürze die lange Orchestereinleitung ab. Ich beginne fünf Takte vor Ihrem Einsatz –«

»Wie Sie wünschen, Herr Generalmusikdirektor …«

Jean Leclerc bemühte sich, ruhig, ganz ruhig zu sein. Er starrte auf die leeren Stuhlreihen, gegen den riesigen Kronleuchter, auf die geschlossenen Saaltüren. Da sah er, hinter einer Säule, das schwache Aufleuchten eines Kleides. Carola war im Saal, sie versteckte sich hinter der Säule, sie wollte erleben, wie ein Künstler geboren wurde. Leclerc spürte, wie sich seine Kehle zusammenkrampfte. Ruckartig wandte er sich zu Donani zurück.

»Was ist?« fragte Donani. »Können wir …?«

Leclerc nickte stumm. Es war ihm unmöglich, noch einen Ton zu sagen.

Die ersten Takte … das kurze, den Violineinsatz vorbereitende Thema … Leclerc hob den Bogen. Was er zwei Jahre lang verbissen geübt hatte, wurde jetzt Wirklichkeit, wurde härteste Prüfung.

Der Einsatz … jetzt –

Und Jean Leclerc spielte. Donani begleitete ihn stumm, ohne Zwischenruf, ohne Unterbrechung. Nach der berühmten Kadenz und der Wiederaufnahme des Themas, nach dem Schlußtakt, ließ Donani seine Hände auf den Tasten liegen und sah Leclerc fast eine Minute stumm an. Eine Minute, die eine Hinrichtung war.

»Sie wissen, was los ist?« fragte Donani endlich.

Leclerc nickte stumm. Er schwitzte, sein Gesicht war fahl, wie ausgelaugt. Er preßte die Geige an seine Brust und hätte sie am liebsten an der Wand zertrümmert.

»Sie haben viermal daneben gegriffen«, fuhr Donani ungerührt fort. »Zwar geht das in der Orchesterbegleitung unter, die Mehrzahl merkt es gar nicht … aber ich merke es. Und das ist schlimm. Von einem Solisten verlange ich hundertprozentige Reinheit im Spiel. Auch ein Menuhin kann einmal ausrutschen … aber er ist eben schon ›der Menuhin‹. Von einem Jean Leclerc, der erst einmal etwas werden möchte, verlangt man höchstmögliche Konzentration. Und das ist bei viermal Danebengreifen nicht da. Wir verstehen uns?«

»Ja.« Leclerc nickte. »Sie haben recht, Herr Generalmusikdirektor. Ich … ich gehe wieder zurück in meine dritte Reihe im Orchester. Vielleicht in einem Jahr –«

Donani erhob sich und klappte den Deckel über die Tasten. Es gab einen harten Knall.

»Vielleicht. Ich höre Sie mir gerne wieder an, wenn Sie noch einmal den Mut dazu haben.«

Er drehte sich um und ließ Leclerc auf dem Podium stehen. Da erst, als auch die Tür zuklappte, fand Leclerc die Kraft wieder, seine Glieder zu gebrauchen. Er warf die Geige auf den Boden und ballte beide Fäuste. Im Saal, ganz hinten, in einem weißen Kleid, mädchenhaft schmal und jung aussehend mit ihren offenen blonden Haaren, stand Carola.

»So ein Schuft!« schrie Leclerc. »So ein arroganter Flegel! Fertig hat er mich gemacht, einfach fertig! So behandelt man einen heulenden Hund! Hast du das gesehen?«

»Komm … laß uns gehen …«, sagte Carola leise. Die Leere des Saales trug ihre Stimme wie einen Hauch zu ihm.

»Jetzt bereue ich nichts mehr! Nichts!« Leclerc hob seine Geige auf. »Laß uns fortgehen, Chérie … irgendwohin … ich könnte ihn sonst erschlagen …«

»Komm –«

Carola kam zum Podium und nahm Leclercs Hand wie die eines weinenden Jungen.

»Wir werden einen Weg finden, ganz uns zu gehören«, sagte sie mit einer unheimlichen Sicherheit.

*

Eine Woche später waren sie wieder in Deutschland.

Donani gab Konzerte in Hamburg, Köln und München. Der Abschluß war Berlin. Tschaikowskij in der neuen Berliner Philharmonie. Carola aber erhielt dadurch die Möglichkeit, ihre Mutter zu besuchen. Sie hatte sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen – jetzt schien sie ihr die letzte Möglichkeit zu sein, Klarheit über sich selbst zu bekommen. Eine letzte Zuflucht vor der Flucht in das Ungewisse, in eine ersehnte und doch mit Angst betrachtete Freiheit.

Bertha Portz, Witwe eines Eisenbahnrates, wohnte in einem kleinen Einfamilienhaus im Grunewald. Von ihrem berühmten Schwiegersohn las sie ab und zu in den Zeitungen, noch seltener erhielt sie Post aus allen Winkeln der Erde, einmal im Jahr besuchte sie die Kinder in Starnberg, auf dem Weg zu ihrer Sommerfrische im Allgäu. Sie lebte das geruhsame Leben einer durch eine gute Pension gesicherten Witwe und betrachtete deshalb das Leben aus der Weisheit des Geborgenen heraus. Um so mehr war sie erschüttert, als ihre einzige Tochter Carola plötzlich vor ihr stand, weinend und völlig aufgelöst und ihr gestand: »Ich kann mit Bernd nicht mehr leben! Ich habe einen Geliebten! Was soll ich tun, Mama?«

Bertha Portz kochte zunächst eine Kanne starken Kaffee und verstärkte ihn in Carolas Tasse durch einen Schuß Kognak. Dann betrachtete sie ihre Tochter und wußte, daß sich Carola in einem Zustand befand, in dem man nie wieder reparierbare Dummheiten macht.

»Er ist jung?« fragte sie plötzlich. Carola sah erschrocken auf und nickte dann.

»Ja.«

»Bernd ist dir zu alt?«

»Ja, Mama.«

»Ich habe dir damals schon gesagt: Man kann einen Unterschied von einundzwanzig Jahren nicht wegwischen. Einmal mußte es so kommen. Bernd sehnt sich nach Pantoffeln und du nach Foxtrott.«

»So ähnlich, Mama. Was soll ich tun? Ich bin völlig verzweifelt.«

»Du hast deine beiden Kinder. Da gehörst du hin! Gib deinem Kavalier einen Tritt und weg damit. Bernd braucht dich, die Kinder brauchen dich … das ist deine Pflicht.«

»Alle, alle brauchen mich!« Carola sprang auf. »Alle reden von meiner Pflicht, allen muß ich etwas geben … und wer gibt mir etwas? Wo ist der, den ich brauche? Immer wird nur verlangt, aber nie etwas gegeben –«

»Das ist das Los der Frauen.« Bertha Portz goß die Tasse erneut voll Kaffee. »Setz dich, Carola. Sei vernünftig. Solange dein Vater lebte, war es bei mir genauso. Ich saß zu Hause, und dein Vater hatte Sitzungen, Stammtisch, Kegelabende, Verbindungsfeste, Alte-Herren-Treffen … Du ahnst gar nicht, wie ein Mann beschäftigt ist. Was habe ich getan? Ich habe mich damit abgefunden, habe meinen Kaffeekranz gehabt, meinen Damenkegelclub, eine Tarockrunde … und wir waren ein glückliches Ehepaar.«

»Aber du warst kein Zigeuner, der jeden Tag unterwegs ist, dessen Heimat die Hotelbetten sind, der keine freie Zeit hat und der lächeln muß, obgleich er heulen könnte.«

»Das ist das traurige Los der Berühmten, mein Kind.«

»Ich will nicht berühmt sein … ich will eine Frau sein, weiter nichts.«

»Du solltest so offen einmal mit Bernd sprechen.«

»Das habe ich.« Carola preßte die Lippen zusammen. »Seine Antwort ist: Wo hast du die Milch hingestellt, Engelchen …«

»Ein lieber, guter, gemütlicher Papa also.« Bertha Portz rührte in ihrer Kaffeetasse. Sie verstand ihre Tochter als Frau … als Mutter war sie glücklich, daß Carola einen so braven Mann hatte. »Sei froh, daß er nicht hundert Geliebte hat.«

»Das wäre mir lieber als dieses Leben! Dann sähe ich, daß er Blut in den Adern hat und keine Noten!« Sie stampfte mit dem Fuß auf und weinte wieder. »Ich halte dieses Leben nicht mehr aus, Mama. Ich bin noch jung, ich bin mit siebenundzwanzig Jahren keine Greisin –«

»Aber du hast zwei Kinder, Carola.«

Carola nickte. »Das ist das einzige, was mich zurückhält, Bernd nicht schon längst verlassen zu haben.« Sie sah ihre Mutter an. Erschrocken stellte Bertha Portz fest, daß der Blick Carolas wie der einer Irren war. »Aber was habe ich von den Kindern? Was haben sie von mir? Sie kennen ihre Pflegerin Erna Graudenz besser als mich oder gar ihren Vater.«

»Bleib doch zu Hause. Laß ihn allein reisen.«

»Das will er nicht.« Carola ballte wieder die Fäuste. »Und Bombalo würde schreien. Sie brauchen mich ja … als Reklame, als Interviewgeber, als Brillantenträger, als Krawattenbinder, als Reisemarschall. Zu allem bin ich ihm gut genug … nur als Frau sieht er mich nicht an! Oh, er ist der gemeinste Egoist, den es gibt! Ich kann einfach nicht mehr –«

Zwei Stunden später fuhr Carola Donani in die Stadt zurück. Auch ihre Mutter hatte ihr keinen Rat geben können als den, den sie ihr alle geben würden: Aushalten! Denk an die Kinder. Und schließlich: Auch du wirst einmal alt. Eine Tatsache, die Carola fast zur Panik trieb. Nichts vergeht so schnell wie Jugend.

Sie fuhr nach Berlin hinein, zur neuen Philharmonie, mit dem festen Willen, morgen oder übermorgen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, Donani um die Scheidung zu bitten.

*

Nach dem Konzert erhielt Bernd Donani eine Einladung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zu einem Essen. Carola ließ sich entschuldigen, sie hatte Kopfschmerzen und legte sich gleich zu Bett. Aber eine halbe Stunde nach der Abfahrt Donanis stand sie wieder auf, zog ein Sportkostüm an, ließ sich ihren offenen Sportwagen aus der Garage holen und fuhr zu dem vereinbarten Treffpunkt mit Leclerc. Wenn Donani in Deutschland dirigierte, erwartete ihn Carolas Wagen am ersten Gastspielort. Von dort aus unternahmen sie alle anderen Reisen im Auto, Carola lenkte, und Donani war glücklich, durch die Gegend zu fahren, und hielt dabei kulturhistorische Vorträge.

Bis nach Mitternacht blieben Leclerc und Carola in einem Gasthaus am Wannsee. Sie besprachen die Scheidung und ihre Zukunft. Leclerc wollte ein neues Engagement versuchen, im Orchester der Pariser Oper oder in Marseille, oder sogar drüben in den USA, wo es wunderbare Orchester gab unter berühmten Dirigenten.

»Wir schlagen uns schon durch, Chérie«, sagte er und küßte ihre Hände. »Und für die Übergangszeit, leider, mußt du sorgen –«

Die Nacht war diesig und feucht, als sie nach Berlin hineinfuhren. Carola fuhr vorsichtiger als sonst – auf der seifigen Straße schleuderte der Wagen in den Kurven. Leclerc hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und genoß ihr flatterndes Haar und die Freude, der Geliebte einer solchen Frau zu sein.

Plötzlich faßte er Carola ins Steuerrad und richtete sich auf. Carola bremste geistesgegenwärtig und lenkte den rutschenden Wagen an die Straßenseite. »Bist du verrückt?« sagte sie. »Sollen wir den Hals brechen? Was ist denn?«

»Hast du nichts gesehen?« Leclercs Stimme war belegt.

»Nein. Was denn?«

»Dort drüben im Straßengraben liegt jemand.«

Carola sah zurück. Sie sah nichts. Nur Büsche, Dunkelheit, Nässe. »Wo denn?«

»Wir steigen aus und sehen nach. Es sah aus wie ein Mensch.«

»Dummheit.«

Aber sie stiegen doch aus und gingen ein paar Meter die Straße zurück.

Dann sahen sie es … im Straßengraben, vor einem Busch … ein dunkler, länglicher Gegenstand, graugrün gefleckt.

»Eine Zeltplane«, sagte Carola aufatmend.

Sie beugte sich herunter und zuckte dann zurück. Aus der Zeltplane sahen blonde Haare heraus, der obere Teil eines Frauenkopfes, starre, gebrochene, blaue Augen.

»Eine … eine Frauenleiche …«, sagte Leclerc dumpf.

*

Sie standen eine Minute stumm vor Entsetzen neben ihrem Fund und sahen sich an. Die Nässe tropfte auf die graugrüne, gefleckte Zeltplane, die blonden Haare der Toten lagen im Schmutz des Grabens, dort, wo die Zeltplane übereinandergeschlagen war, sah eine Hand hervor, schmal, blaß, mit einem dünnen Goldring und einem Stein aus Aquamarin.

»Wir … wir müssen etwas tun …«, sagte Leclerc heiser. Das Grauen schwang in seiner Stimme mit. Er legte den Arm wie schützend um Carolas Schulter und spürte, wie heftig sie zitterte.

»Die Polizei –«, versuchte er, gefaßter zu reden.

»Nein –«, sie schüttelte den Kopf und starrte auf die blonden Haare.

»Aber … Wir müssen doch …«

»Wenn wir die Polizei rufen, werden wir als Zeugen aussagen müssen. Dann wird man erfahren, daß wir heute nacht zusammen waren …«

Leclerc schwieg. Sie hat recht, dachte er. Und gleichzeitig schielte er zu Carola und wunderte sich. Woran sie in solchen Situationen denken kann. Sie zittert, aber im Inneren ist sie voll kalten Verstandes. So wenigstens sah er es, und er bemühte sich, Carola von der Leiche fortzuziehen.

»Komm«, sagte er leise. »Laß uns wegfahren. Wir haben einfach nichts gesehen … Jemand anderes wird sie finden … Laß uns fahren, bevor ein anderer Wagen kommt –«

»Sie hat blonde Haare –«, sagte Carola und umklammerte Leclercs Hand.

»Ja.«

»Wie ich –«

»Chérie …«

Sie trat wieder einen Schritt vor und beugte sich über das nasse Bündel. Plötzlich griff sie zu, faßte die Zeltplane und riß sie zurück. Der Kopf der Toten lag bloß … ein schmaler, schöner, in der Nässe rührend kindlicher Kopf.

»Was tust du da …«, keuchte Leclerc. Er wollte Carola wegzerren, aber sie wehrte ihn ab und stieg vollends hinunter in den Straßengraben. Als sie hochblickte, sah sie in das leicht verzerrte Gesicht des Geigers.

»Sie sieht mir ähnlich …«, sagte sie schwer atmend.

»Komm, laß uns fahren …« Leclerc streckte beide Hände aus, um sie aus dem Straßengraben hochzuziehen. Carola schüttelte den Kopf. Ihre großen blauen Augen hatten einen unnatürlichen, fast hektischen Glanz; ein Gedanke durchglühte sie und nahm so völlig Besitz von ihr, daß alles davor um sie herum verblaßte, das Grauen verlor und das Gefühl für die Wirklichkeit auslöschte.

»Faß an«, sagte sie hart. Leclerc schrak zusammen.

»Anfassen?!«

»Wir tragen sie zum Wagen.«

»Bist du verrückt?!« Leclerc steckte als deutliche Abwehr seine Hände in die Hosentaschen. »Eben hast du noch gesagt … wenn die Polizei kommt … und übrigens soll man einen Toten nie berühren, bis die Polizei …« Er schluckte krampfhaft und wischte sich über die Stirn. Kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht. »Komm, Chérie … laß uns schnell weiterfahren.«

Carola schob die Zeltplane wieder über das Gesicht der Toten und umkrallte einen Zipfel des Tuches.

»Faß an …«

»Was du machst, ist doch falsch! Die Polizei braucht die Spuren, die Lage der Toten –«

»Die Polizei braucht nur eine Tote!« Unheimlich klar klang das. Leclerc duckte sich wie unter einem Schlag.

»Was … was soll das?« stotterte er.

»Ich erkläre es dir, wenn wir sie im Wagen haben. Los, faß schon an …«

Die Tote war schwer, wie Leichen immer schwerer erscheinen, als sie sind. Leclerc und Carola schleppten das Bündel die kurze Strecke zurück zum Wagen und schoben die Tote auf den schmalen Hintersitz des Sportwagens.

»Und nun?« fragte Leclerc, als sie wieder im Wagen saßen. Das Gefühl, hinter sich eine Leiche zu haben, erzeugte in ihm eine würgende Übelkeit.

Carola schwieg und fuhr an. In einen kleinen Seitenweg bog sie ein, eine Schneise, die sich im Wald verlor und für die Holzfuhrwerke angelegt war. Fast am Ende der Schneise hielt sie erst und stellte den Motor ab. Auch die Scheinwerfer schaltete sie aus bis auf das blasse Standlicht. Leclerc kroch in sich zusammen.

»Ich weiß nicht, was das alles soll …«, sagte er tonlos. Carola drehte sich zu ihm, ihr Gesicht war von einer Entschlossenheit, die ihr selbst fremd war.

»Liebst du mich?« fragte sie. Leclerc zuckte zusammen. Eine solche Frage in Gegenwart einer Toten.

»Ja, Chérie … das weißt du doch …«

»Wir wollen zusammenbleiben, für immer …«

»Wenn du geschieden bist … das weißt du doch …«

»Ich brauche nicht mehr geschieden zu werden … Ich bin tot.«

»Chérie!« Leclerc zuckte hoch und sprang mit einem Satz aus dem Wagen. »Das kannst du nicht tun …«, schrie er fast.

»Das Schicksal ist uns entgegengekommen, begreifst du das denn nicht?« Carola stieg aus dem Wagen und ließ die Tür offen. Der Kopf der Toten war vom Rücksitz gesunken, die langen blonden Haare schleiften auf dem Wagenboden. »Sieh dir die Unbekannte an … jeder wird sie als Frau Carola Donani identifizieren, wenn sie in meinem Wagen, mit meinen Papieren, mit meinem Schmuck an den Fingern gefunden wird … verbrannt im Auto … ein Unglücksfall wie hundert andere. Für uns aber ist die Zukunft offen –«

»Das … das geht nicht, Chérie –« Leclerc wischte sich wieder über die Stirn. »Es wird entdeckt werden.«

»Nie!«

»Und wovon wollen wir leben?«

Das war die wichtigste Frage Leclercs. Eine Zukunft an der Seite Carola Donanis war etwas Herrliches, solange sie die Frau des großen Donani war. Eine ungewisse Zukunft neben einer zwar schönen und leidenschaftlichen, aber mittellosen Frau war nicht das Ideal des Lebens, wie es sich Leclerc vorstellte.

»Ich werde mein Bankkonto morgen abheben.«

»Als Tote?«

»Man wird auf diese Kleinigkeit nicht achten. Vor morgen früh wird man die brennende Leiche nicht identifiziert haben. Morgen früh aber sind wir auf dem Flug nach München.«

Leclerc schwieg. Er starrte das unbekannte, tote Mädchen an. Daß sie getötet worden war, war ohne Zweifel. Der Mörder hatte sie in eine Zeltplane gerollt und in den Straßengraben geworfen. Wer die Tote war, wo sie ermordet wurde, wer ihr Mörder war, das würde alles unbekannt bleiben. Als die tödlich verunglückte Carola Donani würde sie begraben werden … und übrig blieb eine junge Frau ohne Namen, die mit ihm, dem Geiger Jean Leclerc, ein neues Leben begann, nachdem sie ihr altes Leben in Flammen hatte aufgehen lassen.

»Der Plan ist Wahnsinn …«, sagte er heiser.

»Aber er rettet uns und unsere Liebe. Oder hast du Angst?«

»Ein wenig …«

»Liebst du mich nicht so, wie ich dich liebe?«

»Chérie, wie kannst du so etwas sagen …« Er lächelte verzerrt. Sein Jungengesicht war hilflos, seine Männlichkeit schien in der nächtlichen Nässe aufgeweicht. Mit fahrigen Händen strich er seine Locken zurecht und hob die Schultern, als friere er. Carola ging zum Wagen zurück.

»Wir müssen sie auswickeln und zu Carola Donani machen«, sagte sie.

Leclerc schluckte. Übelkeit drang wieder in ihm hoch, als er die Leiche aus der Zeltplane rollte, den schmalen Körper festhalten mußte und der eiskalte Kopf an seiner Schulter lag. Er wandte das Gesicht weg, um nicht in die starren, blauen Augen sehen zu müssen … es genügte ihm, daß er die eisige Kälte des Leibes spürte und die Glätte der bloßen Arme, die gegen seinen Handrücken schabte.

Carola schien von alledem nicht berührt zu werden. Sie setzte die Leiche auf den Fahrersitz, zog ihr den Aquamarinring vom Finger und steckte ihr den wertvollen Brillantschmuck an. Nur als sie das goldene Collier um den Hals der Toten legte, lief ein Schauer durch ihren Körper. Mit spitzen Fingern schob sie das Schloß der Goldkette ineinander und rückte den Anhänger zurecht.

Sonst ließ sie alles, wie es war … die Papiere im Handschuhkasten, ihren Mantel auf dem Rücksitz, in den Seitentaschen der Türen die kleinen Dinge, die Frauen im Wagen mit sich führen, im Kofferraum den Schminkkoffer und die Toilettentasche. Nur ihren Paß nahm sie mit. Das war unverfänglich, denn neben dem Paß für die Auslandsreisen besaß sie noch ihre amtliche Kennkarte. Diese blieb in der Handtasche zurück.

»Und nun?« fragte Leclerc zwischen den Zähnen.

»Nun fahren wir gegen einen dicken Baum.«

Stumm stiegen sie ein, Leclerc hinten auf dem Notsitz, Carola neben der Toten, nach vorn gebeugt und langsam den Wagen aus der Schneise lenkend. Auf der Straße stieg Leclerc aus.