»Überleg es dir, Chérie …«, sagte er in letzter schwacher Gegenwehr. »Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit, glücklich zu werden –«
»Soll ich Donani töten?« Carola umklammerte das Lenkrad. »Hier schenkt uns das Schicksal eine Tote, die ich sein kann … weißt du eine andere, glattere Lösung unserer Probleme?«
Ihre Entschlossenheit, ihre Kälte, ihr Wille war in diesen Minuten so stark, daß Leclerc resignierte. Er schüttelte den Kopf und trat von der Straße zurück an den Waldrand. Er hatte Angst … nicht Angst vor dem, was Carola jetzt tun würde, sondern Angst vor der Zukunft, die ihm jetzt aufgezwungen wurde. Er hatte sich alles ganz anders gedacht, ganz anders … Er wollte im Glanz des großen Donani aufsteigen … jetzt mußte er sich durch die Nacht der Anonymität durchkämpfen zum Licht. Ein Umweg, den er sich durch Carola ersparen wollte.
»Sei vorsichtig –«, sagte er noch. Dann heulte der Motor auf, der Sportwagen schoß vorwärts … erst gerade über die Straße, dann – als Carola mit einem Satz absprang – führerlos in Schlangenlinien, bis er gegen einen Baum prallte. Es gab ein schepperndes, klirrendes Krachen, ein Rauschen des sterbenden Motors, ein flirrendes Nachzittern des zerbeulten und aufgerissenen Blechs.
Jean Leclerc begann zu laufen. Er sah Carola am Straßenrand hocken, gebückt, ihre Beine umklammernd.
»Chérie!« schrie er. »Chérie … ist dir was passiert?«
Er fiel neben ihr auf die Knie, schob die Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie kämpfte tapfer dagegen, laut zu weinen.
»Der linke Fuß ist verstaucht …«, sagte sie. Und plötzlich klang ihre Stimme wie die eines hilflosen, kleinen Mädchens. Alle Kraft, alle Entschlossenheit waren von ihr genommen. Sie umklammerte die Hände Leclercs und sah mit flatternden Augen zu dem sich an dem Baum hochschiebenden Autowrack.
»Du … du mußt es anstecken …«, sagte sie stockend. »Hinten im Kofferraum ist der Benzinkanister … Ein paar Tropfen genügen … dann schließ ihn wieder ein … Aber es muß brennen … es muß richtig brennen …«
Leclerc zögerte. Sein Jungengesicht zuckte. Dann rannte er los, suchte in dem Gewirr von Blech und Eisen den Kanister, schüttete das Benzin über die Sitze und – nach einer Sekunde des Schauderns – auch über den toten, über das zerfetzte Armaturenbrett geschleuderten Mädchenkörper, suchte in seinen Taschen nach Zündhölzern, fand keine und entzündete vorsichtig mit der flackernden, kleinen Flamme seines Feuerzeuges einen Tropfen Benzin auf dem Hintersitz. Eine bläuliche Flamme zuckte auf, verbreiterte sich, lief über die Sitze, das Blech, die Trümmer und Scherben, ergriff die Leiche und hüllte in Sekundenschnelle den Wagen in eine Feuerwand.
Leclerc rannte zurück, getrieben von der Hitzewelle und flüchtend vor dem Anblick des brennenden Körpers. Auf der Straße kam ihm Carola entgegen, humpelnd, mit verzerrtem Gesicht. Sie streckte beide Arme aus, als Leclerc vor ihr stand, und warf sich an seine Brust.
»Ich verbrenne –«, stammelte sie. »Ich verbrenne –«
Sie drückte das Gesicht gegen seine Jacke und krallte die Finger in seinen Rücken. Es war, als ertränke sie oder sie brenne wirklich und winde sich in unerträglichen Schmerzen.
»Du darfst mich nie verlassen!« schrie sie durch das Prasseln der Flammen. »Hörst du … jetzt darfst du mich nie, nie verlassen … Ich habe ja alles nur deinetwegen getan … weil ich dich liebe … liebe … liebe …«
Jean Leclerc schwieg. Ihm war es unheimlich. Er stützte Carola und führte sie von der Straße weg in den Wald. Sie hatten auf der Karte nachgesehen … zwei Kilometer westlich erreichten sie den Stadtrand von Berlin … Häuser, Menschen, eine Straßenbahn, den Weg in die Freiheit ihrer Liebe …
»Komm –«, sagte er leise und trug sie fast durch den Wald. Hinter ihnen prasselten die Flammen und knallten kleine Explosionen auf. »Sieh nicht zurück …«
»Ja –« Sie nickte und blickte ihn groß und voller innerer Erlösung an. »Wir wollen nie mehr zurücksehen –«
*
Ein Kellner bat Bernd Donani hinaus in die Halle. Ein Herr wünschte ihn dringend zu sprechen.
Man saß in einem kleinen Saal des Hotels und ließ den Abend ausklingen. Nach dem Essen beim Regierenden Bürgermeister hatte der Kultursenator einen kleinen Kreis zu einer nächtlichen Runde geladen. Es wurde gefachsimpelt, kritisiert, politisiert, geraucht und getrunken – es war eben ein richtiger gemütlicher Männerabend. Um so erstaunter war Pietro Bombalo, als der Kellner in die Runde platzte und Donani hinausbat.
»Was heißt ein Herr?« fragte Bombalo in seiner polternden Art. »Alle, die Maestro Donani zu sehen wünschten, sind hier. Da kann ja jeder kommen.«
»Es ist dringend«, sagte der Kellner verlegen und sah an Bombalo vorbei zu Donani mit einem bittenden Blick.
»Dringend ist, daß man uns nicht stört«, sagte Bombalo, ehe Donani zu Wort kam.
»Es ist die Polizei –« Der Kellner hob bedauernd die Schulter. Bombalo sprang auf, auch der Kultursenator erhob sich erstaunt.
»Polizei?«
»Ja.«
»Ich gehe schon.« Bombalo winkte Donani zu, der sich aus dem tiefen Sessel drückte. »Das muß ein Irrtum sein …«
Nach nicht einer Minute kam Pietro Bombalo zurück. Sein rundes, dickes Gesicht war erschlafft. Er hatte sein Taschentuch in der rechten Hand, es war zerknüllt und wie zerrissen. Er blieb an der Tür stehen und schnaufte, sah Donani mit dem Blick eines geprügelten Hundes an und nagte an der Unterlippe. Ihm fielen keine Worte ein, seine Stimmbänder waren wie gelähmt.
»Was ist denn, Pietro?« fragte Donani. Eine unerklärliche Unruhe stieg in ihm hoch. Plötzlich mußte er an Carola denken, an ihre Übelkeit, die sie gezwungen hatte, nicht am Bankett teilzunehmen.
»Maestro –«, sagte Bombalo schwach.
»Ist etwas … etwas mit Carola?«
Die Herren um Donani standen hilflos herum und warteten. Der Kultursenator drückte seine Zigarette aus.
»Komm mit –«, sagte Bombalo schwach.
In der Halle warteten zwei Herren in feuchten, am Saum schmutzigen Wettermänteln. Das erste, was Donani wahrnahm, als er die Hotelhalle betrat, war der penetrante Geruch nach Brand und Benzin. Das beruhigte ihn einen Augenblick lang. Carola lag oben in der zweiten Etage in ihrem Bett und schlief. Mit Brand hatte sie nichts zu tun.
»Ja, bitte?« Er sah die Herren erwartungsvoll an.
»Donani … Sie wollten mich sprechen?«
Der ältere der beiden Herren trat einen Schritt vor.
»Weghart«, stellte er sich vor. »Kriminalkommissar.«
»Ach.« Donani sah hilflos zu Bombalo. Aber von dort kam keine Hilfe. Bombalo lehnte an der Wand, als trügen ihn seine Beine nicht mehr und er suche Halt. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, meine Herren. Worum handelt es sich?«
Kommissar Fritz Weghart sah den großen Donani zum erstenmal aus der Nähe. Das Gehalt eines Beamten erlaubte es ihm nicht, die Festkonzerte des großen Dirigenten zu besuchen. Er kannte Donani von seinen Schallplatten her, und hiervon besaß Weghart neun Stück. Er nannte sie die Kostbarkeiten seiner Diskothek. Nun stand er vor ihm, und es kostete ihn große Überwindung, das zu sagen, was er sagen mußte.
»Es handelt sich um Ihre Gattin, Herr Generalmusikdirektor …«
»Um meine …« An Donanis Herz griff eine kalte Hand. Wieder sah er zu Bombalo. »Sie liegt oben auf Zimmer 211 und schläft –«
»Wissen Sie das genau?«
»Was soll diese Frage? Natürlich!«
Fritz Weghart sah in das zuckende Gesicht des berühmten Mannes. Er erkannte, daß Donanis Sicherheit nur gespielt war, daß er durchaus nicht sicher war, auf Zimmer 211 seine schlafende Frau zu wissen.
»Hatte Ihre Gattin einen weißen Sportwagen?« fragte er. Donani nickte.
»Ja –«
»Mit einer Starnberger Nummer?«
»Ja –«
»Darf ich Sie bitten, Herr Generalmusikdirektor, mit uns zu kommen …«
»Aber warum?« Donani blieb stehen, hoch aufgerichtet, die Hände, zu Fäusten geballt, auf dem Rücken. »Ich bitte um Erklärungen, meine Herren! Was ist mit meiner Frau los?« Seine Stimme hob sich und wurde laut. »Wenn meine Frau einen Unfall verursacht hat, so ist das doch –« Er schwieg abrupt und sah Kommissar Weghart mit einer plötzlichen Hilflosigkeit an. Es war, als verlösche in ihm die Energie, so wie man eine Kerze ausbläst. »Oder –« Seine Stimme starb ab.
Kommissar Weghart senkte den Blick. »Es … es handelt sich um eine Identifizierung …«, sagte er mit schwerer Zunge.
Bernd Donani behielt die Haltung. Nur sein Gesicht verlor alle Farbe und wurde weiß wie seine Haare. Eine ganze Weile lag Schweigen zwischen den Männern. Weghart wollte den ersten Schmerz nicht stören, Donani war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. An der Wand lehnte Bombalo, drückte das Taschentuch gegen sein Gesicht und weinte lautlos. Er hatte Carola Donani nie richtig gemocht, er hatte sie instinktiv immer als seine stille Feindin angesehen, er hatte gespürt, daß sie der Keil war, der zwischen ihm und Donani saß … aber jetzt, in diesen schrecklichen Minuten, weinte er, weniger um sie als bei dem Gedanken, daß dieses Unglück den Siegeszug Donanis um die Welt abbrechen lassen könnte.
»Sie … sie ist tot …«, sagte Donani endlich.
»Ja.«
»Ein Unfall.«
»Ohne Zweifel. Wir brauchen aber noch Ihre Bestätigung.«
Donani hob den Kopf. Ein letzter Funken Hoffnung glomm in ihm auf. »Sie sind nicht sicher, daß es meine Frau ist …?«
»Zu neunundneunzig Prozent doch, leider.« Fritz Weghart sah auf seine Hände. »Zimmer 211 ist leer. Ihre Gattin muß wieder aufgestanden und dann weggefahren sein. Dürfen wir Sie bitten, mitzukommen.«
»Wo … wo ist es passiert?« Die Worte kamen aus seinem Mund, als müßten sie herausgehackt werden.
»Auf einer Landstraße Richtung Wannsee …«
»Wannsee?« Donani fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Um diese Zeit am Wannsee –«
»Es ist nicht die einzige Unklarheit, Herr Generalmusikdirektor.«
»Nicht –« Donani verlor seine Haltung. Es war sinnlos, dagegen anzukämpfen … einmal ist die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann, erreicht. Mit hängenden Armen und gesenktem Kopf stand er da, ein armer, alter Mann, müde und kraftlos. »Gehen wir –«, sagte er kaum hörbar.
Bombalo löste sich von der Wand, Donani schüttelte den Kopf. »Du bleibst –«
»Maestro –«
»Sage alles ab. Alles!« Und plötzlich schrie er, daß Kommissar Weghart zusammenzuckte und Bombalo den Kopf einzog wie vor einem Steinschlag. »Ich will keine Musik mehr hören! Nichts mehr! Nichts!«
Dann folgte er Kommissar Weghart hinaus zu dem großen, schwarzen Dienstwagen. Bombalo drückte sein Taschentuch wieder gegen die Augen.
Alle Konzerte absagen. Das Unglück ist vollkommen, dachte er.
Er weinte wieder, als der Kultursenator und die anderen Herren entsetzt aus dem Saal in die Halle kamen.
*
Donani stand vor dem ausgebrannten Autowrack und starrte in die noch immer glühenden, stinkenden Trümmer. Trotz Schaumlöscher glomm es weiter, die Blechteile lagen weit verstreut herum. Eine furchtbare Explosion mußte den Sportwagen im Augenblick des Aufpralls gegen den Baum zerrissen haben.
Neben den schwelenden Trümmern lag, zugedeckt mit einem weißen Tuch, eine Gestalt auf einer Trage. Sie war zwergenhaft klein, fast kindergroß nur.
Kommissar Weghart legte die Hand auf den Arm Donanis. So schrecklich es war … man mußte das Tuch gleich wegziehen und Donani bitten, den verbrannten, zusammengeschrumpften Torso, der dort auf der Trage lag, als seine Frau zu erkennen.
»Bitte –«, sagte er leise. Donani drehte sich langsam um und sah auf den zugedeckten Körper. »Bitte, behalten Sie alle Kraft, Herr Generalmusikdirektor.«
Weghart kämpfte mit einem ekelhaft bitteren Geschmack in seinem Mund. Er kannte Carola Donani von vielen Bildern her. Eine strahlend schöne Frau, kostbar wie eine Fayence. Was hier auf der Trage lag, was von dieser Schönheit übriggeblieben war, schien unaussprechlich. »Der Anblick eines verbrannten Menschen –«
»Ich kenne das.« Donani drückte das Kinn an den Kragen. »Ich habe in Köln nach dem großen Bombenangriff die verbrannten Körper gestapelt am Straßenrand liegen sehen. Ich weiß, wie ein verkohlter Mensch aussieht –«
Fritz Weghart zögerte erneut. Es war seine Amtspflicht, die Leiche zu zeigen, aber in diesem Falle scheute er sich, es zu tun. Auch Bernd Donani konnte in diesem zusammengeschrumpften, verkohlten Torso nicht mehr seine Frau erkennen. Der Körper hatte sämtliche menschlichen Formen verloren.
Er winkte einem Kriminalassistenten, das Tuch über der Trage zu lassen, und nahm Donani am Arm ein paar Schritte zur Seite. Zögernd folgte ihm Donani, immer wieder blickte er zu der Trage zurück. Carola, dachte er, und er wunderte sich, daß er überhaupt denken konnte. Carola –
Fritz Weghart öffnete eine große Tüte und schüttelte einige Ringe in die hohle Hand. Eine goldene, rußgeschwärzte Halskette ringelte sich aus dem Kuvert. Donani nickte schwer.
»Es ist der Schmuck meiner Frau.«
»Sie erkennen ihn bestimmt wieder?«
»Ich kann Ihnen sogar sagen, wann und wo ich ihn gekauft habe. Diesen Ring mit dem 1-karätigen Brillanten schenkte ich ihr in Boston zum 5. Hochzeitstag.«
Seine Stimme versagte. Er wandte sich ab und bedeckte die Augen mit der Hand. Weghart wartete ein paar Minuten, ehe er seine notwendigen Fragen weiterstellte. Die Erschütterung hatte Donani innerlich völlig zerbrochen. Er gab seine Antworten wie eine Maschine, in die man ein Geldstück hineinsteckt und aus der die Antwort auf jede Frage hohl widertönt.
»War Ihre Gattin eine wilde Fahrerin?«
»Nein. Gar nicht.«
»Wußten Sie, was sie um diese Zeit in Wannsee wollte?«
»Nein.«
»Sie hat vorher nicht mit Ihnen darüber gesprochen, noch einmal wegzufahren?«
»Nein.«
»Hatten Sie Bekannte oder Verwandte in Wannsee oder Umgebung?«
»Nein.«
Kommissar Weghart brach seine Fragen ab. Was er noch zu fragen und zu berichten hatte, wollte er Donani in diesen Minuten ersparen. Man konnte es morgen oder übermorgen sagen, wenn der erste Schock abgeklungen war.
Donani sah zu Weghart. Seine sonst energiesprühenden Augen waren verschleiert.
»Noch eine Frage, Herr Kommissar?«
»Nein. Heute nicht, Herr Generalmusikdirektor.«
»Ich möchte meine Frau in Starnberg begraben lassen. Ist das möglich?«
»Natürlich.« Weghart zögerte wieder, aber es gab keine Möglichkeit auszuweichen. »Sobald die Staatsanwaltschaft die Leiche Ihrer Gattin freigegeben hat –«
»Die Staatsanwaltschaft?« Donanis Gesicht wurde noch blutleerer. »Aber wieso denn? Zweifeln Sie an einem Unfall?«
»Das nicht. Aber gewisse Begleitumstände …« Weghart scharrte mit den Schuhspitzen über die nasse Straße. Donani sah, daß der Kommissar ihm auswich.
»Bitte, sprechen Sie. Schonen Sie mich nicht. Schlimmeres als den Verlust meiner Frau kann es für mich nicht mehr geben.«
»Mich wundert, daß der Körper so vollkommen verbrannt ist –«, Weghart suchte nach Worten, das Grauen in möglichst milder Form auszudrücken. »Wenn ein Mensch in den Flammen umkommt, normal, nicht wie in den Phosphorflammen der Bombenangriffe, so verbrennt er bis zu einem gewissen Grade, weil die Körperfeuchtigkeit ein Schutz ist. Verbrennungen solchen Grades, wo der Körper restlos verkohlt, entstehen nicht, wenn ein Kleid brennt oder die Autopolster. Solche Brände entstehen nur, wenn man Benzin über alles schüttet –«
Donani atmete schwer. Wieder starrte er auf den kleinen Körper unter dem weißen Tuch auf der Trage.
»Wenn durch den Aufprall die Benzinleitung platzt und alles vollspritzt –«, sagte er kaum hörbar.
»Die Benzinleitung ist nicht geplatzt.«
»Aber –« Donani sah Weghart aus verstörten Augen an. »Was … was folgern Sie daraus?«
»Ich weiß es nicht. Wir werden Ihre Gattin im Gerichtsmedizinischen Institut genau untersuchen lassen müssen …«
»Bitte. Tun Sie alles … alles …« Donani wandte sich ab. »Sie ist tot. Das allein ist für mich noch unfaßbar. Kann ich nach Hause …?«
»Mein Inspektor wird Sie zurückfahren, Herr Generalmusikdirektor.«
Donani ging zu dem Dienstwagen, er schleifte den rechten Fuß nach, als habe ein Schlaganfall ihn gelähmt. Er sah nicht mehr zurück auf die Trage … aber als der Wagen anfuhr, preßte er das Gesicht an die Scheiben und starrte auf die Trümmer und den kleinen, weißzugedeckten Körper. Er weinte … jetzt, in der Dunkelheit des Wagens, sah und hörte es niemand.
Ich bin allein, dachte er. Jetzt bin ich völlig allein. Niemand weiß, wie sehr ich sie geliebt habe –
*
Um zehn Uhr früh landete das Flugzeug aus Berlin in München. Um elf Uhr löste Carola Donani ihr Bankkonto bei einer Münchner Bank auf. Es waren 72.000 DM, die sie ausbezahlt bekam. Der Direktor der Bankzweigstelle kam selbst an den Schalter, um zu sehen, wer diesen Betrag einlöste.
Jean Leclerc lächelte, als er die fragenden Blicke sah. Carola wartete draußen in einer Taxe. Der Scheck war in Ordnung, ein Barscheck, den Carola Donani auf der Rückseite selbst giriert hatte.
Langsam zählte der Kassierer die Geldbündel auf das Zahlbrett. Sieben Bündel zu 10.000 DM, zwei Bündel zu je 1.000 DM. Mit einer gleichgültigen Miene nahm Leclerc das Geld und steckte es in eine neue Aktentasche. Carola hatte sie auf dem Wege vom Flugplatz in die Stadt gekauft. Der Bankdirektor räusperte sich. Verwundert sah Leclerc auf.
»Bitte?« fragte er.
»Frau Donani ist in München?« fragte der Direktor.
»Nein, in Berlin. Gestern war das große Konzert.«
»Ich habe es im Radio gehört, ja.« Der Direktor nickte. Die Auskunft war korrekt. Es gab keinen Grund weiterzufragen. Aber er sah mit einem unguten Gefühl Jean Leclerc nach, als dieser die Kassenhalle verließ, die Aktentasche unter den Arm geklemmt.
»Alles klar, Chérie …«, sagte Leclerc, als er zu Carola in die Taxe stieg. Er übergab ihr die Aktentasche, auch wenn es ihm schwerfiel. Es ist ja doch mein Geld, dachte er zufrieden. Für einen Kuß, für eine Umarmung wird sie mich mit Geld zudecken. »Und nun, mein Süßes?« fragte er und küßte ihr Ohrläppchen.
»Zum Hauptbahnhof«, sagte Carola zu dem Taxifahrer.
Wie sie es auf dem Flug nach München besprochen hatten, so lief in diesen Stunden alles ungehindert ab. Carola Donani fuhr mit dem nächsten Zug nach Zürich, Jean Leclerc kehrte auf dem Luftwege nach Berlin zurück. Von Zürich flog Carola weiter nach Paris. Sie suchte sich ein Zimmer nicht in einem der großen Hotels, sondern in einer kleinen Privatpension nahe der Montmartre-Kirche Sacré Cœur. Ein kleines Zimmer mit einem eisernen Doppelbett, einem Schrank und einem Waschständer. Der Blick aus dem Fenster ging über eine enge, schmutzige Treppenstraße, auf der sich Katzen balgten und ein Hund jaulte. Die Pensionswirtin fragte nicht nach Ausweis oder Herkommen … als sie ihre Miete für drei Monate im voraus bekam, sagte sie beglückt: »Madame werden sich hier wohlfühlen. Monsieur kommt wohl nach?«
»Ja, in einigen Tagen –«
Dann war Carola Donani allein, saß am Fenster, blickte über die Treppenstraße, Kinder lärmten im Hauseingang, eine Männerstimme schrie dazwischen, irgendwo kreischte ein Radio.
So fängt das neue Leben an, dachte sie und spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. Alles, was ich war, ist auf der Straße nach Wannsee verbrannt. Es gibt kein Zurück mehr … ich bin jetzt ein Nichts, das nur eines besitzt: die Liebe Jeans.
Über die Straße lief ein schmutziges Mädchen mit aufgelösten Haaren. Es mochte elf Jahre alt sein; die kleinen, schmächtigen Beinchen trommelten über das Kopfsteinpflaster der Straße.
Carola Donani biß sich auf die Unterlippe. Meine Kinder, dachte sie. Auch sie habe ich verloren. Ich werde Alwine und Babette nie wiedersehen. Ich werde nie mehr ihr ›Mami! Mami!‹ hören und mit ihnen über die Wiese hinunter zum See laufen. Ich bin tot. In drei Tagen wird man mich begraben. Ich habe alles hergegeben für dieses neue Leben.
Der Schmerz, der sie bei diesen Gedanken überflutete, war so ungeheuerlich, daß sie aufsprang und aus dem Haus lief. Sie lief ziellos durch Montmartre, die Treppen hinauf und wieder hinunter … schließlich saß sie unter den Säulen von Sacré Cœur und starrte auf die Maler, die ihre Staffeleien links und rechts der Treppe aufgestellt hatten und das beliebteste Motiv von Paris zum tausendsten Male malten.
Ich muß vergessen können, dachte sie. Ich muß einfach vergessen können. Ich bin nicht mehr Carola Donani … ich bin eine ganz andere junge Frau, die einen Mann liebt, der Jean Leclerc heißt. Eine einfache, junge Frau, die nichts vom Leben erwartet und wünscht als Glück –
Aber kann eine Mutter ihre Kinder vergessen …?
Um die gleiche Zeit kündigte Leclerc seine Stellung als Geiger im Pariser Philharmonischen Orchester. Er sprach ganz kurz mit dem Ersten Konzertmeister und bat ihn, seine Kündigung an die Direktion nach Paris weiterzuleiten.
»Und was wollen Sie machen, Leclerc?« fragte der Konzertmeister, nachdem er vergeblich versucht hatte, Leclerc zu halten. »Sie wissen, daß Ihr unmögliches Benehmen, mitten in einer Tournee Ihr Orchester zu verlassen, Ihnen den Weg zu anderen bekannten Orchestern verschließt.«
»Ich habe andere Pläne.« Jean Leclerc hob etwas arrogant die Augenbrauen. »Ich halte mich an die Worte unseres Musikgottes: Der wirkliche Könner setzt sich allein durch. Das werde ich tun. Wenn ich zu euch zurückkomme, dann nur als Solist. Bonjour, Monsieur!«
Zufrieden verließ Leclerc die Philharmonie. Von den anderen Musikern erfuhr er, daß Bernd Donani sich in seinem Hotelzimmer eingeschlossen hatte und keinen zu sich ließ. Bombalo hatte vergeblich versucht, mit beschwörenden Worten und schließlich mit anhaltendem Klopfen Einlaß zu bekommen. Nun saß er wie ein ausgesperrter Hund auf einem Stuhl vor der Zimmertür auf dem Flur und wartete, daß Donani aus dem Zimmer kam. Der einzige, der hereingelassen wurde, war der Etagenkellner. Er brachte nichts zu essen … auf einem silbernen Tablett trug er nur ein Glas. Ein Glas mit Milch. Es war Bombalo, als zerrisse es ihm das Herz.
Um die gleiche Zeit aber erfuhr auch der Bankdirektor von dem tragischen Tod Carola Donanis. Die Mittagszeitungen brachten die Meldung aus Berlin, in den Radionachrichten wurde darüber berichtet.
»Das ist ja toll!« schrie der Direktor und schellte seinen Stellvertreter herein. »Lesen Sie sich das mal durch. Als Frau Donani ihr Bankkonto auflöste, war sie schon längst tot! Da stimmt doch etwas nicht! Das kann eine schöne Schweinerei geben …«
Er griff zum Telefon und rief die Münchner Kriminalpolizei an. Eine Stunde später hatte Kommissar Weghart die Aussage des Münchner Bankdirektors als Fernschreiben vor sich auf dem Schreibtisch liegen.
»Ich ahnte doch, daß da etwas faul ist!« rief er und legte seine Hand auf das Fernschreiben. »Eine Frau, die total verbrennt, ein unbekannter Mann, der am nächsten Morgen ihr ganzes Geld abhebt … Aber der Scheck ist gültig. Es ist die Unterschrift von Frau Donani … der Schriftvergleich ist eindeutig.« Er sah nachdenklich über seine Mitarbeiter hinweg und atmete ein paarmal tief durch. »Es wird sich nicht vermeiden lassen, Herrn Donani zu fragen, ob seine Frau einen Geliebten hatte. Wir können ihm diesen letzten Schock nicht mehr ersparen. Hatte sie einen Geliebten, dann war es kein Unfall, sondern Mord. Meine Herren – mein Gefühl hat mich noch nie getäuscht, auch wenn ein Kriminalist nicht auf Gefühle, sondern auf Spuren und Beweise horchen soll –«
*
Auch die letzte Erschütterung ertrug Bernd Donani, um so gefaßter, als er beweisen konnte, daß Carola nie einen Geliebten gehabt hatte und es absurd war, überhaupt daran zu denken.
»Sie war die beste, treueste und ehrlichste Frau«, sagte er heiser vor Ergriffenheit. »Es ist eine Beleidigung, ihr nach dem Tode so etwas zuzutrauen.«
»Aber der Scheck, Herr Generalmusikdirektor –«, sagte Fritz Weghart stockend. »Der Scheck ist eine Tatsache. 72.000 DM wurden abgehoben.«
»Das wird sich klären.«
»Es wird sich nie klären, weil wir im Dunkeln tappen.«
»Lassen wir die Tote ruhen.«
»Wer war der Mann, der den Scheck einlöste? Der Bankdirektor schildert ihn als jung, elegant, südländisch –«
Bernd Donani wandte sich ab. Man sollte die Qual in seinem Gesicht nicht sehen. Nie hatte Carola einen Geliebten, dachte er. Es war völlig unmöglich. Immer war sie um mich … vor dem Konzert, während der Konzerte, nach dem Konzert. Um einen Geliebten muß man sich kümmern, ein Geliebter benötigt Zeit, und Carola hatte nie Zeit gehabt. Sie war immer um ihn gewesen. Die Stimme Wegharts schreckte Donani auf.
»Hatten Sie in letzter Zeit Auseinandersetzungen mit Ihrer Gattin?«
Donani schüttelte den Kopf. »Nie!« sagte er laut. »Das gab es gar nicht bei uns!«
Warum lüge ich plötzlich, dachte er. Carola war in der letzten Zeit so nervös. Ein paarmal hatte sie ihn angeschrien, sie sei unverstanden und einsam. Er hatte es als nicht so tragisch empfunden – jeder Mensch hat ein Recht, einmal mit seinen Nerven durchzugehen. War es bei Carola mehr gewesen als nur ein launischer Anfall?
Donani schwieg verbissen. Zum erstenmal wurde er unsicher, wenn er an Carola dachte. Seine Liebe und sein Vertrauen waren so groß gewesen, daß sein Kosenamen ›Engelchen‹ nicht bloß so dahergeredet war, sondern seinem Gefühl entsprang, in Carola wirklich einen Engel bekommen zu haben.
»Es gibt eine andere Möglichkeit, wie der Scheck nach München gelangen konnte«, sagte Kommissar Weghart. »Allerdings ist dies billigste Kolportage: Ein vorbeikommender ausländischer Autofahrer sieht das brennende Wrack, will helfen, sieht eine Brieftasche mit dem Scheck, nimmt ihn und fährt schnell weiter. Tatsächlich haben wir auch keine Brieftasche oder dergleichen in dem Wrack gefunden –«
»So wird es gewesen sein«, sagte Donani leise.
»Aber warum füllt Ihre Gattin einen so hohen Scheck aus? Ihr gesamtes Vermögen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Donani gequält. »Ich kann sie nicht mehr fragen –«
Dabei blieb es.
Auch die Obduktion im Gerichtsmedizinischen Institut ergab keine Hinweise. Der Körper war zu sehr verkohlt, um an den inneren Organen noch Aufschlüsse zu entdecken. Nur eines stand fest … Carola Donani konnte so vollkommen nur verbrennen, wenn sie mit Benzin getränkt worden war. Ein Rätsel, das Kommissar Weghart zu den Akten nahm und nie geklärt werden würde.
Die amtliche Todesursache wurde eingetragen: Tod durch Unfall. Die Leiche wurde zur Beerdigung freigegeben. In einem verlöteten Zinksarg reiste sie mit der Bahn nach Starnberg. Bernd Donani und Pietro Bombalo flogen voraus. Ihnen blieb noch eine schwere Aufgabe: Sie mußten den Kindern sagen, daß ihre Mami nicht mehr lebte. Bombalo hatte zu diesem Zweck einen riesigen Karton mit Spielsachen gekauft … Puppen, die richtig gehen konnten, Puppen, die ganze Sätze sprachen – vielleicht, so dachte er, war es möglich, die Kinder damit abzulenken und ihnen die Tragweite des Verlustes nicht voll bewußt werden zu lassen.
Das Begräbnis war still und im engsten Kreise. Neben Donani und den Kindern schritten nur Carolas Mutter, Bertha Portz, und Pietro Bombalo hinter dem Sarg zur Gruft. Eine Abordnung des Orchesters mit einem riesigen Kranz blieb in der Friedhofskapelle zurück, ebenso alle Vertreter der großen Opernbühnen. Donani wollte allein am Grabe stehen … man erfüllte ihm diesen Wunsch; es war keine Sensation mehr, einen gebrochenen, berühmten Mann weinen zu sehen.
Die Kinder standen mit großen, unwissenden Augen an der mit Tannengrün ausgeschlagenen Gruft und sahen fragend auf den glänzenden Sarg mit den Bronzefüßen und Griffen. Bertha Portz hielt die Hände ihrer Enkel umklammert … sie weinte nicht mehr, sie war starr wie aus Stein. Für sie war das alles ein Rätsel. Die letzten Worte Carolas klangen noch in ihr nach, die Anklagen, die Verzweiflung, trotz allen Glanzes in einer verpfuschten Ehe zu leben, in einem goldenen Gefängnis, dem sie nun entronnen war, anders, als sie es sich sicherlich gedacht hatte. Oder war diese Aussprache der letzte Versuch gewesen, vor etwas zurückzuschrecken, was nun geschehen war? Hatte Carola bei ihr, der Mutter, Zuflucht gesucht, um nicht der letzten Verzweiflung zu verfallen? War es so gewesen, dann hatte sie versagt.
Bertha Portz starrte auf den Sarg, der langsam in die Gruft glitt. Die Kinder an ihrer Hand zerrten. Babette, die Jüngere, rieb ihre Nase an Berthas Handrücken.
»Omi –«, fragte sie. »Stimmt es, daß Mami jetzt ein Engel im Himmel ist?«
Bertha Portz schwieg. Sie sah zu ihrem Schwiegersohn. Bernd Donani hatte die Augen geschlossen. Es war ihm unmöglich, das Weggleiten des Sarges anzusehen.
»Papi hat es so gesagt«, sagte Alwine.
»Ja, sie ist im Himmel«, sagte Bertha Portz leise.
»Und was ist das?«
»Was?«
»Was da in die Erde geht? Wenn Mami doch im Himmel ist … Und warum weint Papi?«
Bertha Portz zog die Kinder an sich und legte die Arme um ihre Schultern.
»Ich werde euch später alles erklären«, sagte sie mit zugeschnürter Kehle. »Seid jetzt schön still –«
»Wann kommt Mami wieder aus dem Himmel?« Babette sah hinüber zu ihrem Vater. Er trat an das Grab, bückte sich und warf drei Hände voll Erde auf den Sarg.
»Das dauert lange. Es ist eine weite Reise, Babettchen.«
»Darf ich auch Sand runterwerfen?«
Bertha Portz nickte stumm.
Dann war alles vorbei. Sie standen am Grab, sahen hinunter auf den unter Blumen liegenden Sarg und nahmen Abschied für immer.
»Es … es ist nicht zu begreifen …«, sagte Donani kaum hörbar. Er hatte den Arm um die Schulter Bertha Portz' gelegt, aber nicht sie suchte Halt, sondern er. »Was soll ich jetzt tun … ich bin mit ihr gestorben –«
»Du hast die Kinder, Bernd. Sie haben nie viel von ihren Eltern gehabt … jetzt mußt du ihnen alles sein.«
Donani hörte den Vorwurf, und er verstand Bertha Portz, die in diesem Augenblick diese Anklage nicht mehr unterdrücken konnte.
»Es wird sich alles ändern … alles …«, sagte er wie ein Schwur. »Jetzt, wo es zu spät ist –«
*
Das Wiedersehen zwischen Jean Leclerc und Carola war ein einziger Rausch. Als er durch die Tür in das kleine Pensionszimmer stürzte, fielen sie sich in die Arme und küßten sich, als gebe der Atem des einen das Leben dem anderen zurück. Dann blieben sie auf dem Zimmer bis zum nächsten frühen Mittag, ohne zu essen, ohne sich voneinander zu lösen, trunken und wunschlos, die Umwelt vergessend und sich ausgebend bis zur völligen Erschöpfung.
»Unser erster Tag …«, sagte Carola glücklich. Sie lag in der Beuge seines Armes und sah auf das Stückchen fahlblauen Himmels am oberen Rand des Fensters. Auf der Straße schrien wieder die Kinder, das Radio plärrte, ein Gemüseverkäufer rief seine Waren aus. »Woran denkst du, Jean?«
Leclerc küßte ihre verschwitzten Haare und legte die Hand auf ihre Brust.
»An nichts, Chérie …«
»Das ist wenig. Denkst du nicht daran, wie glücklich wir sind?«
»Doch, doch.« Leclerc leckte sich über die spröden, von Küssen und Bissen aufgesprungenen Lippen. Was ist das für eine Frau, dachte er. Auf der Straße nach Wannsee war sie eiskalt und von einer unheimlichen Energie … jetzt ist sie wie eine anschmiegsame, warme Katze. Er richtete sich auf, zwang sich, von ihrer Nacktheit nicht erneut überwältigt zu werden, und suchte auf dem Nachttisch nach seinen Zigaretten.
»Gib mir auch eine –«, sagte sie, als er rauchte.
»Seit wann rauchst du?«
»Seit heute.« Sie setzte sich hoch und ließ sich Feuer geben. Dann sprang sie aus dem Bett und lief, nackt wie sie war, im Zimmer hin und her. Leclerc verfolgte sie mit sehnsüchtigen, aber müden Blicken. »Hast du schon darüber nachgedacht, daß ich einen neuen Paß brauche?«
»Mit einem anderen Namen –«
»Natürlich.«
»Das wird teuer sein, Chérie.«
»Wieviel?«
»Vielleicht 5.000 Francs.«
»Weißt du, wo man einen bekommt?«
»Nein, aber ich werde es erfahren.«
Sie stand rauchend am Fenster und sah durch die Gardine hinaus auf die Straße. Ihre langen blonden Haare flossen über ihre Schultern, auf ihrer weißen Haut sah er die Spuren seiner Fingernägel. Wie zerbrechlich sie aussieht, dachte er atemlos. Niemand, der sie so sieht, ahnt, welche Glut in diesem Körper versteckt ist. Sie kann einen Menschen verbrennen …
Der Doppelsinn lag plötzlich wie Galle in seinem Mund. Die Zigarette schmeckte nicht mehr, er drückte sie aus.
»Ich habe Hunger«, sagte er völlig unpathetisch. »Du nicht?«
»Ja. Wir sollten etwas einkaufen gehen. Oder sollen wir in einem Bistro essen?«
»Laß uns erst gehen«, sagte er.
Eine halbe Stunde später standen sie unten bei der Pensionswirtin und gaben den Schlüssel ab. Die alte, würdige, dicke Dame sah sie stumm an, nahm den Schlüssel, räusperte sich und ging in ihr Hinterzimmer. Bevor sie verschwand, versäumte sie nicht, einen deutlichen Blick auf eine aufgeschlagene Zeitung zu werfen, die auf der Theke lag.
»Was hat sie?« fragte Carola und griff nach dem französischen Blatt. Die dritte Seite war nach oben gefaltet. Groß leuchtete ein Foto der strahlenden Carola Donani dem entsetzten Leclerc entgegen. Und darunter der Text: »Die Frau des berühmten Dirigenten B. Donani starb bei einem Autounfall in Berlin. In ihrem Sportwagen verbrannte sie.« Dann folgte ein genauer Bericht vom Unglücksort.
Carola legte die Zeitung zurück auf die Theke. Ihr schönes Gesicht hatte wieder die Härte, die Leclerc schon in der Unglücksnacht erschreckte.
»Sie hat uns erkannt«, sagte sie leise. »Es war ein Irrtum, zu glauben, heute sei unser erster Tag.«
»So wird es uns überall gehen …« Leclercs Jungengesicht war voller Hilflosigkeit. »Es war ein Fehler, Chérie. Ich habe es gleich gesagt. Du bist zu bekannt, um unerkannt weiterzuleben …«
Carola schüttelte den Kopf. »Komm –«, sagte sie. »Wollen wir jetzt im Niemandsland stehenbleiben? Wir sind ausgebrochen, um unser Paradies zu finden, unser eigenes Paradies. Wir müssen weiter –«
Sie kauften für den Abend ein. Brot, Butter, Käse, Cervelatwurst, einen Liter Rotwein. Und noch etwas kaufte Carola: Zeitungen. Sie kaufte alle Zeitungen, die der Kiosk hatte. Beladen wie ein Zeitungsausträger, schleppten sie sich nach Hause und schlossen sich ein. Dann sahen sie die Anzeigen durch, Seite um Seite.
»Hier!« sagte Leclerc plötzlich und zeigte mit dem Finger auf eine Anzeige der Zeitung ›Le Provençal‹. »Das könnte etwas sein –«
Carola Donani beugte sich über die Schulter Leclercs. Während sie las, nagte sie mit spitzen Zähnen an seinem Ohrläppchen.
»Dr. René Lombard –«, las sie. »Chirurgische Privatklinik für kosmetische Operationen –«
»… Nasen- und Ohrenkorrekturen, Mammaplastiken und operative Entfernung von Fettansatz –«, las Leclerc weiter. »Rue de Frontière. Marseille –« Er faßte Carolas Kopf und zog ihn zu sich. »Du … du willst das wirklich tun?«
»Ich will ein neuer Mensch sein«, sagte sie leise. »Ein Mensch, nur für dich. Ich will nichts, nichts mehr haben, was mich an früher erinnert. Ich will mich selbst nicht mehr im Spiegel sehen und mich als Carola Donani erkennen. – Wir fahren nach Marseille.«
»Und wann?«
»Morgen schon.« Sie richtete sich auf und breitete die Arme weit aus. »Jeder Tag, der vorbeigeht, ist verloren. Wir müssen mit jeder Stunde geizig sein. Es wird nie soviel Stunden geben, die ausreichen, dich zu lieben –«
Jean Leclerc schloß die Augen. Ich habe einen Vulkan aufgerissen, dachte er. Nun gehe ich unter in dieser Glut …
*
In diesen Tagen wurde im fernen Hamburg eine Vermißtenanzeige abgeheftet und in das Fach ›Unerledigte Fälle‹ gelegt.
Vermißt wurde seit vier Wochen die 24jährige kaufmännische Angestellte Julia Saboldt. Sie hatte blonde Haare, blaue Augen, war 1,64 m groß, schlank und trug ein geblümtes Sommerkleid. Zuletzt hatte man sie in Begleitung eines unbekannten jungen Mannes beim Verlassen eines Kinos auf der Reeperbahn gesehen. Seitdem fehlte jede Spur von ihr.
Niemand kam auf den Gedanken, die Tote auf der Wannseestraße in Berlin mit Julia Saboldt in Verbindung zu bringen. Die Tote in den Autotrümmern war einwandfrei als Carola Donani identifiziert worden. Ihr gesamter Schmuck war erhalten geblieben … es gab überhaupt keine Zweifel.
Der Fall Julia Saboldt blieb für immer ein unerledigter Fall.
Ein Mensch war verschwunden … wen kümmerte das schon außer den Hinterbliebenen?
Und der dünne Schnellhefter im Aktenschrank verstaubte …
*
Nach einigen Tagen Ruhe, die Pietro Bombalo großzügig seinem Maestro gönnte, wurde der Impresario unruhig und lief vor Donani im Garten herum, deutlich eine Mappe unter dem Arm tragend, auf der in roter, leuchtender Schrift ›Termine‹ zu lesen war. Donani konnte es nicht übersehen … aber er tat so, als sehe er es nicht, und starrte über das blinkende Wasser des Sees.
Seit dem Begräbnis hatte er kaum ein Wort gesprochen. Er spielte mit den Kindern wie ein Automat, fing Bälle, schlug Purzelbäume, rollte Boccia-Kugeln und baute Burgen im Sand. Am Abend aber saß er auf der Terrasse, starrte ins Leere, ein alter, gebrochener Mann, der nicht mehr weiß, wozu er lebt. Bertha Portz war wieder abgereist. Sie flüchtete vor einem Schuldgefühl und vergrub sich in Berlin in ihren Zimmern, sich immer wieder fragend, ob es wirklich ein Unglücksfall gewesen war oder ob Carola einen Augenblick die Nerven verloren hatte und den Wagen bewußt gegen den Baum steuerte. Wenn es so gewesen war, hatte sie ihre Tochter an diesem Tage der letzten Aussprache nicht richtig erkannt, ein Vorwurf, den eine Mutter nie mehr abgelten konnte.
»Sie müssen wieder arbeiten –«, sagte Bombalo endlich, als Donani auf keine stillen Hinweise reagierte.
»Ich will nicht«, antwortete Donani müde.
»Nicht sofort … aber in zwei Wochen vielleicht …«
»Überhaupt nicht mehr, Pietro.«
»Was soll das heißen?« Bombalo drückte seine Terminmappe wie einen Schild an sich.
»Ich fasse keinen Dirigentenstab mehr an!«
»Aber das ist doch unmöglich, Maestro!«
»Ich habe Geld genug … ich will den Rest meines Lebens in Ruhe leben.«
»Den Rest seines Lebens! Mit achtundvierzig Jahren spricht er vom Rest seines Lebens!« schrie Bombalo. Er warf die Mappe auf die Wiese und vollführte seine berühmte Schaunummer. Er raufte sich die Haare ins Gesicht und verdrehte die Augen. »Ich bekomme einen Herzschlag!« keuchte er.
»Dann hätte ich endlich vollkommene Ruhe«, sagte Donani mitleidlos. »Ein für allemal: Ich dirigiere nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Begreifst du das denn nicht? Ich bin tot.«
»Weil Ihnen die Musik fehlt!« schrie Bombalo. »Maestro, kein Schmerz ist so groß, als daß die Musik ihn nicht heilen könnte. Es gibt keinen anderen Balsam als die Musik. Mozart, Maestro! Chopin! Die Eroika von Beethoven. Die Fünfte. Die Unvollendete von Schubert … Die Welt ist so herrlich, wenn sie voll Musik ist! Sie sind tot, weil Sie vor der Musik fliehen –«
»Laß mich!« Donani wandte sich ab und ließ Bombalo stehen. Er ging zur Brüstung und lehnte die Stirn gegen die großen Steinvasen. Carola, dachte er. Nun habe ich Zeit … nun, wo es zu spät ist.
Er schrak zusammen. Hinter ihm klang ein Orchester auf. Die ersten Takte von Brahms Akademischer Festouvertüre. Donani fuhr herum. Auf der Terrasse stand Bombalo neben einem Plattenspieler.
»Es dirigiert Bernd Donani!« schrie er.
»Ruhe!« brüllte Donani und hielt sich die Ohren zu. »Ruhe! Oder ich zerschlage alles! Alles!«
Er sah, wie sich die schwarze Plattenscheibe drehte, und obgleich er sich die Ohren zuhielt und die Handballen fest gegen die Muscheln preßte, hörte er innerlich jeden Ton. Jetzt setzen die Oboen ein … jetzt die Trompeten … warum sind die Celli so weit weg … und jetzt das Gaudeamus igitur … Festliche Fröhlichkeit, meine Herren!, hatte er bei der letzten Probe gerufen. Denken Sie, Sie seien wieder Studenten! Das muß jubeln, das muß in die Herzen fließen wie Wein!
Donani ließ die Hände von den Ohren sinken. Die Musik umbrauste ihn, er schloß die Augen und senkte den Kopf. Dann hob er die Hand und winkte … Bombalo drehte den Ton leiser.
»Maestro –?«
»Wann fahren wir?«
»In genau zwei Wochen –«
»Und was?«
»Tschaikowskij und Prokofieff. Als Einleitung die Steppenskizze aus Mittelasien von Borodin …«
Donani nickte. »Du kannst zusagen –«
»Danke, Maestro«, sagte Bombalo leise. Ihm standen schon wieder die Tränen in den Augen. »Man muß für die Lebenden leben, Maestro, nicht für die Toten.«
Donani wischte sich über die Augen. »Es gibt so viele schöne Worte, Bombalo – für mich sind sie jetzt wie Staub. Wo dirigiere ich denn in zwei Wochen?«
»In Marseille –«, sagte Bombalo. »Es wird ein großer Abend werden –«
*
Die Pensionswirtin erhob keinerlei Einwände, als Carola schon am nächsten Tag wieder das Zimmer kündigte. Da der vorausbezahlte Mietpreis nicht zurückgegeben zu werden brauchte, war sie sogar so freundlich, einen guten Rat mit auf die Reise zu geben:
»Sie sollten sich die Haare färben lassen und vielleicht eine Brille tragen«, sagte sie jovial. »Und im übrigen – alles Gute, Madame –«
Das Wort ›Madame‹ zog sie hin wie Kaugummi, genußvoll und mit einer Bosheit, zu der nur Frauen gegenüber Frauen fähig sind. Carola nahm es ihr nicht übel, auch nicht, daß sie Jean Leclerc wie eine Küchenschabe musterte und ihn abtaxierte. In ihren Blicken war deutlich zu lesen, was sie dachte. Ein Jüngelchen, das aus seiner frischen Männlichkeit Kapital schlägt. Eine männliche Hure.
Du bist jenseits der Sehnsucht, dachte Carola, als sie sich von der Pensionswirtin abwandte und Leclerc auf die Straße folgte. In diesem Alter ist es leicht, moralisch zu urteilen. Einmal werde auch ich in diesem Alter sein, und es kommt so schnell, und ich werde den Kopf schütteln über die Dummheiten der Jugend. Aber noch bin ich jung, und ich will leben und lieben, solange ein Mann sich darum bemüht, von mir beachtet zu werden.
Die Fahrt nach Marseille verschliefen sie zur Hälfte, aneinandergedrückt, übermüdet durch die vergangenen Ekstasen. Kurz vor Marseille wachten sie auf, standen dann auf dem Bahnsteig, die kleinen Koffer neben sich, umgeben von Gedränge und Rufen, Bauern mit Gemüsekörben und Matrosen mit prallen Seesäcken.
»Wohin?« fragte Leclerc.
»Wieder in eine kleine Pension.«
Leclerc verzog das Gesicht. »Glaubst du, daß eine solche Altstadtbude der richtige Ort ist, meinen Aufstieg zu fördern? Du kennst doch die Impresarios zu genau: Nur wer richtig auftritt, wird richtig behandelt. Einen Geiger aus der Dachkammer hört überhaupt keiner an.«
»Wir müssen sparen, Liebling.« Carola trat an eine große Tafel, auf der die Hotels von Marseille dem Alphabet nach aufgezeichnet waren. Leclerc folgte ihr mißmutig. Alles ist schiefgegangen, dachte er wütend. Statt Solist unter Bernd Donani bin ich der Schoßhund einer vulkanischen Frau geworden. Statt die G-Saite zu streicheln, streichele ich ihre Schenkel, und statt des Adagio im 2. Satz spiele ich mit ihren blonden Haaren.
Er beruhigte sich etwas, als er an die Geldscheine in Carolas kleinem ledernen Koffer dachte und an den Krokodillederkasten voll Schmuck, den sie immer bei sich trug und nicht im brennenden Auto zurückgelassen hatte. Es wird schon weitergehen, sprach er sich selbst gütlich zu. Es ist ja alles erst ein Übergang. Wenn man die Sonne sucht, muß man ihr entgegenlaufen –
»Hast du etwas?« fragte er.
»Nein. Sie sind alle zu groß.«
»Chérie, wir können doch nicht wie die Bettler leben.«
»Wir müssen ein Zimmer haben, wo es nicht auffällt, daß eine Frau, die so aussieht wie ich, hineingeht und nach einigen Wochen wiederkommt und so aussieht wie die Frau, die ich dann geworden bin. Wenn die Operation gelungen ist, können wir hinausgehen in die Welt, die wir suchen, eher nicht.«
»Du hast recht wie immer, Chérie.« Leclerc küßte ihr den Nacken und war zufrieden. Daß er Angst hatte, Carola könne nach der Operation nicht mehr so aussehen, wie er sie jetzt liebte, verschwieg er. Es wird merkwürdig sein, ganz merkwürdig, dachte er, wenn sie aus der Klinik kommt und ich erkenne sie nicht wieder. Wenn sie sagt: Jean – ich bin's, und ich sie anstarren werde, weil sie eine Fremde geworden ist, eine neue Frau, deren Körper ich kenne, aber deren Kopf ausgewechselt wurde. Ob ich mich je daran gewöhnen werde?
Sie nahmen ein Taxi und ließen sich in die Altstadt von Marseille fahren. Für 10 Francs fuhr sie der Chauffeur zu einigen Häusern, in denen er Zimmer wußte, die man tage- oder wochenweise vermietete. Carola entschloß sich für das dritte angebotene Zimmer. Es hatte einen Blick auf die Hafenanlagen, auf das Meer und auf Fischerboote. Leclerc hob schnuppernd die Nase.
»Es stinkt nach Fisch.«
»Im Nebenhaus ist eine Trankochanlage«, sagte die Vermieterin. »Dafür haben meine Zimmer den Vorteil, nicht kontrolliert zu werden.« Sie blinkerte wissend mit den Augen. »Nehmen Sie's, Monsieur?«
»Ja«, sagte Leclerc schwach, als er Carola nicken sah. »Zunächst für drei Monate.«
»Vorauskasse, bitte.«
»Selbstverständlich.«
Dann saßen sie an dem verhältnismäßig großen Fenster und blickten über den Teil des Hafens vor ihrem Haus. Die Sonne ging unter, die Boote leuchteten rot und blau, das Meer violett. Carola hatte den Arm um Leclercs Nacken gelegt und streichelte mit der Linken seine gefalteten Hände.
»Ich war schon viermal in Marseille«, sagte sie leise. »Nie habe ich Zeit gehabt, den Sonnenuntergang zu sehen. Um diese Zeit war Donani schon nervös: Ich mußte ihn beruhigen. Was keiner weiß … vor jedem Konzert hatte er ein furchtbares Lampenfieber. Man sah es ihm nie an, immer war er der Souverän, aber in Wirklichkeit hatte er jeden Abend Angst wie ein kleiner Junge vor der Impfung.«
»Warum erzählst du das alles?« fragte Leclerc dumpf. Der Fischgeruch beleidigte sein ästhetisches Empfinden, er machte ihm übel, erzeugte Brechreiz. Zeit seines Lebens hatte er keinen Fisch gemocht … nun mußte er neben einer Trankocherei hausen.
»Weil ich so glücklich bin –«
»Glücklich?«
»Jetzt habe ich Zeit, viel Zeit, den Sonnenuntergang zu sehen. Mit dir … dir ganz allein … Ist das nicht ein unermeßliches Glück?«
»Natürlich, Chérie.« Er küßte flüchtig ihre Augen und sah hinaus auf das schwarzgolden werdende Meer. »Wie schön muß der Sonnenuntergang zu sehen sein auf der Terrasse des ›Atlantic‹.«, sagte er mit deutlicher Bitterkeit.
Carola lächelte und zog seinen Kopf zu sich.
»Geduld, mein Liebling. Geduld. Haben wir nicht schon viel erreicht in diesen wenigen Tagen …?«
Leclerc nickte. Was sollte er auch sagen?
»Willst du nicht spielen?« fragte sie plötzlich. Leclerc schob ihren Kopf verblüfft von sich weg.
»Spielen? Was denn?«
»Deine Geige.«
»Jetzt? Hier?«
»Ja.« Sie nickte, ihre Augen hatten einen leidenschaftlichen Glanz. »Spiel mir etwas vor … irgend etwas … nur schön muß es sein, verliebt, glücklich … Ich will jetzt, jetzt hören, wie lieb du mich hast …«
Leclerc hob wie resignierend die Schulter, klappte den Geigenkasten auf und drückte das Instrument an das Kinn. Verrückt, dachte er. Solche Situationen liebt Großmütterchen im Roman. Der Geiger und die geflüchtete Geliebte … ein Drama aus dem Leben von Amalie v. Grevenbroich. Wer es liest, schüttelt mit mildem Lächeln den Kopf … und ich sitze jetzt wirklich hier, an einem Fenster neben einer Trankocherei, umgeben von Fischgestank, vor mir das Meer und der dreckige Hafen, und soll spielen. Das ist doch lächerlich … lächerlich … Er setzte die Geige wieder ab. Carola sah ihn mit geneigtem Kopf an.
»Du willst nicht …?«
»Es ist doch absurd, Chérie –«, sagte er heiser.
»Aber ich bitte dich doch so darum …«
Mit verkniffenen Lippen preßte er die Geige wieder an das Kinn und begann zu spielen. Eine Chaconne von Sarasate, wild, wirbelnd, ekstatisch.
Er spielte sie nicht zu Ende. Nach den ersten zehn Takten klopfte es heftig an die Zimmertür. Leclerc brach die Chaconne ab.
»Ruhe!« schrie eine Stimme. »Verdammt noch mal, Ruhe!« Es war die Hauswirtin, ihre Stimme klang schrill und bösartig. »Wer soll das Gewimmer denn ertragen?! Noch einmal – und Sie fliegen …«
Tapsende Schritte entfernten sich über den langen Flur. Jean Leclerc legte mit einem bitteren Lächeln seine Geige zurück in den Kasten.
»Des Volkes Stimme –«, sagte er gepreßt. »Dein Paradies, Chérie, gleicht mehr einer Vorhölle …«
»Dann laß uns träumen …« Sie zog ihn wieder zu sich, und sie saßen wieder aneinandergedrückt und starrten hinaus auf das Meer. Als die Nacht über die Wellenkämme zog und die Masten der Schiffe und Fischerboote wie entlaubte Baumstämme gegen den fahlen Himmel ragten, hob sie den Kopf. Mit ganz klarer, aller Romantik fremder Stimme, nüchtern wie eine Zeitansage im Radio sagte sie in die Stille des Zimmers hinein:
»Morgen gehe ich zu Dr. Lombard –«
Die Privatklinik des Chirurgen Dr. René Lombard lag etwas außerhalb Marseilles in einer stillen Vorortstraße. Sie bestand aus einer kleinen Villa, die man um die Jahrhundertwende in einen damals noch einsamen Park gebaut hatte. Der Besitzer war ein Reeder gewesen, von dem man augenzwinkernd erzählte, er habe sich diese Villa vor der Stadt für seine Geliebten erbauen lassen, so wie der Sonnenkönig sich vor Paris seinen berühmten ›Hirschpark‹ errichten ließ. Die Kosten seiner amourösen Lebensweise waren dann auch höher geworden als seine Einnahmen, und in den zwanziger Jahren wurde der gesamte Besitz versteigert, der Park als Baugelände aufgeteilt und mit Einfamilienhäusern bepflastert. Nur die Villa mit einem Stück Park blieb übrig … sie wechselte oft den Besitzer, bis Dr. Lombard sie kaufte und aus ihr seine kosmetische Klinik machte. Durch Um- und Anbauten machte er aus der Liebesvilla eine mustergültige Klinik, die mit den modernsten Geräten ausgestattet war und den Ruf erlangte, man käme als Siebzigjährige hinein und verlasse sie als Zwanzigjährige. Nicht biologisch, sondern lediglich dem Aussehen nach. Aber auch das war eine Leistung, die Dr. Lombard Patienten aus den vermögendsten Kreisen Frankreichs einbrachte. Ab und zu, wenn die Geschäfte etwas nachließen, denn Frauen verraten ihren Freundinnen nie, woher sie ihre neue Jugend bekommen, setzte er eine Anzeige in die Zeitungen und wählte sich dann aus den Anfragen die besten aus.
Nach der Sekretärin und der Oberschwester war es Dr. René Lombard selbst, der sich offen wunderte, eine Frau wie Carola Donani vor sich zu sehen. Man war daran gewöhnt, abstehende Ohren, verbogene Nasen, zu wulstige Lippen, hängende oder überdimensionale Busen, Fetthüften, Hängebäuche und Krampfaderbeine zu sehen, aber nicht eine Frau, deren Schönheit auf den ersten Blick nur als makellos bezeichnet werden konnte.
Dr. Lombard, ein großer, schwerer Mann mit rötlichen Haaren und einer goldenen Brille, bot Carola zunächst eine Zigarette an und bewunderte mit der Fachkenntnis des Schönheitschirurgen ihre übereinandergeschlagenen Beine.
»Ich glaube, Madame«, sagte er mit einer beruhigenden, tiefen Stimme, »daß Ihr Besuch informatorischer Art ist. Es geht sicherlich um Ihre Frau Mutter –«
»Nein, Doktor, es geht um mich.« Carola zerdrückte die Zigarette in dem großen silbernen Aschenbecher. Sie gab sich keine Mühe mehr, ihre Nervosität zu verbergen. In dieser Situation wäre es sinnlos gewesen, ganz davon abgesehen, daß sie die innere Kraft dazu nicht mehr aufbrachte. »Ich möchte mich bei Ihnen operieren lassen …«
»Was bitte, Madame?« Dr. Lombard musterte sie wieder. Wer zwölf Jahre lang mit dem Skalpell einigen hundert Frauen eine neue Schönheit hingezaubert hat, weiß, wo man etwas korrigieren kann, wo etwas zu viel oder zu wenig an einem Frauenkörper ist. Man sieht auch durch Halter und Schnürungen hindurch, man weiß, wie ein Körper nackt aussieht, auch wenn er einem in einem noch so gut geschnittenen Kostüm gegenübersitzt. Hier fand Dr. Lombard nichts mehr, was er behandeln konnte, es sei denn, es handelte sich um den leichten Anflug von Stupsnase. Aber dies zu korrigieren, wäre eine Beleidigung der Natur gewesen. Es gehörte zu dieser Frau.
»Mein Gesicht, Doktor.«
»Ihr – Wie bitte?« Dr. Lombard beugte sich vor. »Was gefällt Ihnen denn nicht daran?«
»Alles!«
Dr. Lombard stand auf. Er sprang nicht hoch, er erhob sich bedächtig und schob dabei die Unterlippe vor. Sollte die Natur so grausam sein, in diesem Engelskopf ein krankes Hirn zu verbergen? dachte er.
»Wieso alles?« fragte er, um Zeit zu gewinnen und Carola zu beobachten.
»Sie halten mich für irr, nicht wahr, Doktor?« fragte Carola.
Lombard nickte. »Ich gestehe – ich hege Zweifel –«
»Ich möchte nicht mehr ich sein … verstehen Sie das?«
»Nein. Wer so aussieht wie Sie, sollte jeden Morgen vor dem Spiegel die Arme ausbreiten und ausrufen: Gott, ich danke dir! … Warum wollen Sie anders aussehen? Und – um Gottes willen – wie wollen Sie aussehen? Schöner geht es doch nicht mehr.«
»Ich will nicht nur schön sein … ich will eine andere Persönlichkeit sein. Heute bin ich als die, die ich bin, vollkommen … ich will in ein paar Wochen als eine neue Person ebenso vollkommen sein … aber anders … Und ich will es in Ihre Hand legen, Doktor, wie schön ich dann sein werde …«
Dr. Lombard nahm seine Goldbrille ab und drehte sie wie eine Kinderklapper in der Luft herum. Sein Verdacht, eine Irre vor sich zu haben, war einem anderen, drückenden Verdacht gewichen. Er scheute sich nicht, ihn klar auszusprechen.
»Madame!« sagte er laut. »Wenn ich Sie recht verstehe, soll ich Ihnen ein anderes, ebenso schönes Gesicht machen. Ich soll Sie umwandeln, ich soll Sie unkenntlich machen, Sie wollen ein neuer Mensch sein. Sie nicken, also stimmt es. Wenn eine Frau wie Sie sich zu solchen Schritten entschließt, muß die Notwendigkeit von einer ungeheuren Tragweite sein. Meistens sind es kriminelle Triebkräfte. Madame … ich korrigiere Grausamkeiten der Natur oder Schäden des Wohllebens … aber ich leiste keine Beihilfe zu Verbrechen!«
Carola Donani blieb sitzen, obgleich Dr. Lombard an der Tür stand und es offensichtlich war, daß seine Worte ein deutlicher, wenn auch nicht ausgesprochener Hinauswurf waren.
»Sie irren, Doktor«, sagte sie. Dr. Lombard blieb an der Tür stehen.
»Wieso, Madame?«
»Ich habe keine Möglichkeiten, Ihnen Beweise zu bringen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich Ihnen schwöre, kein Verbrechen vertuschen zu wollen. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Schwur einer Frau sicher genug erscheint –«
»Wenig, Madame.« Lombard neigte den Kopf und kam langsam ins Zimmer zurück. »Der Schwur einer Frau ist wie das Einziehen der Krallen bei einer Katze. Trotz der Sammetpfote bleiben die Krallen in ihr –«
»So etwas kann nur ein Franzose sagen.« Carola lachte, aber es klang gespielt und viel zu rein. »Ich möchte Ihnen keinen Glauben an meine Worte aufdrängen. Aber Sie werden verstehen, was ich meine, wenn ich Ihnen sage, daß ich einen Geliebten habe.«
Dr. Lombard hob die Augenbrauen. Als Franzose wunderte er sich nicht über dieses Geständnis. Eine Vielzahl der Frauen, die über seinen Operationstisch gegangen waren, hatten ihre Korrekturen nicht wegen ihrer Ehemänner, sondern nur wegen ihrer Geliebten erlitten.
»Er ist jung?« fragte Dr. Lombard sofort.
»Ja.«
»Madame sind aber auch nicht dreißig.«
»Siebenundzwanzig.«
»Ich könnte Sie verstehen, wenn sie fünfundvierzig und darüber sind und Gefallen an einem zwanzigjährigen Ritter fänden.«
»Ich bin meinem Freund zu deutsch.«
»Wie bitte?« Dr. Lombard setzte sich und schob die Brille auf die Nase. Dieses Geständnis war das verblüffendste seiner bisherigen Praxis. »Zu deutsch?«
»Ich bin blond … natur, Doktor.«
»Kann man färben.«
»Aber mein Gesicht, der Schnitt meiner Augen, die Brauen, die Nase … alles das ist nordisch …«
»Gewiß. So rein wie aus einem Typenlehrbuch.«
»Mein Freund aber liebt das Südländische.«
»Ein Idiot. Verzeihung, Madame.«
»Er liebt schwarze Haare, Mandelaugen, geschwungene Augenbrauen, eine schmale, gerade, kleine Nase … er liebt die Mischung zwischen Okzident und Orient … Also etwas anderes, als ich es bin. Und ich möchte so sein, wie er mich möchte. Verstehen Sie das jetzt, Doktor?«
»Nein«, antwortete Dr. Lombard ehrlich. »Wenn es wahr ist, was Sie sagen … Madame, ich will nicht zweifeln … dann gehört Ihr Freund in eine psychiatrische Untersuchung. Auf keinen Fall verstehe ich, daß Sie sich seinetwegen entstellen wollen.«
»Nicht entstellen, Doktor. Sie sollen aus mir eine südliche Schönheit machen.« Carola sah Dr. Lombard frei an. »Sie dürften doch am besten wissen, wozu eine Frau fähig ist, wenn sie liebt.«
»Leider.« Dr. Lombard seufzte und legte die Hände zusammen. Über die Fingerspitzen hinweg blickte er Carola forschend an. »Die Operation wird ungefähr 20.000 Francs kosten.«
Carola stand mit einem Ruck auf. »Ich verlasse mich da ganz auf Ihre Erfahrungen. Ich zahle.«
Dr. Lombard erhob sich gleichfalls. Er war von minderer Energie als Carola, er zögerte deutlich.
»Darf ich mir den Fall noch einmal überlegen, Madame?«
»Bitte, Doktor. Ich komme morgen wieder. Und ich kann gleich in Ihrer Klinik bleiben, wenn Sie sich entschlossen haben.«
»Das ist gut.« Dr. Lombard küßte Carola die Hand. Sie trug keinen Ehering mehr, aber Dr. Lombard sah an der helleren Färbung der Haut am Finger, wo er einmal gesessen hatte. »Geben Sie bitte der Oberschwester im Geschäftszimmer Ihren Namen und die Anschrift, Madame.«
Carola nickte. »Bis morgen, Doktor.«
»Bis morgen, Madame.«
Im Geschäftszimmer nahm die Oberschwester die Personalien auf. Carola nannte sich Magda Burger, wohnhaft in Gießen, Korbachweg 19.
Dr. Lombard wartete, bis er Carola aus dem Hause treten sah und sie hinunterging zum Parktor, vor dem die Taxe wartete. Er nahm die neue Karteikarte und las die Angaben langsam durch.
Der Name ist falsch, dachte er. Auch was sie erzählt, ist eine einzige charmante Lüge. Es muß einen anderen Grund geben, warum sie ihre vollkommene, kühle Schönheit gegen eine andere, glühendere eintauschen will.
Und noch etwas quälte Dr. Lombard … schon beim Eintritt Carolas in sein Zimmer hatte er verwundert aufgeblickt und sich an etwas zu erinnern versucht.
Ich kenne sie, hatte er gedacht. Irgendwo, irgendwann habe ich sie schon gesehen. Es ist nicht unsere erste Begegnung.
Aber sosehr er grübelte, kam er nicht darauf, daß es vor zwei Jahren gewesen war. Nach einem Donani-Konzert hatte man ihn Frau Donani bei einem Festessen vorgestellt. Es war nur ein flüchtiger Blick gewesen … aber ein Hauch von Erinnerung und Erkennen war zurückgeblieben –
*
Das Orchester erwartete seinen Chef in Köln. Es saß auf dem Podium des großen Gürzenichsaales, so wie es bei Hunderten Proben immer gesessen hatte, hemdsärmelig, guter Laune, die Instrumente stimmend, die Noten studierend. Daß in der letzten Reihe der ersten Geigen am Platz des Franzosen Jean Leclerc ein neuer Geiger saß, der nun zum erstenmal unter Donani proben würde, fiel überhaupt nicht auf. Es war vorauszusehen, daß auch Donani es nicht bemerkte, wenn der Neue nicht daneben griff und vom abwinkenden Taktstock Donanis nicht symbolisch aufgespießt wurde.
Pietro Bombalo hatte die Parole ausgegeben, die jeder im Orchester befolgte, als sei es eine Sinfoniepassage: Kein Wort über den Unfall, kein Mitleid zeigen, keine sauertöpfigen Mienen, kein Händedruck mit dem verschleierten Blick, in dem Donani lesen konnte: Armer Kerl …
»Wer auch nur eine Spur von Mitleid zeigt, den entmanne ich!« hatte Bombalo in seiner drastischen Art angedroht. »Es hat sich überhaupt nichts geändert, verstanden? Vorgestern war Probe, gestern, heute und morgen … die Tage, die fehlen, vergessen wir einfach.«
Bernd Donani empfand es wirklich als wohltuend, daß die Musiker wie immer gegen ihre Instrumente schlugen, als er aus dem Künstlerzimmer sich durch die Reihen schlängelte und ans Pult trat. Er begrüßte den Ersten Konzertmeister und lächelte nach allen Seiten.
»Guten Morgen, meine Herren«, sagte er. Beim ersten Wort war seine Stimme noch belegt, aber am Ende des Satzes hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Er sah auf die aufgeschlagene Partitur vor sich und klappte sie zu. Borodins Steppenskizze, er kannte sie auswendig. Sie ist eine Kleinigkeit für einen Dirigenten, der einmal ›Die Meistersinger von Nürnberg‹ aus dem Kopf dirigierte.
Donani nahm den Taktstock auf und blickte über sein Orchester. Er sah die erwartungsvollen Augen, die Holzbläser hatten ihre Instrumente schon angesetzt, man erwartete das Zeichen seiner Hand, unter der die Steppe Mittelasiens sich in Töne verwandeln sollte.
Plötzlich ließ Donani die Hände wieder sinken. Der Erste Konzertmeister wurde unruhig und sah sich um.
»Wo ist Herr Leclerc?« fragte Donani.
»Herr Leclerc?«
»Auf seinem Platz sitzt ein anderer Herr. Bitte, wie heißen Sie?«
Der neue Geiger stand innerlich bebend auf. »Franz Schultes«, sagte er wie auf dem Kasernenhof.
»Danke.« Donani winkte ab. Der Erste Konzertmeister trat an das Pult.
»Herr Leclerc hat vor einigen Tagen gekündigt. Er sagte, er wolle –«
»Ich weiß, ich weiß.« Donani schnitt mit einem Fächeln seiner linken Hand den Bericht des Konzertmeisters ab. »Wünschen wir ihm Glück, nicht wahr?« Er straffte sich und hob wieder den Taktstock. »Meine Herren … wir können –«
Während die ersten Takte der Steppenskizze aufklangen, der klagende Ton der Hirtenweise, die unendliche Einsamkeit der Steppe, die Weite von Himmel und Land, dachte Donani kurz an Jean Leclerc. Er wird es nie zum Solisten bringen, dachte er. Ein Künstler muß Kritik vertragen können. Wer sich schon in Jugendjahren als unfehlbar betrachtet, wird elend an seiner Selbstüberschätzung zugrunde gehen. Eigentlich war es schade … wenn auch kein Genie, war Jean Leclerc doch ein begabter Orchesterviolinist gewesen.
In der Tür des Künstlerzimmers stand Pietro Bombalo und beobachtete Donani mit der gespannten Wachsamkeit, wie ein Irrenarzt seinen Patienten bewacht, an dem er einen Test versucht. Ein Mann wie Donani kann nicht ohne Musik leben, war die Ansicht Bombalos. Und er kann und darf auch nicht ohne Frauen leben. Die Innigkeit der Kunst wird im Schoß der Frauen geboren. Aus dieser simplen Erkenntnis erwuchsen die unsterblichen Werke.
Es war ein Fortschritt in der Herzensbildung Bombalos, daß er einsah, daß die Zeit für dieses Problem noch nicht gekommen war und man über den ersten Schmerz die Narben des Alltags wachsen lassen mußte. Andererseits war er bereit, nicht lange zu zögern, wenn Donani sich innerlich etwas mit dem Unabänderlichen abgefunden hatte. Die Bekanntschaft mit schönen Frauen zu vermitteln, erschien Bombalo schon im voraus als ein äußerst delikates Management, auf das er sich mit dem Temperament des Südländers ehrlich freute. Carola Donani ist tot, dachte er völlig nüchtern. Aber Bernd Donani hat noch gute zwanzig Jahre Triumphe vor sich … auf dem Podium und im Boudoir. Es hat keinen Zweck, das Leben zu verleugnen …
*
Die erste Probe nach dem tragischen Geschehen verlief ohne Zwischenfall. Donani war äußerlich wieder der Alte, der Chef, der Mann mit dem absoluten Gehör, der bei den kleinsten Klangunebenheiten abklopfte und der den Inhalt einer Sinfonie und deren Aussage erklären konnte wie einen spannenden Roman. Über das Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin hielt er einmal einen einstündigen Vortrag aus dem Leben Chopins, bevor er mit der Probe begann. »Nur wer die Welt und die Umwelt kennt, aus der ein Werk stammt, kann es heute nachdeuten«, sagte er dabei. »Wir spielen nicht einfach Noten, meine Herren – wir sollen die Seele des Komponisten sichtbar werden lassen!«
Nach der Probe saß Donani allein im Künstlerzimmer und trank ein großes Glas Mineralwasser. Bombalo war um ihn und umsorgte ihn wie eine Amme … er brachte ihm ein neues Hemd, weil das erste durchgeschwitzt war, er reichte ein mit Kölnisch Wasser getränktes Zellstoffhandtuch hin, mit dem sich Donani einrieb, er versuchte alles so zu machen, wie es vorher Carola getan hatte. Donani verstand ihn und lächelte ihm dankbar, aber mit einem traurigen Blick zu.
»Es wird nie wieder so werden wie früher –«, sagte er, bevor er nach der Probenpause wieder hinaus zu seinem Orchester ging. Pietro Bombalo schüttelte den Kopf.
»Die Zeit wird uns und unseren Schmerz überrollen, Maestro.« Bombalo zupfte an dem Hemd Donanis herum, obwohl nichts zu ordnen war. »Und wir haben immer noch die Musik.«
»Wenn wir die nicht hätten, Pietro –« Donani nickte und trat hinaus in den Saal. Die Probe ging weiter. Als er den Taktstock wieder hob, mußte er ein inneres Zittern überwinden. Ich bin alt geworden, dachte er und atmete tief auf. Ich bin in wenigen Tagen ein Greis geworden –
*
Pünktlich um 9 Uhr morgens saß Carola Donani wieder auf dem lederbezogenen Stuhl im Sprechzimmer Dr. Lombards. Die Oberschwester hatte sie freundlich, aber kühl empfangen … Dr. Lombard frühstückte noch und ließ Carola bitten, eine Minute zu warten. In Wirklichkeit saß er im Nebenzimmer, einer kleinen Bibliothek, und war mit sich nicht einig, ob er Madame Magda Burger aus Gießen hinauswerfen oder aus ihr eine südländische Schönheit machen sollte. Der willkürlich und äußerst hoch genannte Betrag von 20.000 Francs, den sie ohne Zögern akzeptiert hatte, spielte dabei eine große Rolle. Dr. Lombard hatte Schulden. Keine drückenden, aber immerhin doch einige sehr unangenehme. Es waren ein Teil der neuen Apparate, vor allem in der Massageabteilung, noch nicht bezahlt worden, die Wechsel liefen an … mit 20.000 Francs konnte man einen schönen Schritt vorwärtskommen.
Carola Donani lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Sie war müde. Der Abschied von Jean Leclerc war der letzte Rausch als Carola gewesen. Vor einer Stunde hatte sie seinen Kopf zwischen beide Hände genommen und gesagt: »Sieh mich noch einmal an, Liebster. Wenn ich zurückkomme, werde ich ganz anders sein … Aber nur das Gesicht wird es sein … meine Seele und meinen Körper wirst du immer wiederfinden.«
»Ich habe Angst, Chérie –«, hatte Leclerc gesagt. Er hatte sie mit einer verzweifelten Wildheit geküßt und geliebt, als sei es wirklich ein Abschied für immer. »Bleib, wie du bist …«, hatte er immer wieder gestammelt. »Und wenn wir um die ganze Welt flüchten müßten … ich will dich so lieben, wie du jetzt bist. Nicht anders. Bitte, nicht anders. Laß dir die Haare färben, trag eine Perücke … man kann das alles wieder ändern … aber was du tun willst, kann man nie wieder rückgängig machen –«
»Das soll es auch nicht, mein Liebling.« Sie hatte ihn umklammert, und ihr Griff war so wild, daß ihre Fingernägel die Haut auf seinem Rücken aufrissen. »Ich will ja ein neuer Mensch sein, ein ganz neuer … Ich will nie, nie mehr an gestern erinnert werden … auch nicht von meinem Gesicht.«
Carola schrak hoch, als sie jemand berührte. Sie war auf dem Stuhl eingeschlafen. Dr. Lombard stand vor ihr und musterte sie durch die blitzenden Gläser seiner Goldbrille.
»Sie sind erschöpft, Madame?«
»Ja.« Sie sah ihn freimütig an. »Wir haben Abschied genommen. Es ist schamlos, so etwas zu gestehen, nicht wahr?«
»Ich glaube, Madame, Sie befinden sich in einem Stadium der Leidenschaft, in dem der Blick für die Realitäten völlig abgetötet ist.« Dr. Lombard setzte sich Carola gegenüber und beugte sich vor. »Ich muß Ihnen klar vor Augen führen, daß alles, was an Ihnen auf Ihren Wunsch geschehen wird, irreparabel ist.«
»Ich weiß. Das soll es auch.«
»Es gibt kein Zurück mehr.«
»Das wäre auch furchtbar!«
»Täuschen Sie sich nicht in Ihrer Liebe? Wenn Ihr Geliebter jünger ist als Sie –«
Carola unterbrach Dr. Lombard mit einer Handbewegung. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Doktor. Ich habe davor keine Angst. Jean und ich brauchen uns gegenseitig so sehr, daß keiner mehr für sich allein leben könnte. Ich weiß aber auch, daß dieses Zusammenleben begrenzt sein wird … vielleicht werden uns zwanzig Jahre bleiben. Aber sagen Sie selbst, Doktor: Sind zwanzig Jahre Glück nicht mehr, als ein Mensch wünschen kann? Schiller sagte einmal: Einen Tag gelebt im Paradiese, ist nicht zu teuer mit dem Tod gesühnt … Er war bescheiden, Doktor … Ich habe zwanzig Jahre Paradies. Warum sollte ich Angst haben?«
Dr. Lombard schwieg. Er bewunderte plötzlich diese Frau, die eine Schönheit wegwarf, um eine andere zu bekommen, die einen falschen Namen nannte und so ungeniert von ihrem Geliebten sprach wie von einem Pudel, den sie an der Leine führte.
»Madame sind verheiratet?« fragte er plötzlich.
Es sollte eine Überraschung sein, aber Carola schüttelte ruhig den Kopf. Nichts in ihrem Gesicht drückte eine Überrumpelung aus.
»Nicht mehr, Doktor.«
»Geschieden?«
»Verwitwet.«
»So jung, Madame?«
»Mein Mann war wesentlich älter als ich. Das erklärt vielleicht auch meine Sehnsucht nach der Jugend –«
»Ich habe keine weiteren Fragen mehr, Madame.« Dr. Lombard erhob sich. »Wann können wir anfangen?«
»Sofort.« Carolas Stimme wurde nun doch etwas unsicher. »Ich habe das nötigste Gepäck mitgebracht. Wie lange wird es dauern?«
»Zwei Monate.«
»Und mein Gesicht wird glatt und ohne Narben sein?«
»Hoffentlich.«
»Ich gebe mich ganz in Ihre Hände, Doktor. Ich vertraue Ihnen –«
Dr. Lombard nagte an der Unterlippe. Noch kann ich sie abweisen, dachte er. Noch kann ich sagen: Nein. Ich tue es nicht. Es läßt sich mit meinem ärztlichen Gewissen nicht vereinbaren, zu operieren, wo es nichts zu operieren gibt. Aber dann wird sie zu einem anderen Arzt gehen, vielleicht wird sie sogar an einen Pfuscher geraten, der ihr herrliches Gesicht entstellt, während ich die Möglichkeit habe, mit geringen Mitteln wirklich einen anderen Menschen aus ihr zu machen. Eine Nasen- und Augenkorrektur, eine andere Stellung der Augenbrauen, dazu das Einfärben der Haare … und man wird sie nie wiedererkennen.
»Zimmer 5«, sagte er rauh. »Schwester Anne wird Sie hinbringen. Ruhen Sie sich erst aus, Madame, schlafen Sie … wir werden morgen früh beginnen –«
Er drehte sich um und verließ grußlos das Zimmer. Er war von sich selbst enttäuscht, daß er nicht den Mut aufgebracht hatte, ein klares Nein zu sagen.
Carola wartete, bis sich die Tür hinter dem breiten Rücken Dr. Lombards geschlossen hatte. Dann öffnete sie ihre Handtasche und legte einen Bündel Geldscheine auf den Schreibtisch. 10.000 Francs als Anzahlung für einen neuen Menschen.
Durch eine andere Tür kam eine junge Schwester in einem weißen Häubchen herein.
»Madame Burger?« fragte sie.
»Ja –« Carolas Herz stockte einen Augenblick. Jetzt ist es soweit, dachte sie. Wenn ich jetzt dieses Zimmer mit Schwester Anne verlasse, gibt es wirklich kein Zurück mehr.
»Darf ich bitten, Madame?«
»Ich komme.«
Sie nahm ihre Handtasche und folgte Schwester Anne aus dem Chefzimmer. Im spiegelnden Glas eines Fensters sah sie sich noch einmal … ein schmaler Kopf, umrahmt von goldenen Haaren.
»Adieu –«, sagte sie leise.
Dann warf sie den Kopf in den Nacken und ging mit weiten, kräftigen Schritten Schwester Anne nach.
*
Das erste, was Jean Leclerc nach dem Weggang Carolas tat, war die Auflösung des Zimmers am Hafen. Er erreichte sogar das Unwahrscheinliche, daß die Wirtin die vorausbezahlte Miete zurückgab, allerdings nur durch die Drohung, der Polizei einen Wink auf diese Absteige zu geben.
»Sie sind ein Schwein, Monsieur«, sagte die Hauswirtin und warf ihm das Geld ins Gesicht. »So etwas wie Sie sollte man wie junge Katzen ersäufen!«
Jean Leclerc lachte sein verführerisches Jungenlachen, ließ eine Taxe kommen und fuhr ab. Als Adresse gab er das Luxushotel ›Atlantic‹ an und stieg vor dem Portal aus dem Wagen wie ein kleiner Fürst. Die Boys rissen die Türen auf, der Chefportier machte einen kleinen Diener. Er brauchte nicht zu fragen, wer da hereinkam, er hatte seine Erfahrung. Wenn jemand mit drei echten Krokodillederkoffern reist, ist es vermessen, lange zu forschen. Es gibt schon im Auftreten und im Gepäck Visitenkarten, die jedes internationale Hotel zu lesen versteht.
Jean Leclerc mietete ein Appartement mit Seeblick und eigener Loggia. Er breitete glücklich die Arme aus, als er in dem großen, hellen Zimmer stand, über das Meer blickte, auf der Sonnenterrasse die Musik eines Tanzorchesters hörte und hinter ihm ein befrackter Kellner den bestellten Whisky mit Eis servierte.
Der Sprung in das große Leben hatte begonnen. Von jeher war es der Traum des kleinen Jean gewesen, einmal mit viel Geld in der Tasche im Leben der Reichen eine Rolle zu spielen. Als Junge hatte er mit heißen Backen im Kino die geträumte Welt betrachtet, als hungernder Musikstudent hatte er in Paris und Berlin in den Semesterferien Geige in den Barkapellen der großen Hotels gespielt … aber auch hier sah er nur den Glanz und erlebte ihn nicht selbst an sich. Er roch den Reichtum, aber er durfte ihn nicht berühren. Für ihn, den Jungen aus dem Hinterhaus der 24. Rue de Joffre in Arles, bedeutete Geld alles. Für ihn war die Erfüllung seines Lebens der Augenblick, in dem er im Kreise von Fräcken und Abendkleidern gleichberechtigt stehen würde, reich wie die anderen und unabhängig von den Launen seiner Umwelt.
Carola hatte ihm 5.000 Francs gegeben. Das war nicht viel, aber Leclerc hatte sich vorgenommen, viel mit ihnen anzufangen. Zwei Monate hatte er Zeit. Carola hatte ihm verboten, sie in der Klinik Dr. Lombards zu besuchen. Er sollte nicht die Geburt der neuen Geliebten erleben … er sollte sie in neuem Glanze geschenkt bekommen. Nur schreiben sollte er und berichten, was er tat.
Zunächst – so entwickelte er seinen Plan – wollte er nichts tun. Er wollte sich stärken für den Durchbruch zu internationalen Erfolgen. Dann, geladen mit Energie, wollte er den besten Impresarios vorspielen. Er war sicher, daß schon der erste ihn unter Vertrag nehmen würde. Mit diesem Vertrag wollte er Carola von der Klinik abholen und ihr sagen: »Sieh dir das an! Nun bist du die Geliebte eines berühmten Mannes –«
Leclerc führte diesen Plan konsequent durch. Drei Tage übte er verbissen und spielte sein Repertoire durch. Er setzte sich dazu in das Badezimmer, um durch seine Fingerübungen nicht seine Appartementnachbarn zum Wahnsinn zu reizen. Immer und immer wieder spielte er die schwierigen Passagen durch, auch die Kadenz von Kreisler, an der er bei Donani gescheitert war. Er kaufte sich Schallplattenaufnahmen seiner berühmten Kollegen, ließ einen Plattenspieler aufs Zimmer kommen und spielte mit Menuhin oder Ricci im Duett. Es klang vorzüglich, und Jean Leclerc war mit sich zufrieden.
Am vierten Tag, als er vom Abendessen aus dem Speisesaal zurück in die riesige Halle kam, sah er die vor wenigen Minuten neu aufgehängten Plakate. Er blieb stehen und preßte die Lippen zusammen.
II. Sinfonie-Konzert
Bernd Donani und die
Pariser Philharmoniker.
Donani kam nach Marseille. Er dirigierte wieder. Er hatte den Schock über den Verlust seiner Frau überwunden.
Einem starken inneren Drang folgend, trat Leclerc an die Rezeption und ließ eine Karte für sich reservieren.
»Nein, nicht die ersten Reihen … möglichst hinten«, sagte er zu dem Chefportier. »Kenner, mein Lieber, sitzen hinten … da schwebt der Klang weit im Raum. Vorne werden sie von dem Schwall der Instrumente eingedeckt und hören keine Feinheiten mehr –«
Später saß er auf der Terrasse und rührte nervös in einem Café creme. Soll ich Carola schreiben, daß Donani in zehn Tagen hier dirigiert? Er verwarf den Gedanken wieder … noch früh genug würde sie mit der Vergangenheit wieder in Berührung kommen, auch wenn sie es nicht wollte und sich in ein neues Gesicht flüchtete.
Verbissen in den Ehrgeiz, aus eigener Kraft emporzusteigen, übte er weiter in dem kleinen, schwarz gekachelten Badezimmer, schrieb jeden dritten Tag einen langen Brief an Carola und nahm im Hafen, in verräucherten Spelunken, Verbindungen auf zu einem Fälscherring, der falsche Pässe aller Nationalitäten lieferte. Ein deutscher Paß wurde mit 3.000 Francs angeboten – Leclerc zahlte 200 Francs an und bekam dafür eine Adresse, an die er sich wenden sollte, wenn das neue Gesicht Carolas fertig war und er das Foto für den Paß abliefern konnte.
In einem der besten Herrenausstattungsgeschäfte Marseilles kaufte er einen Smoking und ließ sich für einen Galaabend einkleiden. Dreimal versuchte er, Carola telefonisch zu sprechen. Die Stationsschwester in der Lombard-Klinik stellte das Gespräch gar nicht durch mit dem Bemerken, Madame habe verboten – und sei nicht zu sprechen. So hörte Leclerc in diesen Tagen nichts von Carola, erfuhr nicht, wie es um sie stand, ob die Operationen schon begonnen hatten … er schrieb brav seine Briefe und bekam nie eine Antwort darauf.
Am Abend des Donani-Konzertes wartete er im Foyer, bis der Saal sich gefüllt hatte. Dann setzte er sich auf seinen Platz, ganz hinten in der vorletzten Reihe, vor einer Säule, kurz bevor die Lampen ausgingen und nur das Podium mit dem Orchester beleuchtet war.
Da sitzen sie, dachte er. Dort der dicke Marcel mit seinem Cello, und Hubert steht noch genau so verkrümmt an seiner Baßgeige wie früher. Jetzt kontrolliert der Erste Kapellmeister noch einmal die Geigenstimmung … arrogant wie immer, ein Fatzke, der sich vorkommt wie Donani II. Ach ja, und der arme Jules hat noch immer seinen Schnupfen. Seit zwei Jahren tropft ihm die Nase, und kein Arzt kann diesen chronischen Schnupfen heilen. Da er an der Kesselpauke sitzt, fällt das nicht auf … er hat immer Zeit genug, sich die Nase zu trocknen, bevor er auf seinen Kalbsfellen loshämmert.
Jean Leclerc spürte eine Traurigkeit in sich aufsteigen, gegen die er vergebens ankämpfte. Er starrte auf seinen Platz in der letzten Reihe der ersten Geigen. Dort saß jetzt ein neuer Geiger, jung wie er, sichtlich nervös, schon im voraus schwitzend. Er sah bleich aus, als habe er vor Angst den Durchfall bekommen.
So war es auch bei mir, dachte Leclerc. Als ich zum erstenmal Donani gegenübersaß, fühlte ich mein Herz nicht mehr. Es hing mir irgendwo in der Kehle und war zu einem erstickenden Kloß geworden. Aber später gibt sich das … alles wird Routine, wird Gewohnheit, wird einfach Beruf –
Die Tür des Künstlerzimmers sprang auf. Bernd Donani betrat das Podium. Die zweitausend Zuhörer applaudierten. Leclerc beugte sich vor, als sei er plötzlich kurzsichtig geworden, und starrte den großen, weißhaarigen Mann an.
Donani verbeugte sich knapp. Sein Gesicht war ernst und schmal, das berühmte Lächeln fehlte. Fast traurig blickte er über die zweitausend Köpfe, das Kinn war vorgeschoben, als müsse er sich diese Verbeugung abtrotzen.
Leclerc atmete tief auf. Statt des weißen Taschentuches in der Ziertasche des Fracks trug Donani ein schwarzes Tuch. Ein sichtbarer Ausdruck seiner Trauer. Leclerc schloß die Augen. Heiß stieg es in ihm hoch und erzeugte das Gefühl, als explodiere im nächsten Moment sein Kopf.
Mit verkrampften Fingern und weichen Knien stand er auf und drückte sich aus seiner Reihe hinaus zum Ausgang. Die Tür schloß sich hinter ihm, als die ersten Töne, die Klage der unendlichen Weite der Steppe aufklangen. Der Türschließer eilte auf ihn zu.
»Ist Ihnen nicht wohl, Monsieur?« fragte er besorgt.
Leclerc schüttelte den Kopf. »Ein Schwächeanfall … nichts Ernstes … er geht schon vorbei …«
Er verließ das Konzerthaus und fuhr zurück zum Hotel.
So wird es nie gehen, dachte er, als er im dunklen Zimmer saß und aufs Meer starrte. Mit solchen Skrupeln vermauert man sich den Weg. Zum Teufel, was geht mich ein Donani an? Ich bin Jean Leclerc, und allein mein Leben ist wichtig.
Aber sosehr er sich bemühte, so zu denken … es blieb an der Oberfläche. Im Inneren sah er immer noch das traurige Gesicht des großen Donani, der nicht mehr lächeln konnte …
*
Der Morgen, an dem Dr. René Lombard mit der ersten Operation beginnen wollte, war ein sonniger Tag. Carola hatte tief und lange geschlafen und fühlte sich frisch und erholt. Dr. Lombard kam zu ihr aufs Zimmer, in der Hand eine große Mappe mit Fotos und Zeichnungen.
»Bevor wir anfangen, Madame«, sagte er und setzte sich an den Tisch, auf dem noch das Geschirr des Morgenkaffees stand, »müssen wir uns über die gewünschte neue Nasenform im klaren sein. Uns stehen für den südländischen Typ neun Formen zur Verfügung … von der Römernase bis zum süditalienischen Näschen.«
Carola lachte und warf einen Blick auf die Fotos und Zeichnungen.
»Ich überlasse das ganz Ihnen, Doktor«, sagte sie fröhlich.
»Dann bleibt sie so, wie sie ist.«
»Das ist das einzige, was nicht in Frage kommt. Machen Sie aus mir einen Typ à la Carmen …«
»Es ist eine Schande, Madame, wissen Sie das?«
»Wir wissen es beide, Doktor. Und trotzdem.«
»Darf ich noch einmal –«
»Nein!« Carola schüttelte energisch den Kopf. »Ich will etwas vergessen … und das muß endgültig sein –«
»Also dann … in einer Stunde im OP.« Dr. Lombard erhob sich und verließ mit einem Seufzer das Zimmer.
Carola nagte an der Unterlippe und faltete die Morgenzeitung zusammen. Auf der Anzeigenseite war eine umrandete Vorankündigung.
Festkonzert der Pariser Philharmoniker unter der Leitung von Bernd Donani.
Er kann schon wieder dirigieren, dachte sie bitter. So schnell vergißt er mich … Sie spürte einen Schmerz im Inneren und redete sich ein, daß ihr das alles gleichgültig sei.
So wenig habe ich ihm bedeutet, dachte sie und zerknüllte die Zeitung. Aber so war es ja immer … er hat seine Musik, und er hat sein Glas kalte Milch … größer ist seine Welt nie gewesen – Was bedeutet ihm schon seine Frau …?
Schwester Anne kam, um Carola auf die Operation vorzubereiten. Sie mußte einen hochgeschlossenen, weißen Kittel anziehen und die Haare unter einer weißen, eng anliegenden Haube verbergen. Dann wurde ihr Gesicht mit Alkohol gewaschen und die Nase mit einer orangefarbenen Flüssigkeit desinfiziert.
»Jetzt sehen Sie aus wie ein Clown, Madame«, lachte Schwester Anne. Das sagte sie jedesmal, um die Patienten aufzuheitern. Carola lachte nicht, ihr war in diesem Augenblick nicht zum Scherzen zumute. Sie strich mit beiden Händen über ihr Gesicht und nahm Abschied davon.
Über der Tür leuchtete ein rotes Lämpchen auf. Schwester Anne nickte. »Dr. Lombard wartet. Können wir, Madame?«
»Wir können«, sagte Carola fest.
Mit sicheren Schritten betrat sie den OP. Ein chromblitzender Tisch, zwei Ärzte, eine Schwester, ein offener Instrumentenschrank, über dem Tisch ein riesiger Scheinwerfer mit zwölf Birnen, ein Tisch mit Watte, Tupfern, Kompressen, ein Eimer … Sie blieb stehen, als sei sie plötzlich geblendet worden. Dr. Lombard kam langsam auf sie zu.
»Darf ich Ihnen auf den Tisch helfen, Madame –«
Carola nickte stumm. Ihre Stimme war in Angst versunken.
Was tue ich, dachte sie plötzlich. Mein Gott, was tue ich? Ist die Liebe das alles wert?
»Madame –«
Die Stimme Dr. Lombards riß sie herum.
»Ja?«
»Wenn Sie sich zu schwach fühlen …«
»Nein, Doktor.« Sie riß den Kopf hoch. Der alte Trotz brach wieder aus ihr hervor. Sie setzte sich auf den OP-Tisch und ließ sich dann nach hinten auf die Gummiunterlage gleiten. »Ich … ich werde doch nicht vor der größten Stunde meines Lebens kapitulieren … Fangen Sie an!«
Sie schloß die Augen und spürte, wie man ihr ein Tuch über Stirn und Augen legte. Um ihre Handgelenke und Fußfesseln schlossen sich enge Lederschnüre. Dann spürte sie einen Einstich an der Nasenwurzel.
Die Narkose begann.
Es gab keine Carola Donani mehr –
*
Das Erwachen aus der Narkose war wie die Rückkehr aus einem seligen Traum in die Nüchternheit der Wirklichkeit. Carola hatte wirklich einen ersehnten, zukünftigen Teil ihres Lebens geträumt … die Weite des Meeres, ein goldener Strand, wiegende Palmen, weiße Segel gegen azurblauen Himmel, eine Promenade, auf der sie – eine schöne, dunkle Frau von faszinierendem südländischem Reiz und der berühmte Geiger Jean Leclerc – Arm in Arm einherschritten, bewußt ihrer Schönheit und ihres Ruhmes, und die anderen Spaziergänger grüßten sie, blieben stehen und sahen ihnen nach: Das ist er! Das ist sie! Mein Gott – welch ein herrliches Paar!
Es war der Traum einer Jungmädchenverliebtheit, ein jauchzendes Phantasieren voll jugendlicher Schwärmerei … was an Sehnsucht in Carolas Herzen verborgen lag, brach in diesem Narkosetraum mit aller Glut hervor und zauberte Bilder voller Seligkeit.
Das Erwachen, das Hinübergleiten in den Alltag, war wie ein Losreißen aus einem Paradies. Dann spürte sie, innerlich noch mit dem Traum verbunden, daß sie in einem Bett lag, auf dem Rücken, und daß es schwer war, richtig zu atmen und von der Nase aufwärts bis zur Stirn ein dumpfer, lastender Schmerz auf ihrem Gesicht lag.
Sie hob die Hand und wollte über ihren Kopf tasten … aber eine andere Hand hielt sie fest und drückte sie zur Seite weg.
»Ganz ruhig liegen …«, sagte die freundliche Stimme von Schwester Anne. »Es stimmt, Sie haben den ganzen Kopf verbunden –«
In Carola stockte der Herzschlag. Der ganze Kopf, dachte sie. Warum der ganze Kopf …
»Ist … ist etwas danebengegangen …?« fragte sie heiser.
»Nein, Madame, aber nein. Es ist alles gut. Dr. Lombard ist sehr zufrieden.« Die Stimme Schwester Annes war beruhigend und sanft. »Sie brauchen sich gar keine Sorgen zu machen.«
»Aber warum hat man mir auch die Augen verbunden, Schwester?«
»Dr. Lombard hat in einem Arbeitsgang auch gleich den Augenschnitt und die Lider korrigiert. Die Nasenplastik war sehr einfach –«
»Und … und wie sehe ich aus?« Carolas Finger krallten sich in das Bettlaken. Jetzt, wo es geschehen war, wo sie das Gesicht der Carola Donani endgültig verloren hatte, überfiel sie die Angst, verstümmelt zu sein.
»Nicht gut, Madame …«
»Nicht –«
»Noch nicht. Aber in vier oder sechs Wochen werden Sie wundervoll aussehen. In vier Tagen nehmen wir Ihnen die Augenbinde ab …« Schwester Anne schien zu lächeln. Sie kannte die Gedanken ihrer Patientinnen, sie waren immer die gleichen. Und deshalb sprach sie auch aus, was Carola sofort unternehmen wollte, wenn die Augenbinde fiel. »Aber einen Spiegel werden Sie nicht eher bekommen, Madame, bis es Dr. Lombard erlaubt. Sie kennen Ihr altes Gesicht … und Sie sollen mit gleicher Freude Ihr neues Gesicht ansehen … das Zwischenstadium ist nicht schön –«
»Ich werde vier Tage nichts sehen können?«
»Wenn Sie es wünschen, Madame, lese ich Ihnen alles vor, wofür Sie sich interessieren …« Carola hörte das Rascheln von Zeitungen. Sie wandte den verbundenen Kopf zu Schwester Anne und versuchte, in dem Verband eine kleine Ritze zu finden, durch die sie hindurchsehen konnte. Es war sinnlos … auf ihren Augen lagen dicke Zellstoffpolster.
»Die neuesten Zeitungen, Madame?«
»Bitte.«
»Und was? Mode, Kunst, Erzählungen –«
»Alles … nur keine Politik. Fangen wir … mit Kunst an …«
Wieder raschelte die Zeitung. Schwester Anne schlug den kulturellen Teil auf. »Da ist der Bericht von einem Konzert –«, sagte sie. »Es war gestern abend …«
»Lesen Sie … bitte …« Die Stimme Carolas ertrank in den dicken Verbänden. Das Konzert, dachte sie. Während er sein Orchester dirigierte, starb die Carola Donani wirklich unter einem Chirurgenmesser. Ob Bernd nach dem Konzert sein großes Glas Milch bekommen hat? Wer hat es ihm gebracht? Vielleicht Pietro Bombalo …
»Es muß ein festliches Konzert gewesen sein«, sagte Schwester Anne. »Der Kritiker ist voll Lob. Haben Sie schon von Bernd Donani gehört, Madame?«
»Nein –«, sagte Carola leise. »Nie –«
»Er hat aber auch oft in Deutschland dirigiert.«
»Ich hatte nie Zeit, ein Konzert zu besuchen.«
»Dann soll ich etwas anderes vorlesen?«
»Nein, bitte, lesen Sie die Kritik. Ich möchte hören, was der Kritiker schreibt … es ist eine so … so fremde Welt für mich. Vielleicht werde ich später viele Konzerte besuchen … wer weiß …«
Schwester Anne räusperte sich und begann, die Kritik vorzulesen. Carola hatte unter dem Verband die Augen geschlossen und zwang sich – während die Worte auf sie niederfielen – anders zu denken, als sie fühlte. Er konnte wieder dirigieren, dachte sie. Er stand da, umgeben vom Glanz, lächelnd und heldisch wie immer, in einem Frack, der wie übergegossen wirkt, die weißen Haare etwas zerwühlt, schon vor dem Konzert, weil es interessant aussieht, künstlerisch dämonisch, spannungsgeladen. Wie sagte Bombalo einmal: »Ein Künstler ist ein Elektrizitätswerk von vielen tausend Volt! Das Publikum muß es spüren, schon wenn er heraustritt … es muß einen elektrischen Schlag bekommen!« Und dann nimmt er den Stab auf, das Orchester sitzt da wie eine Soldatenkompanie vor dem Angriff, er hebt den Kopf, etwas Caesarisches strahlt von ihm aus, er weiß, hinter ihm sitzen zweitausend Menschen, deren Puls schneller schlägt und deren Blutdruck steigt … der erste Takt … die erste Stufe zum neuen Triumph.
Ein Dämon, der den Tod seiner Frau weglegte wie eine abgespielte Partitur. Ein Massenmedium, der nach dem donnernden Dank seiner Hypnotisierten hinter der Bühne nach einem Glas Milch schreit. Wie widerlich, wie lächerlich war das alles …
Carola hob die Hand. Die Stimme Schwester Annes verstummte. Der Kritiker sprach gerade vom Zauber des Adagio.
»Bitte, lesen Sie etwas anderes. Ich interessiere mich doch nicht dafür. Es ist mir eine völlig fremde Welt –«
Die Zeitung raschelte wieder. »Die neue Mode, Madame?«
»Ja, bitte …«
»Die bevorzugte Farbe des Winters wird Dunkelviolett und ein sattes Weinrot sein –«
»Weinrot … wie schön. Es wird mir gut stehen …«
Carola drehte den Kopf zu Seite. Ihre Stimme war klein und kläglich. Ob Bombalo ihm die Frackschleife geradegerückt hat, dachte sie. Aber das sieht er nicht, und er ist hinausgetreten und hat sich verbeugt mit schiefer Schleife … Und niemand hat ihm den Schweiß von den Nackenhaaren getupft, damit der Frackhemdenkragen nicht durchweicht.
»Bitte … lesen Sie nicht weiter, Schwester …«, sagte sie stockend. »Ich bin müde … ich … ich kann nicht mehr folgen. Nachher wieder, ja?« Sie hob die Hand und suchte, bis Schwester Anne sie ergriff. »Ich danke Ihnen«, sagte Carola leise. »Sie sind so nett zu mir –«
Dann tat sie, als schlafe sie ein. Sie hörte, wie Schwester Anne vom Stuhl aufstand, etwas wegräumte, wieder raschelten ein paar Zeitungen, dann klappte die Tür leise zu. Sie war allein. Allein mit einem zerschnittenen Gesicht, das in vier oder sechs Wochen das Antlitz eines neuen Menschen sein sollte.
Und plötzlich weinte sie. Es war eine lange aufgesparte Erlösung –
*
Nach zwei Wochen intensiver Proben im Badezimmer seines Appartements im Hotel ›Atlantic‹ fühlte sich Jean Leclerc stark genug, den Sprung an die Sonne zu wagen und den besten Impresarios und Konzertagenturen vorzuspielen.
Er hatte sich dazu eine Liste angelegt, die kreuz und quer durch Frankreich, Italien, die Schweiz und Deutschland führte. Zum Schluß – wenn alle Agenturen keinen Platz für Jean Leclerc haben sollten – wollte er es in England versuchen. Um einem frühzeitigen Skandal vorzubeugen, hatte er sofort an den Geldverleiher Hilman Snider geschrieben und ihm mitgeteilt, daß er die Straße des Ruhmes beschritten habe. Er brauche jetzt von Snider nur eine kleine, geldlose Unterstützung – nämlich Geduld.
In den Wochen der Probenarbeit hatte Leclerc sehr zurückgezogen gelebt, so weit das in einem Luxushotel wie dem ›Atlantic‹ möglich war. Vor allem hatte er sich bemüht, keine Blicke für die schönen Frauen zu haben, die – Abenteuer in den Augen – abends die Halle und den Gesellschaftssaal füllten und den eleganten Leclerc unverhohlen musterten, als sei er zu verkaufen. Auch mußte er sparsam sein, denn seine Rundreise zu den Impresarios würde fast das ganze Geld aufbrauchen, das ihm Carola überlassen hatte. Aber sein Plan war diesen Einsatz wert … mit seinem Können würde er überzeugen.
Zunächst suchte er die Konzertagentur Parthou in Marseille auf. Sie hatte einen guten Namen und einige bekannte Violinvirtuosen unter Vertrag.
François Parthou war an diesem Tag solch guter Laune, daß er diesen Monsieur Leclerc selbst empfing. Eine Sekretärin führte ihn in ein riesiges Zimmer, in dessen Mitte ein weißer Konzertflügel stand. François Parthou, den Leclerc zunächst gar nicht bemerkte, kam aus einer Ecke des Saales hervor, wo ein kleiner Rokokoschreibtisch und drei Sesselchen standen. Sonst war der Riesenraum leer. Er schien um den weißen Flügel herum gebaut zu sein als gläserne Glocke, in der sich die Töne fangen sollten.
»Monsieur –«, sagte Parthou und legte die Fingerspitzen aneinander. »Nach dem, was Sie da unter dem Arm quetschen, wollen Sie mir Geige vorspielen.« Seine Stimme war hoch und etwas schrill und paßte nicht zu dem napoleonischen Gesicht, dessen Ähnlichkeit er mit Ausdauer und Liebe pflegte.
»Ja.« Jean Leclerc verbeugte sich. »Ich hatte mich angemeldet und –«
»Mein Sohn! Es melden sich bei mir wöchentlich hundert verkannte Genies an. Meistens wimmern sie in den Nebenräumen vor meinen Assistenten … daß Sie heute gerade auf mich treffen, sollten Sie in Ihr Gebet als ganz große Gnade einschließen.« Parthou umkreiste Leclerc, als mustere er auf der Auktion in der Camargue einen Hengst. »Was wollen Sie vorspielen, junger Paganini?«
Leclerc atmete tief auf. Die Art, wie man ihn hier empfing, war noch arroganter und deprimierender als das professorale Wohlwollen, das Bernd Donani an den Tag gelegt hatte. Hier war nichts mehr von Interesse zu spüren … es schien, als leiste sich François Parthou für diesen Tag einen Hofnarren, weil er so guter Laune war.
»Beethoven –«, sagte Leclerc kurz. Parthou hob die Augen gegen die gestuckte Decke.
»Was haben Sie noch?«
»Paganini … Sarasate … Bartók … Bach …«
»Junger Mann –« Parthou schnaufte hell durch die Nase. »Sind Sie größenwahnsinnig? Mir scheint, Ihnen schwebt vor, ein zweiter Menuhin oder Ricci zu werden …«
»Allerdings –«, sagte Leclerc leise.
»Allerdings! Man höre sich das an! Da kommt jemand aus der Dunkelheit, mit einer Fiedel unterm Arm, und sagt: Werft den alten Oistrach weg – jetzt kommt Leclerc! Ich mache klimm-klimm, und die Welt wird fassungslos sein.«
»Sie haben mich noch nicht angehört, Monsieur Parthou.« Leclerc umklammerte seine Geige. Er spürte, wie seine Handflächen wieder schweißig wurden und wagte nicht, sie an den Hosen abzureiben, wie er es vor Donani getan hatte. Sie sind alle gleich, dachte er. Arrogant und erbarmungslos. Warum sind sie bloß so? Warum führen sie uns junge Künstler nicht den richtigen Weg? Warum müssen sie immer vor uns Gebirge auftürmen, deren Gipfel wir nie erreichen werden? Wie wird man denn berühmt, wenn sie alle schon vorher sagen: Du bist ein Stümper!
»Darf ich spielen?« fragte Leclerc mit belegter Stimme. Parthou nickte.
»Und was, bitte?«
»Den Walzer ›Wiener Blut‹ …«
»Wie bitte?«
»Wiener Blut!« Parthou hob wie dirigierend beide Hände. »Junger Freund, das kennen Sie doch. Wiiiiener Blut … Wiiiiener Blut –«
»Ich wollte klassisch spielen, Monsieur –«
»Klassisch.« Parthou ließ seine Hände sinken. »Jean Leclerc … wenn ich Ihnen meine Kartei zeige, werden Sie lesen, daß gegenwärtig allein bei mir 48 klassische Geiger auf ein Engagement warten. Was ich dringend brauche, ist ein Kaffeehausgeiger. In der Bar des ›Océan‹ in San Remo. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht? Im ›Océan‹ verkehren die stinkreichen Nichtstuer. Und Frauen, mein Lieber, Frauen! So wie Sie aussehen, werden Sie auf Ihr Gehalt als Geiger nicht angewiesen sein –« Parthou drückte das Kinn an den Kragen. »Wo haben Sie bisher gespielt?«
»Im Pariser Philharmonischen Orchester –«
»Unter Donani?«
»Ja.«
»Und da sind Sie weg?«
»Ich wollte Solist werden –«
»Sie Wahnsinniger! Verläßt einen Donani! Leclerc, bei Ihnen ist eine Schraube locker!« Parthou hob wieder beide Hände. »Bitte, reden Sie nicht weiter. Setzen Sie Ihre Fiedel auch nicht ans Kinn. Ich will nichts mehr hören. Wer einen Donani verläßt, ohne Grund, nur weil er glaubt, er sei ein Genie … Leclerc … die psychiatrische Klinik ist Tag und Nacht für Neuzugänge geöffnet –«
Wortlos verließ Jean Leclerc den großen Agenten Parthou. Wieder – wie damals bei Donani – hatte er große Lust, seine Geige gegen die Wand zu schleudern und seine Wut in die Welt hinauszubrüllen. Aber nach der ersten Aufwallung sah er die Sinnlosigkeit ein … er packte die Geige in den Kasten und verließ das erste Haus seiner Hoffnung.
Im Hotel ›Atlantic‹ schrieb er an Carola einen langen Brief. »Du wirst jetzt einige Tage nichts mehr von mir hören, Chérie …«, schrieb er am Ende … »denn ich habe eine große Überraschung vor, die ich Dir überreichen werde, wenn Du wieder aus der Klinik entlassen wirst und ich die Frau abhole, die mir von da ab ganz allein gehören wird. Glaub mir, daß ich die Tage, ja die Stunden zähle und daß ich abends allein im Zimmer sitze und meine Sehnsucht meiner Geige anvertraue – Ängstige Dich nicht, Liebste … ich bin ausgezogen, unsere Zukunft zu erobern –«
Er las den Brief noch einmal durch, fand ihn gelungen und wußte, daß Carola ihm glauben würde. Dann bezahlte er seine Rechnung, ließ das große Gepäck im Hotel zur Aufbewahrung und reiste ab – nur mit seinem Krokodillederkoffer und seiner Geige.
Er fuhr zuerst nach Paris.
In Paris hatte man keine Zeit für ihn. Erst in vier Wochen.
Brüssel. Die Agentur bedauerte. Alles besetzt.
Den Haag. Besetzt. Amsterdam. Kein Interesse. Rotterdam. Nur Tanzmusik.
Er flog nach Süden. Nach Mailand. Dort hörte man ihn an, nickte beifällig und sagte: »Wir nehmen Ihren Namen in die Kartei auf. Vielleicht ergibt es sich –«
Rom. Neapel. Palermo.
Freundliche Menschen, Impresarios, voll des Lobes und randvoll mit südlichem Temperament. Aber nirgendwo eine feste Anstellung, kein Vertrag, keine Chance, vor einem kritischen Publikum zu zeigen, was man konnte. Beppo Taducci in Neapel sprach es ganz deutlich aus.
»Mein Lieber«, sagte er und klopfte Leclerc auf die Schultern. »Sie sind talentiert. Sie haben das Zeug in sich, Solist zu werden. Aber … wissen Sie, was es kostet, einen unbekannten Mann aufzubauen? Die Saalmiete, die Plakate, die Anzeigen, das Orchester, die Pressekonferenzen … einmal, o Diabolo, mußte ich mit der Frau eines Saalvermieters schlafen, um überhaupt den Saal zu bekommen … was das kostet. Und dann sitzen vierzig Mann im Saal, davon zwanzig Freikarten. Wer soll das durchhalten –«
Leclerc klappte den Deckel seines Geigenkastens mit einem Knall zu.
»Warum – sagen Sie mir das bitte – managen Sie denn?« fragte er rauh.
»Bekannte Künstler, mein Junge.«
»Und wie wird man bekannt, zum Teufel?« schrie Leclerc. Beppo Taducci kratzte sich die Nase und dachte über dieses Problem nach. Schließlich antwortete er:
»Man muß Glück haben –«
»Wie kann ich Glück haben, wenn man alle Türen vor mir verriegelt?«
»Sie müssen sie aufbrechen.«
»Aber wie?«
Taducci hob die Schultern. »Wenn es dafür ein Rezept gäbe, bestände die Welt nur noch aus Virtuosen. Glück ist eben nicht greifbar. Dem einen hilft eine Frau mit Beziehungen, der andere wird so nebenbei entdeckt, der dritte wird ein Männerfreund … es gibt viele Wege in der Kunst, mein Lieber. Solist werden ist eine Kunst für sich … als Schauspieler, als Sänger, als Dirigent stehen sie automatisch an der Rampe … aber der Sprung aus dem Orchester hinaus neben das Dirigentenpult, dafür gibt es noch keine Olympiamedaille im Weitsprung –«
Die letzte Station Jean Leclercs auf dem Festland war Köln. Hier verwaltete der Konzertagent Hans Bartschleger den Ruhm weltbekannter Solisten, von der Harfenistin bis zum Oboevirtuosen. Jean Leclerc mußte wohl oder übel vier Tage warten, ehe er zum Vorspielen bestellt wurde. Er bezog in der Kölner Altstadt ein kleines Hotel und saß wieder auf der Toilette und übte und übte.
Dann war es endlich soweit … Hans Bartschleger empfing ihn mit großer Freundlichkeit und stellte ihn einigen anderen Herren vor. Leclerc drückte Hände, hörte Namen, die er nie behielt, sprach einige konventionelle Worte und bemühte sich, sicher aufzutreten und sein wieder aufkommendes Lampenfieber zu unterdrücken.
»Lauter Aufkäufer –«, sagte ihm Bartschleger leise ins Ohr, bevor Leclerc zum Flügel ging, wo ein junger Mann auf ihn wartete. »Zeigen Sie, was Sie können. Ich habe gesagt, daß Donani Sie gefördert hat … Ein bißchen Wind muß man ja machen. Nun sind sie alle gespannt, was Donani da großgezogen hat. Blamieren Sie mich nicht, sich und den großen Meister … geben Sie Ihr Bestes.«
Leclerc nickte stumm. Die Kehle war ihm wieder zugeschnürt. Wieder Donani, dachte er, und es überflutete ihn heiß. Immer Donani! Immer er! Er! Er! Ich komme aus seinem Bannkreis nicht heraus! Er verfolgt mich mein Leben lang. Er erwürgt mich, ohne einen Finger zu rühren. Er ist ein Schicksal, dem ich nicht entrinnen kann –
»Bitte!« sagte Hans Bartschleger laut. »Meine Herren … bitte. Jean Leclerc, der junge Virtuose, eine der größten Hoffnungen, die wir haben, ein Schüler Donanis, wird Ihnen jetzt den dritten Satz von Beethovens …«
Nein, wollte Leclerc schreien. Nein … ich spiele nicht! Der Schüler Donanis … Ich werde wahnsinnig. Ich schlage um mich … um mich … Laßt mich doch in Ruhe … ihr alle, alle … Donani wollt ihr hören, nicht mich … Laßt mich doch in Ruhe …
Er stand am Flügel, klemmte die Geige zwischen Kinn und Kragen und spannte noch einmal den Bogen. Vor seinem Blick verschwammen die Gesichter zu einem milchigen, rosafarbenen Brei.
Aus dem Flügel ertönte der Auftakt, die Einleitung des Orchesters zum dritten Satz. Machtvoll, rauschend, ein Beethovenscher Vulkan. Leclerc schloß die Augen. Er sah Donani vor dem Orchester stehen, seine Hände beschworen die Instrumente, aus seinen Fingern gebar er die Musik …
Jean Leclerc spielte.
Es war ihm, als verspiele er seine Seele –
*
In Stockholm gab es den ersten großen Krach zwischen Pietro Bombalo und Bernd Donani.
Das Konzert, zu dem sich die königliche Familie angesagt hatte, weigerte sich Donani zu dirigieren. Die Schuld traf allein Pietro Bombalo, und da er das wußte, waren sein Jammern und sein Geschrei besonders laut und anhaltend.
Begonnen hatte es damit, daß Donani Erschöpfungserscheinungen zeigte. Die drei letzten Konzerte in Kopenhagen, Göteborg und Oslo hatte er nur mit Mühe durchgestanden. Es war keine körperliche Erschöpfung, sondern, was viel schwerer wog, eine psychische Schwäche, die über ihn kam. Plötzlich starrte er seine entsetzten Musiker an, statt zu dirigieren, kam aus dem Takt und verzichtete darauf, mit dem Herausholen einzelner Stimmen seine berühmten Tongemälde zu errichten … er stand einfach da, mit fast unbeweglichen Händen, starrte ins Leere und schien weder das Orchester zu sehen noch die Sinfonie zu hören. Er war einfach nicht mehr gegenwärtig.
»Der Fall ist ganz klar«, sagte Pietro Bombalo laut zu sich selbst, als er dieses Problem reiflich durchdacht hatte. »Alles klingt für ihn wie ein Trauermarsch. Er denkt zuviel. Vor allem denkt er zuviel an Carola. Das muß aufhören. Es wird unsere Aufgabe sein, ihn aufzuheitern –«
Für Bombalo war die Aufheiterung (genau wie das Wort) weiblichen Geschlechts. In Stockholm ließ er seinen Versuchsballon steigen. Unter einer Auswahl hinter verschlossenen Türen gehandelter blonder Schönheiten wählte er ein Mädchen aus, von dem er annahm, daß es Bernd Donani aus weiteren quälenden Erinnerungen reißen könnte.
»Du bist einfach da, mein Kind«, sagte er zu der blonden Schönheit. »Du gehörst einfach dazu, verstehst du? Und merke dir eins: Donani ist schüchtern. Man soll es nicht glauben, wenn man ihn so auf der Bühne stehen sieht … aber vor Frauen hat er einen Minderwertigkeitskomplex. Er wird dich von sich aus nie in die Arme nehmen … da mußt du schon nachhelfen.« Bombalo warf einen Blick auf die Figur des Mädchens und seufzte tief. »Man müßte Dirigent sein«, sagte er klagend. »Ich kann mich auf dich verlassen?«
»Das können Sie«, antwortete das Mädchen. Es hatte 500 Kronen Anzahlung bekommen.
Zwei Stunden später merkte Bombalo, daß man nicht alles managen kann und daß er die Grenze seiner Fürsorge weit überschritten hatte. Das Telefon schellte in seinem Zimmer, und als er abhob, hörte er nur:
»Kommen!«
Bombalo warf den Hörer zurück, als wäre er glühendheiß. Dann machte er sich langsam auf den Weg, fuhr mit dem Fahrstuhl dreimal hinauf und hinunter und sagte sich, daß man dem ersten Wutausbruch aus dem Weg gehen soll, ganz gleich mit welchen Mitteln.
Im Zimmer erwartete ihn Bernd Donani am Fenster stehend und hinaus auf das herrliche Panorama Stockholms starrend. Das blonde Mädchen war nicht mehr anwesend, nur ein zerknautschtes Bett bewies, daß es die überzeugendsten Machtmittel einer Frau angewandt und dennoch die Schlacht verloren hatte.
»Maestro –«, sagte Bombalo geknickt. Mehr nicht. Donani drehte sich um. In Bombalo quoll das Gefühl auf, als sei ein Magengeschwür geplatzt.
»Ich nehme an, daß Sie selbst wissen, was ab sofort zu geschehen hat«, sagte Donani in einem Ton, der kalt wie ein Eisblock war. Bombalo strich sich über den Kopf – ihm war es, als läge der Block auf seinem Gehirn.
»Maestro –«, stotterte er.
»Das Konzert heute abend sage ich ab.«
»Nein!« schrie Bombalo. »Die königliche Familie kommt –«
»Das ist mir wurscht! Sie können ja dirigieren …«
»Das ist unser Ruin!« Bombalo kam auf Donani zu. Er breitete die Arme aus und hielt den Kopf vor. »Maestro, hauen Sie mir eine 'runter!« stotterte er. »Zerfleischen Sie mich, erwürgen Sie mich, tun Sie alles an mir, was Sie wollen … nur dirigieren Sie heute abend.«
»Nein.« Donani griff zu und zog Bombalo an den Rockaufschlägen nahe zu sich heran. »Mir eine Hure ins Bett zu legen … sind wir jetzt so weit? Du Schwein –«
»Ich wollte Sie aufheitern, Maestro –«
»Halt den Mund!« schrie Donani plötzlich. »Als was betrachtest du mich denn? Als deine Marionette? Jahrelang war ich blind, jahrelang habe ich geglaubt, alles geschähe nur darum, die Kunst zu verkaufen, weil sie sonst betteln ginge. Aber heute, heute weiß ich endlich, als was du mich ansiehst … als einen Hanswurst, als eine Kreatur aus der Retorte Bombalos. Ein Homunkulus der Musik bin ich, weiter nichts! Und ich habe Ideale gehabt … mein Gott, ich Schaf hatte einmal Ideale! Dreck ist das alles, mistigster Dreck, weiter nichts! Das sage dem König, wenn du heute abend vor die Musiker trittst: Bernd Donani dirigiert nicht mehr, weil seine Kunst durch das Bett einer Hure gehen muß! Verstanden?«
Bombalo schwieg. Es war sinnlos, in diesem Augenblick etwas zu erwidern. Er ließ sich gegen einen Sessel schleudern, setzte sich und beobachtete Donani, wie er wütend hin und her rannte.
»Was sitzt du noch hier herum?« schrie Donani und blieb vor Bombalo stehen. »Los … zahl die Eintrittsgelder zurück –«
»Das letzte Konzert, Maestro … ich schwöre, es soll das letzte sein. Aber nur noch diesen einen Abend vor dem König.«
»Nein! Das Panoptikum ist geschlossen. Der Wachskopf des Trottels Donani ist geschmolzen …«
»Soll ich ein Glas Milch –«
»Raus!« brüllte Donani. Pietro Bombalo schnellte aus dem Sessel und verließ schnell das Zimmer. Auf dem Gang sah er auf seine Uhr. Noch vier Stunden bis zum Konzert. Vier Stunden bis zur Katastrophe. Ein König, eine Königin und vier Prinzessinnen würde man nach Hause schicken wie unliebsame Bettler. Die Zeitungen in aller Welt würden diesen Skandal melden: Donani brüskiert den schwedischen König! Es war der Untergang eines Genies –
Bombalo tat das einzige, was er tun konnte: Er tat gar nichts. Eine Stunde vor Beginn des Konzertes ließ er durch den Zimmerkellner eine halbe Flasche Sekt auf das Zimmer Donanis bringen und war glücklich, als man ihm sagte, der Herr Generalmusikdirektor habe die Flasche angenommen und sich ein Glas einschütten lassen.
Vorsichtig, unter dem Vorwand abzuräumen, schickte er noch zweimal den Zimmerkellner in Donanis Appartement und erfuhr, daß er sich den Frack angezogen und hilflos vor dem Spiegel gestanden hatte und mit der Frackschleife kämpfte. Der Kellner hatte sie ihm schließlich korrekt gebunden.
Er dirigiert, jubelte Bombalo. Er dirigiert. Der Madonna sei Dank … sie hat drei dicke Kerzen verdient …
Kurz vor der Abfahrt zum Konzerthaus schickte Bombalo noch einmal den Kellner ins Zimmer. Donani saß am Tisch, fertig zum Weggehen, und studierte noch einmal die Partitur der ›Eroika‹. Bombalo atmete auf. Die große Nummer stand bevor … Donani würde das Podium betreten, sich verbeugen, den Ersten Konzertmeister begrüßen und dann mit einer eleganten Handbewegung die aufgeschlagene Partitur auf dem Pult zuklappen. So etwas kann man auswendig, sollte es heißen. Ich lebe mit Beethoven –
Bombalo war klug genug, nicht zusammen mit Donani zum Konzerthaus zu fahren. Er war schon da, als Donani eintrat und seinen Mantel einem Saaldiener zuwarf. Er ging an Bombalo vorbei, als sei dieser gar nicht anwesend, begrüßte einige Herren der Schwedischen Akademie der Künste und spielte mit seinen goldenen Manschettenknöpfen. Die ersten Blumenkörbe wurden bereits hereingetragen, die ersten Orchideenkästen … Bombalo hatte schon eine Liste in der Tasche, an welche Krankenhäuser und Altersheime er nach dem Konzert den Blumensegen weiterleiten sollte.
»Noch fünf Minuten, Maestro …«, sagte Bombalo leise. Es war der erste Satz seit vier Stunden. Donani sah über ihn hinweg, dann wandte er sich um und ging – drei Minuten zu früh – hinaus zu seinem Orchester.
Beifall umrauschte ihn. Er verbeugte sich tief vor der königlichen Loge, wandte sich um, klappte die Partitur zu, nahm den Taktstock und brach ihn mitten durch.
Pietro Bombalo war es, als ginge die Welt mit einem Knall unter. Er wollte hinausstürzen, er wollte vor Donani auf die Knie fallen, vor zweitausend Menschen und einem König wollte er flehen: Nur noch dieses eine Konzert … bitte … bitte … aber seine Beine waren wie mit Blei gefüllt und hielten ihn fest, als er einen Schritt nach vorn zur Tür versuchte.
Bernd Donani senkte den Kopf. Hinter ihm war eine fast völlige, wie gelähmte Stille. Unter den Wimpern hervor sah er die entsetzten, entgeisterten, bleichen Gesichter seiner Musiker, sah, wie die Mundwinkel des Ersten Konzertmeisters zuckten, als wolle er gleich losheulen, sah, wie die Bassisten ihre Instrumente umklammerten, als suchten sie Halt an ihnen.
Sie können nichts dafür, dachte Donani. Sie haben immer zu mir gehalten, in all den Jahren. Sie alle sind meine Freunde … sie lieben mich wirklich … ich kann sie jetzt nicht verraten und im Stich lassen.
Mit einem Ruck hob er den Kopf. Seine Arme schnellten vor, die Hände öffneten sich beschwörend, die Instrumente flogen empor, die Geigen, die Bläser, die Flöten …
Die ›Eroika‹ begann, die Lobeshymne Beethovens an Napoleon.
Mit seinen bloßen Händen beschwor Donani die Kraft des Titanen. Es wurde sein schönstes, sein bestes, sein reifstes Konzert –
Er war über sich selbst hinausgewachsen.
*
Jean Leclerc setzte die Geige ab.
Der rosafarbene, milchige Nebel löste sich auf … er erkannte die Gesichter wieder, Augen, die ihn anstarrten, Lippen, die sich vorwölbten. Fischgesichter, dachte Leclerc und senkte den Kopf. Sie sitzen da wie Fische ohne Wasser … Man braucht mir gar nicht zu sagen, daß ich wieder versagt habe. Ihr alle habt mich fertiggemacht mit eurem verfluchten Donani –
Hans Bartschleger kam auf ihn zu und drückte ihm die Hand. »Sehr schön …«, sagte er, und für Leclerc klang es, als sei die Stimme weit weg, jenseits des Rheines, der draußen vor dem Fenster vorbeifloß. »Die Herren sind beeindruckt, soviel kann ich Ihnen schon sagen. Bitte, kommen Sie morgen wieder … bestimmt gibt man Ihnen eine Chance –«
Wie auf Wolken, ohne das Gefühl, aufzutreten und zu gehen, verließ Leclerc das Zimmer. Fast unbewußt packte er die Geige in den Kasten, klemmte ihn unter den Arm und schwankte hinaus. Am Rhein setzte er sich auf eine Bank, schlug den Kragen hoch, weil er plötzlich fror, und starrte auf die träge vorüberziehenden Schleppkähne.
Er dachte an gar nichts. Er war wie leergebrannt, wie eine Nußschale, die der Wind vor sich hertreibt. Er sah die graugelben, schmutzigen Wellen des Rheines, hörte das Tuckern der Dieselmotoren auf den Schleppern, das Scheppern der Straßenbahn hinter sich und das quietschende Bremsen der Autos … und doch war das alles wie in dicke Watte gepackt, Geräusche und Bilder hinter einer abschirmenden Glasplatte.
Ein Klirren neben ihm schreckte ihn auf.
Auf seinem Geigenkasten lag ein Geldstück. Zehn Pfennige. Ein schönes, neues Geldstück aus blankem Messing. Er sah sich um und bemerkte zwei Kinder, die die Rheinpromenade heruntergingen und sich ein paarmal nach ihm umsahen.
Halt, wollte er rufen. Nehmt das Geld wieder mit. Ich bin kein Bettelmusiker … ich bin Jean Leclerc, der große Leclerc …
Aber dann lächelte er. Er steckte das Geld ein, klemmte den Geigenkasten wieder unter den Arm und ging weiter. An einer der Erfrischungsbuden am Rhein kaufte er sich für die blanken Zehnpfennig eine Rolle saurer Drops und lutschte sie auf dem Weg zum Hotel in der Altstadt.
Morgen, dachte er. Morgen soll ich wiederkommen … Man will mir eine Chance geben …
In dieser Nacht schlief er nicht. Er saß am Fenster, sah auf die enge Straße, beobachtete das Hin- und Herpendeln der Straßenmädchen und das Schlenkern ihrer Handtaschen, rauchte und trank Wasser und dachte: Hier ist Köln wie Paris. Wie sich doch alle Städte in der Armut gleichen … Und er spürte so etwas wie Stolz, daß es vielleicht die letzte Nacht sein würde, in der ein unbekannter Jean Leclerc am Fenster eines kleinen Hotels saß und den Dirnen zuschaute.
Mit dem neuen Tag sollte das neue Leben beginnen …
Hans Bartschleger empfing Leclerc am nächsten Morgen sofort. Er schüttelte ihm kräftig die Hände und war in bester Stimmung. »Ein Erfolg!« sagte er freudig. »Ein Erfolg auf der ganzen Linie! Wir haben vier Angebote bekommen …«
»Vier –«, sagte Leclerc überwältigt. Sein Herz wurde schwer vor Glück.
»Sie machen Ihr Glück, habe ich das nicht immer gesagt? Und nun hören Sie mal zu, was ich Ihnen anzubieten habe. Sie können es sich aussuchen … eins ist so gut wie das andere.« Bartschleger nahm eine neu angelegte Karteikarte mit dem Namen Leclerc aus einem Kasten und schwenkte sie in der Luft. »Ich sage Ihnen die Angebote, bevor wir einen Vertrag gemacht haben. Ich halte Sie für einen ehrlichen Mann. Der Vertrag ist schon geschrieben, Fräulein Seiferth bringt ihn gleich rein. Und nun fangen wir an … Nummer 1: Orchester Orlando, Tivoli Kopenhagen, die ganze Saison. Gage monatlich 200 Dollar.« Bartschleger sah Leclerc strahlend an. »Wir machen die Verträge immer auf Dollarbasis, das erleichtert die Abrechnung bei den Auslandsgastspielen.«
Leclerc fühlte sich wie in einem eisigen Wasser schwimmen. »Tivoli Kopenhagen …«, sagte er leise. »Orlando …«
»Da staunen Sie, was? Können setzt sich eben durch! Und wir haben die besten Manager als Geschäftsfreunde. Aber weiter. Nr. 2: Orchester des Opernhauses Brüssel. Mit Solo-Verpflichtung. Denken Sie bloß an das Violinsolo in der Operette ›Paganini‹ … Nr. 3: Orchester des Staatlichen Rundfunks Amsterdam. Nr. 4: – das ist ein Knüller – Geiger bei der internationalen Schaukapelle Tommy Felten … Sie kennen die Feltens ja vom Fernsehen –«
Jean Leclerc hob die Hand, der Redestrom Bartschlegers verebbte. »Ich dachte, ich könnte …« Leclerc schluckte mehrmals. »Als Solist, meine ich … auf dem Konzertpodium … mit einem namhaften Orchester …«
»Das kommt alles … Erst muß man eine Plattform haben.«
»Bei Tommy Felten –«
»Es sind 250 Dollar, Herr Leclerc –«
»Aber ich kann doch etwas!« schrie Leclerc plötzlich. »Ich habe doch bewiesen, daß ich spielen kann! Ich habe Bach studiert … Brahms … Tschaikowskij … ich kann doch etwas –«
»Wer zweifelt das denn an?« Hans Bartschleger wedelte mit der neuen Karteikarte, als sei es tropisch heiß im Zimmer. »Denken Sie an Paganini … der fing als Jahrmarktsgeiger an –«
Am Abend verließ Jean Leclerc den Kontinent und flog von Köln-Wahn aus nach London. Er hatte noch 720 DM in der Tasche. Aber leerer als sein Portemonnaie war sein Herz. Es war wie abgestorben. Nur ein Gedanke beherrschte ihn, und es war das Bitterste, was ein Mensch denken kann: Ich hasse diese Welt, dachte er. Zum letztenmal – in London – werde ich mich bemühen, ehrlich zu sein. Ich weiß, auch dieses letzte Mal wird sinnlos sein. Die Welt will betrogen werden! Nur der Skrupellose erreicht das Ziel seiner Wünsche … nicht den Bettler achtet man, sondern den Dieb. Mit London werde ich den letzten Rest des guten Menschen in mir begraben. Ich werde zum Raubtier werden … man will es ja nicht anders …
Es war Nacht, als er in Croydon landete. Ein Zubringerbus brachte ihn nach London.
Auch in dieser Nacht schlief Jean Leclerc nicht … er machte sich gar nicht die Mühe, in Soho oder Whitchapel ein Hotelzimmer zu suchen.
Zum erstenmal in seinem jungen Leben soff er, bis er umfiel. Und er fand es herrlich.