Zweiundzwanzigstes Kapitel
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Für einige lange Sekunden stehen sich Faro und Conor wie Feinde gegenüber.
»Ich werde bleiben, wo ich bin«, wiederholt Faro.
»Du meinst also, du hast gewonnen«, sagt Conor. Langsam, bedächtig löst er seine Hand von Faros Handgelenk. »Aber da irrst du dich«, fügt er hinzu, indem er Faro direkt in die Augen blickt. Seine Entschlossenheit ist in jedem Wort spürbar.
»Trenn dich nicht von ihm, Conor!«
»Das habe ich schon getan, Saph.«
»Tu’s nicht!«
Doch er hat sich schon abgewandt.
»Conor!« Ich hechte nach vorne, ohne noch einen Gedanken an Faro zu verschwenden. »Warte auf mich!« Da er langsam schwimmt, habe ich ihn in wenigen Sekunden eingeholt. Wir schwimmen nebeneinanderher, und als er mir einen Blick zuwirft, sehe ich, dass er bereits blasser geworden ist.
»Nimm mein Handgelenk, Conor!«
»Ich schwimme zu den Robben, Sapphire. Glaub nicht, dass du mich daran hindern kannst.«
Ich bin Conor aus reinem Instinkt gefolgt. Meinem Bruder, der sich in Gefahr begibt. Ich muss ihm folgen, ihn aufhalten.
Nichts anderes ist von Bedeutung.
Doch für ihn ist noch etwas anderes von Bedeutung.
»Ich muss Roger warnen.«
Roger. In Indigo scheint jeder Mensch weit, weit weg zu sein. Selbst Mum, sogar unser Zuhause. Doch als Conor diese Worte ausspricht, tritt Roger mit aller Deutlichkeit in mein Bewusstsein. Ich sehe, wie er in unserer Küche steht und mir von seinem Black Labrador Rufie erzählt.
»Rufie war das Beste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist, nachdem wir aus Australien zurückkamen.«
Roger hat Mum umzustimmen versucht, was Sadie angeht. Er hätte das nicht tun müssen, aber er hat es trotzdem getan. Vielleicht hat sie ja doch die Wahrheit gesagt, als sie versicherte, dass wir Roger nicht egal sind.
»Versuch nicht, mich aufzuhalten«, sagt Conor.
»Das will ich nicht. Ich werde dir helfen.«
»Schwöre!«
»Ich schwöre!«
Das war der merkwürdigste Schwur, den ich je geleistet habe. Im Wasser schlagen wir unsere Hände zusammen und kämpfen uns weiter vorwärts – dorthin, wo das Meer von den Robben aufgewühlt wird. Wir schwimmen am zerklüfteten Rand des Riffs entlang und achten darauf, die Grenze nicht zu überschreiten. Auf der einen Seite ist die Ruhe von Limina, auf der anderen Seite die wütend brodelnde See, darin die Graurobben. Plötzlich sehe ich einen großen Bullen nach oben schießen, der Oberfläche entgegen, gefolgt von weiteren Robben. Wir blicken zu ihnen empor. Jetzt ballen sie sich so dicht zusammen, dass nicht der kleinste Lichtstrahl zwischen ihnen zu erkennen ist. Ich kann sie nicht mehr zählen und immer weitere kommen hinzu.
Was hat das zu bedeuten?
Schulter an Schulter bilden sie eine massive Wand, die sich schließlich auflöst. Die einzelnen Tiere schwimmen auseinander, verlassen die Oberfläche und kehren nach Indigo zurück.
Aber was ist das? Dieser schmächtige Körper, der so fremdartig zwischen den starken, geschmeidigen Robben wirkt? Eine weitere schmale Gestalt wird sichtbar, die sich überschlägt und wie ein schwarzes Stöckchen hin und her fliegt …
»Oh, mein Gott!«, ruft Conor. »Sie haben sie.«
Jetzt sehe ich, was Conor bereits erkannt hat. Diese dürren Körper, die aussehen wie schwarze Stöckchen, sind zwei Taucher in ihren Neoprenanzügen, mit Sauerstoffflaschen auf dem Rücken. Die Robben haben sie gepackt, werfen sie in die Höhe und wirbeln sie durch das Wasser. Wenn einer der Taucher nach unten sinkt, wird er von der nächsten Robbe sofort wieder nach oben gestoßen. Ihre Köpfe baumeln hin und her, als wären sie leblose Puppen.
»Sie spielen Fußball mit ihnen.« Ich kann nicht glauben, was ich da sehe. Es ist ein albtraumhaftes Spiel. In Zeitlupe taumeln die Taucher durch das Wasser, ehe ihnen die Hinterflosse einer Robbe den nächsten Schlag versetzt.
»Sie spielen mit ihnen …«
»Nein!«, stößt Conor zwischen den Lippen hervor, die sich langsam blau färben. »Das ist kein Spiel. Sie stoßen sie in eine ganz bestimmte Richtung.«
Er hat Recht. Die Robben treiben die Taucher nicht wahllos vor sich her. Jeder brutale Stoß bringt sie ein Stück weiter in unsere Richtung. Die Robben kommen auf uns zu. Was haben sie vor?
Die scharfkantigen Spitzen des Riffs sind wie Zähne, die alles auseinander reißen, was mit ihnen in Berührung kommt. Wenn ein Taucher dagegenprallt …
»Sie wollen sie gegen die Felsen schmettern«, sagt Conor.
»Sie bringen sie um, Con!«
»Ja, komm …«
Seine Finger schließen sich um mein Handgelenk, doch jetzt ist er es, der uns antreibt. Wir schießen durch das schäumende Wasser, den Robben entgegen.
Sie bemerken uns, bevor sie uns sehen. Als sie sich umdrehen, vergessen sie für einen Moment die Taucher, die sofort nach unten sinken. Der mächtige Robbenbulle blickt uns an, unter seiner glänzenden Haut spielen die Muskeln.
Jedes Detail seines Aussehens brennt sich in mein Bewusstsein ein. Seine Augen und Schnurrhaare, die massige Geschmeidigkeit seines Körpers, die schwellenden Muskeln, seine Kraft. Und der Zorn eines Wächters. Der Zorn, der ihn antreibt.
Der Bulle kommt näher. Er türmt sich vor uns auf, bis ich nichts anderes mehr sehen kann als ihn. Mit gesenktem Kopf scheint er den Abstand zwischen sich und uns zu berechnen, bereit zum Angriff.
Bis zu dem Tag, an dem ich die Grenze nach Limina überschreite, werde ich das Gesicht dieses Bullen vor mir sehen. Hinter ihm sinkt Rogers Körper wie ein kaputtes Spielzeug langsam in die Tiefe. Rufie … das Beste in meinem Leben…
Plötzlich höre ich eigentümliche Klänge. Sie erinnern an Musik. Silben, die sich zu einem wundervollen Muster verbinden, wie ein Puzzle in vier Dimensionen. Klänge, denen man für immer lauschen möchte, hat man sie erst einmal wahrgenommen.
Die Schnurrhaare des Bullen zittern. Seine Augen wandern zu Conor hinüber.
Auch ich schaue meinen Bruder an. Seine bläulichen Lippen sind geöffnet, doch seine trüben Augen halb geschlossen. Sein Kopf kippt nach hinten. Er kann sich kaum bewegen, doch er kann singen. Alle Kraft, die ihm verblieben ist, fließt als Gesang aus seinem Mund. Conor singt und die Robben hören ihm zu. Der Bulle und all seine Gefährten lauschen. Langsam heben sie ihre Köpfe. Ihre Körper entspannen sich. Die Augen des Bullen sind mir so nah, dass ich erkenne, wie sie einen träumerischen Ausdruck annehmen.
»Conor, auch du verfügst über besondere Kräfte. Zweifle nicht daran. Es wird die Zeit kommen, um sie zu gebrauchen. «
Es dauert nur wenige Sekunden. Noch ehe Conor seinen Gesang beendet hat, ist eine Robbe abgetaucht und hat sich Roger geschnappt. Ihre Zähne packen seinen Taucheranzug, doch selbst aus dieser Entfernung erkenne ich, dass sie ihren Mund weich gemacht hat – so wie Poppy, wenn sie ihre Welpen im Nacken packt. Sie tut ihm nicht weh. Eine andere Robbe hat sich des zweiten Tauchers angenommen. Sie bringen die schlaffen Körper zu dem Bullen. Die Köpfe der Taucher hängen herab. Sie müssen bewusstlos sein.
Doch der Bulle scheint überhaupt keine Notiz von dem zu nehmen, was die Robben ihm da bringen. Den Blick starr auf Conor gerichtet, öffnet er sein Maul und antwortet mit seinem eigenen Gesang, der Conors Gesang ähnelt wie der eines Bruders. Und diesmal kann auch ich den Robbengesang hören. Vielleicht komplettiert er das Puzzle in vier Dimensionen, mit dem Conor begonnen hatte. Als der Gesang endet, schüttelt der Bulle seine massigen Schultern. Die anderen Robben sind verschwunden, abgesehen von den beiden, die sich um die Taucher kümmern. Der Bulle ruft ihnen etwas zu, worauf sie zur Oberfläche emporstreben. Ihre Bewegungen sind dabei so sanft, als seien die Taucher so zerbrechlich wie Eier.
Die Beine der Männer hängen schlaff herunter, ihre Körper zeigen keinerlei Regung, die Köpfe baumeln hin und her. Vielleicht ist es zu spät. Vielleicht sind sie nicht bewusstlos, sondern schon tot.
»Das Boot ist da vorne«, keucht Conor. »Wir müssen sie an Bord hieven. Die Robben können das nicht tun.«
»Werden die Robben das zulassen?«
»Ja.«
Es kommt mir wie ein ewiger Albtraum vor. Mühselig kämpfen wir uns nach oben, während der Druck des Wassers auf uns lastet. Conor hängt schwer an meinem Handgelenk und kann kaum noch atmen. Würden sich die Robben nicht um Roger und Gray kümmern, hätten wir keine Chance, sie je an die Oberfläche zu befördern. Das Gewicht der Taucher ist furchtbar. Wir drücken sie nach oben, doch sofort sinken sie uns wieder entgegen. Wie sollen wir sie jemals ohne Hilfe ins Boot befördern? Conor wird mit jeder Sekunde schwächer. Er bekommt nicht genug Sauerstoff, obwohl er sich an mein Handgelenk klammert.
Die Robben sind uns nicht mehr feindlich gesonnen, scheinen aber der Meinung zu sein, dass ihr Job erledigt ist. Sie schieben uns Roger und Gray entgegen, als wollten sie sagen: Den Rest müsst ihr schon allein erledigen. Sie überlassen uns die Taucher. Sie haben ihre Pflicht getan und Limina verteidigt. Der Robbenbulle ruft ein letztes Mal durch das Wasser, worauf auch die anderen beiden kehrtmachen und dem Riff entgegenschwimmen. Unter dem Gewicht der beiden Taucher sinken wir sofort ein wenig. Conor hat keine Kraft mehr.
»Höchste Zeit, Conor aus Indigo fortzubringen«, sagt eine ruhige, vertraute Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und sehe Faro. Und nicht nur Faro, sondern auch ein Mädchen, das mir bekannt vorkommt, obwohl ich sie erst einmal aus der Entfernung gesehen habe. Ein Mädchen mit dunklen, langen Haaren, die sie wie Seegras umfließen und ihr bis unter die Taille reichen, wie bei mir. Ihre Augen sind von demselben kühlen Grün wie bei Faro.
»Elvira … «, entfährt es Conor wie ein Seufzen.
»Schnell, Sapphire«, sagt Faro, »schieb ihn mit aller Kraft nach oben. Du schaffst es. Conor muss an die Luft. Elvira und ich kümmern uns um die Taucher.«
»Ihr werdet ihnen nichts tun?«
»Nach eurem heldenhaften Einsatz?«, fragt er mit spöttischem Lächeln. »Nein, wir werden ihnen nichts tun. Indigo hat sich selbst verteidigt.«
Das Gewicht von Roger und Gray fällt von mir ab. Conors Augen sind geschlossen, als ich ihn mit äußerster Anstrengung nach oben drücke, der Luft entgegen. Dort ist sie, direkt über uns, wie eine schimmernde Lichtfläche.
Wir durchstoßen die Haut, bevor ich mir darüber im Klaren bin, dass ich Indigo verlasse. Mein erster Atemzug schneidet wie ein Messer durch meine Lungen. Ich huste und pruste. Es schmerzt gewaltig, doch es sollte nicht schmerzen. Ich bin doch ein Mensch. Der nächste Atemzug ist nicht minder qualvoll. Ich krümme mich zusammen. Der Geschmack der Luft bereitet mir Übelkeit. Ich will zurück … lasst mich zurück…
»Saph!« Conor packt meinen Arm. »Bist du okay? Hier, halt dich an mir fest.«
In Conors Gesicht ist die Farbe zurückgekehrt. Er paddelt wie ein Hund und schüttelt den Kopf, sodass die Tropfen spritzen.
»Geht schon«, keuche ich, und beinahe stimmt das auch, obwohl sich jeder Atemzug so anfühlt, als hätte ich Sand in der Kehle. »Gib mir einen Moment Zeit.« Ich will nicht, dass Conor merkt, wie schmerzhaft es für mich ist, Indigo zu verlassen. Er würde wissen, was es bedeutet, wenn die Luft mir wehtut.
Wir befinden uns ein paar Meter vom Boot entfernt. Dort ist die Leiter. Doch kann ich mich kaum noch über Wasser halten. Die Leiter scheint sich in unerreichbarer Ferne zu befinden. Meine Arme sind schwer. Mit einem stechenden Gefühl in der Lunge treibe ich hilflos umher.
»Wir müssen ins Boot, Saph. Komm, du schaffst es. Halt dich an mir fest.«
»Roger und …?«
»Die kommen schon. Jetzt rede nicht, schwimm!«
Ich spucke Salzwasser aus. Das Meer ist noch in mir, deshalb tut es auch so weh. Ich würge und huste weiteres Salzwasser aus. Schon besser. Zum ersten Mal nach langer Zeit sauge ich die Luft schmerzfrei in mich hinein. Ich halte mich strampelnd über Wasser, während ich mir die Haare aus den Augen wische. »Hast du Roger und Gray gesehen, Con?«
»Faro und Elvira kümmern sich um sie. Ich hatte Elvira ganz vergessen…«, sagt er. Die Farbe in seinem Gesicht wird intensiver. Wer’s glaubt, wird selig, denke ich, doch ich habe keine Luft mehr, um irgendetwas zu sagen. Die Sonne ist zu grell, die Luft zu scharf.
»Schau, da sind sie!«
Als ich mich umdrehe, sehe ich den Schmerz in ihren Mergesichtern, als sie die Wasseroberfläche durchstoßen. Ich wende mich ab. Ich weiß, wie sehr es schmerzt. Als würde man von tausend Messern gestochen. Faro würde es nicht wollen, dass ich ihn so leiden sehe.
»Elvira!«, ruft Conor, indem er herumfährt und ihr entgegenschwimmt. Conor hat jetzt mehr Kraft als wir alle zusammen. Ich kann immer noch nicht weiterschwimmen. Elvira wischt sich hustend die Tränen aus den Augen. Die nassen Haare kleben ihr an Nacken und Schultern. Sie kümmert sich um Roger, während Faro bei Gray ist.
»Wir müssen sie die Leiter hinaufbekommen.«
Doch obwohl wir zu viert sind, haben wir keine Chance, die beiden ausgewachsenen Männer, deren Bewusstlosigkeit sie noch schwerer macht, mitsamt ihrer Tauchausrüstung ins Boot zu manövrieren. Faro und Elvira befinden sich nicht in ihrem Element und haben noch mit der Umstellung zu kämpfen. Jedes Mal wenn wir die Taucher auf die Leiter hieven, rutschen sie sofort wieder zurück ins Wasser.
»So geht das nicht«, keucht Conor. »Geh ins Boot, Saph.« Conor und ich klettern nacheinander die Leiter hoch. Wir knien uns hin und versuchen, Rogers Arme in dem nassen, rutschigen Taucheranzug hinaufzuziehen, während Faro ihn uns entgegenschiebt. Elvira schwimmt mit Gray auf die andere Seite des Bootes, das sie mit aller Kraft nach unten drückt, damit es nicht kentert. Elvira ist stark. Selbst außerhalb von Indigo. Faro und Elvira sind viel stärker als ich.
Ächzend und schwitzend gelingt es uns schließlich, Roger die Leiter hinaufzuziehen. Er stößt mehrfach hart gegen die Sprossen, zieht sich womöglich weitere Verletzungen zu. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Hauptsache, wir schaffen es. Unsere Muskeln schmerzen.
Schließlich kippt Roger vornüber und schlittert über das Deck wie ein Fisch. Er krümmt sich zusammen, doch wir können ihm nicht helfen, ehe wir nicht auch Gray ins Boot gehievt haben. Gray ist leichter als Roger, doch ich zittere vor Erschöpfung.
»Schieb ihn weiter rauf, Faro, ich kriege ihn nicht zu fassen! «
Ich höre Faros rasselnden Atem, doch für Mitleid bleibt keine Zeit.
»Stell seinen Fuß auf die Sprosse und stoß ihn nach vorne. Lass ihn nicht zurückfallen!«
Schließlich gelingt es uns. Gray kippt nach vorne und landet der Länge nach neben seinem Tauchpartner.
Ich kauere mich neben Roger und taste nach seinem Puls. Meine Finger bohren sich in sein kaltes Fleisch, doch ich kann ihn nicht finden. Panisch drücke ich noch stärker.
»Nicht da!« Conor stößt mich beiseite, schiebt den Ärmel des Taucheranzugs nach oben und findet die richtige Stelle. Für die längsten Sekunden meines Lebens sehe ich nur Conors konzentriertes Gesicht.
Er spürt keinen Puls. Roger ist tot. Roger ist tot und ich konnte es nicht verhindern. Ich habe es versucht, doch wir kamen zu spät.
Es ist alles meine Schuld. Roger wusste nicht, was er tat. Wir haben ihn zum Riff fahren lassen.
Entsetzen packt mich. Ich hätte Roger retten können. Ich hätte ihn vor Indigo und dem Riff warnen, es zumindest versuchen müssen, auch wenn er mir nicht geglaubt hätte. Aber ich habe es nicht versucht. Mum …
»Ich hab ihn! Er schlägt!«
»Er lebt, er lebt! Er wird wieder gesund werden, er ist nicht tot …«
»Schrei nicht in mein Ohr, Saph, sondern versuch, Grays Arm freizubekommen.«
Grays Arm ist unter Rogers Körper eingeklemmt. Conor zieht, während ich schiebe. So bekommen wir ihn frei. Erneut drückt Conor in das kalte, schlaffe Fleisch.
»Hier! Ich hab den Puls. Wir hätten zuerst dafür sorgen sollen, dass sie frei atmen können.«
Ich drehe Roger mit dem Gesicht nach oben und spüre einen warmen Hauch an meiner Wange. Luft. Menschlicher Atem.
»Wir müssen sie in die stabile Seitenlage bringen.«
Sie atmen und ihre Herzen schlagen. Wir drehen sie, so gut es geht, in die stabile Seitenlage. Dann hocken wir uns mit schmerzenden Armen und Rücken daneben. Mir ist übel vor Erleichterung. In diesem Moment stöhnt Roger gequält auf, rollt sich herum und öffnet die Augen. Er scheint weder zu wissen, wer ich bin, noch, wo er sich befindet. Er starrt einen Moment vor sich hin, als könne er die Eindrücke nicht verarbeiten, ehe seine Augen wieder zufallen.
»Roger hat mich angeschaut! Er hat die Augen aufgemacht. «
»Schnell, wir müssen ihnen die Sachen ausziehen. Roger hat Rettungsdecken in seinem Spind.«
»Rettungsdecken?«
»Ja, um Menschen vor Unterkühlung zu bewahren, falls beim Tauchen was schief geht. Roger hat es mir erklärt.«
»Sie erholen sich doch wieder, oder?« »Ich glaube schon. Vermutlich haben sie einen Schock. Das ist gefährlich. Wir müssen sie gut warmhalten.«
Für eine ganze Weile haben wir Faro und Elvira völlig vergessen. Wir denken gar nicht daran, dass sie immer noch da sind, im Schatten des Bootes, und unseretwegen an der Luft verharren.
Dass Roger und Gray atmen, ist alles, was zählt, auch wenn ihre Gesichter grau sind und ihre Haut kalt ist. Irgendwie schaffen wir es, sie von ihrer Ausrüstung zu befreien. Conor kennt sich inzwischen ein bisschen damit aus, weil Roger es ihm erklärt hat. Ich glaube, wir beschädigen irgendetwas, aber das ist jetzt unwichtig. Wir zerren ihnen die Neoprenanzüge vom Leib und wickeln sie in die Rettungsdecken. Ich habe mal gehört, dass man am Kopf am meisten Wärme verliert, also fangen wir ganz oben an und lassen nur die Gesichter frei. Sie sind jetzt halb bei Bewusstsein. Roger zittert. Ich ziehe die Rettungsdecke enger um ihn zusammen.
Sie sehen wie Außerirdische aus in ihren Folien, die in der Sonne glitzern. Doch ihre Gesichtsfarbe hat sich schon gebessert, da bin ich ganz sicher. Sie ist immer noch blass, aber nicht mehr grau. Über Grays Gesicht verläuft ein langer, tiefer Kratzer, aus dem immer noch das Blut sickert. Ein Kratzer, der von den Krallen einer Robbe verursacht wurde. Ob er sich daran erinnert? Wenn ich daran denke, wie nahe sie dem Tod waren, zittere ich, doch nicht aus Angst, sondern aus Traurigkeit über die ganze Situation. Roger und Gray hatten sich nach Indigo verirrt, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein. Und auch wir haben nicht wirklich gewusst, was geschehen würde. Die Luft und Indigo verfeindet … die fürchterliche Vergeltung der Robben … ölverklebte Seevögel – all das, was wir Menschen Indigo antun, kommt mir zu Bewusstsein und verursacht mir Übelkeit.
»Du brauchst nicht zu weinen, Saph. Sie erholen sich schon wieder. Sieh mal, Gray versucht schon, die Augen zu öffnen.«
»Darum weine ich doch gar nicht.«
»Warum dann?«
»Glaubst du, dass die Luft und Indigo sich ewig hassen werden?«
Conor geht in die Hocke und runzelt die Stirn. »Ich weiß es nicht. Sie sind so verschieden. So strikt voneinander getrennt. Sie verstehen sich nicht, weil sie sich nie begegnen. Die Menschen bleiben an der Luft – auf der Erde – und die Mer bleiben in Indigo.«
»Bei uns ist das anders.«
»Wie meinst du das?«
»Wir tun beides. Wer leben an der Luft und wir können in Indigo leben.«
»Du kannst das.«
»Du doch auch. Und vielleicht sind wir nicht die Einzigen. Es könnte auch andere Menschen geben, die in der Lage sind, die Grenze zu überschreiten, wir kennen sie nur nicht. Vielleicht gibt es auch Mer, die das können.«
»Ja, vielleicht«, sagt Conor langsam. »Aber lass uns jetzt nicht weiter darüber reden, Saph. Für heute habe ich von Indigo genug. Ich muss den Anker lichten und den Motor starten. Was für ein Glück, dass Roger mich neulich mitgenommen hat. Ich glaube, ich kann mich noch erinnern, wie alles funktioniert.«
»Guck mal! Rogers Hand bewegt sich.«
Ich schiebe meine Hand unter die Rettungsdecke und berühre Rogers kalte Finger. Sie drücken schwach meine Hand.
Ich beuge mich über ihn und sage: »Es wird alles gut. Ihr hattet einen Unfall. Conor und ich sind bei euch.«
Roger versucht, seinen Kopf zu heben, doch es scheint ihm Schmerzen zu bereiten. Stöhnend lässt er ihn wieder zurücksinken. Er muss am ganzen Körper lädiert sein, wie ein Boxer, der aus dem Ring steigt.
»Es wird alles gut«, wiederhole ich. »Ihr werdet euch wieder erholen. Bleib ganz ruhig liegen und ruh dich aus.«
In diesem Moment spritzt eine Woge über die Reling. Die salzige Gischt schlägt mir ins Gesicht. Ich richte mich auf und schaue über den Bootsrand.
Da sind sie, Faro und Elvira. Elviras wunderschöne dunkle Haare umfließen sie im Wasser. Faro wirft mir einen fragenden Blick zu. »Sind sie am Leben?«
»Ja«, antworte ich.
Faro lässt hörbar die Luft entweichen. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Seufzer der Erleichterung oder des Bedauerns ist. Doch nein, bestimmt wird er nicht ihren Tod gewollt haben.
Plötzlich macht Faro etwas, das ich schon früher gesehen habe, aber nur im tiefen Wasser. Jetzt tut er es an der Oberfläche. Er rollt sich zusammen, stößt sich mit seiner kraftvollen Schwanzflosse ab und macht einen perfekten Salto, einen zweiten, einen dritten …
Das Wasser schäumt und spritzt, während Faro herumwirbelt. Nach dem dritten Salto richtet er sich auf, hebt seine Schwanzflosse und lässt sie mit solcher Kraft aufs Wasser schlagen, dass mir erneut ein Schwall von Salzwasser ins Gesicht spritzt.
Ich trockne lachend mein Gesicht mit der Hand. Faro steht aufrecht im Wasser und lacht ebenfalls.
»Mach’s gut, kleine Schwester«, sagt er leichthin und taucht ab. Ich lehne mich abwartend über den Bug. Bestimmt taucht er gleich wieder auf. Er wird doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts verschwinden.
Aber die Oberfläche bleibt glatt. Nicht das leiseste Kräuseln ist zu sehen.
Elvira. Wo ist Elvira?
Ich drehe mich um. Conor beugt seinen Oberkörper über das Wasser. Elvira hat sich ein Stück nach oben gezogen. Stumm blicken sie sich an, ihre Gesichter so nah beieinander, dass sie sich fast berühren. Dann lässt sie sich langsam ins Wasser gleiten. Ihre Schultern tauchen ein, ihr Hals und schließlich ihr Gesicht, umgeben von einer Flut von Haaren.
Sie ist verschwunden. Conor und ich bleiben zurück und starren ihr nach. Erst nach einer ganzen Weile, als wir uns umdrehen, begegnen sich unsere Blicke.
Unser Boot schaukelt sanft in der Dünung. Hoch über unseren Köpfen schwebt eine Möwe. Sie sieht uns an und schreit ihre Neuigkeiten über das Meer. Erzählt Indigo von den jüngsten Ereignissen. Wenn ich mir Mühe gäbe, könnte ich verstehen, was sie sagt. Aber dazu bin ich viel zu müde.