Neuntes Kapitel
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Die Gezeiten haben eine enorme Gewalt. Sie wissen, wo sie sein wollen, und ziehen das ganze Meer mit sich, hin und zurück. Faro sagt, die Gezeiten sind der Mond, der zu Indigo spricht. Wenn der Mond spricht, muss Indigo zuhören.
Die Flut treibt uns der Küste entgegen: mich, Faro und die Robben. Faro findet als Erster eine geeignete Strömung und im nächsten Moment hat sie uns alle in ihrer Gewalt. Wie seltsam, dass der Wasserspiegel immer noch ansteigt, obwohl ich das Gefühl habe, stundenlang mit Faro unterwegs gewesen zu sein.
»Conor und Elvira sind schon mit der Flut hereingekommen«, sagt Faro. »Conor hat Indigo verlassen.«
Um Conor mache ich mir keine Sorgen mehr. All mein Kummer ist verflogen. Ich kann mich kaum noch erinnern, warum ich so verzweifelt war. Ich halte mich an Faros Handgelenk fest und bin in Indigo geborgen.
Faro bringt mich bis zur Mündung der Bucht. Ich will nicht, dass er noch weiter mitkommt, weil ich weiß, wie sehr er dann leiden würde. Seine Lungen würden brennen, wenn er die Haut durchdränge, die Indigo von der Luft trennt. Er sagt zwar, er würde mich auch auf dem ganzen Weg begleiten, doch ich lehne ab. Ich habe keine Angst, mich von Faro zu trennen, weil ich weiß, dass ich zurückkommen werde. Der Sog von Indigo ist in mir und er ist so mächtig wie die Gezeiten.
»Ist schon in Ordnung, Faro. Ich weiß jetzt, wo ich bin. Du brauchst mich nicht weiter zu begleiten.« Ich sehe, wie erleichtert er ist, obwohl er versucht, sich nichts anmerken zu lassen.
Die Robben sind immer noch bei uns. Für sie ist es kein Problem, von Indigo an die Luft zu gelangen, weil sie in beiden Elementen leben können. Sie bleiben also die ganze Zeit bei mir und lassen sich ebenfalls von der Flut treiben. Ich halte mich immer noch an Faros Handgelenk fest, als ich die Stelle erblicke, an der das tiefe Wasser endet. Von hier aus kann ich problemlos an Land schwimmen.
»Du wirst keine Schmerzen haben, wenn du die Haut durchdringst«, erinnert mich Faro. »Diesmal gehst du nach Hause.«
»Schwimm nicht weiter«, bitte ich ihn. Ich habe plötzlich das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Er hat auf mich aufgepasst, als wir in Indigo waren, und jetzt passe ich auf ihn auf, während wir uns meiner Heimat nähern. Die Wasseroberfläche zittert nahe über unseren Köpfen. Das Licht ist grell, und der Kontakt mit der Luft wäre für Faro wie ein Messerstich – so wie für mich der Augenblick, als wir in der Tiefe verschwanden.
Fetzen von Licht und Schatten tanzen über den Meeresboden und über Faro hinweg. Er sieht zugleich wie ein Junge, eine Robbe und ein Schatten aus, als er einen letzten Salto rückwärts vollführt. Plötzlich ist nur noch der Schatten zu sehen und Faro ist verschwunden. Ich habe mich gar nicht von ihm verabschiedet. Habe ihn nicht gefragt, wann wir uns wiedersehen.
Aber das ist auch nicht nötig. Ich bin sicher, dass ich ihn bald wiedersehen werde.
Die beiden Robben haben mich in ihre Mitte genommen. Sie wollen mich vorwärts bis ins seichte Wasser stupsen. Auch die Flut tut das Ihrige und plötzlich sehe ich den Sand unter meinen Füßen.
»Sagt Faro, dass ich bald wiederkomme«, bitte ich die Robben. Sie schwimmen um mich herum, und ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verstanden haben. Mer, denke ich. Du musst mer zu ihnen sprechen. Ich öffne meinen Mund und lasse das kühle, süße Meerwasser in mich eindringen. Das Wasser strömt aus meinem Mund und formt seine eigenen Worte.
»Das tun wir«, sagt die Robbe, die mir am nächsten ist. Ihre Stimme ist rau und klingt wie die Flut, wenn sie den Kiesstrand überspült. Ich spüre ihren Atem an meinem Ohr. Im nächsten Moment ist sie mit ihrem Partner verschwunden. Ich tauche an die Oberfläche, durchstoße die Wasserhaut und bin an der Luft.
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Es tut gar nicht weh. Es ist so, als stiege ich aus dem Boot, nachdem ich stundenlang mit Dad auf See war. Der Boden schwankt unter meinen Füßen, als würde sich immer noch das Wasser unter mir bewegen. Es ist schwer, die Balance zu halten. Dad sagt, das liegt daran, dass sich die »Seebeine« nicht sofort wieder in »Landbeine« verwandeln. Doch irgendwann hört der Boden auf, sich zu bewegen, und man ist wieder zu Hause.
Ich bin zurück an der Luft. Ich wate durch das seichte Wasser, gehe über den Strand, den Steinen am Ende der Bucht entgegen, und klettere über sie hinweg. Es ist ein perfekter Tag, heiß und still, von Nebel keine Spur. Der Sand unter meinen Füßen ist warm.
Ich klettere langsam über die Felsen. Meine Beine sind müde. Der raue, trockene Fels unter meinen Händen kommt mir seltsam vor. Ich bin immer noch an die Beschaffenheit von Indigo gewöhnt. Meine Arme und Beine fühlen sich viel zu leicht an, jetzt, da kein Wasserdruck mehr auf ihnen lastet.
Ich zwänge mich durch den Spalt zwischen den beiden Felsblöcken und hieve mich empor, bis ich auf dem grasüberwachsenen Felsvorsprung stehe.
Conor.
Dort sitzt er und wartet. Er ist blass. Unter seinen Augen sind dunkle Schatten. Als er mich sieht, springt er auf. Er sieht geschockt aus, als könne er nicht glauben, dass ich es bin. Er packt mich am Arm und zieht mich aufs Gras. Er umarmt mich so fest, dass es wehtut. Für einen Moment habe ich Angst. Conor sieht unglaublich wütend aus. Ich habe sogar kurz geglaubt, er wolle mich schlagen. Aber natürlich tut er das nicht. Dafür starrt er mich unentwegt an, als hätte er mich seit Jahren nicht gesehen. Er mustert mein Gesicht, als suche er etwas.
»Saph«, sagt er leise, als könne er immer noch nicht glauben, dass ich es bin. Er schüttelt mich sanft, so wie er das immer tut, wenn er mich an einem Schultag weckt.
»Wo bist du gewesen, Saph? Ich habe stundenlang auf dich gewartet. Ich dachte schon, du würdest nie mehr zurückkommen. «
»Wieso zurückkommen?«
»Du weißt genau, was ich meine!«, schreit er mich an. »Mir kannst du nichts vormachen. Ich weiß, wo du gewesen bist. Du bist fast vierundzwanzig Stunden fort gewesen. Mum wäre verrückt geworden, wenn sie es gemerkt hätte. Aber ihr Auto hat gestreikt, deshalb ist sie über Nacht in St Pirans geblieben. Sie hat Mary angerufen, damit sie nach uns sieht. Ich habe für dich gelogen. Ich habe gesagt, du wärst im Badezimmer. Dann bin ich hierher gekommen und habe nach dir gesucht. Die ganze Nacht habe ich gewartet. «
Ich blicke mich um. Dort sind Conors Schlafsack und seine Taschenlampe, ein Riegel KitKat und eine Wasserflasche. Könnte er… die Wahrheit gesagt haben?
»Vierundzwanzig Stunden«, wiederhole ich langsam. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich Conor mit dem Mädchen auf dem Felsen gesehen habe. Conor meinte, er hätte gerade erst den Schuppen ausgemistet, dabei war es schon Abend geworden. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, weil er in Indigo gewesen war. So wie ich. Die Zeit in Indigo ist also anders als unsere Zeit.
»Wenn ich wirklich vierundzwanzig Stunden fort war, dann muss die Zeit in Indigo schneller vergehen«, denke ich laut.
»Pst! Spricht nicht darüber!«, zischt Conor.
»Warum? Hier ist doch niemand außer uns.«
Conor blickt sich misstrauisch um, als würde das Gras lauschen. Eine Silbermöwe setzt zum Sturzflug an und schreit über unseren Köpfen. Alles klingt schrill und hohl, seit ich wieder an Land bin.
»Man weiß nie, wer zuhört«, flüstert er.
»Aber Faro hat gesagt, dass du auch in Indigo warst, zur selben Zeit wie ich. Er sagte, Elvira und du hättet mit den Sonnenfischen gesprochen.«
»Ich hab nicht mit ihnen gesprochen, und ich weiß auch nicht, wo Elvira war.«
»Aber das war erst vor kurzer Zeit. Wie konntest du denn in Indigo sein und zur selben Zeit hier auf mich warten?«
Conor pflückt einen Grashalm und knabbert nachdenklich an seinem süßen Ende.
»Was Faro dir nicht alles erzählt …«, sagt er schließlich. »Ich meine, die Dinge, die er dir erzählt, mögen für ihn wahr sein. Das heißt aber nicht, dass sie auch für dich wahr sind.«
»Du meinst, er lügt?«
»Nein, so kann man das nicht sagen. Elvira ist genauso. In Indigo gibt es nicht nur eine Wahrheit, und ich vermute, mit der Zeit ist es nicht anders. Sie dehnt sich aus und zieht sich wieder zusammen.« Conor presst demonstrativ seine Handflächen gegeneinander.
»Wer hat dir das alles erzählt? Etwa Elvira?«, frage ich eifersüchtig. »Warst du mit Elvira zusammen, wie Faro gesagt hat, oder nicht?«
»Ja … schon, aber ich weiß nicht, wie lange. Ich glaube, die Zeit in Indigo vergeht genauso schnell wie bei uns, aber sie funktioniert auf eine völlig andere Art. Du hast selbst gesagt, dass ich noch vor kurzem in Indigo war, aber ich bin schon gestern zurückgekommen. Also hat man in Indigo offenbar ein ganz anderes Zeitgefühl.«
»Aber hast du mich dort gesehen? Habt ihr euch vor mir versteckt, obwohl ihr mich gesehen und rufen gehört habt?«
Ich spüre, dass es die wichtigste Frage ist, die ich Conor je gestellt habe. Ich will, dass er das Bild in mir auslöscht, das zeigt, wie Elvira und er sich vorsichtig wegstehlen – ja, vielleicht über mich lachen – und nicht von mir gesehen werden wollen.
»Du bist zu mir gekommen«, sagt Conor langsam. »Ich habe deine Gegenwart gespürt, Saph, aber ich habe dich nicht gesehen. Ich war mit den Robben unterwegs und plötzlich warst du in meinem Bewusstsein. Ich dachte, dir wäre etwas Schlimmes zugestoßen. Ich habe Elvira gesagt, dass ich zurückmuss, um dich zu suchen.«
»Wie meinst du das, in deinem Bewusstsein?«
»Du weißt doch, wie es in Indigo ist«, entgegnet Conor unwillig. »Alles, woran du normalerweise denkst, alles, was an Land von Bedeutung ist, verblasst in deiner Erinnerung und wirkt nicht mehr real. Sogar die Erinnerung an Personen verblasst. Selbst du und Mum kamt mir plötzlich wie etwas vor, das ich nur geträumt habe. Doch mit einem Mal hat sich alles verändert. Plötzlich wart ihr wieder ganz deutlich in meinem Bewusstsein und ich fühlte mich nicht mehr schwerelos und träumerisch. Ich hatte Angst, dass dir etwas zugestoßen sein könnte und dass ich nicht mehr rechtzeitig käme, um dich zu retten.«
»Aber ich war die ganze Zeit in Indigo, ganz nahe bei dir.«
»Ich weiß…« Conors Gesicht verfinstert sich. »Aber mir kam es nicht so vor. Ich hatte das Gefühl, dass du mich aus großer Entfernung riefst und ich dich verlieren würde. So wie ein Handygespräch unterbrochen wird und die Stimme plötzlich weg ist. Elvira hat gesagt …« Er bricht ab und sieht noch sorgenvoller aus.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat mir gesagt, ich soll dich nicht rufen, weil das gefährlich sein könnte. Sie wollte, dass wir mit den Strömungen zu einer große Inselgruppe surfen. Aber ich habe ihr gesagt, dass ich zurückmuss, um dich zu suchen. Offen gestanden war sie nicht …«
Er schüttelt den Kopf, als wolle er die düsteren Gedanken vertreiben.
»Nicht was?«
»Nicht besonders froh darüber.«
Deiner reizenden Elvira ist es egal, was mit mir passiert, stimmt’s?, denke ich, sage es aber nicht laut.
»Ich verstehe nicht, wie das alles zusammenhängt«, sagt Conor.
»Ich auch nicht.«
Wir waren beide in Indigo, Conor und ich, aber wir sind uns nie begegnet. Das haben Faro und Elvira verhindert.
Aber sie haben uns auch nicht widersprochen, als wir sagten, dass wir zurückwollten.
Nein, ich bin sicher, dass Faro mir nichts Böses will. Er hat sich um mich gekümmert und darauf geachtet, dass mir in Indigo nichts passiert.
»Du siehst schrecklich aus«, sagt Conor. »Gott sei Dank ist Mum noch nicht zurück. Sie würde sofort wissen, dass etwas nicht stimmt.«
Die KitKat-Packung leuchtet in der Sonne. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
»Ist noch was von dem KitKat da?«
»Nein, ich hab alles aufgegessen. Es war eine lange Nacht.«
»Tut mir Leid.« Ich bin wahnsinnig hungrig. Hungrig und hundemüde. »Kann ich mich in deinen Schlafsack legen?«
Meine Beine fühlen sich wie Gelee an. Ich kann keinen Schritt mehr machen. Ich will nur noch in Conors Schlafsack krabbeln und bis morgen schlafen – oder bis übermorgen.
»Das geht nicht, Saph«, sagt Conor eindringlich, als meine Beine schon einknicken wollen. »Wir müssen nach Hause. Dann kannst du gleich in deinem eigenen Bett schlafen.«
»Ich will mich ja nur ein bisschen ausruhen.«
»Nein, Saph, nicht hier. Wir sind zu …« Conor hält inne und schaut sich prüfend um. Eine Möwe sitzt auf einem Stein in der Nähe und hat ihren schwarzen Kopf auf die Seite gelegt. Wäre sie keine Möwe, würde man denken, sie hört uns zu. Conor flüstert: »Wir sind zu nah.«
»Wie meinst du das?«
»Zu nah an Indigo. Bald wird die Flut ihren höchsten Punkt erreicht haben.«
Ich weiß, was passiert, wenn die Flut ihren höchsten Punkt erreicht. Dann schlagen die Wellen direkt unterhalb des Felsvorsprungs an die Steine. In Jahrhunderten hat das Meer tiefe Spalten und Löcher in den Fels gegraben. Wenn das Wasser in sie hineinschießt, peitscht die Gischt zischend empor. Das Meer brüllt wie ein Löwe direkt unter deinen Füßen, während du spürst, wie der Granit unter den Wellen erbebt.
Conor hat Recht. Die Luft und Indigo sind beide sehr nah. Und an diesem Strand treffen sie aufeinander. Conor und ich befinden uns an der Grenze zwischen den beiden Welten. Ich betrachte das leuchtende Meer und denke an Indigo. All das Leben, die Farben und Geschöpfe von Indigo sind mir so nah, dass ich nur die Hand auszustrecken brauche …
Und ehe ich mir darüber im Klaren bin, habe ich mich bereits vorwärts bewegt, der Kante des Felsvorsprungs entgegen.
»Saph!«
Die Möwe öffnet ihren Schnabel und stößt einen schrillen Schrei aus, als Conor meinen Arm packt und mich zurückzieht.
»Komm, Saph, wir müssen nach Hause.«