Drittes Kapitel
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Hunderte von Jahren scheinen seit dem Gedenkgottesdienst vergangen zu sein. Doch tatsächlich sind es ein Jahr, ein Monat und ein Tag. Dreihundertsechsundneunzig Tage.
Manchmal, wenn ich erwache, denke ich für einen kurzen Moment, dass alles so ist wie immer. Ich meine, Dad unten oder im Badezimmer zu hören. Alles ist normal. Doch dann kommt die Wahrheit über mich wie eine dunkle Wolke.
Tagsüber zwinge ich mich, nicht daran zu denken, doch es funktioniert nicht immer, selbst wenn ich Dinge tue, die ich gern habe, wie schwimmen oder Schokoladenkuchen essen oder irgendwas am Schulcomputer entwerfen. Der Gedanke an Dad lässt mich nicht los; er ist wie ein schmerzhafter Bluterguss. Conor geht es genauso. In Mums Gegenwart reden wir nicht über Dad, weil sie das nur aufregt. Aber es geht ihr schon viel besser. Sie isst wieder richtige Mahlzeiten, steht nicht mehr mitten in der Nacht auf, um eine Tasse Tee nach der anderen zu trinken und stundenlang durch das Haus zu tigern.
Wir erzählen ihr nie, dass wir glauben, Dad eines Tages wiederzufinden. Sie würde uns doch nicht glauben.
Eine Zeit lang bin ich jedes Mal zum Telefon gerannt, wenn es geklingelt hat.
Ja? Hallo? Wer ist da?
Jedes Mal wenn es nicht Dads Stimme war, hatte ich das Gefühl, als seien plötzlich alle Lichter erloschen. Wenn der Briefträger kam, versuchte ich, als Erster bei der Tür zu sein, und riss ihm mit pochendem Herzen die Briefe aus der Hand. Doch auf den Umschlägen war nie Dads Handschrift zu sehen. Selbst wenn jemand an die Tür klopfte, wurde meine Hoffnung sofort lebendig. Aber warum sollte Dad an seine eigene Haustür klopfen?
Inzwischen tue ich diese Dinge nicht mehr. Das Klingeln des Telefons ist wieder ein ganz normales Klingeln, der Briefträger bringt wahrscheinlich nur irgendwelche Rechnungen und für das Klopfen an der Tür sind sicher die Nachbarn verantwortlich.
Weißt du, wie das Meer im Laufe vieler, vieler Jahre die Steine immer weiter abschleift, bis schließlich nur noch Sand übrig ist? Niemand sieht es, weil es so langsam geschieht. Und schließlich ist der Sand so fein, dass er dir durch die Finger rieselt. Dad zu verlieren, ist so, als würde man langsam aufgezehrt von einer Kraft, die so gewaltig ist, dass man ihr nichts entgegenzusetzen hat. Wir sind wie Steine, die langsam abgeschliffen werden.
Wer Mum, Conor und mich oberflächlich betrachtet, der denkt vermutlich, wir hätten uns nicht verändert, abgesehen von der Tatsache, dass wir alle ein Jahr älter geworden sind. Aber wir sind nicht mehr dieselben, die wir waren. Etwas Unsichtbares hat sich verändert, etwas in unseren Gedanken und Gefühlen. Ich will diese Veränderung nicht, aber ich kann sie nicht aufhalten.
»Wo ist Conor? Hast du ihn gesehen?« Mum hastet durch die Räume. Sie muss gleich zur Arbeit. Zurzeit wirkt sie ständig gehetzt, aber das heißt zumindest, dass sie aufgehört hat, nur herumzusitzen und in die Luft zu starren.
Mum arbeitet in einem Restaurant in St Pirans und ist diese Woche für die Abendschicht eingeteilt. Sie geht um vier und kommt erst nach Mitternacht zurück.
Vor dem Spiegel im Wohnzimmer bleibt sie stehen, um Lippenstift aufzulegen und ihre Haare hochzustecken. Früher trug sie nicht jeden Tag Lippenstift.
»Sapphire, hörst du mich?« Mum schnippt mit den Fingern. Ich zucke zusammen. Sie schnippt ziemlich viel in letzter Zeit. Sie meint es nicht so; es ist nur, weil sie müde ist. Sie arbeitet in einem der neuen, teuren Restaurants unten am Hafen. Die Trinkgelder sind gut, aber die Arbeitszeit in der Sommersaison ist lang. Von einer Tischgesellschaft bekam Mum letzte Woche eine Zwanzigpfundnote. Zwanzig Pfund! Wie viel Geld muss man haben, um nicht nur das Essen zu bezahlen, sondern darüber hinaus noch zwanzig Pfund Trinkgeld zu geben? Aber natürlich gibt es auch geizige Leute, die hundert Pfund für ein Essen ausgeben, jedoch meinen, ein Pfund Trinkgeld sei genug.
»Sapphire! Hörst du endlich mal auf zu träumen?«
»Tut mir Leid, Mum!«
»Zum dritten Mal, wo ist Conor?«
»Der ist zu Jack gegangen.« Ich habe keine Ahnung, wo Conor ist, doch ich möchte, dass Mum unbeschwert zur Arbeit geht.
»Ich habe ihm gesagt, er soll um drei wieder da sein«, sagt Mum. »Ich lasse dich nur ungern allein, Sapphy. Ich weiß zwar, dass du schon zurechtkommst, aber mir ist wohler, wenn Conor zu Hause ist. Herrje, diese Schulferien nehmen einfach kein Ende.«
»Aber die haben doch gerade erst angefangen, Mum!«
»Für die Lehrer ist das kein Problem. Die brauchen die ganzen Ferien über nicht zu arbeiten und können mit ihren Kindern zusammen sein. Die müssen nicht weiter ihrem Job nachgehen und schlaflose Nächte verbringen, weil sie nicht wissen, was nur aus ihren Kindern werden soll.«
»Ach, Mum, wir sind doch keine Babys mehr. Wir sind sehr vernünftig und Conor wird bestimmt gleich wieder da sein. Wenn ich … wenn ich allerdings einen Hund hätte, wäre ich nie wieder allein zu Hause.«
»Jetzt fang doch nicht wieder damit an, Sapphire! Ach, verdammt, jetzt ist mein Lippenstift verschmiert.«
»Ich finde, ohne Lippenstift siehst du sowieso besser aus.«
»Die Gäste finden das aber nicht«, murmelt sie, während sie den verschmierten Lippenstift abwischt und neuen aufträgt. »Schau dir nur die Ringe unter meinen Augen an, Sapphy, ich muss unbedingt ein bisschen Make-up auflegen. Wenn Conor um fünf noch nicht zurück ist, dann ruf mich auf dem Handy an.«
Es ist so ungerecht. Jack hat drei Hunde und wir keinen einzigen. Seine Mutter hat gesagt, wir könnten Sadie bekommen, meinen Lieblingswelpen mit dem abgeknickten Ohr, doch Mum erlaubt es uns nicht. Wir haben ihr immer wieder gesagt, dass wir uns ganz alleine um Sadie kümmern würden, mit ihr spazieren gehen und alles andere, doch Mum fragt, was ist, wenn sie zur Arbeit geht und wir in die Schule müssen.
Sadie ist so niedlich. Sie ist jetzt über ein Jahr alt, doch Jacks Familie hat sie bisher an niemand anderen verkauft. Ihr Fell hat eine hellbeige, goldene Farbe, und ihre großen, sanften braunen Augen sehen dich an, als wüssten sie alles über dich. Und sie versteht dich, wenn du mit ihr sprichst. Ich gehe mit ihr spazieren, wann immer ich kann. Das ist ein bisschen so, als hätte ich selbst einen Hund. Sie geht sofort neben mir, wenn ich sage: »Bei Fuß, Sadie!« Leute, die in ihren Autos vorbeifahren, denken sicher, dass sie mir gehört.
Sadie ist sehr liebebedürftig, aber keine Klette. Sie hat wirklich einen perfekten Charakter und ist immer ganz aufgeregt, wenn sie mich sieht. Hunde lassen es dich spüren, wenn sie dich lieb haben. Sollten Jacks Eltern sie je an einen anderen Menschen verkaufen, glaube ich nicht, dass sie glücklich werden würde. Ich würde ihr genauso fehlen wie sie mir.
»Hör zu, Sapphire!«, sagt Mum. »Im Tiefkühlfach ist eine Peperonipizza. Außerdem haben wir noch Frühlingszwiebeln und Marys Kopfsalat.«
Ich nicke. Ich hasse Frühlingszwiebeln und verstehe gar nicht, warum sich überhaupt jemand damit abgibt, sie anzubauen.
»Du kommst doch klar, oder?«, fragt Mum und runzelt besorgt die Stirn. Sie lässt mich wirklich nur höchst ungern allein und macht sich bestimmt große Sorgen, während sie bei der Arbeit ist. Sie muss arbeiten, weil wir das Geld brauchen. Dad hatte keine Lebensversicherung abgeschlossen.
Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.
»Wir kommen schon zurecht, Mum.«
Mum gibt mir einen flüchtigen Kuss, ehe sie aus der Tür eilt. Ich höre, wie sie den Motor anlässt. Dann hupt sie, damit ich das Tor am Ende der Einfahrt öffne. Ich laufe hinaus, löse die orangefarbene Schnur, mit der es am Pfosten befestigt ist, und lasse das Tor weit aufschwingen. Mum beschleunigt den Wagen und winkt mir mit breitem Lächeln zu, doch sie kann mir nichts vormachen.
Zurück ins Haus. Drinnen ist es so warm, dass ich die Tür offen lasse. Ich frage mich, wo Conor bleibt.
Wahrscheinlich ist er bei Jack, sitzt vor dessen Computer oder spielt mit den Hunden.
Normalerweise erzählt er mir, wo er hingeht, und verschwindet nicht einfach.
Nein. Ich will über dieses Wort nicht nachdenken. Wenn ich uns jetzt schon was zu essen mache, können wir danach fernsehen, solange wir wollen. Ich nehme die Pizza aus dem Gefrierfach und lege sie auf ein Backblech. Ich wasche Marys Kopfsalat, schleudere ihn trocken und schneide vorsichtig die Wurzeln von Conors Frühlingszwiebeln ab. Wir haben dieses Jahr kein eigenes Gemüse gezogen. Dad hat sich immer ganz allein um die Gartenarbeit gekümmert und alles Mögliche angebaut: Zwiebeln und Kartoffeln, Bohnen, Erbsen und Karotten und das ganze Salatzeug. Ich habe ihm oft dabei geholfen. Doch jetzt ist unser Garten verwildert und von Unkraut überwuchert, und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, um ihn auf Vordermann zu bringen. Dad wäre entsetzt über seinen Zustand.
Aber dann fällt mir etwas ein. Vom dichten Gestrüpp verborgen, befinden sich drei Stachelbeersträucher in unserem Garten. Ich frage mich, ob die ersten Stachelbeeren schon reif sind.
Das sind sie. Sie sind prall und saftig, und wenn ich sie gegen das Licht halte, sehe ich die schwarzen Kerne unter der gelben Schale. Ich laufe in die Küche und hole ein Sieb. Dann beginne ich mit dem Pflücken. Wir werden Stachelbeeren mit Zucker und Schlagsahne essen. Wir haben noch einen halben Karton haltbare Sahne im Kühlschrank, den Mum gestern von der Arbeit mitgebracht hat.
Ich pflücke und pflücke. Dornige Zweige zerkratzen mir die Beine, die Stacheln stechen in meine Hände, aber das macht mir nichts aus. Das Sieb ist jetzt fast ganz voll. Mum wird sich freuen, wenn morgen noch genug da sind. Auch Conor wird begeistert sein.
Conor. Wo ist er? Auf einmal packt mich wieder die Unruhe. Ich schaue auf die Uhr. Es ist fünf vor halb sechs. Mum wollte, dass ich sie anrufe, wenn er um fünf nicht zurück ist, aber das kann ich nicht tun. Sie würde sich solche Sorgen machen und nur einen Unfall riskieren, wenn sie sich Hals über Kopf ins Auto setzte und nach Hause raste. Außerdem wäre der Lohn eines ganzen Abends futsch.
Ich schaue mich um. Alles ist ruhig. In einiger Entfernung sehe ich, wie Alice Trewhidden die Geranien vor ihrer Haustür gießt. Doch selbst auf diese Distanz macht sie einen mürrischen Eindruck. Sie muss den Dingen mit ihrem Gesicht sehr nahe kommen, um etwas zu erkennen. Keine gute Idee, sie nach Conor zu fragen.
Ich könnte Mary fragen.
Ach, nein, lieber nicht. Conor ist nicht verschwunden. Er hat sich nur verspätet, das ist alles. Wenn ich Mary frage, wird aus Conors Abwesenheit plötzlich eine ganz ernste Angelegenheit – wie in der Nacht, als Dad …
Nein. Ich will nicht daran denken. Nie im Leben will ich mir diese schreckliche Nacht in Erinnerung rufen.
Ich könnte bei Jack anrufen. Vielleicht ein bisschen später. Aber was ist, wenn seine Mutter sagt: »Nein, Conor ist heute nicht hier gewesen. Ist alles in Ordnung, Sapphire ?« ?
Ich gehe wieder ins Haus und stelle das Sieb mit den Stachelbeeren auf den Küchentisch. Putzen werde ich sie später.
Das Haus scheint stiller als je zuvor. Ich finde keine Ruhe. Zuerst schalte ich den Fernseher an und dann gleich wieder aus, damit ich Conors Fahrrad höre, wenn er kommt. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass er vielleicht oben in seinem Schlafzimmer ist und schläft.
»Conor!«, rufe ich. »Conor?«
Womöglich hört er mich nicht, weil er die Bettdecke über dem Kopf hat. Ich laufe in mein Zimmer und klettere die Leiter zu Conors Raum hinauf, nun beinahe gewiss, dass er zusammengerollt unter seiner Decke liegt.
Doch sein Bett ist leer. Die Decke liegt auf dem Boden. Ich frage mich, ob er auf dem Kopfkissen vielleicht eine Nachricht für mich hinterlassen hat, so wie die Leute in Büchern das machen, aber natürlich hat er das nicht. Schließlich suche ich den ganzen Dachboden ab, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Ich bücke mich sogar und starre durch das kleine Fenster, das Dad eingebaut hat, nachdem er den Dachboden für Conor hergerichtet hatte. Er ließ mich damals auf dem Boden sitzen und ihm die Werkzeuge anreichen.
Nein, Sapphire, du darfst über so was nicht nachdenken. Das macht dich nur…
Dad ist nicht tot, das weißt du genau. Er ist…
Hör auf der Stelle mit diesem kindischen Geplärre auf.
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Conors Fenster. Es geht direkt zum Meer hinaus. Im letzten Nachmittagslicht schimmert es blau, lila und aquamarin. Das Meer ist ruhig, doch unter der Wasseroberfläche wogt die Dünung. Am Horizont sieht man ein Fischerboot.
Auf Conors Dachboden ist es viel zu heiß und stickig. Wenn ich doch nur unten in der Bucht wäre. Dann könnte ich ins Wasser hineinlaufen und spüren, wie seine herrliche Kühle an meinem Körper emporsteigt. Ich würde so weit laufen, bis meine Füße sich vom Grund lösen, bis in die Mitte der Bucht schwimmen, mich auf dem Rücken treiben lassen und zum klaren Himmel hinaufblicken … Oder ich würde hinabtauchen, in die tiefsten Fluten, meine Augen öffnen und die Rippen betrachten, die der Gezeitenstrom auf dem Meeresgrund und den kleinen Muscheln zurücklässt. Ich könnte sehen, wie der rote und orangefarbene Seetang, der an den Steinen klebt, hin und her wogt, während die Flut kommt. Könnte beobachten, wie die Krabben davonflitzen, wenn sie meinen Schatten über sich spüren, oder kleinen Fischschwärmen zusehen, wie sie hierhin und dorthin jagen. Ich würde meine Hände zu einer kleinen Höhle formen, die sie durchschwimmen könnten …
Ich verliere mich in diesem Traum, obwohl ich hellwach bin. Das Meer fühlt sich stärker und wirklicher an als Conors Dachboden. Die weißen Wände scheinen davonfließen zu wollen. Das Wasser, das mich umschließt, flüstert mir etwas zu. Seine Stimme hebt und senkt sich wie das ewige Auf und Ab der Gezeiten. Ich will dieser Stimme folgen. Ich will auf das Meer hinaus und dem Land den Rücken kehren. Das Meer trägt mich mit sich fort, wie eine starke Strömung, die meine Beine erfasst und die Füße vom Boden löst.
Wäre ich doch nur in der Bucht. Ich muss dorthin. Auf der Stelle.