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Nach Bürens Abgang kam es zu einer tumultartigen Szene, die von Außem nicht im Protokoll aufgenommen werden durfte. Der Staatsanwalt, jegliche Rücksicht außer acht lassend, brüllte, sich weder an Stollfuss noch an Bergnolte direkt wendend, los, er behalte sich vor, seine Funktion in dieser Sache niederzulegen; er fühle sich »hereingelegt«, nicht so sehr von seinem Kollegen Hermes, dessen gutes Recht es sei, seine Mandanten in die günstige Position zu manövrieren, sondern — hier hob er beschwörend die Hände und den Blick, als rufe er Gott oder zumindest Justitia persönlich um Beistand an — »höherenorts, anderenorts habe ich mich in eine Position drängen lassen, die mich zu einer Verantwortungslosigkeit zwingt, die wider meine Natur ist. Ich lege mein Amt nieder!« Kugl-Egger, ein noch jugendlicher Mensch von erheblicher Korpulenz, griff sich ans Herz mit einer spontanen Angst, die Schroer sofort veranlaßte, auf ihn zuzuspringen, den Untersuchungsgefangenen Johann Gruhl vorschriftswidrigerweise mit dem Ruf: »Geh, hol rasch die Lisa!« sowohl zu duzen wie unberechtigterweise aus dem Gerichtssaal zu schicken. Tatsächlich ließ sich Kugl-Egger fast willenlos von Schroer in dessen Küche führen: sein bläulich angelaufenes Gesicht, das Gesicht eines Menschen, der gerne gut ißt und ein Glas Bier nicht verschmäht, zeigte nicht einmal Abneigung, als der junge Gruhl unaufgefordert Schroer zu Hilfe eilte und — vorschriftswidrig wie sein Vater — den Gerichtssaal verließ, um Kugl-Egger in die Schroersche Küche zu führen. Dort hielt Frau Schroer schon ihre bewährte Kampferpaste bereit (sie hatte die dermatologische Disposition des Staatsanwalts instinktiv richtig eingeschätzt; die Schroer darüber später zur Hall: »Der hat eine Haut wie ein Pferd!«); sie öffnete ihm resolut das Jackett, die Weste, schob sein Hemd hoch und massierte mit ihren hübschen kräftigen Händen seine »Herzgegend«.

Inzwischen war Bergnolte flink zu Stollfuss geeilt, mit diesem, der vergaß, eine Pause anzuberaumen, nach oben in dessen Amtszimmer gegangen, hatte schon den Telefonhörer ergriffen, als Stollfuss ihm zu bedenken gab, daß es immerhin angeraten sei, Kugl-Egger, wie immer sich sein seelisches und körperliches Befinden stellen würde, hinzuzuziehen, bevor man Grellber alarmierte. Bergnolte, in dessen Gesicht nun etwas stand, das man getrost als »nackte Angst« hätte bezeichnen können, flüsterte — obwohl Flüstern gar nicht notwendig gewesen wäre, da weit und breit niemand hätte zuhören können — nun Stollfuss zu, ob man nicht notfalls den zur Zeit in Urlaub befindlichen Staatsanwalt Hermanns, von dem bekannt sei, daß er seinen Urlaub in Birglar selbst verbringe, bitten könne, in die Bresche zu springen. Stollfuss, der sich eine Zigarre angezündet hatte, von dem peinlichen Zwischenfall nicht nur nicht unangenehm berührt war, sondern ihn fast zu genießen schien, gab Bergnolte zu bedenken, daß eine solche Eile vielleicht doch die Presse alarmieren könne. Bergnolte, der sich unruhig eine Zigarre anzündete, sagte — immer noch flüsternd —, diese Sache müsse heute noch »über die Bühne und wenn es drei Uhr früh wird«. Er ließ Stollfuss allein, der die Gelegenheit wahrnahm, seiner Frau telefonisch anzukündigen, daß er wohl kaum vor Mitternacht werde zu Hause sein können, sie sich aber nicht zu sorgen brauche. Seine Frau sagte ihm, Grellber habe noch einmal angerufen und ihr mit seinem gewohnten Charme mitgeteilt, daß er, Stollfuss, mit einer hohen Auszeichnung, »wahrscheinlich sogar am Hals«, rechnen könne. Inzwischen war Kugl-Egger nicht nur durch die kräftigen und schönen Hände der Schroer, auch durch einen Cognac, den der Angeklagte Gruhl sen. ihm mit Geschick einflößte, wieder zu sich gebracht, sogar in der Lage, die Treppe zu ersteigen und von seinem Amtszimmer aus ein längeres Telefongespräch zu führen.

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Im Gerichtssaal unterhielt sich Hermes mit der Agnes Hall, dem jungen Außem und dem inzwischen aus der Schroerschen Küche zurückgekehrten jungen Gruhl über dessen bevorstehende Hochzeit mit der hübschen Eva; auch gab Gruhl jun. bekannt, daß er sich selbständig zu machen, das väterliche Geschäft zu übernehmen und seinen Vater anzustellen gedenke »mit einem Lohn, der unterhalb der Pfändbarkeitsgrenze« liege. Die Hall, die ihm jetzt in Gegenwart seines Anwalts bekanntgab, daß sie den Schaden zu ersetzen vorhabe, bekam von ihm einen Kuß, wurde zur Hochzeit eingeladen, wie auch Hermes und Außem, den Gruhl aus einer gemeinsamen Zeit beim Fußballclub »Birglar Blau-Gelb« her duzte, wo Gruhl als Verteidiger und Außem als linker Läufer gespielt hatte. Außem gab Gruhl, dem Hermes und der Hall auch zu verstehen, wie sehr er sein Schicksal beklage, als Protokollführer an die Geheimhaltungspflicht gebunden zu sein; auch meinte er, der junge Gruhl hätte sich der Dienstpflicht bei der Bundeswehr doch besser durch Tricks entzogen, es gäbe da sehr einfache Wege.

In der Schroerschen Küche nahmen Gruhl sen. und Schroer die Gelegenheit wahr, sich »einen zu genehmigen«, erfuhren bei dieser Gelegenheit von der erregten Frau Schroer, daß nicht Eva das kalte Abendessen für die Gruhls gebracht habe, sondern der alte Schmitz persönlich, der sich nicht sonderlich freundlich über die seiner »Tochter angetane Schmach« geäußert und damit gedroht habe, die Justizbehörde der Kuppelei zu verklagen; wie wenig freundlich er die Sache aufgenommen habe, sei an der Qualität des Abendessens zu erkennen, das aus Margarinebroten mit Landleberwurst und einer Flasche Sprudel bestehe. Die Männer lachten über die Erregung der Schroer, meinten, mit dem Schmitz würden sie schon fertig; kein Vater und keine Mutter nähmen »so etwas« leicht auf; eine gewisse Erregung sei ganz natürlich, im übrigen sei »es« ja gar nicht, wie nachzuweisen wäre, innerhalb dieser Mauern geschehen, sondern nach dem Begräbnis des alten Leuffen. Sie solle sich nicht aufregen, der Schmitz habe nicht den geringsten Grund, »den Gerechten und Gesetzestreuen zu spielen«. Schlimm sei’s nur für seine Frau, die Gertrud, der sei man eine Erklärung, ja, sogar Abbitte schuldig, aber der Pitter habe ein dickes Fell, und der könne sich morgen seine Margarinebrote wieder abholen. An diesem Punkt wurde Schroer von Bergnolte unterbrochen, der ihm im Auftrag von Stollfuss mitteilte, es sei eine Pause von einer halben Stunde anberaumt, der Herr Amtsgerichtsdirektor erwarte oben einen Imbiß, bestehend aus Bouillon, einem hartgekochten Ei und ein wenig Kartoffelsalat, was die Schroer zu der Bemerkung veranlaßte, Eier, besonders hartgekochte, seien für Männer über fünfzig »nicht gut«, wobei sie Bergnolte prüfend anblickte, offenbar zu dem Ergebnis kam, er stehe in einem Alter, wo er »gerade noch« hartgekochte Eier essen dürfe, ohne Schaden zu nehmen. Bergnolte, dem — wie er spät in der Nacht noch Grellber mitteilte — »diese ganze Atmosphäre doch recht merkwürdig« vorkam, bat dann auch um ein hartgekochtes Ei, eine Tasse Bouillon und eine Scheibe Brot und Butter. Er wurde ins Schroersche Wohnzimmer verwiesen, wo der Tisch für ihn, die Hall, den jungen Außem und Hermes gedeckt war. Gruhl sen. und jun. wurden ordnungsgemäß in ihre Zellen geführt; sogar in den möglicherweise etwas betont martialischen Schritten des Justizwachtmeisters Schroer, im Gerassel des Schlüsselbundes witterte Bergnolte »jene Art Korruptheit, gegen die wir vergebens anzukämpfen bestrebt sind, Herr Präsident«. In Gegenwart des Bergnolte schien den drei außer ihm Anwesenden, Hermes, Hall, Außem, sogar für eine Weile das rheinische Mundwerk zu versagen, was bei Hermes, der ein heiterer junger Mensch war und sich gern unterhielt, besonders unnatürlich wirkte. Er platzte denn auch schließlich mit einer Frage an seine Tante Hall heraus, erkundigte sich nach deren Truthähnen: ob sie wieder so gediehen seien wie in den Jahren vorher und ob sie für die Tombola des katholischen Akademikerballes wieder zwei besonders schöne Exemplare stiften werde; hier hakte Außem ein und bat mit gespielter Untertänigkeit »doch bitte auch die Liberalen nicht zu vergessen«, die am St. Barbaratag ihren Ball hielten, woraufhin die Hall meinte, sie würde sogar den Kommunisten, falls diese einen Ball, möglicherweise am St. Thomastag, abhielten, zwei besonders schöne Exemplare schenken, falls man an sie herantrete. Dieser Scherz, der endgültig die Spannung an dem etwas kleinen Schroerschen Wohnzimmertisch löste, heiteres Gelächter zur Folge hatte, in das Bergnolte säuerlich einstimmte, dieser Scherz wurde später von diesem »als doch etwas zu weit gehend« bezeichnet.

Frau Schroer röstete inzwischen in der Küche für Kugl-Egger eine Scheibe Weißbrot, bereitete ihm ein »hauchzartes Omelett«, riet ihrem Mann vom Bier für Kugl-Egger ab, auch von Bouillon und meinte, er solle ihm besser ein Glas Wasser mit einem »guten Schuß Cognac drin« bringen.

Wäre Außem bevollmächtigt gewesen, die Stimmung, in der die Verhandlung fortgesetzt und beendet wurde, in seinem amtlichen Protokoll festzulegen, er hätte kein anderes Beiwort als matt, vielleicht gar müde finden können. Besonders Kugl-Egger wirkte befremdend friedlich. Durch eine Handbewegung von Stollfuss dazu aufgefordert, stand er auf und sagte mit überraschend leiser, fast demütiger Stimme, er widerrufe, was er vor der Pause gesagt habe, gestehe, daß er einer Stimmung erlegen sei, die eines Beamten in seiner Position unwürdig, vielleicht aber verständlich sei. Er nähme im Einverständnis mit dem Herrn Vorsitzenden sein Amt wieder auf, nähme auch die volle Verantwortung desselben wieder an. Alle Anwesenden, sogar Bergnolte, empfanden angesichts dieser Demut des Staatsanwalts eine Rührung, die den weiteren Verlauf der Verhandlung bestimmte. Besonders die beiden Angeklagten, die jetzt von Stollfuss aufgefordert wurden, eine letzte Erklärung abzugeben, waren ausgesprochen rücksichtsvoll. Gruhl sen., der als erster sprach, wandte sich während seiner Rede sogar ausschließlich an den Staatsanwalt, so sehr, daß er von Stollfuss durch ein väterliches Nicken und eine entsprechende Handbewegung aufgefordert werden mußte, sich an ihn, den Vorsitzenden, als die eigentliche Adresse zu wenden. Gruhl sen. sagte, er müsse, um keinen der anwesenden Herren und Damen zu täuschen, noch einmal wiederholen, was er am Anfang gesagt habe: ihm sei jegliche Rechtsprechung gleichgültig, er habe hier nur aus persönlichen Gründen ausgesagt, weil in »diese Sache« eben so viele Menschen verstrickt worden wären, die er persönlich kenne und schätze. Zur Sache selbst habe er nur noch folgendes zu sagen: er sei kein Künstler, habe auch keinen künstlerischen Ehrgeiz, er könne nur nachempfinden, nichts Eigenes schaffen, habe aber bei seinem Sohn eine Begabung festgestellt, und er habe sich bereiterklärt, an dieser Sache mitzuwirken; er sei im wahrsten Sinne des Wortes ein Mitwirkender, aber dieses Wort Mitwirkender betreffe nur seinen Anteil an dem entstandenen Kunstwerk, nicht seinen Anteil an der Tat, soweit eine solche vorliege. An der Tat trage er die größere Verantwortung, er sei ja der ältere, er sei es auch gewesen, der den ökonomischen Gesichtspunkt ins Spiel gebracht habe, indem er seinem Sohn, der mit ihm den Plan und die »Dramaturgie des Vorgangs« genau durchgesprochen habe, klargemacht habe, der Wert eines solchen Autos entspreche nicht einmal dem Viertel der Summe, die er im Laufe der letzten Jahre an Steuern gezahlt habe, und nur einem Fünftel der Summe, die er noch schulde; im übrigen könne man ja, habe er, Gruhl sen. gesagt, die Kosten als Material für Kunstwerk von der Steuer absetzen, so wie ein Maler Leinwand, Farbe, Rahmen von der Steuer absetzen könne. Insofern bekenne er sich schuldig, daß er seinen Sohn zu »dieser, wie ich zugeben muß, etwas gewaltsamen Anleihe bei der Bundeswehr ermutigt« habe. Er bäte um Verständnis dafür, daß er angesichts seiner Einstellung zu Recht und Gesetzsprechung weder um Freispruch noch um eine gerechte Strafe bitte, sondern »was immer kommen mag, wie Regen oder Sonnenschein« erwarte. Verteidiger und Staatsanwalt hatten keine Fragen mehr an den Angeklagten Gruhl sen. 

Auch Gruhl jun. blieb ruhig und höflich, in einer Weise, die ihm später von der Agnes Hall als »fast ein bißchen snobistisch« angekreidet wurde. Er sagte, seine Gleichgültigkeit sei anderer Art als die seines Vaters; seine Gleichgültigkeit betreffe mehr den Wert des Autos. Er habe dieser Art Dienstfahrten, deren Natur ja hinlänglich beschrieben und belegt worden sei, im ganzen vier innerhalb eines Jahres gemacht, auf diese Weise habe er im ganzen »fast zwanzigtausend Kilometer gefressen, also eine halbe Erdumkreisung« abgemacht. Fast dreitausend Liter Benzin, die entsprechende Menge Öl habe er — meistens auf der Autobahn zwischen Düren und Frankfurt »hin- und herfahrend« auf diese Weise »verjubeln« müssen; auch sei er Zeuge sinnloser Verschwendung von Zeit, Material, Kraft und Geduld in anderen Bereichen des Militärischen geworden. Schließlich habe er, allein um diese zwanzigtausend Kilometer abzufressen, mehr als fünfundzwanzig Tage lang, »lediglich um den Kilometerzähler in Bewegung zu setzen«, Auto gefahren. Als Tischler sei er zu Arbeiten herangezogen worden, die ihm »ausgesprochen widerlich« gewesen seien; monatelang habe er an einer Bareinrichtung zuerst für ein Offiziers-, dann für ein Unteroffizierskasino gearbeitet, im Grunde sei es nur eine »schlechtbezahlte Zumutung gewesen«. Hier wurde er von Stollfuss unterbrochen, der ihn überraschend energisch aufforderte, hier nicht eine unangebrachte Wehrdienstphilosophie zu bieten, sondern zur Sache zu sprechen. Gruhl jun. entschuldigte sich, fuhr fort und sagte, er sei ein Künstler, und ein Kunstwerk, zu dem man staatliche oder behördliche Genehmigung einhole, wie es bisher bei allen Happenings der Fall gewesen sei, sei für ihn kein Kunstwerk. Die Beschaffung des Materials und die Auffindung des Ortes sei das Risiko, das jeder Künstler auf sich nehme; er habe diesen Vorgang geplant, habe sich das Material beschafft. Betonen möchte er nur noch: das verbrauchte Benzin, etwa achtzig Liter, habe er aus eigener Tasche bezahlt, es sei ihm »zu dumm« gewesen, deshalb noch in die Kaserne zu fahren und an der kompanieeigenen Tankstelle, wozu er berechtigt gewesen sei, zu tanken. Was er zugebe: das »Objekt«, ein Auto, sei möglicherweise zu groß gewesen; er hätte den gewünschten Effekt vielleicht mit einem kleineren Objekt erzielen können; ihm schwebe vor, nur Kanister zu nehmen, in deren Mitte eine Gewehrpyramide stehe — er habe sich schon durch einen Freund beziehungsweise Mittelsmann nach Gewehren erkundigen lassen, die man auf diese Weise unter »Bonbongeknatter« werde abbrennen lassen, deren übrigbleibende Metallteile er dann zu einer Plastik zusammenzuschweißen gedenke. Auch hier unterbrach ihn Stollfuss, indem er sagte, das gehöre nicht hierher; dann fragte er den jungen Gruhl, ob er sich klar darüber sei, worüber sein Vater sich offenbar klar sei: daß in der Aneignung so kostspieligen Materials eine Rechts- oder Gesetzesverletzung liege. Ja, sagte Gruhl jun., er sei sich klar darüber, aber — er dürfe das wohl jetzt bekanntgeben — das Material werde ersetzt werden, sofort wenn es sein müsse, und selbstverständlich werde er in Zukunft nur Kunstwerke erstellen, zu denen er selbst das Material stellen, besorgen und bezahlen werde. Da auch an den Angeklagten Gruhl jun. weder Verteidiger noch Staatsanwalt Fragen zu stellen hatten, wurde Kugl-Egger gebeten, mit seinem Plädoyer zu beginnen; gefragt, ob er zur Vorbereitung eine kleine Pause wünsche, sagte er nein, erhob sich, setzte sein Barett auf und begann zu sprechen. Er, Kugl-Egger, hatte nicht nur seine Ruhe, auch seine Fassung wiedergefunden; er sprach gelassen, fast mit einer gewissen Heiterkeit, ohne Konzept, blickte weder die Angeklagten noch den Vorsitzenden an, sondern über dessen Kopf hinweg auf eine Stelle an der Wand, die ihn schon den ganzen Tag interessiert hatte: dort war immer noch auf dem längst verblichenen, wie es in den entsprechenden Eingaben immer wieder hieß, »erbarmungswürdig schlechten Anstrich«, wenn man scharf genug hinsah, die Stelle zu erkennen, an der einmal ein Kruzifix gehangen hatte, als das Gebäude noch als Schule diente, ja, sogar wie Kugl-Egger später beschwor, »jener fast wie ein Eisenbahnsignal schräg nach rechts oben verlaufende Balken, den der Buchsbaumzweig gebildet haben muß«. Kugl-Egger sprach leise, nicht gerade demütig, aber doch sanft, er sagte: sowohl die Glorifizierung des Angeklagten Gruhl sen. als »gesuchter Fachmann« wie dessen wirtschaftliche Lage sei ihm zu sehr betont, von der Verteidigung wie die Laufbahn eines wahren Märtyrers der menschlichen Gesellschaft herausgestellt worden; auch der wahre Aufmarsch an Entlastungszeugen habe bei ihm, Kugl-Egger, das Gegenteil vom Gewünschten erzielt, ein Mensch von derart sympathischer Grundhaltung sei, jedenfalls nach seiner Meinung, viel härter zur Verantwortung zu ziehen als irgend jemand, der sich weniger verdient gemacht habe. Ihm, Kugl-Egger, gehe es wie dem Polizeimeister Kirffel: das nackte Geständnis entsetze ihn. Er sehe alle Anklagepunkte als nachgewiesen an: Sachbeschädigung und grober Unfug. Beide Anklagepunkte seien vollauf bewiesen, sogar zugegeben. Auch sei der Leerlauf bei der Bundeswehr zu sehr betont worden; dieser Leerlauf betreffe alle Lebens-, alle Wirtschaftsbereiche. Inzwischen hatte er, immer noch auf den Kruzifixabdruck starrend, dort sogar, wie er später am Abend seiner Frau erzählte, verschiedene Buchsbaumspuren entdeckt — was ihn zu einem Lächeln veranlaßte, das von allen Anwesenden mißverstanden wurde, denn mit diesem sanften, fast schönen Lächeln noch auf dem Gesicht fuhr er fort, es sei hier viel von Kunst die Rede gewesen, von Ge- und Entstaltung, er sei sicher, daß der Zeuge Büren, den er als Gutachter betrachte, viel Widerspruch zu gewärtigen habe, wenn dieser Fall, was unvermeidlich sei, in Revision ginge. Er könne diesen angeblich grundsätzlichen Widerspruch zwischen Kunst und Gesellschaft, auch die angebliche Provokation in seinem Plädoyer nicht berücksichtigen. Kunst, das sei für ihn ein zu subjektiver, zu zufälliger Begriff. Darüber müsse »höheren und anderen Orts« entschieden werden. Er beantrage — und immer noch lächelte er zu der Stelle hin, wo einmal ein Kruzifix gehangen hatte —, er beantrage, er stehe hier als Vertreter des Staates, der durch die Tat der Angeklagten sozusagen in seiner Wurzel getroffen sei —, er beantrage zwei Jahre Gefängnis für Johann Heinrich Georg Gruhl, zweieinhalb Jahre für Georg Gruhl, vollen Schadenersatz, keine Anrechnung der Untersuchungshaft, die ja ohnehin eine leicht zu durchschauende Farce gewesen sei. Lächelnd setzte er sich hin, wandte nun sein Gesicht wieder den Angeklagten zu, die keine Bewegung erkennen ließen, während der hinter ihnen sitzende Bergnolte sichtbarlich zusammenzuckte, als Kugl-Egger seinen Strafantrag stellte.

Stollfuss, der den Antrag lächelnd entgegennahm, bat nun Hermes zu plädieren, forderte ihn mit der ihm gewohnten Höflichkeit auf, »doch bitte, Sie verstehen mich schon, Herr Kollege, nicht allzu ausschweifend zu werden«.

Hermes, dessen Plädoyer später von allen anwesenden Juristen, besonders von Bergnolte, als »großartig fair« und kurz bezeichnet wurde, stand lächelnd auf, blickte in die Runde, wobei sein Blick besonders lange auf dem Gesicht seiner Tante Agnes Hall verharrte, deren Gesichtsausdruck von Schroer später als »still, von innen heraus leuchtend« bezeichnet wurde — und sagte dann, auch er sei sich der Einmaligkeit des Falles, des verhandelten Gegenstandes bewußt, um so mehr bedaure er, daß die Öffentlichkeit »durch geschickte Manipulationen der Presseleute untereinander« so wenig, fast nichts von den Vorgängen, die heute hier verhandelt worden seien, erführe. Doch er wolle sich kurz fassen: seine Mandanten hätten gestanden, sie hätten keinerlei Schwierigkeiten bei der Beweisaufnahme gemacht, sie hätten zugegeben, »etwas zu weit gegangen zu sein«, sie seien nicht nur bereit, den entstandenen Schaden zu ersetzen, der Schaden sei bereits ersetzt auf Grund der Großzügigkeit »einer uns allen bekannten, vertrauten und lieben Mitbürgerin«, die ihm einen Blankoscheck überreicht habe. Für ihn, den Verteidiger, sei die ganze Angelegenheit auf eine Weise klar, die ihn fast schmerze, denn er, Hermes, liebe die komplizierten Fälle; dieser hier sei so einfach, daß es ihm fast gegen die Berufsehre gehe; es sei, sagte Hermes, von dem Wirtschaftstheoretiker Dr. Grähn hier gesagt worden, der moderne Wirtschaftsprozeß sei gnaden- und erbarmungslos — das sei also von einem Wissenschaftler bestätigt, sei auf die ökonomische Situation des Angeklagten Gruhl direkt bezogen worden. Ob — und hier blickte Hermes mit echter Liebenswürdigkeit seinen Kollegen Kugl-Egger und mit achtungsvoller Liebenswürdigkeit den Vorsitzenden Dr. Stollfuss an: ob die Herrschaften je auf den Gedanken gekommen wären, das von den beiden Angeklagten, wie amtlich durch einen Professor bezeugt sei, erstellte Kunstwerk könne möglicherweise jene Gnaden-, jene Erbarmungslosigkeit haben ausdrücken sollen? Er wisse sehr wohl, daß Interpretation von Kunstwerken Glückssache sei, aber er wage diese Interpretation. Schließlich sei die Erbarmungslosigkeit jener neuen Kunstrichtung, die man Happening nenne, in einer überregionalen Zeitung von hohem Ansehen, einer Zeitung, die nicht im geringsten verdächtig sei, öffentlich anerkannt worden; ja, es sei sogar in einer Bundestagsdebatte die Rolle der Bundeswehr im Zusammenhang mit einer solchen Veranstaltung zur Sprache gekommen. Nun gut, er, Hermes, wolle nicht kneifen und die beiden Anklagepunkte nicht umgehen: grober Unfug, Sachbeschädigung -. Aber ob nicht in jeder Kunst, jeder Kunstäußerung diese beiden Elemente von der Natur der Sache her enthalten sein müßten, denn Sachbeschädigung im Sinne einer kunstfeindlichen Theorie sei alle Kunst, da sie Material verändere, verwandle und sogar direkt zerstören könne. Er wisse wohl, sagte Hermes, der Stollfuss durch einen Blick zu verstehen gab, daß er nun zum Ende komme, er wisse sehr wohl, daß der Staat das alles nicht so hinnehmen könne, aber ob denn diese heutige Verhandlung nicht ein wenig wenigstens dazu beitragen könne, das Verhältnis des Staates, der Öffentlichkeit zur Kunst, die zugegebenermaßen beide Anklagepunkte ihrer Natur nach enthalte — dieses Verhältnis zu klären, indem die Angeklagten freigesprochen würden? Ja, er fordere Freispruch und fordere, daß die Kosten des Verfahrens zu Lasten der Staatskasse gingen. Noch einen Punkt müsse er erwähnen, fügte Hermes, der sich schon gesetzt hatte, nun wieder aufstand, hinzu: im Zusammenhang mit dem Schadenersatzanspruch der Bundeswehr erhebe sich die Frage, die er auch zu entscheiden bitte: ob die Bundeswehr, wenn sie den Schadenersatz annehme, nicht verpflichtet sei, das Instrument des Kunstwerks, das Autowrack, wieder herauszugeben; schließlich hätten seine Mandanten Anspruch auf dieses Instrument, wenn sie den Schaden ersetzt hätten. Er behalte sich Weiteres in dieser Sache vor.

In der kurzen Pause, die Stollfuss nur der Form halber anberaumte, weil es ihm schien, es sei besser, die Würde des Gerichts und dessen Formen zu wahren, indem er vor der Urteilsbegründung und -verkündung wenigstens eine symbolische Pause einlegte; in der kurzen Pause blieben alle außer Bergnolte im Gerichtssaal; die beiden Gruhl flüsterten ungeniert mit der Hall, Hermes mit Kugl-Egger, der diesem lächelnd erzählte, die Schroer sei doch eine »tolle Person«, er schmecke jetzt erst durch, daß sie ihm nicht nur Cognac, sondern, durch diesen getarnt, in diesen »sozusagen verpackt« auch Baldrian ins Wasser getan, und: er werde sich die Sache noch gründlich, in Ruhe und für einige Tage überlegen, ob er nicht die ihm, wie Hermes ja wohl wisse, »anderen, höheren Orts angeratene Taktik« widerrufen und Einspruch einlegen solle; lediglich Außem blieb auf seinem Platz und machte sich an seinem Protokoll zu schaffen, dem er, wie er später gestand, einen gewissen literarischen Schliff gab; Bergnolte verließ den Saal kurz, um mit der Schroer in deren Küche abzurechnen, da er den letzten Zug, der gegen 0.30 Uhr von Birglar in die nahe gelegene Großstadt abfuhr, zu erreichen gedachte. Zu seiner Überraschung entdeckte er in der Schroerschen Küche die Damen Hermes und Kugl-Egger, erstere legte den Finger auf den Mund, trank genüßlich an einer Tasse Fleischbrühe, letztere, sowohl beunruhigt wie bereits wieder beruhigt, ließ sich von der Schroer den Anfall ihres Mannes und dessen Behandlung schildern, wobei die Schroer zu bedenken gab, »diese Gruhl-Sache« müsse »ja auch für jeden Staatsanwalt eine Zumutung sein, wenn er nicht richtig loslegen« dürfe. Des Bergnolte plötzliches Auftreten wurde von keiner der drei Damen ausgesprochen freundlich aufgenommen: die Hermes legte nicht nur den Finger auf den Mund, runzelte auch die Stirn und fragte die Schroer nicht sehr leise, ob sie »ein Klopfen an die Tür gehört« habe, was diese verneinte. Der Kugl-Egger, die mit dem Anstreicher Ärger gehabt hatte, weil dieser ihr in einer, wie ihr schien, etwas zu selbstgefälligen »Volkshochschul-Farblehre-Manier« bestimmte Farben hatte aufdrängen wollen; die außerdem natürlich durch die Hermes, ihren und deren Mann darüber unterrichtet war; daß Bergnolte hier als Schnüffler anwesend war; der Kugl-Egger entschlüpfte ein »o mei!«, wie sie es möglicherweise auch beim plötzlichen Anblick eines unangenehmen Tiers hätte ausstoßen können. Die Schroer schließlich, der durchaus Rang und Aufgabe des Bergnolte bekannt war, begnügte sich mit einem ziemlich unwirschen »Ja, und?«, das Bergnolte, der sich durch »diese Weiber«, wie er später sagte, »nicht aus der Fassung bringen lassen wollte«, mit der Frage nach dem Preis für die »kürzlich eingenommene Mahlzeit« beantwortete. Die Schroer, der durch Wachtmeister Sterck mitgeteilt worden war, daß »dieser Herr möglicherweise« Stollfuss’ Nachfolger werden solle, nahm die Gelegenheit wahr, »gleich von vornherein klarzustellen, wer hier Herr im Hause ist«, und sagte nicht sehr freundlich, mit siebzig Pfennigen sei die Zeche bezahlt. Das kam dem Bergnolte, »wie fast alles in Birglar, verdächtig vor«; unfähig, die schnippische Mundknospe der Schroer, der es keineswegs an erotischer Explosivität ermangelte, unfähig, diese schnippische Mundknospe recht zu deuten — »einen, wenn auch winzigen Bestechungsversuch« witternd, nicht ahnend, daß man derartige Gefälligkeitsbewirtungen am besten durch eine Schachtel Pralinen oder durch ein, wenn auch verspätetes Blumensträußchen nicht bezahlt, sondern honoriert, er bestand mit ziemlich harter Stimme darauf, »den wahren und wirklichen Preis für die Mahlzeit zu bezahlen«. Die Schroer — die beiden anwesenden Damen, die sich ein Ausplatzen verkneifen mußten, dabei anblickend, nicht ohne Pose und Sinn für diese Pose — rechnete dem Bergnolte vor, daß ein gekochtes Ei mit fünfundzwanzig Pfennig reichlich bezahlt sei, daß sie die Bouillon, die sie in großen Mengen herzustellen pflege, auch mit fünfundzwanzig Pfennig als abgegolten bezeichnen würde, und ihr, wenn sie es recht bedenke, zwanzig Pfennig für eine Scheibe Brot mit Butter doch etwas reichlich vorkämen, sie also den »Herrn Amtsgerichtsrat bitte«, es bei sechzig Pfennig zu belassen; sie habe, wie sie ausdrücklich betone, hier keine Kneipe, sondern eine »Gefälligkeitsimbißstube«; sie ließ während ihrer erst demütig, dann mit verschärfter Demut, zuletzt mit bitterer Demut vorgetragenen Rechnung den Blick, wobei sie jeden der Betroffenen anders ansah, von der Hermes zur Kugl-Egger, von dort zu Bergnolte, den Weg zurück noch einmal bis zu Bergnolte gleiten. Der — zwischen, wie er später erzählte, »Unterwerfung und Aufruhr schwankend« — wählte die Unterwerfung; im letzten Augenblick fiel ihm ein, daß ein Trinkgeld, das zu geben er tatsächlich sogar in diesem Stadium der Verhandlung noch erwogen habe, »völlig, aber auch völlig unangebracht« sei; er zählte mit einer Miene, die von der Schroer später den beiden Gruhls und ihrem Mann als »ausgesprochen beschissen« beschrieben wurde, die Münzen aus seinem Portemonnaie auf den Küchentisch und war, wie er später gestand, »heilfroh, es passend zu haben«. Nachdem er betreten, vor Verlegenheit sogar vergessend, die Damen der Kollegen zu begrüßen, die Küche verlassen hatte, horchte er, weil er sicher war, hinter ihm würde das Weiberlachen losplatzen. Er wartete und horchte vergebens, ging, als er im Saal das Geräusch scharrender Füße und gerückter Stühle hörte, rasch hinein, ohne zu ahnen, daß die Hermes, die nach seinem Weggang wieder den Finger auf den Mund gelegt, genau in dem Augenblick erst das Lachen auch der beiden anderen Damen »freiließ«.

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Wenige Tage später, als er die stenografisch aufgenommene Urteilsverkündung und Begründung der Sekretärin von Stollfuss in die Maschine diktierte, habe er, gestand Außem, sich doch noch mal »eine flüchtige Spur Feuchtigkeit« aus dem Auge wischen müssen, nicht gerade Tränen, aber, »na, Sie wissen schon«. Als Stollfuss jetzt einzog, war es fast schon Mitternacht, und Bergnolte, der gerade noch rechtzeitig kam, bezeichnete sich später seiner Frau gegenüber als »widerwärtiger, unverbesserlicher Pedant«, weil er dauernd habe auf die Uhr schauen und an diesen »verfluchten letzten Zug denken« müssen, im Herzen eine »unausrottbare Bangigkeit wegen der dem Staat eventuell entstehenden hohen Taxikosten — ich bin und bleibe nun einmal ein Beamter, weißt du, und ich bin noch stolz darauf«. Schließlich vergaß sogar Bergnolte die Uhr, während Agnes schon nach den ersten von Stollfuss’ Worten absolut versunken gewesen zu sein behauptete. Stollfuss sprach erst ohne Barett, er blickte Agnes, die Gruhls, Hermes, Außem, Kugl-Egger, wieder Agnes an, der er jetzt offen und unwidersprochenerweise zunickte, dann lächelte er, weil die Damen Hermes und Kugl-Egger eintraten, leise, wie Leute, die zu spät in die Kirche kommen und den Prediger nicht stören wollen. Solange er ohne Barett sprach, sagte Stollfuss nur Persönliches; er zöge bald die Robe aus, dieses sei nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher, wie ihm mitgeteilt worden sei, sein letztes Verfahren, sein letztes öffentliches Auftreten, und er bedaure es, daß nicht alle Bewohner des Kreises Birglar, die zu be- und abzuurteilen er gezwungen gewesen sei, jetzt hier versammelt wären; das sei eine stattliche Zahl, eine »ziemlich große Herde«; nicht alle, aber die meisten seien eigentlich ganz nette Menschen gewesen, ein bißchen verstrickt, hin und wieder bösartig, doch — und er bezöge darin den Sittlichkeitsverbrecher Hepperle ein — die meisten »richtig nett«. Dieser Prozeß hier aber — und er sähe dies als eine günstige Fügung an — sei der netteste von allen gewesen; die Angeklagten, alle Zeugen, ja alle, womit er nach der Meinung der Hall auf die Seiffert anspielte, der Ankläger, der Verteidiger, das Publikum und ganz besonders die hochverehrte Dame dort im Zuschauerraum, die an nicht fast, sondern buchstäblich an allen seiner öffentlichen Verhandlungen teilgenommen habe. Ihn betrübe der Vorfall mit dem Finanzoberinspektor Kirffel, an dem er sich schuldig erkläre, er würde sich noch einmal bei Kirffel entschuldigen; ihm seien angesichts der Kompliziertheit des Falles — darin müsse leider dem Herrn Kollegen Hermes widersprochen werden — die Nerven durchgegangen. Der Fall selbst — und er setzte immer noch nicht sein Barett auf, nun, er sei sich klar darüber, daß sein Urteil nicht endgültig sein könne; dieser Fall überschreite nicht etwa nur seine, eines Amtsgerichtsdirektors Kompetenz, er überschreite sogar die Kompetenz der allerhöchsten Gerichte, denn er spiele sich ab an einem »wahren Schnittpunkt, ja Kreuzweg«, und er sei keineswegs der Mann, in einem solchen Fall ein gültiges Urteil zu sprechen. Ein Urteil spreche er, und es sei für ihn ein endgültiges Urteil, aber ob man höheren Orts und anderen Orts sich damit zufriedengeben werde? Er wisse es nicht, wage fast zu sagen, er hoffe es nicht, denn was er als Richter immer angestrengt, wohl selten erreicht habe: Gerechtigkeit, das habe er in diesem Prozeß am allerwenigsten von allen durch ihn geführten Prozessen erreicht: gerecht würde er der Tat, würde er dem Vorgang, würde er dem Werk — würde er der Anrichtung —, er bitte den Herrn Referendar Außem keines dieser Worte in Anführungszeichen zu setzen, gerecht könne er einer »solchen Sache« nicht werden. Ihn habe — und jetzt setzte er sein Barett auf — sowohl der Verteidiger wie der Ankläger überzeugt: er aber sehe zwar groben Unfug nicht aber Sachbeschädigung als erwiesen an. Ihn hätten aber auch die Angeklagten überzeugt: freimütig hätten sie zu Protokoll gegeben, was er als Richter zugebe: daß es in einer solchen Sache keine Gerechtigkeit gebe und sie, die Angeklagten solche nicht erwarteten. Daß er als Richter sich hier für hilflos erkläre, daß ihm als letzter Fall ein Fall gegeben worden sei, der die Hilflosigkeit der menschlichen Rechtsprechung so deutlich zum Ausdruck bringe: das sei für ihn das schönste Abschiedsgeschenk jener Göttin mit verbundenen Augen, die für ihn, Stollfuss, so viele Gesichter gehabt habe: manchmal das einer Hure, hin und wieder das einer verstrickten Frau, nie das einer Heiligen, in den meisten Fällen das einer durch ihn, den Richter, zu Wort kommenden, stöhnenden, geplagten Kreatur, die Tier, Mensch und ein kleines, kleines bißchen Göttin gewesen sei. Er verurteilte die Angeklagten zu vollem Schadenersatz, verpflichtete die Bundeswehr zur Herausgabe des Kunst-Instruments, denn daß es sich um ein solches gehandelt habe, davon habe ihn nicht nur die Aussage des Zeugen Professor Büren überzeugt. Wenn aber diese Art, »Kunstwerke oder kunstgeschwängerte Augenblicke zu schaffen«, um sich greife, so habe das verheerende Folgen, zumal es ja wahrscheinlich wie alles Popularisierte zum Kitsch erstarren, zum Kunstgewerbe degradiert werde. Er müsse deshalb — und er täte das ohne Reue und ohne Bedenken — die Angeklagten zu sechs Wochen Haft verurteilen, die durch die Untersuchungshaft verbüßt seien. Die Angeklagten würden es ihm gewiß nicht übelnehmen, wenn er — und er nahm wieder sein Barett ab —, der ihr Vater beziehungsweise Großvater sein könne, ihnen einen Rat gebe: sie sollten sich unabhängig vom Staat machen, indem sie ihm — das betreffe die Steuerschuld des Angeklagten Gruhl sen. — gar keine Möglichkeit gäben, sie in ihrer Freiheit einzuschränken, und sie sollten, wenn sie diesen Tribut entrichteten, schlau wie die Füchse sein, denn es sei hier von einem Wissenschaftler, der als kompetente Kapazität gelte, die Gnaden- und Erbarmungslosigkeit des Wirtschaftsprozesses geradezu bescheinigt worden, und einer gnadenlosen, erbarmungslosen Gesellschaft dürfe man nicht ungewappnet entgegentreten. Es war fünfundzwanzig Minuten nach zwölf — was auf Stollfuss’ Wunsch später im Protokoll in 23.46 Uhr umgewandelt wurde, da er nicht den neuen Tag mit »dieser Sache behangen« sehen wollte —, als Stollfuss, nun wieder energisch, die Angeklagten bat vorzutreten und zu sagen, ob sie das Urteil annähmen. Die beiden berieten sich sehr kurz, fast stumm, indem sie Hermes fragend anblickten, der ihnen zunickte, mit ihrem Anwalt, traten dann vor und erklärten, sie nähmen das Urteil an. Stollfuss verließ sehr rasch den Gerichtssaal. Er selbst war nicht nur viel weniger, er war nicht gerührt, als er oben in dem sehr schwach beleuchteten Flur seine Robe an den Haken hängte; er strich sich über den Kahlkopf, rieb sich die müden Augen, und als er sich vorbeugte, um seinen Hut vom Haken zu nehmen, sah er unten Bergnolte über den Hof laufen und lächelte.