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Vor dem Amtsgericht in Birglar fand im Frühherbst des vorigen Jahres eine Verhandlung statt, über deren Verlauf die Öffentlichkeit sehr wenig erfuhr. Die drei im Kreise Birglar verbreiteten Zeitungen, die »Rheinische Rundschau«, das »Rheinische Tagblatt« und der »Duhrtalbote«, die unter den Rubriken »Aus dem Gerichtssaal«, »Im Gerichtssaal« und »Neues aus den Gerichtssälen« gelegentlich, etwa bei Viehdiebstählen, größeren Verkehrsdelikten, Kirmesschlägereien umfangreiche Reportagen veröffentlichten, brachten über diesen Fall nur eine kleinere Notiz, die überraschenderweise in allen drei Zeitungen gleich lautete: »Vater und Sohn Gruhl fanden einen milden Richter. Eine der beliebtesten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in unserer Kreisstadt, Amtsgerichtsdirektor Dr. Stollfuss, der an dieser Stelle noch gebührend gewürdigt werden wird, leitete als letzte Verhandlung vor seiner Pensionierung den Prozeß gegen Johann und Georg Gruhl aus Huskirchen, deren unverständliche Tat im Juni einige Gemüter erregt hatte. Die beiden Gruhl wurden nach eintägiger Verhandlung zu vollem Schadenersatz und sechs Wochen Haft verurteilt. Sie nahmen nach kurzer Beratung mit ihrem Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Hermes aus Birglar das milde Urteil an. Da ihnen die Untersuchungshaft angerechnet wurde, konnten sie sofort auf freien Fuß gesetzt werden.«

Die Lokalredaktionen der »Rheinischen Rundschau« und des »Rheinischen Tagblattes« waren schon einige Wochen vor Prozeßbeginn übereingekommen, einander in dieser Sache keine Konkurrenz zu machen, den Fall Gruhl nicht »hochzuspielen«, es sei »zu wenig drin«. Wenn — was nicht zu befürchten war — Leser sich über die fehlende Information über den Prozeß Gruhl beklagen sollten, so hatten beide Redaktionen eine Ausrede bereit, die, wie der »Rundschau«-Redakteur Krichel sagte, »besser saß als die Schlittschuhe einer Eiskunstweltmeisterin«: der gleichzeitig beginnende Prozeß gegen den Kindermörder Schewen in der nahe gelegenen Großstadt, der mehr Leser interessiere. Ein Versuch dieser beiden Redaktionen, mit dem Chefredakteur, Verleger und Drucker des »Duhrtalboten«, Herrn Dr. Hollweg, die gleiche Vereinbarung zu treffen, war gescheitert. Dr. Hollweg, der im Kreise Birglar eine Art liberaler Opposition betrieb, witterte — nicht zu Unrecht — eine »klerikal-sozialistische« Verschwörung und beauftragte seinen derzeitigen Reporter, den ehemaligen Studenten der evangelischen Theologie Wolfgang Brehsel, sich die Sache vorzumerken. Brehsel, der Gerichtsreportagen allen anderen Reportagen vorzog, war auf den überraschend angesetzten Verhandlungstermin durch die Frau des Verteidigers Dr. Hermes aufmerksam gemacht worden, die ihm auch, als sie nach einem Vortrag über »Das Konzil und die Nichtchristen« bei einem Glas Bier mit dem Referenten, einem Prälaten Dr. Kerb, zusammensaßen, erklärt hatte, was am Fall Gruhl wirklich berichtenswert sei: das volle Geständnis der Angeklagten, deren Tat, deren Persönlichkeiten, vor allem aber die Tatsache, daß der Ankläger das merkwürdige Vergehen der beiden Gruhl nun lediglich als »Sachbeschädigung und groben Unfug« verurteilt zu sehen wünsche und den offenbaren Tatbestand der Brandstiftung ignoriere. Außerdem erschien der Hermes, die selbst cum laude in juribus promoviert hatte, bemerkenswert: die rasche Anberaumung der Verhandlung, die Unterbringung der Angeklagten in dem provisorisch mit ein paar Zellen ausgestatteten Gerichtsgebäude, wo sie, wie in Birglar bekannt sei, wie die Vögel im Hanfsamen lebten; ganz besonders bemerkenswert erschien der Hermes, daß man diesen Prozeß vor einem Amtsgericht ablaufen ließ, unter dem Vorsitz des zur Pensionierung anstehenden Dr. Stollfuss, der seiner humanen Vergangenheit und Gegenwart wegen berühmt und berüchtigt war. Auch dem Brehsel, obwohl er sich gerade in den Anfangsgründen der Rechtsprechung zurechtzufinden begann, schien für ein solches Vergehen mindestens ein Schöffengericht, kein Einzelrichter, zuständig; die Hermes bestätigte das, wandte sich dann dem Referenten des Abends, Prälat Dr. Kerb, zu und bat ihn, der sich angesichts dieser Birglarer Lokalschwätzereien schon zu langweilen begann, doch dem ökumenisch sehr interessierten Nichtkatholiken Brehsel ein paar Stichworte für seinen Artikel über das Referat zu geben.

Noch am gleichen Abend hatte Brehsel in der Redaktion mit seinem Chef Dr. Hollweg über diese juristischen Finessen im Falle Gruhl gesprochen, während er Hollweg, der gern bewies, daß er auch die Berufe des Druckers und Setzers »von der Pike auf« gelernt hatte, den Artikel über das abendliche Referat in die Setzmaschine diktierte. Hollweg, dem der Enthusiasmus des Brehsel gefiel, gelegentlich aber, wie er sagte, »auf die Nerven drückte«, veränderte in dessen Artikel den Ausdruck »sehr optimistisch« in »mit einer gewissen Hoffnung«, den Ausdruck »prächtige Liberalität« in »mit einem gewissen Freimut« und beauftragte den Brehsel, über den Prozeß Gruhl für den »Duhrtalboten« zu berichten. Dann wusch er sich die Hände mit jener kindlichen Freude, die ihn jedesmal überkam, wenn er sich durch wirkliche und wahre Arbeit die Hände schmutzig gemacht hatte, und fuhr mit seinem Auto die wenigen Kilometer nach Kireskirchen zu seinem Parteifreund, einem Abgeordneten, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Hollweg, ein jovialer, sehr liebenswürdiger, wenn auch ein wenig zur Indolenz neigender Mensch Anfang Fünfzig, ahnte nicht, daß er seinem Parteifreund erheblichen Kummer ersparte, indem er selbst auf den merkwürdigen Fall Gruhl zu sprechen kam. Er äußerte sich erstaunt darüber, daß die Staatsmacht, deren Härte, wo sie sich zeigte, er anzuprangern nicht aufhören wolle, der man auf die Finger sehen müsse, sich in diesem Fall so milde zeige; ein solches Entgegenkommen der Staatsmacht sei ihm genauso verdächtig wie übermäßige Härte; als Liberaler fühle er sich verpflichtet, auch in einem solchen Fall den Finger auf die Wunde zu legen. Hollweg, der gelegentlich ins Schwätzen verfiel, wurde von seinem Parteifreund in der bewährten liebenswürdigen Weise ermahnt, doch die Vorgänge im Kreise Birglar nicht zu überschätzen, wie es ihm oft unterlaufen sei, zum Beispiel im Falle des Heinrich Grabel aus Dulbenweiler, in dem er sofort einen Märtyrer der Freiheit gesehen, der sich aber als ganz kleiner Schwindler erwiesen habe, als mieser Gernegroß mit einer »ziemlich offenen Hand für Gelder aus der falschen Himmelsrichtung«. Hollweg wurde nicht gern an den Fall Heinrich Grabel erinnert; für den hatte er sich ins Zeug gelegt, ihm Publicity verschafft, ihn auswärtigen Kollegen ans Herz gelegt, sogar den Korrespondenten einer überregionalen Zeitung hatte er für ihn interessiert. Er küßte der Frau des Abgeordneten, die gähnend um Entschuldigung und die Erlaubnis sich zurückziehen zu dürfen bat — sie habe die ganze Nacht am Bett ihrer kleinen Tochter gewacht —, er küßte ihr die Hand, widmete sich eine Weile dem Nachtisch, mit Paprika und Zwiebeln garniertem Camembert, zu dem ein gutes Glas Rotwein serviert wurde. Der Abgeordnete goß ihm nach und sagte: »Laß doch die Finger von diesen Gruhls.« Aber Hollweg erwiderte, eine solche Aufforderung, hinter der er — so dumm sei er denn doch nicht — eine Absicht wittere — eine solche Mahnung sei für ihn, einen leidenschaftlichen Liberalen und Journalisten, geradezu ein Ansporn, sich der Sache anzunehmen. Sein Gastgeber wurde ernst und sagte: »Du, Herbert, hab ich dich je um einen Gefallen gebeten, was deine Zeitung betrifft?« Hollweg, jetzt verdutzt, sagte nein, das habe er nie. Jetzt, sagte der Gastgeber, bäte er ihn zum erstenmal um etwas, »und zwar um deinetwillen«. Hollweg, der wegen seines Birglarer Lokalpatriotismus genug gehänselt wurde, sich auch seiner Provinzialität schämte, versprach, seinen Reporter zurückzupfeifen, aber unter der Bedingung, daß der Abgeordnete ihm die Hintergründe erkläre. Es gebe keine Hintergründe, sagte der; Hollweg könne ja hingehen, an der Verhandlung teilnehmen, dann entscheiden, ob sie eines Berichtes wert sei; es sei eben nur töricht, wenn irgendein Reporter die Sache aufbausche. Hollweg überfiel schon ein Gähnen, wenn er sich den Gerichtssaal vorstellte: dieses muffige, immer noch nach Schule riechende Gebäude neben der Kirche; der alte Stollfuss, dessen Kusine Agnes Hall als obligatorische Zuschauerin, und außerdem: war es nicht wünschenswert, wenn die beiden Gruhl einen milden Richter fanden und von Publicity verschont wurden? Im übrigen würde es ein Segen für alle Liebhaber alter Möbel im Kreis Birglar und darüber hinaus sein, wenn Gruhl sen. wieder frei war, seine geschickten Hände, sein untrüglicher Geschmack der Gesellschaft wieder zu Diensten standen.

Beim Kaffee, den der Abgeordnete im Herrenzimmer aus einer Thermoskanne eingoß, fragte er Hollweg, ob er sich an eine gewisse Betty Hall aus Kireskirchen erinnere, die später Schauspielerin geworden sei. Nein, sagte Hollweg, er, der Abgeordnete, vergesse wohl den Altersunterschied zwischen ihnen, der immerhin fünfzehn Jahre betrage; was denn mit dieser Hall los sei; sie trete, sagte der Abgeordnete, in der nahe gelegenen Großstadt in einem polnischen Theaterstück auf und habe eine glänzende Presse. Hollweg nahm die Einladung ins Theater an.

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Morgens gegen siebeneinhalb Uhr wurde Brehsel von Hollweg angerufen und aufgefordert, nicht über den Fall Gruhl in Birglar zu berichten, sondern in die nahe gelegene Großstadt zu fahren, wo zur gleichen Stunde der Sensationsprozeß gegen den Kindermörder Schewen begann. Brehsel kam es einige Augenblicke lang seltsam vor, daß sein Chef, der als Langschläfer galt, ihn so früh am Morgen anrief, bis ihm einfiel, daß Langschläfer meistens spät ins Bett gehen und Hollweg möglicherweise gerade erst nach Hause gekommen sei. Hollwegs Stimme kam ihm auch eine Spur zu energisch, fast befehlend vor, beides Nuancen, die ihn überraschten; Hollweg war sonst ein nachgiebiger, wenig energischer Mensch, der sich nur zu erregen pflegte, wenn an einem einzigen Tag drei oder vier Abbestellungen einliefen. Brehsel dachte nicht sehr lange über diese minimalen Abweichungen vom Gewöhnlichen nach, rasierte sich, frühstückte und fuhr mit seinem Kleinauto in die nahe gelegene Großstadt; er war ein wenig nervös wegen der Parkschwierigkeiten, die ihm bevorstanden, auch weil er sich vor den großen internationalen Reportage-Löwen fürchtete, die sich aus aller Welt angesagt hatten. Eine Pressekarte lag, wie Hollweg versichert hatte, für ihn bereit; durch frühe Morgentelefonate eine Karte zu besorgen, hatte sich der Abgeordnete, der Mitglied des Wehr- und des Presseausschusses war, stark gemacht.

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Der Prozeß Gruhl fand im kleinsten der drei zur Verfügung stehenden Säle vor zehn Zuschauern statt, die fast alle mit den Angeklagten, Zeugen, Gutachtern, Gerichtspersonen oder anderen mit dem Prozeß befaßten Personen verwandt waren. Lediglich einer der Anwesenden war ortsfremd, ein schlanker, unauffällig, jedoch gediegen gekleideter Herr mittleren Alters, der nur dem Vorsitzenden, dem Staatsanwalt und dem Verteidiger als Amtsgerichtsrat Bergnolte aus der nahe gelegenen Großstadt bekannt war.

Im Zeugen-, dem ehemaligen Lehrerzimmer der Schule, die als vierklassige in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut, zur sechsklassigen um die Jahrhundertwende erweitert, in den späten fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts durch einen Neubau ersetzt und der sprichwörtlich armen Justizbehörde übergeben worden war, die bis dahin in einer ehemaligen Unteroffiziersschule die Rechtspflege betrieben hatte; im Zeugenzimmer, das für sechs, höchstens acht Personen berechnet war, drängten sich vierzehn Personen verschiedener sozialer und moralischer Qualität: der alte Pfarrer Kolb aus Huskirchen, zwei Frauen aus dessen Gemeinde, von denen die eine den Ruf sagenhafter Biederkeit und Kirchentreue, die andere den Ruf einer übersinnlichen Person genoß, wobei über als Steigerung von sinnlich, nicht im Sinne von metasinnlich gemeint war; außerdem: je ein Offizier, Feldwebel und Gefreiter der Bundeswehr, ein Wirtschaftsprüfer, ein Gerichtsvollzieher, ein Finanzbeamter aus dem mittleren gehobenen Dienst, ein Reisevertreter, ein Kreisbevollmächtigter für Verkehrsfragen, der Obermeister der Tischlerinnung, ein Polizeimeister, eine Barbesitzerin. Als die Verhandlung begann, mußte Justizwachtmeister Sterck, der eigens zu diesem Zweck aus der nahe gelegenen Großstadt abkommandiert worden war, den Zeugen das Ambulieren auf dem Flur untersagen; wenn im Gerichtssaal laut gesprochen wurde, konnte man auf dem Flur die Verhandlung mithören. Dieser Umstand hatte schon zu mancher ergebnislosen Kontroverse zwischen dem Amtsgerichtsdirektor und seiner vorgesetzten Behörde geführt. Da bei Diebstählen, Erbschaftsstreitigkeiten, Verkehrsdelikten des Gerichts einzige Chance bei der Wahrheitsfindung darin bestand, Widersprüche in den Zeugenaussagen aufzudecken, mußte meistens ein Wachtmeister als Zeugenbewacher angefordert werden, der oft mit den Zeugen weitaus strenger verfahren mußte als sein Kollege drinnen im Saal mit den Angeklagten. Es kam auch gelegentlich im Zeugenzimmer zu Handgreiflichkeiten, wüsten Schimpfereien, Verleumdungen und Verdächtigungen. Der einzige Vorteil der ausgedienten Schule bestand, wie es ironisch in den entsprechenden Eingaben immer wieder hieß, in der Tatsache, »daß an Toiletten kein Mangel bestehe«. In der nahe gelegenen Großstadt, bei der dem Amtsgericht Birglar vorgesetzten Behörde, die in einem Neubau mit offenbar zuwenig Toiletten untergebracht war, gehörte es zu den Standardwitzen, jedem, der sich über Toilettenmangel beklagte, den Rat zu geben, er möge doch per Taxi in das nur fünfundzwanzig Kilometer entfernte Birglar fahren, wo notorischer Überfluß an justizeigenen Toiletten herrsche.

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Im Verhandlungssaal herrschte unter den Zuschauern eine Stimmung, wie vor den Aufführungen von Liebhabertheatern, die ein klassisches Repertoirestück angekündigt haben; eine gewisse wohlwollende Spannung, die ihre Wohltemperiertheit aus der Risikolosigkeit des Unternehmens bezieht: man kennt die Handlung, kennt die Rollen, deren Besetzung, erwartet keine Überraschungen und ist dennoch gespannt; geht’s schief, so ist nicht viel verloren, höchstens ein wenig liebenswürdiger Eifer verschwendet; geht’s gut: desto besser. Allen Anwesenden waren die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens und der Voruntersuchung auf dem Umweg über direkte oder indirekte Indiskretionen, wie sie in kleinen Ortschaften unvermeidlich sind, bekannt. Jeder wußte, daß die beiden Angeklagten voll geständig waren, sie waren sogar, wie der Staatsanwalt vor wenigen Tagen im vertrauten Kreis gesagt hatte, »nicht nur geständiger« als alle Angeklagten, die er je gesehen hatte, nein, sie waren »die geständigsten«; sie hatten weder während des Ermittlungsverfahrens noch während der Voruntersuchung den Zeugen oder Gutachtern widersprochen. Es werde, so hatte der Staatsanwalt geäußert, eines jener reibungslosen Verfahren, wie sie jedem erfahrenen Juristen unheimlich seien.

Nur drei im Zuschauerraum anwesende Personen wußten, was gewiß auch »andernorts« — so nannte man in solchen Fällen die nahe gelegene Großstadt — bekannt war: daß die Staatsmacht, indem sie sich darauf beschränkte, den Angeklagten lediglich Sachbeschädigung und groben Unfug und nicht Brandstiftung zur Last zu legen, indem sie außerdem einen Einzelrichter als ausreichende Instanz mit der Durchführung des Verfahrens befaßte, auf eine überraschende Weise tiefstapelte. Die beiden Personen, die Einblick in solche Zusammenhänge hatten, waren die Frau des Staatsanwalts Dr. Kugl-Egger, die erst vor wenigen Tagen, nachdem ihr Mann endlich eine Wohnung gefunden hatte, nach Birglar übergesiedelt war, und die Frau des Verteidigers Dr. Hermes, eine Kaufmannstochter aus Birglar, die, was sie wußte, schon dem Reporter Brehsel am Vorabend erzählt hatte: daß man »andernorts« entschieden habe, weder ein Schöffengericht noch — was durchaus »drin« gewesen wäre — eine große Strafkammer zu befassen; da man aber wisse, daß kein Verteidiger so pervers reagiere, wenn er die Möglichkeit habe, seine Angeklagten von einem müden alten Humanitätslöwen wie Stollfuss abgeurteilt zu sehen, ihn vor die kleine Strafkammer, den »miesen Köter« Prell zu schleppen: habe man »andernorts« entschieden, den Fall Gruhl kleinzuhalten; darin müsse ein unausgesprochenes, aber spürbares Entgegenkommen erblickt werden und gleichzeitig eine Bitte um Entgegenkommen; Hermes, ihr Mann, behalte sich aber vor, je nachdem, wie der Fall verliefe, beides, Entgegenkommen und Bitte um Entgegenkommen, abzulehnen und auf einer neuen Verhandlung, mindestens vor einem Schöffengericht, zu bestehen.

Die dritte im Zuschauerraum anwesende Person, die über solche Zusammenhänge informiert war, Amtsgerichtsrat Bergnolte, wäre außerstande gewesen, sich solche Überlegungen bewußt zu machen; als Mensch von hoher Wahrnehmungsintelligenz, einer sprichwörtlichen Kenntnis der Gesetzestexte begriff er zwar den Vorgang: daß die zur Wiederherstellung des Rechtes vorhandene, mit Macht ausgestattete Justiz hier, wie ein Kollege es genannt hatte, »unter den Strich ging«; doch Begriffe wie »Entgegenkommen« oder gar »Bitte um Entgegenkommen« hätte er in diesem Zusammenhang als unzulässig bezeichnet.

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Als Richter und Staatsanwalt eintraten und sich auf ihre Plätze begaben, die Zuschauer sich erhoben, zeigte sich in der Art, wie sie aufstanden, sich wieder hinsetzten, jene familiäre Lässigkeit, wie man sie nur in Klostergemeinschaften kennt, wo das Ritual zur freundlichen Gebärde unter Vertrauten geworden ist. Auch als die Angeklagten hereingeführt wurden, war die Bewegung nicht heftiger; fast alle Anwesenden kannten sie, wußten auch, daß sie während ihrer zehn Wochen dauernden Untersuchungshaft Frühstück, Mittagessen und Abendbrot aus dem besten Haus am Platz gebracht bekamen, von einer jungen Dame, einem der hübschesten Mädchen, die je im Kreis Birglar aufgewachsen waren; so gut, wie sie während der Untersuchungshaft versorgt wurden, waren die beiden seit zweiundzwanzig Jahren, seit dem Tode ihrer Frau und Mutter, nie versorgt worden; es wurde sogar gemunkelt, sie würden gelegentlich, wenn nicht gerade andere Häftlinge einsaßen, deren Indiskretion zu fürchten gewesen wäre, zu besonders populären Fernsehsendungen in das Wohnzimmer des Justizwachtmeisters Schroer eingelassen; Schroer und seine Frau widersprachen zwar diesen Gerüchten, aber nicht allzu heftig.

Lediglich der Frau des Staatsanwalts und dem Bergnolte waren die Angeklagten nicht bekannt; die Frau des Staatsanwalts gestand beim Mittagessen ihrem Mann, sie habe sofort eine starke Sympathie für beide empfunden. Bergnolte bezeichnete am Abend den Eindruck, den er gewann, als »wider meinen Willen positiv«. Die beiden wirkten gesund, waren gut gekleidet, sauber und ruhig; sie wirkten nicht nur gefaßt, sondern heiter.

Die Vernehmungen zur Person verliefen fast reibungslos; sieht man davon ab, daß Dr. Stollfuss tun mußte, was er gewöhnlich tun mußte: die Angeklagten auffordern, lauter, artikulierter zu sprechen und nicht zu sehr in den zungenschweren Dialekt der Landschaft zu verfallen; sieht man davon ab, daß dem Staatsanwalt, einem Orts- und Landschaftsfremden, gelegentlich Dialektausdrücke ins Hochdeutsche übersetzt werden mußten, geschah nicht viel Erwähnenswertes, wurde auch nicht viel Neues zur Sprache gebracht. Der Angeklagte Gruhl sen., der seine Vornamen mit Johann Heinrich Georg angab, sein Alter mit fünfzig, ein schmaler, fast zarter mittelgroßer Mensch, dessen Kahlkopf dunkel schimmerte, sagte, bevor er sachliche Angaben zu seiner Person machte, er wolle hier noch etwas mitteilen, das der Herr Vorsitzende, den er kenne, schätze, ja, verehre, ihm nicht verübeln möge; es sei eben, was er zu sagen habe, die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit, wenn es auch eine sehr persönliche Aussage sei; was er sagen wolle: ihm läge nichts, nicht das geringste an Recht und Gesetz, er würde auch hier keine Aussage machen, nicht einmal sein Alter angeben, wenn nicht — und diese Aussage, die im Zuschauerraum kaum jemand verstand, ging in der tonlosen, leisen Aussprache des Gruhl fast verloren —, wenn nicht persönliche Gründe mitspielten; der erste dieser persönlichen Gründe sei seine Hochschätzung des Herrn Vorsitzenden, der zweite sei seine Hochschätzung der Zeugen, besonders des Polizeimeisters Kirffel, der ein guter, ja, sehr guter Freund seines Vaters, des Landwirts Gruhl aus Dulbenweiler, gewesen sei; auch die Zeuginnen Leuffen, seine Schwiegermutter, und Wermelskirchen, seine Nachbarin, die Zeugen Horn, Grähn und Hall und Kirffel wolle er hier nicht im Stich lassen oder in Schwierigkeiten bringen — deshalb sage er aus, nicht weil er erwarte, daß »aus den Gebetsmühlen der Gerechtigkeit auch nur ein Körnchen Wahrheit herausgemahlen« werde.

Während des größeren Teils dieser Vor-Aussage sprach er Dialekt, und weder der Vorsitzende noch der Verteidiger, die ihm beide wohlwollten, unterbrachen ihn oder forderten ihn auf, deutlich und in Hochdeutsch zu sprechen; der Staatsanwalt, der sich schon oft mit Gruhl unterhalten hatte und den Dialekt weder mochte noch verstand, hörte gar nicht richtig hin; der Protokollführer, Referendar Außem, schrieb in diesem Stadium noch nicht mit: ihn langweilte diese Verhandlung ohnehin. Ein paar Brocken dieser rasch und tonlos vorgebrachten Einleitung verstanden unter den Zuschauern nur zwei Kollegen des Gruhl, Frau Dr. Hermes und eine ältere, fast ältliche Dame, Fräulein Agnes Hall, die den Gruhl sehr gut kannte. Gruhl gab dann seinen Beruf als den eines Tischlermeisters an, seinen Geburtsort mit Dulbenweiler, Kreis Birglar; dort habe er die Volksschule besucht und im Jahre 1929 absolviert; dann sei er in Birglar »bei meinem verehrten Meister Horn« in die Lehre gegangen, habe schon im dritten Lehrjahr Abendkurse an der Kunstgewerbeschule der nahe gelegenen Großstadt besucht, sich im Jahre 1936 im Alter von einundzwanzig Jahren selbständig gemacht, mit dreiundzwanzig habe er im Jahre 1937 geheiratet, mit fünfundzwanzig, »im erforderlichen Mindestalter«, im Jahre 1939 seine Meisterprüfung gemacht; er sei erst 1940 eingezogen worden, bis 1945 Soldat gewesen. Hier unterbrach der Vorsitzende zum erstenmal Gruhls monotone, kaum verständliche Aussage, von der der Protokollführer später sagte, er habe dabei dauernd ein heftiges Gähnen unterdrücken müssen, und fragte den Angeklagten, ob er an Kampfhandlungen während des Krieges teilgenommen oder sich vor oder während des Krieges politisch betätigt habe. Gruhl, fast mürrisch — obwohl von Dr. Stollfuss energisch aufgefordert, lauter zu sprechen — sagte tonlos und fast unverständlich, er habe zu diesem Punkt fast dasselbe zu sagen wie zu Recht und Gesetz; er habe weder an Kampfhandlungen teilgenommen noch sich politisch betätigt, er möchte aber — und hier wurde er ein wenig lauter, weil er ärgerlich zu werden schien —, er möchte aber betonen, daß dies weder aus Heroismus noch aus Gleichgültigkeit geschehen sei: dieser »Blödsinn« sei ihm einfach zu dumm gewesen. Was seine Dienstzeit als Soldat betreffe, so sei er meistens in seiner Eigenschaft als Möbeltischler damit beschäftigt gewesen, Offiziersquartiere und -kasinos in »deren für mich undiskutablem Geschmack« auszustatten, hauptsächlich aber habe er »gestohlene oder beschlagnahmte Directoire-, Empire- und manchmal auch Louis-Seize-Möbel« im besetzten Frankreich restauriert und sachgerecht für den Versand nach Deutschland verpackt. Hier griff der Staatsanwalt ein, der Verwahrung gegen den Terminus »gestohlen« einlegte, der angetan sei, »überholte Kollektivvorstellungen von deutscher Barbarei« zu bekräftigen oder wiederzuerwecken; im übrigen, das sei so rechts- wie aktennotorisch, sei der Abtransport »französischen Eigentums aus dem besetzten Frankreich« verboten gewesen, ja, habe unter hoher Strafe gestanden. Gruhl blickte ihn ruhig an und erwiderte, er wisse nicht nur, er könne beschwören — falls ihm ein Schwur angebracht erschiene —, daß der größere Teil der Möbel gestohlen gewesen und trotz des Verbots, von dem er wisse, nach Deutschland transportiert worden sei, »meistens in den Flugzeugen hochdekorierter Sportskameraden«; es sei ihm, fügte Gruhl hinzu, schnurz und schnuppe, ob er damit ein Kollektivurteil ausspreche oder nicht. Was die Frage nach seiner politischen Betätigung betreffe: für Politik habe er sich nie sonderlich interessiert, »erst recht nicht für diesen Blödsinn«, der damals im Gang gewesen sei; seine verstorbene Frau sei sehr religiös gewesen, sie habe vom »Antichrist« gesprochen; das habe er, obwohl er seine Frau sehr geliebt habe, zwar nicht verstanden, aber respektiert und er habe »fast verehrt, wie sie sich ereiferte«; selbstverständlich sei er immer auf »der Seite der anderen gewesen«, das sei aber, wie er betonen möchte, selbstverständlich. Nach dem Krieg sei es ihm unter Mithilfe holländischer Freunde — er sei damals in Amsterdam gewesen — gelungen, »irgendeiner Gefangenschaft zu entgehen«, und er habe von 1945 an, jetzt in Huskirchen, wieder als Tischlermeister gelebt und gearbeitet. Er wurde vom Staatsanwalt gefragt, was er unter dem von ihm so betonten selbstverständlich verstehe. Gruhl antwortete: »Das würden Sie doch nicht verstehen.« Der Staatsanwalt legte, zum erstenmal leicht gereizt, Verwahrung gegen diese unzulässige Beurteilung seiner Intelligenz seitens des Angeklagten ein. Als Gruhl, von Dr. Stollfuss gerügt, aufgefordert wurde, dem Staatsanwalt Antwort zu geben, sagte er, das sei ihm zu umständlich und er verweigere die Aussage. Vom Staatsanwalt, der böse zu werden begann, gefragt, ob er je mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sei, sagte Gruhl, er habe in den letzten zehn Jahren in ständigem Konflikt mit dem Gesetz, dem Steuergesetz, gelebt, vorbestraft sei er aber im Sinne der Frage des Herrn Staatsanwalts nicht. Energisch dazu aufgefordert, die Beurteilung von »im Sinne des Staatsanwalts« diesem selbst zu überlassen, sagte Gruhl, er wolle ja nicht so sein und zugeben, daß er ständig unter Pfändungs- und Zwangsvollstreckungsbefehlen gestanden habe; darüber könne ja der Hubert aussagen; Hubert — das erklärte Gruhl, der auch gereizt zu werden begann, auf die Frage des Staatsanwalts — sei der Herr Gerichtsvollzieher Hubert Hall, wohnhaft in Birglar, übrigens ein Vetter des Vaters seiner Schwiegermutter, wenn er es genau ausdrücken dürfe. Vom Verteidiger nach seinen Einkommensverhältnissen und seiner Vermögenslage gefragt, lachte Gruhl liebenswürdig und bat darum, die Beantwortung dieser Frage, die sehr, sehr kompliziert sei, dem Zeugen Hall und dem Volkswirt Dr. Grähn überlassen zu dürfen.

Sein Sohn, Georg Gruhl, einen Kopf größer als der Vater, schwerer auch als dieser, fast dicklich, blond, glich dem Vater gar nicht, sehr aber seiner verstorbenen Mutter, die manche Zuschauer »direkt in ihm wiederzusehen« glaubten. Lieschen Gruhl, eine geborene Leuffen, Metzgertochter aus Huskirchen, deren Blondheit und Blässe so sprichwörtlich gewesen waren wie ihre Frömmigkeit und heitere Sanftmut, die in der mündlichen Überlieferung der Bevölkerung der umliegenden Dörfer als »Leuffens Lies« noch immer mit poetischen Vokabeln wie »unser Goldengel«, »zu gut für diese Erde«, »fast eine Heilige« erwähnt wurde, hatte nur dieses eine Kind gehabt. Mit einer, wie einige Zuschauer empfanden, etwas zu stark aufgetragenen Fröhlichkeit gab Georg an, er habe in Huskirchen bis zur vierten Klasse die Volksschule besucht, dann die Realschule in Birglar, habe aber schon seit seiner frühen Kindheit dem Vater geholfen und habe auf Grund einer Abmachung mit der Innung gleichzeitig mit der Abschlußprüfung in der Realschule, das heißt genau gesagt, wenige Wochen später, seine Prüfung als Tischlergehilfe abgelegt; er habe danach drei Jahre bei seinem Vater gearbeitet und sei mit zwanzig Jahren zur Bundeswehr eingezogen worden; »als das passierte«, sei er Gefreiter bei der Bundeswehr gewesen. Im übrigen schließe er sich dem an, was sein Vater vor seiner Aussage als Erklärung gesagt habe.

Was die Zuschauer am jungen Gruhl »als etwas zu stark aufgetragene Fröhlichkeit« empfanden, wurde in einem mehr privaten Teil des Protokolls, das Referendar Außem sich als literarische Skizze anlegte, mehrmals als »frivole Heiterkeit« bezeichnet; so beantwortete der junge Gruhl auch einige Fragen des Staatsanwalts. Ob ihn die Haft psychisch belastet habe, möglicherweise Schädigungen hervorgerufen habe? Nein, sagte der junge Gruhl, er sei froh gewesen, nach der Militärzeit wieder mit seinem Vater zusammenzusein, und da sie auch die Erlaubnis bekommen hätten, kleinere Arbeiten auszuführen, habe er sogar einiges gelernt; sein Vater habe ihm auch Französischunterricht gegeben, und »körperlich« habe es ihnen an nichts gemangelt.

Obwohl den Zuschauern alles, fast mehr als die beiden Gruhl hier ohne Pathos bekanntgaben, vertraut war, schienen sie diesen Ausführungen mit großer Spannung zu lauschen; auch der Verlesung der Anklage, die nichts Neues für sie brachte, lauschten sie mit Teilnahme.

Die beiden Gruhl waren an einem Junitag des Jahres 1965 auf einem Feldweg, der von den Dörfern Dulbenweiler, Huskirchen und Kireskirchen gleich weit, nämlich ungefähr zwei Kilometer entfernt lag, entdeckt (hier verbesserte sich der Vorsitzende, Amtsgerichtsdirektor Dr. Stollfuss, in »ertappt«) worden, wie sie, beide saßen rauchend auf einem Grenzstein, einen Jeep der deutschen Bundeswehr abbrennen ließen, als dessen Fahrer sich später der junge Gruhl herausstellte; nicht nur »seelenruhig, sondern mit offensichtlicher Genugtuung«, wie der Polizeimeister Kirffel aus Birglar zu Protokoll gegeben hatte, schauten sie dem Brand zu. Der Tank des Jeeps war, wie der Brandsachverständige Professor Kalburg, der als einer der bedeutendsten Pyrotechniker galt und hatte kommissarisch vernommen werden müssen, in einem schriftlichen Gutachten festgelegt hatte, zuerst durchlöchert worden »mit einem spitzen stählernen Gegenstand«, dann erst, was am Tatort geschehen sein müsse, aufgefüllt worden, auch müsse der Jeep »regelrecht mit Brennstoff übergossen, ja, geradezu durchtränkt worden sein«, denn ein bloßes Leerbrennen des Tanks habe solche Verheerungen, wie sie festgestellt worden seien, nicht bewirken können. Angesichts dieser mutwillig vorgenommenen Perforation, so hatte Professor Kalburg es formuliert, habe eine Explosion als fast ausgeschlossen gelten können. Das »erhebliche Feuer« hatte, obwohl die von den beiden Gruhl zugegebenermaßen mit Vorbedacht ausgewählte Stelle von den umliegenden Dörfern jene bereits erwähnten je zwei Kilometer entfernt, also in »relativer« Einsamkeit liege, in erstaunlich geringer Zeit eine Menschenmenge herbeigelockt, Bauern und Landarbeiter von den umliegenden Feldern. Schulkinder, die aus Huskirchen kommend auf dem Heimweg in die umliegenden Weiler Dulbenhoven und Dulbenkirchen sich befanden, vor allem aber Autofahrer, die von der Landstraße, einer Bundesstraße zweiter Ordnung aus, den ungewöhnlichen Brand bemerkt, angehalten hatten, um Hilfe zu leisten, ihre Neugierde zu befriedigen oder sich am Anblick des »erheblichen Feuers« zu ergötzen.

Zur Sache vernommen, erklärten beide Angeklagten, die Schilderung stimme wortwörtlich, sie hätten nichts hinzuzufügen; einige für sie wichtige Details würden sich noch aus den Zeugenaussagen ergeben. Vom Vorsitzenden aufgefordert, doch nun endlich anzugeben, was sie sowohl in der Voruntersuchung wie im Ermittlungs- und Zwischenverfahren verweigert hätten: eine Erklärung für diese unerklärliche Tat, sagten beide, unabhängig voneinander, ihr Anwalt werde in seinem Plädoyer darauf eingehen. Ob sie nicht wenigstens den sie erheblich belastenden Termini »seelenruhig« und »mit offensichtlicher Genugtuung« widersprechen oder diese einschränken möchten? Nein, der Polizeimeister Kirffel habe das sehr genau beobachtet und zutreffend beschrieben. Ob sie sich im Sinne der Anklage für schuldig erklärten. »Im Sinne der Anklage, ja« erklärten beide. Der Vorsitzende, der gegen seine Gewohnheit jetzt einige Gereiztheit zeigte, fragte, ob er dieses »im Sinne der Anklage« als einschränkend auffassen müsse, was beide Angeklagte bejahten und mit ihrer vor der Aussage abgegebenen Erklärung begründeten.

Vom Vorsitzenden gefragt, ob sie Reue empfänden, antworteten beide ohne Zögern und ohne Einschränkung mit »Nein«.

Vom Staatsanwalt aufgefordert, sich zur Durchlöcherung des Tanks zu äußern, wer von beiden, was noch immer nicht geklärt sei, nun die Durchlöcherung vorgenommen habe und wie, antwortete Gruhl sen., der Brandsachverständige habe festgestellt, die Durchlöcherung sei mit einem spitzen stählernen Gegenstand erfolgt, dem habe er nichts hinzuzufügen. Gefragt, ob die beiden Kanister, die man am Tatort gefunden, Eigentum der Bundeswehr gewesen wären, antwortete der junge Gruhl, ja, sie seien Eigentum der Bundeswehr gewesen, einer habe zur Ausrüstung des Jeeps gehört, den zweiten habe er mitbekommen, weil er eine »ziemlich lange Dienstfahrt« habe antreten sollen. Ob er die Dienstfahrt angetreten habe? Ja, angetreten habe er sie, doch er habe sie zu Hause unterbrochen und »dann nicht wiederaufgenommen«. Nicht der Staatsanwalt, der Verteidiger fragte den jungen Gruhl, welcher Art die Dienstfahrt gewesen sei, doch hier protestierte der Staatsanwalt, indem er sagte, eine solche Frage vor der Öffentlichkeit zu stellen sei unzulässig; er beantrage also, entweder die Frage nicht zuzulassen oder die Öffentlichkeit auszuschließen. Der Vorsitzende sagte, diese Frage bäte er dem Angeklagten Gruhl jun. in Gegenwart seines als Zeugen geladenen damaligen Vorgesetzten Oberleutnant Heimüller stellen zu dürfen; ob Verteidiger und Staatsanwalt damit einverstanden seien; beide nickten zustimmend.

Zur Beweisaufnahme sagte als erster der Kreisverkehrsbevollmächtigte Heuser aus, der darum gebeten hatte, seine Aussage als erster machen zu dürfen, da er einen über Nacht anberaumten wichtigen Termin, bei dem lebenswichtige Interessen des Kreises auf dem Spiel stünden, wahrzunehmen habe. Heuser, ein etwas aufdringlich gekleideter, auch ziemlich beleibter Mensch mit gelocktem Blondhaar, der sein Alter mit neunundzwanzig Jahren angab, seinen Beruf als den eines Verkehrssoziologen, sagte aus, »schon eine Viertelstunde nach dem als wahrscheinlich angenommenen Zeitpunkt der Brandstiftung«, also etwa gegen 12.45 Uhr, habe sich eine Menschenmenge von mehr als hundert Personen am Tatort befunden; es habe sich eine in südlicher Fahrtrichtung parkende Motorfahrzeugschlange von fünfundzwanzig, in nördlicher Fahrtrichtung eine solche von vierzig Motorfahrzeugen gebildet. Die Tatsache, daß die in nördlicher Fahrtrichtung haltende Schlange um fünfzehn Fahrzeuge länger gewesen sei als die in südlicher Richtung haltende, entspreche, wie Heuser in umständlicher, recht selbstgefälliger Redeweise zum Ausdruck brachte, »genau der Verkehrserfahrung, die wir im Kreise Birglar gesammelt haben und die als Verkehrsnotstand unseres Kreises der Öffentlichkeit hinlänglich bekannt ist«, da sie eine unterschiedliche Abnutzung der Straßenoberfläche mit sich bringe. Heuser ging dann noch auf ein Problem ein, das ihn offensichtlich sehr zu beschäftigen schien: womit der seit Jahren auf dieser Bundesstraße festgestellte »Nord-Süd-Überhang« an Verkehrsteilnehmern zu erklären sei, ein Überhang, der sich permanent auf die während der Affäre Gruhl festgestellten sechzig Prozent belaufe; Heuser nannte die auf der Rückfahrt von Süden nach Norden fehlenden Fahrzeuge »Ab- oder Ausweichler«, auch »Zirkulanten« (was wie Zigeuner klang), und führte diese ihn offensichtlich quälende Differenz auf die Tatsache zurück, daß eben nördlich Huskirchen »auf Grund soziologisch leicht zu erfassender Umstände« ein Reisevertreteransiedlungsschwerpunkt entstanden sei und daß jene, die Reisevertreter, in nördlicher Richtung die Bundesstraße, auf ihrem Rückweg aber offensichtlich Nebenstraßen benutzten. Er übersah das Handzeichen des Vorsitzenden, der ihn hier unterbrechen wollte, und rief in den Saal, indem er drei Schwurfinger seiner rechten Hand drohend gegen Unbekannt erhob: »Aber ich werde noch dahinterkommen; ich werde diese Sache klären.« Er habe schon die Autonummern der »entsprechenden Herrschaften« notieren lassen und Ermittlungen eingeleitet über die Art und Weise, auch die Motive des Ab- und Ausweichens beziehungsweise der Zirkulation, denn eine einseitige Benutzung der Bundesstraße sei auf die Dauer »schlechthin nicht angängig«; dieser einseitige Verschleiß mache die Verhandlungen mit Bund und Ländern schwierig, die diesen auf die Landwirtschaft abzuschieben versuchten. Hier machte er endlich im Vortrag seiner Theorie eine Pause, die der Vorsitzende sofort benutzte, ihm jene schlichte Frage zu stellen, um deren Beantwortung es eigentlich ging: ob die Tat der beiden Angeklagten den Verkehr behindert habe. Heuser beantwortete diese Frage ohne Umschweife mit einem »Aber ja, ganz erheblich«. Es seien am Tatort zwei Unfälle passiert; ein Kleinwagen sei auf einen parkenden Mercedes 300 SL aufgefahren, es habe ein Handgemenge zwischen den beiden Fahrern gegeben, es seien beleidigende Äußerungen gefallen, der Mercedesfahrer habe von »Kaninchenzüchterauto«, der Fahrer des Kleinwagens von — »mit Verlaub, Herr Vorsitzender« — »Leute-Bescheißer-Auto« gesprochen. Außerdem habe er beobachtet, daß sich am Tatort die Fahrer eines Zementlastwagens mit den Fahrern eines Flaschenbierautos angefreundet hätten, daß es »an Ort und Stelle« zum Austausch von, »wie ich hoffe«, Deputaten gekommen sei; ob nun Bier gegen Zement oder Zement gegen Bier getauscht worden sei, in diesem Punkt wolle er sich nicht festlegen; er habe nur den Beifahrer des Flaschenbierlastwagens, einen gewissen Humpert aus dem Weiler Dulbenhoven, zwei Tage später seine Einfahrt mit Zement jener Firma ausbessern sehen; die beiden Zementfahrer aber hätten »das Bier auf der Stelle genossen« und wären drei Kilometer vom Tatort entfernt bei der Weiterfahrt von der Landstraße abgewichen und in eine Rübenmiete hineingefahren. Ein weiterer Unfall habe zwischen einem Tonröhrenlastwagen und einem Opel stattgefunden, sieben Tonröhren seien — aber hier blickte er plötzlich auf seine Armbanduhr, gab ein entsetztes »Um Himmels willen, die Landtagsabgeordneten warten ja schon« zu Protokoll und bat mit hastiger Stimme darum, entlassen zu werden. Der Vorsitzende blickte Verteidiger und Staatsanwalt fragend an — beide schüttelten resigniert den Kopf, und Heuser verließ, im Abgehen noch »Verkehrsnotstand« murmelnd, den Saal. Niemand, am wenigsten seine Frau, die im Zuschauerraum saß, bedauerte Heusers Abgang.

Die Aussagen des alten Polizeimeisters Kirffel waren klipp und klar. Er sagte, der Tatort sei allen Ortsansässigen im weiten Umkreis unter dem Namen »Küppers Baum« bekannt; obwohl dort weit und breit kein Baum zu sehen sei, auch nie zu sehen gewesen wäre — nicht einmal in seiner Kindheit habe er dort je einen Baum gesehen —, wähle er diese Bezeichnung, weil sie auch auf Flurkarten so vermerkt sei. Der als Heimatforscher bekannte Lehrer Hermes aus Kireskirchen habe den Namen so erklärt: daß vor einigen Generationen wahrscheinlich dort ein Baum gestanden hätte, an dem sich ein gewisser Küpper erhängt habe oder gehenkt worden sei. Was Heuser umständlich dargetan hatte, bestätigte er in wenigen Sätzen: die Verkehrsstauung, die beiden Unfälle, Handgemenge, Austausch von Beleidigungen; zwei Beleidigungsklagen seien schon anhängig, außerdem Schadenersatzklagen der anrainenden Bauern wegen Flurschadens; bei dem Zusammenstoß zwischen Tonröhrenlastwagen und Opel seien zum Glück keine Personen zu Schaden gekommen, es sei nur erheblicher Protokollierungsärger entstanden, denn zu allem Überfluß sei von einem vorüberfahrenden Radfahrer, dem Bauern Alfons Mertens, mit der Felge des Hinterrads, »natürlich unwillentlich«, eine kleine Tonscherbe gegen einen fabrikneuen, stahlblauen Citroën geschleudert worden und habe auf dessen Kotflügellack »eine, ich muß schon sagen, sehr unangenehme Verkratzung« verursacht. Kirffel bestätigte auch den Rübenmietenunfall des Zementlastwagens, betonte aber, Trunkenheit am Steuer sei als ausgeschlossen festgestellt worden; der Unfall sei nachweislich durch fauliges Rübenlaub verursacht worden, das nach Öffnen der Miete auf der Straße gelegen habe. Kirffel bediente sich mehrfach des für Rübenmiete landschaftsüblichen Ausdrucks »Patschkuhl«, der dem Staatsanwalt, einem kürzlich erst aus Bayern zugezogenen Beamten, übersetzt werden mußte.

Kirffel, ein schwerfällig gewordener, grauhaariger Polizeibeamter, der es im privaten Kreis als »bitter, aber notwendig« bezeichnet hatte, daß er so kurz vor seiner Pensionierung in seiner wahrscheinlich letzten Aussage vor Gericht ausgerechnet den Sohn und Enkel seines alten Freundes Gruhl belasten müsse; Kirffel, dem man den Dorfpolizisten alten Stils noch anmerkte, berichtete weiter, der Jeep sei inzwischen schon fast ausgebrannt gewesen, habe nur noch gequalmt und »Funken von sich gegeben«, die ihn veranlaßt hätten, die Schulkinder noch weiter wegzuscheuchen. Die beiden am Tatort anwesenden Polizeiwachtmeister Schniekens und Tervel hätten inzwischen mühsam die beiden Autoschlangen wieder in Gang gesetzt; der erforderlichen Protokollierung wegen blieben lediglich am Tatort: die Fahrer des Mercedes, des Kleinwagens, des Opels, des Citroëns und des Tonröhrenlastwagens und der Bauer Alfons Mertens, den er aber bald habe weiterfahren lassen, da ihm dessen Personalien bekannt gewesen seien. Was den alten Kirffel am meisten erstaunt, »ja fast empört« hatte, war die Tatsache, daß die beiden Gruhl gar nicht erst den Versuch gemacht hatten, einen Unfall vorzutäuschen, sondern ohne Umschweife zugaben, den Jeep absichtlich in Brand gesteckt zu haben. Hier griff zum erstenmal der Verteidiger, der junge, aus Birglar stammende Anwalt Dr. Hermes ein; er stellte Kirffel die Frage, wieso er als erfahrener Polizeimeister eine Lüge oder Ausflucht als das Wahrscheinlichere erwartet habe, ob er, der Verteidiger, vielleicht daraus den Schluß ziehen müsse, der ihm in seinem weiteren Leben als Anwalt vielleicht zugute kommen könne: zu lügen sei in solchen Fällen das Übliche, und vielleicht sei das rasche Geständnis seiner Mandanten eine Lüge gewesen. Bevor der erstaunte Kirffel, der Hermes natürlich von Kindesbeinen an kannte und später im privaten Kreis diese Frage mit »unfair, aber geschickt — das wird mal ein guter Anwalt« kommentierte, bevor Kirffel, dessen Bedächtigkeit im Alter zu Schwerfälligkeit geworden war, antworten konnte, nahm Staatsanwalt Dr. Kugl-Egger den Fehdehandschuh auf, erklärte mit scharfer Stimme, er verwahre sich gegen den Versuch, einen Beamten zu diffamieren, dessen Redlichkeit und untadelige politische Vergangenheit über jeden Zweifel erhaben sei. Er könne die Empörung des Zeugen sehr leicht erklären: eine solch schändliche, ja, zerstörerische Tat blankweg zu gestehen, ohne Reue zu zeigen oder Ausflüchte zu versuchen, das müsse das gesunde Volksempfinden empören. Er, der Staatsanwalt, und er werde noch ausführlich darauf zurückkommen, empfinde dieses »nackte Geständnis« als ausgesprochen empörend, weil es das frivole Bewußtsein der Angeklagten im rechten Licht zeige. Der Verteidiger antwortete, das gesunde Volksempfinden habe die Tat der Gruhl keineswegs empörend oder verbrecherisch empfunden — eher als einen »etwas zu weit gehenden Spaß«, und natürlich habe ihm, dem Verteidiger, nicht das geringste daran gelegen, Kirffel zu diffamieren, den er schätze und als musterhaften Beamten empfinde. Er habe lediglich von dessen langjähriger psychologischer Erfahrung mit auf frischer Tat Ertappten ein wenig profitieren wollen.

Hier mußte die Verhandlung unterbrochen werden, weil ein kleiner Tumult entstand. Der Angeklagte Gruhl sen. hatte sich ungeniert, auch unbemerkt, weil »keiner seinen Augen zu trauen wagte«, wie das Außemsche Privat-Protokoll festhielt, seine Tabakspfeife angezündet und — wie das Protokoll weiterhin festhielt — »mit frivoler Heiterkeit« geraucht; Justizwachtmeister Schroer, der Aufsehen vermeiden wollte, versuchte Gruhl die Pfeife aus der Hand zu nehmen; Gruhl wehrte sich, mehr instinktiv als in böser Absicht, riß die Tabakspfeife hoch, wodurch eine brennende Grobschnittflocke einer Dame im Zuschauerraum in den Halsausschnitt geschleudert wurde; die Dame, Frau Schorf-Kreidel, die jugendliche Gattin des Mercedes-300-Fahrers, die nur gekommen war, um, falls sich die Gelegenheit böte, zu Protokoll zu geben, daß ihr Mann seit dieser »kommunistischen Beschimpfung« an einem Nervenleiden darniederliege, das durch den behandelnden Arzt, Professor Fuhlbrock, bescheinigt werden könne; daß es gerade ihren Mann, dessen sozial fortschrittliche Gesinnung weithin bekannt, bei links und rechts gefürchtet sei, sehr getroffen habe, von diesem Kerl aus Huskirchen, dessen Gesinnung ebenso bekannt sei, beschimpft worden zu sein; die Dame schrie auf, was hinwiederum Gruhl zu einer erschreckten Bewegung veranlaßte, der dadurch mehrere Flocken glühenden Grobschnitts einer weiteren Dame in den Schoß schleuderte, wodurch ein Brandloch in deren neuerworbenem Seidenkleid entstand; auch diese Dame schrie; kurz: es entstand ein kleiner Tumult, die Verhandlung mußte unterbrochen werden; ein sonntäglich gekleideter Zuschauer, der später als der Metzgermeister Leuffen aus Huskirchen, Schwager ersten Grades des Angeklagten Gruhl, identifiziert werden konnte, rief im Hinausgehen den beiden Angeklagten das bei Dorfschlägereien übliche »Drop, immer drop, Johann und Schorch, immer drop!« zu.

Dem Vorsitzenden blieb auch nach der kurzen Verhandlungspause, die er benutzte, um mit seiner Frau zu telefonieren und ein paar Züge an einer Zigarre zu tun, Ärger nicht erspart; sobald Gericht und Anklage wieder Platz genommen hatten, stand die Dame mit dem beschädigten Seidenkleid unaufgefordert auf und fragte den Vorsitzenden, den sie ungeniert mit »Du« und »Alois« anredete, wer denn nun ersatzpflichtig sei; der Angeklagte Gruhl, der Justizwachtmeister Schroer, das Gericht, sie selbst oder ihre Versicherung. Was den Vorsitzenden besonders ärgerte, war die Tatsache, daß sie, nicht ohne verletzende Absicht, wie er vermutete, indem sie seinen Vornamen nannte, ein seit vielen Jahren in Birglar sorgsam gehütetes Geheimnis öffentlich preisgab, denn er war allen, die ihn mit Vornamen anredeten, als Louis bekannt; nicht einmal seine Frau erinnerte sich seines wahren und wirklichen Vornamens, dessen er sich zu sehr schämte. Diese Dame, seine Kusine ersten Grades, Agnes Hall, deren feines jüngferliches Gesicht eine zarte Schönheit bewahrt hatte, wie sie Ehefrauen gleichen Alters oft versagt bleibt, wohnte seit nunmehr zwanzig Jahren allen öffentlichen Verhandlungen bei, die er leitete; jeder kannte sie als »Agnes das Gerichtsmöbel«; sie wohnte, finanziell in mehr als unabhängiger Position, in einem alten Patrizierhaus, in dem Stollfuss’ Mutter, eine Hall, geboren war und in dem Stollfuss als junger Mensch, noch als Assessor, viel verkehrt hatte, ja fast aus- und eingegangen war, auch oft, um Agnes zum Tanze oder zu anderen Vergnügungen abzuholen. Die Tatsache, daß sie den stummen Vorwurf, sie nicht geheiratet zu haben, nun in eine solche öffentliche Ungezogenheit verwandelte, mißdeutete Stollfuss gründlich; er empfand es als nackte, überraschende Bosheit, während sie, die am Morgen telefonisch davon unterrichtet worden war, daß seine Pensionierung nun endlich durch sei — sie wollte nur, da sie ihm wohl nie mehr begegnen würde, Abschied von ihm nehmen, ihn wenigstens noch einmal mit Alois angeredet haben, eine Freude, die niemand begreift, der platonische Existenzen nicht begreift. Stollfuss, der ohnehin eine immer größer werdende Gereiztheit spürte, reagierte unerwartet böse: Mit strengen Worten belehrte er Agnes, die er — zum erstenmal in seinem und ihrem Leben — mit »Fräulein Hall« anredete, daß sie vor Gericht nicht unaufgefordert zu sprechen habe; daß es hier um die Wiederherstellung des Rechts und nicht um banale, sekundäre Versicherungsfragen gehe. Wissend, daß ihr das gut zu Gesicht stand, setzte sie einen zarten Hohn aufs Gesicht, dann, als das nicht zu fruchten schien, weil Stollfuss, der viel amtlicher, als er’s bisher getan hatte, sprach, in seiner trockenen und strengen Belehrung fortfuhr, zeigte Fräulein Hall Ansätze von Aufsässigkeit: ein gekränktes Verzerren der Schultern, mucksig aufgeworfene Lippen, und Stollfuss verwies sie des Saales, den sie stolz, mit erhobenen Schultern verließ; es herrschte ein peinliches Schweigen, als diese schöne alte Frau in einem Stil, der nur als »rauschend« bezeichnet werden kann, den Saal verließ; Stollfuss blickte ihr nach: erst verärgert, dann gedemütigt — dann räusperte er sich und bat den alten Kirffel wieder in den Zeugenstand. Schärfer, als der es verdient hatte, forderte er ihn auf, alles Nebensächliche — die Verkehrsstauung, deren Folgen, die damit zusammenhängenden Rechtsverletzungen, die daraus sich ergebenden Privatklagen und zu erwartenden Versicherungskontroversen — endgültig auszuschalten. Kirffel, den der Vorfall mit der Hall arg mitgenommen hatte, gab mit leiser Stimme zu Protokoll, er habe nach Regelung der verschiedenen »Aufhaltungen« sich sofort zu den Angeklagten begeben wollen, aber da sei die Feuerwehr am Tatort erschienen, und er habe nur mit äußerster Mühe und Not verhindern können, daß diese, die schon an der nahe gelegenen Duhr ihre Pumpe angesetzt gehabt habe, den langsam ausglühenden Jeep unter »Wasserbeschuß« genommen und so eventuelle Spuren und Beweise zerstört hätte; die Feuerwehr sei, »wie üblich gekränkt in solchen Fällen«, abgezogen, und er habe endlich Zeit gehabt, sich den Angeklagten zu nähern. Aus einer Entfernung von etwa sechs Metern schon habe er ihnen zugerufen: »Mein Gott, wie ist das denn passiert?« Darauf habe der junge Gruhl geantwortet: »Wir haben das Ding in Brand gesteckt.« Er, einigermaßen erstaunt: »Aber warum denn das?« Der alte Gruhl: »Wir froren ein bißchen und wollten uns durch ein Häppening aufwärmen.« Er: »Hännchen — sein Vater war einer meiner besten Freunde, ich kenne den Angeklagten schon von Kindesbeinen an und duze ihn —, weißt du, was du da sagst?« Der alte Gruhl: »Ich weiß, was ich sage, es war ein Häppening.« Er zum jungen Gruhl: »Schorsch — hat das Hännchen einen sitzen?« Der junge Gruhl: »Nee, Hennes — ich heiße mit Vornamen Heinrich, Herr Vorsitzender —, so nüchtern ist der schon lange nicht gewesen.« Kirffel fügte hinzu, diese ganze Unterhaltung sei im Dialekt geführt worden. Kirffel erzählte später, diese seine letzte Aussage vor Gericht sei wohl die »ungefähr fünfhundertste in einer von Stollfuss geführten Verhandlung« gewesen, und es sei ihm wie auch Stollfuss, was er bemerkt habe, schwergefallen, sich aufs rein Sachliche zu beschränken, denn sie beide, Stollfuss und er, hätten in dem »meist vergeblichen Bestreben, ein bißchen Ordnung in diese verrückte Welt zu bekommen«, so manches Mal, was die Personen beträfe, gegeneinander, was die Sache beträfe, aber immer miteinander gekämpft. Wie oft wohl, erzählte Kirffel, habe er allein diese Bemerkung zu Protokoll geben müssen: daß sein Vorname Heinrich sei, der jeweils Angeklagte ihn also mit Hennes angesprochen habe; allein diesen Satz habe er sicher zweihundert Mal zu Protokoll gegeben.

Der Verteidiger bat, an den Zeugen Kirffel einige Fragen stellen zu dürfen; als ihm dies gewährt wurde, sagte er, bevor er die Fragen stelle, möchte er betonen, daß es ihm nicht darum ginge, Kirffel, den er verehre und als zuverlässigen Polizeibeamten und makellosen Zeugen schätze, eine Falle zu stellen, seinen Bildungsstand in Frage zu stellen oder ihn lächerlich zu machen; Hermes erhitzte und verhedderte sich ein wenig, als er hinzufügte, die Frage sei, obwohl wahrscheinlich nebensächlich erscheinend, für seine Mandanten von entscheidender Wichtigkeit. Dann bat er den Zeugen Kirffel, ihm und dem Gericht doch zu erklären, wie er, Kirffel, den Ausdruck Häppening verstanden habe. Kirffel, der erst zustimmend nickte, womit er ausdrücken wollte, daß er diese Frage nicht als unfair empfand, schüttelte dann den Kopf und sagte, er habe den Ausdruck nicht recht verstanden, ihm aber auch keine Bedeutung beigemessen. Später habe er darüber nachgedacht und ihn sich ungefähr so gedeutet: es sei bekannt gewesen, daß Gruhl immer zu Scherzen aufgelegt und immer ohne Bargeld gewesen sei; daß er bei jeder Gelegenheit, da er ständig vom Gerichtsvollzieher verfolgt gewesen sei, betont habe, er habe keinen Pfennig, was im Dialekt Penning heiße, und er habe sich dieses Häppening als ein verstümmeltes »Ich habe keinen Pfennig« ausgelegt, obwohl ihm auch dadurch der Zusammenhang nicht klargeworden sei; so habe er es als eine unwichtige Variation auf Gruhls »altes Lied« von seiner Bargeldlosigkeit empfunden. In einen Zusammenhang mit der Tat habe er es nicht bringen können. Als der Verteidiger ihn fragte, wie er Häppening schreiben würde beziehungsweise im Protokoll geschrieben habe, ob mit a oder mit ä, antwortete Kirffel, er habe das Wort in seinem ersten Protokoll gar nicht erwähnt, wenn er es aber schreiben müsse, würde er es selbstverständlich mit ä schreiben, denn es sei eindeutig kein a, sondern ein ä gewesen beziehungsweise von Gruhl so ausgesprochen worden. Der Vorsitzende, dem diese Ablenkung nach dem peinlichen Zwischenfall mit seiner Kusine willkommen war, folgte dem Dialog zwischen Hermes und Kirffel mit interessiert erhobenen Brauen. Als Kirffel die Frage nach der Schreibweise des Wortes Häppening mit ä beantwortet hatte, fragte der Vorsitzende den Verteidiger, warum er auf der exakten Feststellung solcher phonetischer Kleinigkeiten bestehe; Hermes antwortete mit dem ominösen Hinweis, seine Fragen hätten nicht den Sinn, die Glaubwürdigkeit des Zeugen Kirffel in Frage zu stellen, mehr könne er in diesem Stadium des Prozesses nicht sagen.

Der Staatsanwalt verfolgte diese Auseinandersetzung über a und ä mit einem süffisanten Lächeln, murmelte etwas von »der Spitzfindigkeit, mit der hier rheinische Kinkerlitzchen abgehandelt würden«, die keinem etwas nützten. Ihm erschien das, wie übrigens auch dem Vorsitzenden, wie eine müßige, nur als Arabeske begreifbare Auseinandersetzung über einen Dialektausdruck, der ihm, dem Staatsanwalt, auf eine lächerliche Weise nebensächlich erschien. Er hatte in diesem ihm fremd und zungenschwer erscheinenden Dialekt schon manchen Anklang an die englische Sprechweise entdeckt, und der Ausdruck Häppening erinnerte ihn an die englische Sprechweise von Halfpenny. Als der Verteidiger darum bat, diese Ä-a-Auseinandersetzung ins Protokoll aufzunehmen, was ihm vom Vorsitzenden mit einem Lächeln gewährt wurde, lachte der Staatsanwalt, wurde aber sofort wieder ernst, als er dem Angeklagten Gruhl die Frage stellte, ob er das ernst gemeint habe, als er am Tatort gesagt, ihn fröre oder ihm sei kalt, es sei doch ein sehr heißer Junitag gewesen und eine Temperatur um 29 Grad im Schatten. Gruhl antwortete, ihm sei immer sehr kalt, wenn es heiß sei.

Die zweite Frage des Verteidigers brachte Kirffel, wie deutlich zu bemerken war, aber nicht im Protokoll vermerkt wurde, in arge Verlegenheit; ob es wahr sei, daß die beiden Gruhl gesungen, die Tabakspfeifen gegeneinandergeschlagen hätten, und ob er, Kirffel, in »diesem Stadium des Brandes« noch die Knall-Geräusche gehört habe, von denen andere Zeugen berichtet hätten. Kirffel, dem offenbar das Lügen schwerfallen wollte, wand sich, wurde rot, blickte hilfesuchend Stollfuss an, der wiederum — mehr oder weniger um Gnade für Kirffel bittend — Hermes anblickte. Hermes, offenbar entschlossen, Kirffel sehr entgegenzukommen, sagte, die Beantwortung dieser Frage sei für seine Mandanten äußerst wichtig, und zwar in einem Sinne von »günstig«, sie hänge zusammen mit seiner Frage nach der Schreibweise von Häppening, und wenn ihm, dem Kirffel, daran liege, die Angeklagten zu schonen, indem er nichts über diese Details aussage, so könne er, Hermes, ihm versichern, das Gegenteil sei der Fall: seine Aussage könne den Angeklagten nur nützen. Hier bat Gruhl sen. ums Wort, bekam es gewährt und sagte zu Kirffel, den er ungeniert mit »Ohm Hennes« ansprach, sich weder zu quälen noch gequält zu fühlen; er solle sich nach so langer untadeliger Dienstzeit einen guten Abgang verschaffen und »offen« sprechen. Kirffel, der diese Szene später als »ungemein peinlich« bezeichnete, sagte stockend, nach Worten suchend, ja, er habe beobachtet, wie die beiden Angeklagten ihre Tabakspfeifen gegeneinandergeschlagen, und er habe gehört, daß sie gesungen hätten. Gefragt, ob das Gegeneinanderschlagen der Pfeifen rhythmisch erfolgt sei, sagte Kirffel, nun etwas freier, ja, es sei rhythmisch gewesen — er sei, wie bekannt, seit vierzig Jahren Mitglied des Kirchenchores und kenne sich in liturgischen Gesängen aus —, das Schlagen sei im Rhythmus des Ora pro nobis erfolgt, und zwar oft genug, so daß er es habe genau erkennen können, während er sich den beiden Gruhl genähert habe; aufgehört habe es erst, als er den Gruhl seine erste Frage zugerufen habe — und, so fügte Kirffel, jetzt wieder etwas verlegener, hinzu: gesungen hätte nur der junge Gruhl — leise, fast unverständlich, fügte Kirffel noch hinzu, er habe die Allerheiligenlitanei erkannt, und zwar müßten die beiden schon ziemlich weit damit gewesen sein; als er sich ihnen genähert habe, seien sie bei der heiligen Agathe und der heiligen Lucia gewesen; von den Knallgeräuschen habe er, Kirffel, »nichts mehr mitbekommen«; sie seien nur von den allerersten am Tatort eintreffenden Zuschauern, dem Reisevertreter Erbel aus Wollershoven bei Huskirchen, den Schuljungen Krichel und Boddem aus Dulbenhoven beobachtet und zu Protokoll gegeben worden. Hermes dankte Kirffel mit besonderer Herzlichkeit. Vom Staatsanwalt wurde Kirffel lediglich gefragt, ob dieser »ganze Unsinn«, über den auszusagen ihm, Kirffel, einem vernünftigen Mann, verständlicherweise schwergefallen sei, protokolliert worden sei. Kirffel sagte, die Aussagen der beiden Schuljungen Krichel und Boddem seien aufgenommen worden, im übrigen werde seines Wissens zu dieser Frage der Zeuge Erbel vernommen werden.

Höflich und leise, aber eindringlich erinnerte nun der Staatsanwalt den Vorsitzenden daran, daß er, der Herr Vorsitzende, den fälligen Verweis für Gruhl wegen Rauchens auf der Anklagebank vielleicht vergessen haben könnte. Dr. Stollfuss nahm diese Ermahnung dankbar auf, bat Gruhl sen. vor die Schranke und forderte ihn mit väterlicher Strenge auf, doch einmal zu erklären, was er sich denn eigentlich dabei gedacht, als er so einfach seine Tabakspfeife angezündet habe; er sei doch — was immer sich auch gegen ihn beweisbar herausstellen würde —, ein unhöflicher oder gar ungezogener Mensch sei er doch nicht. Gruhl, der ernst und würdig blieb, sagte, er bitte dieses Vorfalls wegen um Entschuldigung; gedacht habe er sich nichts dabei, im Gegenteil, es sei in völliger Gedankenlosigkeit, ja, Geistesabwesenheit geschehen; es habe nicht in seiner Absicht gelegen, dem Gericht Mißachtung zu bezeugen, er habe an eine kleine Arbeit gedacht, die während der Untersuchungshaft auszuführen ihm gestattet worden sei — das Aufbeizen und die Reparatur einer kleinen Directoire-Schmuckschatulle aus Rosenholz, an der Verschlüsse und Gelenke fehlten, die, weil sie offenbar aus Gold gewesen seien, entfernt worden, durch einen geschmacklosen Eingriff um die Jahrhundertwende in Kupfer ersetzt worden seien; er habe plötzlich an seine Arbeit denken müssen, und immer, wenn er an seine Arbeit denke, griffe er zu seiner Tabakspfeife, stopfe und entzünde sie. Gefragt, ob er der für ihn so wichtigen Verhandlung in Gedankenlosigkeit und Geistesabwesenheit folgen könne, sagte Gruhl, gedankenlos sei er gewesen, geistesabwesend sei vielleicht nicht der richtige Ausdruck; er könne durchaus gedankenlos und gleichzeitig geistesgegenwärtig sein, es sei ihm, wie der als Zeuge geladene Pfarrer Kolb aus seinem Heimatdorf Huskirchen bezeugen könne, sogar schon widerfahren, daß er in der Kirche zu rauchen begonnen habe. Gruhl wandte sich dann kurz in den Zuschauerraum und bat die beiden durch seine Fahrlässigkeit geschädigten Damen um Verzeihung und erklärte sich bereit, den Schaden zu ersetzen, notfalls, wenn es ihm an Bargeld mangele, durch Arbeit; er habe ja schon des öfteren für Frau Schorf-Kreidel und auch für Fräulein Hall gearbeitet. Gruhl sprach leise und sachlich, jedoch ohne jede Unterwürfigkeit, bis der Staatsanwalt, diesmal noch schärfer, ihn unterbrach und sagte, er sehe in der Art, wie der Angeklagte hier seine Dienste öffentlich anbiete, eine Art mit geschicktem understatement betriebenes advertising betreibe, einen neuen Beweis von dessen »frivoler Heiterkeit und Gelassenheit, auf deren Bestrafung zumindest durch einen strengen Verweis ich im Namen des Staates, der hier die Wiederherstellung des Rechts betreibt, aufs nachdrücklichste bestehen muß.« Mit nicht sehr überzeugt klingender Stimme sprach Dr. Stollfuss Gruhl sen. einen strengen Verweis aus, den dieser mit einem billigenden Kopfnicken entgegennahm. Gruhl begab sich auf die Anklagebank zurück, und es konnte beobachtet werden, wie er Tabakspfeife und -beutel, auch die Zündhölzer dem neben ihm sitzenden Justizwachtmeister Schroer aushändigte, der diese drei Gegenstände mit einem beifälligen Kopfnicken entgegennahm.

Kirffels Vernehmung konnte nun zu Ende geführt werden. Er habe, sagte er, die beiden Gruhl sofort verhaftet, sich gewundert, daß sie nicht nur widerspruchslos, sondern fast freudig mitgegangen seien; er habe einige Augenblicke gezögert, doch Gruhl sen. habe ihm zugerufen, sie hätten vor, nach Paris oder Amsterdam zu fliehen, es liege Fluchtverdacht vor; auch dann habe er noch gezögert, den uniformierten jungen Gruhl zu inhaftieren, die Rechtslage sei ihm nicht ganz klar gewesen; da Gruhl jun. aber keinen Widerstand geleistet habe, habe er sich berechtigt gefühlt, die Feldjäger bis zur Klärung der Rechtslage zu vertreten. Der Zwischenruf des Staatsanwalts: »Recht gehandelt«, war Kirffel offensichtlich peinlich. Der Staatsanwalt wurde durch den Vorsitzenden des unerlaubten und unsachlichen Zwischenrufs wegen gerügt; es sei hier, sagte der Vorsitzende, nicht der Ort für öffentliche Schulterklopfereien. Der Staatsanwalt entschuldigte sich, bat um Verständnis dafür, daß er angesichts der latenten Frivolität, die ihm in den Angeklagten begegne, die nüchterne, pflichtbestimmte Art des verdienten Polizeibeamten akklamiert habe.

Auf Antrag des Verteidigers wurde die Rechtslage des Angeklagten Gruhl jun. noch einmal genau geklärt. Der junge Gruhl sei am Morgen nach seiner Verhaftung von seiner Einheit abgeholt, dort in eine Arrestzelle verbracht, von seinem Vorgesetzten verhört worden, aber noch am Nachmittag des gleichen Tages entlassen, dann in Zivilkleidung von den Feldjägern in das Gefängnis von Birglar überstellt worden. Er behalte sich vor, die Frage zu klären, ob die Einheit des Gruhl berechtigt gewesen sei, einen eindeutig zur Zivilperson erklärten Untersuchungshäftling durch die Feldjäger nach Birglar transportieren zu lassen; jetzt liege ihm zunächst daran, zu erfahren, ob Gruhl jun. hier endgültig als Zivilperson vor Gericht stehe oder noch ein weiteres Verfahren zu gewärtigen habe. Der Vorsitzende erklärte, die Rechtslage sei zunächst nicht ganz klar gewesen, die Tat des jungen Gruhl sei zunächst als Tat während der Dienstzeit angesehen worden, dann aber, als sich die Frage erhob, ob nicht auch Gruhl sen. gegen die Bundeswehr straffällig geworden sei, habe sich in der Kompanieschreibstube der Gruhlschen Einheit herausgestellt, daß Gruhl auf Grund einer Verrechnung beziehungsweise falschen Urlaubsbuchführung in Wahrheit schon drei Tage vor der Tat zur Entlassung angestanden habe; er sei also zur Tatzeit wohl subjektiv, aber nicht mehr objektiv berechtigt gewesen, den Jeep zu fahren; Gruhl habe das als großes Entgegenkommen zu werten, denn wenn die Tat als Sabotage bestraft werden würde, sei ihm ein schlimmes Verfahren entstanden; hier aber trete die Bundeswehr nicht als sachgeschädigte Nebenklägerin auf, betrachte ohnehin Gruhl sen. als den Haupttäter, die Bundeswehr, erklärte Dr. Stollfuss mit etwas säuerlichem Lächeln, »wasche ihre Hände in Unschuld«. Sie trete nicht als Nebenklägerin auf, sei nur mit einigen ihrer Angehörigen als »Zeugin« vertreten. Im übrigen sei diese Angelegenheit nur im Zusammenhang mit der eben erwähnten Dienstfahrt des Gruhl zu beurteilen, es würde, sobald der Zeuge Oberleutnant Heimüller aussage und die Öffentlichkeit ausgeschlossen sei, der militärrechtliche Aspekt des Falles noch zur Sprache kommen. Eines könne er dem Verteidiger versichern, Gruhl habe kein zweites Verfahren zu erwarten; was den Sachschaden betreffe, trete die Bundeswehr über das Amtsgericht Birglar an die Zivilpersonen Gruhl heran. Es läge ein entsprechendes Schreiben des Regimentskommandeurs Oberst von Greblothe vor. Der junge Gruhl, der ums Wort gebeten und dieses erhalten hatte, sagte, ihm läge nicht daran, von der Bundeswehr irgend etwas, und sei es ein Gerichtsverfahren, geschenkt zu bekommen. Der Staatsanwalt, ohne lange um Erlaubnis zu bitten, fuhr ihn hart an und schrie, er sei ein undankbarer Lümmel; Gruhl jun. schrie zurück, er verbäte sich den Ausdruck Lümmel, er sei ein erwachsener Mensch, und es stünde in seiner Entscheidungsgewalt, sich etwas schenken zu lassen oder nicht; er betone, nicht einmal ein ihm erspartes Gerichtsverfahren nähme er als Geschenk. Der Staatsanwalt wurde aufgefordert, den Ausdruck Lümmel zurückzunehmen, Gruhl ermahnt, keine Widerborstigkeit zu zeigen; beide entschuldigten sich, doch nicht voreinander, nur vor dem Vorsitzenden.

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Der Reisevertreter Albert Erbel aus Wollershoven bei Huskirchen Kreis Birglar gab sein Alter mit einunddreißig an; er sei verheiratet, habe zwei Kinder und »zwei Hunde«, wie er scherzhaft hinzufügte; es wurde ihm vom Vorsitzenden untersagt, solche Scherze ungefragt zu wiederholen. Ja, sagte Erbel, der um Entschuldigung bat, er sei am fraglichen Tag mit seinem Auto gegen 12.35 Uhr an der besagten Stelle vorbeigekommen, habe das Feuer bemerkt, gehalten, gewendet — was ihn später, als er wieder in entgegengesetzter Richtung habe weiterfahren müssen, in erhebliche Schwierigkeiten gebracht habe —; nun, er sei die »etwa fünfzig Meter« auf das brennende Auto zugelaufen, habe die beiden Angeklagten gesehen, die ihre Tabakspfeifen — »Wissen Sie, wie man Biergläser beim Prost gegeneinanderschlägt« — gegeneinandergeschlagen, auch gesungen hätten; was sie gesungen hätten, hätte er nicht verstehen können, ja, es hätte schon lateinisch sein können, »jedenfalls nicht deutsch, auch nicht Dialekt, den ich kenne«. Über die Knallgeräusche gefragt, sagte Erbel, ja, das habe sehr merkwürdig geklungen, »fast schön«, eher wie Trommeln oder auch wie ein Rasseln, jedenfalls aber sei es das Geräusch von in einem geschlossenen Blechkörper heftig bewegten kleinen Gegenständen gewesen; es habe, wenn er es recht bedenke, einen gewissen Rumba-Rhythmus gehabt. Nun, er habe die beiden Angeklagten gefragt, ob er was für sie tun könne; nein, hätten diese gesagt, es sei ihre Sache, etwas für ihn zu tun, er solle sich »die Sache einmal anschauen und anhören«, ob ihm das denn nicht gefalle; er habe als Antwort mit dem Finger auf die Stirn gezeigt und eindeutig den Eindruck gewonnen, die beiden seien verrückt oder es handle sich um einen »für die Steuerzahler allerdings recht kostspieligen Ulk«, dann sei er zu seinem Wagen zurückgegangen. Vom Verteidiger gefragt, ob er die beiden Angeklagten als verrückt oder als wie verrückt empfunden habe, überlegte Erbel einige Sekunden und sagte, er habe sie eher als wie verrückt empfunden; ob er, fragte Hermes weiter, den Eindruck gehabt habe, Zeuge eines zufälligen Geschehens, eines Unfalls oder einer Veranstaltung zu sein; Erbel: Zufall oder Unfall halte er für ausgeschlossen, und das Wort Veranstaltung komme ihm in diesem Zusammenhang zwar nicht ganz angebracht, aber als »ziemlich annähernd« vor, jedenfalls — das sei ihm klargeworden — sei es eine gemachte Sache gewesen. Vom Staatsanwalt auf seine Aussage während der Voruntersuchung aufmerksam gemacht, die erheblich umfangreicher gewesen sei, schlug Erbel sich an die Stirn, bat um Verzeihung und sagte, ja, jetzt fiele es ihm wieder ein: Gruhl jun. habe ihn gefragt, mit was oder für welche Firma er denn reise; er habe gesagt, für eine bekannte Firma, die ein Badespray herstelle; drauf habe Gruhl ihn um Probefläschchen oder -tübchen gebeten, aber er habe das verweigert; Gruhl habe dann gesagt, er wolle eine Flasche von dem Zeug kaufen, das Auto müsse auch einmal gebadet werden.

Die beiden Angeklagten bestätigten die Aussage des Erbel als »wortwörtlich« wahr. Erbel schilderte noch, welche Schwierigkeiten er gehabt habe, seinen Wagen wieder zu wenden und wieder in seine ursprüngliche Fahrtrichtung einzuschwenken; inzwischen hätten etwa zehn Fahrzeuge dort gestanden: der Wachtmeister Schniekens habe ihm geholfen, ihn beim Rückwärtssetzen in einen Feldweg eingewiesen.

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Dem ortsfremden, erst seit einer Woche in Birglar amtierenden Staatsanwalt unterlief bei dem Versuch, den Charakter des Gruhl sen. in ein schlechtes Licht zu rücken, ein entscheidender Fehler. Noch wenige Minuten vor Verhandlungsbeginn hatte der Vorsitzende dem Staatsanwalt dringend nahegelegt, auf die Vernehmung der Zeugin Sanni Seiffert zu verzichten; der aber, lokale Korruption witternd, hatte darauf bestanden, die Zeugin Seiffert zur Person des Angeklagten vernehmen zu dürfen. Tatsächlich war Dr. Kugl-Egger, indem er die Zeugin Seiffert vorladen ließ, der Einflüsterung eines sozialdemokratischen Redakteurs vom »Rheinischen Tagblatt« erlegen, der später dieser Einflüsterung wegen von seiner Partei nicht nur nicht gelobt, sondern scharf getadelt, fast geschaßt wurde. Die Seiffert, so hatte der Redakteur versichert, werde jederzeit bezeugen, daß Gruhl sen. verschiedentlich versucht habe, ihr Gewalt anzutun.

Als nun die Zeugin »Frau Sanni Seiffert« aufgerufen wurde, Justizwachtmeister Schroer auf den Flur hinaustrat und ohne jede Förmlichkeit, für alle im Saal Anwesenden deutlich vernehmbar ins Zeugenzimmer rief: »Komm, Sannichen, deine Stunde hat geschlagen«, breitete sich unter der Mehrheit der Zuschauer eine gewisse Schadenfreude aus, die eindeutig zu Lasten des Staatsanwalts ging. Das Erscheinen der Aufgerufenen, einer hübschen, nicht mehr so ganz jungen, modisch gekleideten Person, die sehr dunkel gefärbtes Haar und rote Lederstiefelchen zur Schau trug, brachte den Vorsitzenden in Verlegenheit. Im Zusammenhang mit Hehlerei, Kuppelei, Zuhälterei und Verführung Minderjähriger hatte er schon einige Male mit der Seiffert sich zu befassen gehabt, der für jenen Vorgang, der gemeinhin »Geschlechtsverkehr« genannt wird, ein ganzes Arsenal von Dialektausdrücken zur Verfügung stand, das selbst abgebrühten Fachleuten gelegentlich die Schamröte in die Wangen trieb. Auch hatte er die Seiffert zweimal im Zusammenhang mit Spionageverdacht vernehmen müssen, der sich aber als unbegründet erwies; die Seiffert hatte nur sehr intime Beziehungen mit dem amerikanischen Offizier unterhalten, der auf dem Flugplatz, der noch näher an Birglar lag als die nahe gelegene Großstadt, die Atomsprengköpfe unter Verschluß hielt und in der Umgebung als Atom-Emil bekannt war; auch mit einem belgischen Major, der Geheimnisträger war, hatte die Seiffert sehr vertraulich verkehrt, aber beide Male nachweisen können, daß sie keine anderen Absichten als die in ihrem Beruf üblichen gehabt hatte. Mit ihren blauen Augen, die während ihres kurzen Auftritts immer heller und härter wurden, was bewies, daß man hier in die Augen einer von Natur extrem blonden Person von ganz bestimmter Veranlagung blickte, sah sie alle anwesenden Männer, die Angeklagten und den Staatsanwalt ausgenommen, mit verächtlichem Trotz an. Der Vorsitzende gestattete sich kein Lächeln, als sie ihren Beruf mit Gastronomin und ihr Alter mit »achtundzwanzig« angab. Der Staatsanwalt, der schon bei ihrem Eintritt seinen Fehler erkannt hatte, die Einflüsterung des sozialdemokratischen Redakteurs verfluchte und beschloß, bei der nächsten Wahl dessen Partei nicht zu wählen, fragte nun die Seiffert mit unsicherer Stimme, ob sie von dem Angeklagten Gruhl je belästigt worden sei, oder ob er gar versucht habe, ihr Gewalt anzutun. Der Verteidiger sprang sofort auf und beantragte, nicht — wie er ausdrücklich betone — im Interesse seines Mandanten Gruhl sen., der von den Aussagen der Zeugin nichts zu befürchten habe, sondern im Interesse des öffentlichen Anstands und der Sitte, die zu hüten ja eigentlich nicht seine, sondern des Staatsanwalts Aufgabe sei — er beantrage, nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch seinen jugendlichen Mandanten Gruhl jun. auszuschließen; seine Erregung, als er ausrief, er fände es geradezu ungeheuerlich, wie hier vom Herrn Vertreter der Staatsmoral versucht werde, einen Vater in den Augen seines Sohnes herabzusetzen, klang echt. Noch bevor der Staatsanwalt sich hatte entschließen können zu antworten, sagte die Seiffert mit überraschend sanfter Stimme, es sei ihr Beruf, sich von Männern belästigen zu lassen, sie sei — der Vorsitzende unterbrach sie energisch mit dem Hinweis, sie habe nur zu antworten, wenn sie gefragt sei, worauf sie lauter als vorher sagte, gefragt worden sei sie ja, und sie habe bloß geantwortet. Der Staatsanwalt hatte inzwischen seine Frau im Zuschauerraum, eine schmale dunkle Person, die nur der Frau des Verteidigers als die Frau des Staatsanwalts bekannt war, angeblickt; seine Frau hatte ihm durch einen Blick zu verstehen gegeben, auf der Vernehmung der Seiffert nicht zu bestehen, und als der Vorsitzende nun fragte, ob er auf der Vernehmung der Zeugin Seiffert bestehe, gab er mit leiser Stimme bekannt, er verzichte auf deren weitere Aussage. Der Vorsitzende blickte die Seiffert nicht an, als er höflich zu verstehen gab, sie sei entlassen. Daraufhin die Seiffert mit einer brüchig gewordenen Sanftmut, ob sie, um Gruhl sen. nicht in falschem Verdacht zurückzulassen, nicht wenigstens auch den zweiten Teil der Frage beantworten dürfe; durch ein zögerndes Kopfnicken des Vorsitzenden dazu aufgefordert, sagte sie, Gruhl sen. habe nie versucht, sie zu belästigen, schon gar nicht, ihr Gewalt anzutun; er habe lediglich für sie gearbeitet, ihre Bar im Fin-de-siècle-Stil — was sie richtig aussprach — eingerichtet, und Handwerker, die für sie arbeiteten, kämen eben rasch in Verdacht, zu ihr in anderer geschäftlicher Beziehung als der tatsächlichen zu stehen; übrigens habe auch Gruhl jun. bei ihr gearbeitet, es habe ihr Spaß gemacht, für die beiden »verwaisten« Männer zu kochen. Bevor sie dann aufforderungsgemäß den Saal verließ, schien ihre Stimme schon fast in jenem Zustand zu sein, der gewöhnlich »tränenerstickt« genannt wird. Eine Art Beifall wurde im Zuschauerraum laut, ein Stühlerücken, auch ein paar nicht artikulierte, doch als Akklamation deutbare Laute, die der Vorsitzende sich verbat. Der Auftritt der Seiffert, die man kurz darauf in ihren auf dem ehemaligen Schulhof parkenden roten Sportwagen steigen sah und starten hörte, endete in einem peinlichen Schweigen, das nicht an Peinlichkeit verlor, als der Protokollführer Referendar Außem zum Vorsitzenden ging und ihn flüsternd fragte, ob er diesen Zwischenfall als »Tumult« zu bezeichnen habe; ärgerlich, weil das Geflüster im ganzen Saal deutlich zu verstehen war, schüttelte der Vorsitzende den Kopf.

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Ein nicht sehr schüchternes Klopfen an die Tür alarmierte Schroer, der aufsprang, zur Tür lief, von dort aus dann dem Vorsitzenden zurief, der Zeuge Kriminalkommissar Schmulck sei soeben eingetroffen und aussagebereit. Der Vorsitzende ließ ihn hereinbitten. Schmulck, in Zivil, jugendlich, ganz »federnd und intellektualistisch«, schilderte, dazu aufgefordert, einige Tateinzelheiten, die noch nicht bekannt gewesen waren: der Täter — ob der junge oder der alte Gruhl, sei auch in mehreren Verhören nicht zu erfahren gewesen — habe »aus sicherer Entfernung einen kleinen, hierzulande zu Karneval handelsüblichen Sprengkörper«, der vorher gezündet gewesen sei, in das völlig mit Benzin durchtränkte Auto geworfen, habe sofort die von ihm erwünschte Wirkung erzielt; sogar die Bereifung sei zur Verbrennung vorgesehen gewesen, zwei Reifen hätten aber der Verbrennung widerstanden, seien allerdings unter der Einwirkung der Hitze geplatzt; die Spurensicherung habe außer dem ausgebrannten Autowrack nur die verbrannten Reste knallerbsenartiger Gegenstände im Tank des Autos und in den beiden Reservetanks erbracht; lediglich sei — etwa vier Meter vom Autowrack auf dem anrainenden Rübenacker — die Papphülse des Sprengkörpers gefunden worden, eine Marke, die als »Kanonenschuß« im Handel sei. Die Angeklagten seien im Verhör zwar nicht gerade widerborstig, doch auch nicht sehr gesprächig gewesen; sie hätten darauf bestanden, die Tat »gemeinsam« ausgeführt zu haben, doch nur einer könne den Sprengkörper entzündet, nur einer ihn ins Auto geworfen haben. Das Wrack sei, nachdem es fachgerecht nach Spuren abgesucht gewesen sei, von der Bundeswehr als deren Eigentum reklamiert und abgeschleppt worden; allerdings seien alle abschraubbaren Teile, wie es unvermeidlich sei, von den jugendlichen Bewohnern des nahe liegenden Weilers Dulbenhoven vorher entfernt worden; der Stand des Kilometerzählers habe 4992 Kilometer betragen. Vom Vorsitzenden gefragt, ob eine Tatortbesichtigung Sinn haben könnte, antwortete Schmulck, nein, eine solche habe nicht den geringsten Sinn; im Spätsommer habe er noch neben dem Feldstein Zündhölzer gefunden und eine blecherne Tabakpackung amerikanischen Fabrikats, die er als von den Angeklagten stammend identifiziert habe, aber die beginnende Rübenernte, die bekanntlich mit schweren Fahrzeugen ausgeführt werde, habe die unmittelbare Umgebung des Tatorts »um und um gewühlt«, es sei dort nichts mehr zu sehen. Er blickte auf die Armbanduhr und bat mit sachlicher Höflichkeit darum, entlassen zu werden, er werde in den frühen Nachmittagsstunden in der nahe gelegenen Großstadt als Zeuge im Prozeß gegen den Kindermörder Schewen vernommen, der auch im Kreise Birglar, »zum Glück ohne Erfolg«, tätig gewesen sei. Staatsanwalt und Verteidigung hatten nichts gegen die Entlassung des Schmulck einzuwenden.

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Gericht wie Verteidigung hatten je zwei Psychiater zu Gutachtern bestellt, von denen je einer eine habilitierte, der jeweils zweite eine nichthabilitierte Kapazität war; ein weiterer Ausgleich, der Kontroverse wie Ungerechtigkeiten in der Beurteilung der Angeklagten ausschloß, war durch die Tatsache zustandegekommen, daß der von der Verteidigung bestellte Professor einer Schule angehörte, der auch der vom Gericht bestellte Nichtprofessor angehörte, einer Schule, die mit jener in ständiger, auch öffentlich ausgetragener Kontroverse stand, der der vom Gericht bestellte Professor und der von der Verteidigung bestellte Nichtprofessor angehörte. Das Zustandekommen dieses ungewöhnlichen Arrangements, das mit unendlichen Mühen verbunden gewesen war, sollte dem Vorsitzenden »andernorts« noch hohes Lob einbringen, in Fachkreisen später als das »Stollfuss-Modell« gerühmt und empfohlen werden, und auf diese Weise sollte auch Birglar, da es dort zuerst mit Erfolg angewendet worden war, sollten auch die beiden Gruhl noch in die Rechtsgeschichte eingehen. Da die Gutachter ausreichend Gelegenheit gehabt hatten, die Angeklagten während der Untersuchungshaft zu interviewen, habe er ihnen — der weiten Entfernung der Wohnorte der Sachverständigen wegen (München, Berlin, Hamburg) — im Einverständnis mit Verteidigung und Staatsanwaltschaft das persönliche Erscheinen vor Gericht erlassen und sie durch einen ersuchten Richter vernehmen lassen. Der Vorsitzende sagte, der Inhalt der Gutachten sei allen Parteien bekannt, sie enthielten auch, was die Viten der Angeklagten betreffe, nichts, was nicht schon gesagt worden sei, er könne sich also das Vorlesen der gesamten Texte ersparen und sich darauf beschränken festzustellen, daß alle vier Gutachter, unabhängig voneinander und obwohl kontroversen Schulen angehörend, übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen seien, die beiden Angeklagten seien überdurchschnittlich intelligent, sie seien für ihre Tat voll verantwortlich, es seien bei ihnen weder psychische noch geistige Defekte festzustellen, ihre Tat beruhe — was außergewöhnlich sei — nicht auf emotionalen, sondern auf Bewußtseinsantrieben, es sei nicht ausgeschlossen, daß es sich sogar um eine, wenn auch staatsrechtlich verwerfliche, so doch noch als solche bezeichenbare Äußerung des Homo ludens handele, wie es der Natur der Angeklagten, die beide ausgesprochen künstlerische Menschen seien, entsprechen könne. Lediglich einer der vier Gutachter, Professor Herpen, habe bei Gruhl sen. eine — er zitiere jetzt wörtlich, sagte der Vorsitzende — »eine gewisse, ich möchte nicht sagen minimale, doch auch nicht sehr erhebliche Verletztheit des Sozietätsbewußtseins festgestellt, die emotionsbedingt ist, vielleicht durch den frühen Tod der geliebten Frau entstanden«. Alle vier Gutachter hätten die Frage, ob Pyromanie die Ursache der Tat sein könne, einmütig und ohne Einschränkung abgelehnt. Es sei also, so fuhr der Vorsitzende fort, aus allen vier Gutachten ersichtlich, daß es sich bei der Tat um einen Willensakt handele; nicht aus dem Unter- oder Unbewußtsein seien die Antriebe gekommen, und diese Ursache werde deutlich, wenn man bedenke, daß die beiden Angeklagten die Tat gemeinsam begangen hätten, obwohl sie ihren Anlagen und ihrem Charakter nach so verschieden seien. Als der Vorsitzende fragte, ob zum Verhandlungspunkt »psychiatrische Gutachten« noch Fragen anstünden, sagte der Staatsanwalt, er beantrage kein weiteres Gutachten, ihm genüge die Feststellung der vollen Verantwortlichkeit, auch die Bezeichnung Willensakt für die Tat, nur lege er Wert darauf, die Definition »anständiger Charakter«, die in den Gutachten einige Male vorkomme, als medizinische Definition verstanden zu wissen, nicht als juristische. Der Verteidiger bat darum, doch noch jenen Passus vorlesen zu dürfen, in dem von der »künstlerischen Veranlagung der beiden Angeklagten« die Rede sei. Als der Vorsitzende das genehmigte, las der Verteidiger vor, was, wie er betonte, in allen vier Gutachten fast gleichlautend sei: eine bei Gruhl sen. festgestellte »erstaunliche Fähigkeit, Stile zu erkennen, nachzuempfinden und zu reproduzieren, bei Gruhl jun. dagegen eine mehr zu eigener künstlerischer Arbeit angelegte Begabung, die sich bereits in einigen Holzplastiken und Gemälden nichtgegenständlicher Art artikuliert habe«. In höflicher, fast freundschaftlicher Weise wurde der Verteidiger nun vom Vorsitzenden gefragt, ob ihm daran liege, ein weiteres Gutachten anzufordern, um den Angeklagten angesichts der unbegreiflichen Tat die Chance der Unzurechnungsfähigkeit nicht ganz zu nehmen. Nach einer kurzen, geflüstert geführten Beratung mit seinen beiden Mandanten lehnte der Verteidiger dieses Angebot höflich ab.

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In seiner bangen Gereiztheit (auch er kannte den Angeklagten Gruhl sen. von Kindesbeinen an, hatte immer Sympathie für ihn empfunden, ihn sogar noch wenige Wochen vor der Tat zur Restaurierung einer kostbaren, nach langem Erbstreit mit seiner Kusine Lisbeth, einer Schwester der Agnes Hall, endlich in seinen Besitz gelangten Empire-Kommode herangezogen und sich bei der Entlohnung des Gruhl zwar nicht nachweisbar, aber faktisch schuldig gemacht, weil er, wissend, daß jener unter einem wahren Bombardement von Pfändungsbefehlen stand, ihm seinen Lohn »zugesteckt« hatte), in seiner bangen Gereiztheit vergaß Dr. Stollfuss, die Mittagspause rechtzeitig anzuberaumen, und ließ noch gegen 13.00 Uhr den Zeugen Erwin Horn aufrufen, den Obermeister der Tischlerinnung. Horn war ein älterer Herr, sauber und würdig gekleidet, weißhaarig und mit jenem Air rotgesichtiger Jovialität ausgestattet, mit dem er gut und gern als emeritierter Prälat hätte durchgehen können. Er gab sein Alter mit zweiundsiebzig an, seinen Wohnort mit Birglar, sagte, er kenne den Angeklagten, der bei ihm in die Lehre gegangen sei, nun schon seit fünfunddreißig Jahren; er, Horn, sei auch noch in der Kommission gewesen, als Gruhl mit Sehr gut seine Gehilfenprüfung ablegte; als Gruhl die Meisterprüfung gemacht habe, sei er aus politischen Gründen nicht mehr Mitglied der Kommission gewesen. Horn, der nicht gerade forsch wirkte, doch mit unverkennbar jugendbewegtem Elan ausgestattet, machte seine Aussage mit frischer, heiterer Stimme. Er sagte, Gruhl sei eigentlich immer ein stiller Junge gewesen, auch ein stiller Mann, der zwar mit ihm politisch sympathisiert, ihn auch während des Krieges, als er von diesen »miesen Vögeln« erheblich unter wirtschaftlichen Druck gesetzt worden sei, immer unterstützt habe. Er habe ihm zum Beispiel aus Frankreich Butter, Speck, Eier und Tabak mitgebracht, auch habe Gruhls Frau Lieschen ihn immer mit Milch und Kartoffeln versorgt — kurz, Gruhl habe aus seiner Sympathie für ihn auch öffentlich nie einen Hehl gemacht, sei aber nie politisch aktiv geworden. Auch für die handwerklichen Fähigkeiten des Gruhl war Horn des Lobes voll; er suche als Möbeltischler seinesgleichen, er gehöre mit seinen Fähigkeiten einer aussterbenden Rasse von Handwerkern an, er sei einfach eine Rarität. Horn konnte sich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß im Laufe der vergangenen fünfundvierzig Jahre deutscher Geschichte Tischler mehrfach zu höchsten Staatsämtern aufgestiegen seien, sogar Staatsoberhaupt sei einer geworden. Als der Vorsitzende ihn fragte, wen er denn meine, Ebert sei doch seines Wissens Sattler gewesen und Hitler Anstreicher, geriet Horn in Verlegenheit, aus der er sich durch eine grammatikalische Spitzfindigkeit zu retten versuchte, indem er sagte, er habe ausdrücken wollen, Staatsoberhaupt geworden nicht gewesen sei, und im übrigen — er wolle damit keineswegs den Anstreicherberuf diffamieren, denn Hitler sei ja nicht einmal ein richtiger Anstreicher gewesen, er treffe also keinen Kollegen dieser Innung — im übrigen wäre ein Tischler Hitler einfach undenkbar gewesen. Der Staatsanwalt hakte hier ein und sagte, bevor der Zeuge mit seinen Lobeshymnen fortfahre und bevor er, was er eben Ungeheuerliches gesagt habe, durch eine höchst unzulässige historische Arabeske zu vertuschen fähig sei, möchte er, der Staatsanwalt, mit aller, aller Schärfe dagegen protestieren, daß »hier in einem deutschen Gerichtssaal ohne Widerspruch von der Sowjetzone als einem Staat« gesprochen werden dürfe; kein deutsches Gericht dürfe das dulden, er beantrage, dem Zeugen Horn einen Verweis zu erteilen, den Angeklagten Gruhl sen., dessen Gesicht wieder »frivole Heiterkeit« ausdrücke, neuerlich zu Respekt vor dem Gericht zu ermahnen; was hier geschehe, sei ja unglaublich. Dem Vorsitzenden, der jetzt erst begriff, welches Staatsoberhaupt gemeint gewesen war, entschlüpfte ein »Ach so«; er bekannte, nicht gewußt zu haben, daß »jener Herr« Tischler sei oder gewesen sei, er erteilte dem Zeugen Horn mit offenkundig lustloser Stimme den beantragten Verweis und forderte Gruhl sen. auf, seine »Frivolitäten« zu lassen. Nach den finanziellen Verhältnissen des Angeklagten gefragt, antwortete Horn, diese seien seit zehn Jahren »permanent katastrophal«, doch er müsse energisch betonen, schuld daran sei nicht etwa Gruhl allein, der nie so recht habe rechnen können und wohl auch etwas leichtfertig mit dem Geld umgehe, schuld daran sei auch »eine mörderische Mittelstandspolitik«. Wieder unterbrach hier der Staatsanwalt, der sich als Vertreter des Staates verbat, die Verhandlung als Propagandamittel gegen die Steuerpolitik der Regierung zu mißbrauchen, aber der Vorsitzende wies ihn mit ruhiger Stimme darauf hin, es sei durchaus erlaubt, die subjektive Lage des Angeklagten in einen objektiven Zusammenhang zu bringen, auch wenn dieser Zusammenhang sich populär artikulierte. Horn fuhr mit sichtbarer Genugtuung fort, Einzelheiten zu schildern; er könne hier nicht alle, alle Zusammenhänge aufdecken, das sei Sache eines Finanzexperten; Gruhl sei, da er mit den zahlreichen Abgaben — Umsatz-, Gewerbe-, Einkommensteuer, Berufsgenossenschaft, Krankenkasse — nicht zurechtgekommen sei, in Steuerrückstand geraten; dieser habe sich durch Pfändungen addiert, ja, fast multipliziert; auf die Pfändungen seien Zwangsversteigerungen gefolgt; erst sei das Elternhaus des Gruhl in Dulbenweiler, dann zwei Äcker und eine Wiese, die ihm seine Patentante bei Kireskirchen vermacht gehabt habe, schließlich sein Anteil an der Gastwirtschaft »Bierkanne« in Birglar, der aus mütterlichem Erbteil stamme, unter den Hammer gekommen; inzwischen sei er auch seines gesamten pfändungsfähigen Hausrats beraubt worden, der einige sehr wertvolle Möbelstücke enthalten habe, von denen allein zwei im Heimatmuseum wieder aufgetaucht seien. Ein Versuch des Staatsanwalts, gegen die Bezeichnung »beraubt« für eine staatlich legitimierte Maßnahme zu protestieren, wurde vom Vorsitzenden mit einer Handbewegung abgetan. Er könne, so sagte Horn weiter, sich weitere Einzelheiten ersparen, er begnüge sich mit der Feststellung, die finanzielle Lage des Angeklagten — er lasse dabei die Schuldfrage außer acht, schildere nur den Zustand — sei so verwirrt wie verworren gewesen. Zuletzt sei es schon zu Taschenpfändungen gekommen; Gruhl habe schließlich das Interesse an größeren Aufträgen verloren, auch seine besten Kunden, die Grund gehabt hätten, Komplikationen zu fürchten. Durch Schwarzarbeit habe Gruhl seinen Lebensunterhalt verdient, der schließlich — »er befand sich im natürlichen Zustand der Notwehr« — nur noch gegen Naturalien gearbeitet habe, die sehr schwer pfändbar seien. Heftig, fast schon unhöflich protestierte der Staatsanwalt gegen die Ausdrücke »natürlich« und »Notwehr« — es gehe einfach nicht an, die Bezeichnungen »natürlich« und »Notwehr«, auf die geschilderte Handlungsweise des Angeklagten angewendet, durchgehen zu lassen; als besonders subversiv, geradezu himmelschreiend empfinde er den Ausdruck Notwehr, kein Staatsbürger könne sich, wenn er das Gesetz einhalte, je dem Staat gegenüber in Notwehr befinden. Der Vorsitzende, dessen Ruhe den Staatsanwalt immer mehr zu erregen schien, gab diesem zu bedenken, wieviel Staatsbürger in Vergangenheit und Gegenwart sich, nicht indem sie das Gesetz einhielten, sondern indem sie es nicht einhielten, strafbar gemacht, damit eine Notwehr praktiziert hätten, die die einzige Möglichkeit der Humanität gewesen sei; in einer Demokratie sei der Ausdruck Notwehr natürlich »etwas übertrieben«, und er bäte Horn, doch diesen Ausdruck tunlichst zu vermeiden. Den Ausdruck »natürlich« zu rügen, könne er sich nicht entschließen; eine Stellungnahme dazu setzte eine eingehende Definition dessen voraus, was als Natur des Menschen zu bezeichnen sei; keinesfalls könne irgendein Staatsbürger irgendeines Staates in der Welt die Steuergesetzgebung und deren Folgen als »natürlich« empfinden; ein Mensch mit den Erfahrungen des Zeugen Horn, dessen Redlichkeit bekannt sei, der deretwegen sogar schon Spott und Verfolgung habe ertragen müssen, sei durchaus berechtigt, die Handlungsweise des Angeklagten als »natürlich« zu bezeichnen. Recht und Gesetz richteten sich ja sogar in ihrer Intention gegen die unterstellte Natur des Menschen, und es könne nicht erwartet werden, daß jeder Staatsbürger alle gegen ihn ergriffenen Maßnahmen als »natürlich« empfinde oder betrachte. Stollfuss, der in einen etwas schläfrig vorgetragenen Sermon zu verfallen drohte, wurde hier durch ein heftiges Räuspern des Verteidigers aufgeweckt. Dieses Zeichen hatten die beiden privat für solche Fälle abgemacht. Stollfuss brach mitten im Satz ab und fragte Horn, ob denn ein Mann von Gruhls Fähigkeiten nicht gut und gerne sein Geld verdienen könne, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Horn gab zu, doch, das sei möglich, setze aber fast — so wie die Dinge heute nun einmal stünden —, er betone das »fast«, schon eine volkswirtschaftliche Vorbildung, zumindest ein solches Bewußtsein voraus; diese volkswirtschaftliche Unterweisung, eine Bildung des volkswirtschaftlichen Bewußtseins und eine Einweisung in alle nur möglichen Tricks, das strebe die Innung nicht nur an, sie biete es ihren Mitgliedern in Kursen und Rundschreiben, aber Gruhl habe nie an diesen Kursen, Vorträgen teilgenommen und die Rundschreiben nie gelesen; er habe — und das sei verständlich, denn seine Lage sei schon derart gewesen, daß Unterweisung wenig würde genützt haben — den Kopf in den Sand gesteckt, habe angefangen, Einnahmen, erhebliche Einnahmen, nicht zu buchen, das sei bei verschiedenen Betriebsprüfungen herausgekommen, habe hohe Steuerstrafen zur Folge gehabt. In solchen Fällen — es gebe deren mehr, als man denke, auch in anderen Berufszweigen — bliebe dem Betroffenen gar nichts anderes übrig als »in die Industrie zu gehen und sich bis an sein seliges Ende pfänden zu lassen«, und gerade dieses »in die Industrie gehen« habe Gruhl abgelehnt; sogar eine gutbezahlte Stellung als Leiter der Tischlerei eines bekannten Hauses für Innenausstattungen habe er abgelehnt mit dem Hinweis, er sei ein freier Mann und wolle ein solcher bleiben. Gefragt, ob denn die Katastrophe nicht vermeidbar gewesen sei, sagte Horn: »Vermeidbar schon, Herr Amtsgerichtsdirektor, doch wenn Sie einmal so drinhängen wie der Johann Gruhl, dann nützt Ihnen diese Erkenntnis nichts mehr. Sie kommen einfach nicht mehr heraus, bedenken Sie allein die Unkosten, die durch die Pfändungen entstehen, durch die Zinsen, Gebühren und Sporteln — das bringt Sie einfach um.« Der Vorsitzende verbat es sich höflich, mit einem leisen Lächeln, in diesem Zusammenhang mit »Sie« angeredet zu werden.

Der Staatsanwalt, nicht ohne bittere Ironie und Gekränktheit, sagte, er bäte doch darum »mit jener Demut, die mir hier als Vertreter des Staates nahegelegt wird«, den Zeugen Horn in der ergreifenden Schilderung der Märtyrerlaufbahn des Angeklagten Gruhl unterbrechen und ein paar Fragen stellen zu dürfen. Er wolle darauf verzichten, die Bezeichnung »alle möglichen Tricks«, mit denen die Steuergesetze zu einer Art Taschenspieleranweisung erniedrigt, ja, diffamiert würden, er verzichte darauf, diese Bezeichnung für eine Rüge anzumelden, fragen wolle er den Zeugen Horn nur, ob er von den Buchführungsvergehen des Angeklagten gewußt habe, bevor diese entdeckt worden seien. Horn gab ohne Zögern zu, ja, er habe davon gewußt, Gruhl habe zu ihm volles Vertrauen gehabt und ihm alles erzählt. Wieso denn er, der Zeuge Horn, sich nicht getrieben gesehen habe, das der Behörde mitzuteilen. Horn, dem es gelang, seinen Zorn zu unterdrücken, sagte, er sei als Obermeister der Innung kein Spitzel des Finanzamtes, er sei nicht nur kein Spitzel des Finanzamtes, sondern »überhaupt kein Spitzel«; der Herr Staatsanwalt möge sich, wenn es ihm erlaubt sei, darauf hinzuweisen, sich klar darüber werden, daß eine Innung ein Interessenverband von Kollegen sei. Er habe Gruhl ermahnt, ihm sogar geraten, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, er sei schon so weit gewesen, beim Finanzamt ein Stornierungsabkommen zu erzielen, damit sein Kollege Gruhl wieder Boden unter die Füße und Lust zum Arbeiten bekommen könne, und es habe so ausgesehen, als würde das Finanzamt Entgegenkommen zeigen, aber gerade da habe sich Gruhls Lage durch die Einberufung seines Sohnes, der eine gute Stütze gewesen sei, verschlimmert. Gruhl habe nur noch gerade soviel gearbeitet, wie nötig war, um sein Haus in Huskirchen vor der Zwangsversteigerung zu bewahren, seine Stromrechnung und die notwendigsten Materialien bezahlen zu können. Gruhl habe seitdem auf ihn einen resignierten Eindruck gemacht, und eins möchte er noch einmal ausdrücklich betonen: ein Spitzel sei er nicht, er sei auch nicht zum Spitzel geboren. Vom Vorsitzenden aufgefordert, das Wort Spitzel im Zusammenhang mit der vom Staatsanwalt gestellten Frage zurückzunehmen, weigerte sich Horn; er habe die Aufforderung, einen Kollegen zu bespitzeln, zu deutlich herausgehört. Noch einmal ermahnt, dann freundschaftlich aufgefordert, sich doch nicht in Schwierigkeiten zu bringen und das Wort zurückzunehmen, sagte Horn nein, er habe im Laufe seines Lebens — vor 33, nach 33 und nach 45 — insgesamt mehr als drei Dutzend Verhöre mitgemacht, er weigere sich, das Wort Spitzel zurückzunehmen. Er wurde auf der Stelle zu einer Ordnungsstrafe von fünfzig Mark zugunsten der Staatskasse verurteilt, gefragt, ob er das Urteil annehme, antwortete er, wenn es so teuer sei, die Wahrheit zu sagen, wolle er diese Summe gern zahlen, lieber sei ihm allerdings, wenn er sie der Arbeiterwohlfahrt zahlen dürfte. Stollfuss wurde schärfer, als er Horn aufforderte, diese neuerliche Beleidigung des Gerichts zurückzunehmen. Da dieser sich durch eigensinniges Kopfschütteln weigerte, wurde er zu einer zweiten Ordnungsstrafe von fünfundsiebzig Mark zugunsten der Staatskasse verurteilt. Er wurde nicht mehr gefragt, ob er das Urteil annehme, der Vorsitzende beraumte eine Mittagspause von eineinhalb Stunden an und sagte, der Zeuge Horn sei entlassen.