6

Joachim Boyer war ein junger Mann, den Inger Johanne nicht so richtig einordnen konnte. Seine Sprache war elaboriert und präzise, mit schwachen Resten eines Akzentes, der auf eine Kindheit im Osten der Stadt hinwies. Seine Kleidung war teuer und modisch, aber auch mit Details, die anzudeuten schienen, dass er nicht ganz so auf dem Laufenden war, wie er gern wirken wollte. Wie bei ihrer ersten Begegnung trug er Tennissocken in den braunen Schuhen, und an seinem linken Handgelenk prangte eine Rolex. Inger Johanne kannte nicht viele Menschen, die unnötig viel Geld besaßen. Die wenigen in ihrer Bekanntschaft, die sich so teure Uhren leisten konnten, kauften keine Rolex.

Sie fand ihn sympathisch.

Als sie sich in dem Café Åpent Bakeri in der Åsengate getroffen hatten, hatte er ihr nur kurz die Hand gegeben, dann hatte er sie gefragt, was sie trinken wollte, und ihr mit größter Selbstverständlichkeit einen Caffè Latte und einen Muffin geholt, um den sie gar nicht gebeten hatte. Bevor er sich die Sonnenbrille vor die Augen zog, fragte er, ob das in Ordnung sei, starkes Licht bereite ihm Probleme. Er war Ende zwanzig und gut in Form. Sein Hemd war von Philipp Plein, das sah sie an den Knöpfen, und es saß an genau den richtigen Stellen eng. Vor drei Jahren hatte sie für Yngvar ein Hemd dieser Marke gekauft. Das lag noch immer im Schrank. An ihm hatte es ausgesehen wie eine prall gestopfte Wurstpelle.

Joachim Boyer war eigentlich kein hübscher Mann. Dazu war seine Nase zu groß und das Kinn eine Spur zu klein. Aber sein Lächeln war breit, und seine Manieren überraschten sie. Dass er aufstand, als sie sich gleich darauf entschuldigte, um zur Toilette zu gehen, gehörte in eine ganz andere Zeit. Oder jedenfalls zu einem ganz anderen Alter als seinem.

»Ich muss sie etwas fragen«, sagte er, als sie zurückkam.

»Wie geht man vor, wenn man einen Kranz bestellen will? Wendet man sich dann an das Bestattungsunternehmen?«

»Das ist bestimmt möglich. Aber ich glaube, damit kennt man sich in allen Blumenläden aus.«

»Wäre es falsch von mir, einen Kranz zu bestellen? Und nicht bloß einen kleinen Blumenstrauß? Ich meine, ich gehöre ja nicht zur Familie und ...«

Er schluckte und wandte sich ab.

»Das fände ich absolut richtig«, sagte Inger Johanne.

»Ich war noch nie auf einer Beerdigung. Ich graule mich richtig.«

»Es kann auch schön sein«, sagte sie. »Ein würdiger Abschluss sozusagen.«

»Aber Sander war ein Kind. Da dürfte es so einen Abschluss gar nicht geben.«

Seine Stimme bekam einen scharfen, fast aggressiven Unterton. Seine linke Hand umschloss locker die Kaffeetasse, während er die rechte auf dem Oberschenkel zur Faust ballte.

»Im Moment gibt es zu viele von diesen Beerdigungen«, sagte Inger Johanne. »Alle genauso absurd.«

»Stimmt. Aber die anderen habe ich nicht gekannt. Sander schon.«

Sie saßen draußen, es war noch immer warm, obwohl dahintreibende Wolken in unregelmäßigen Abständen die Sonne verdeckten. In der Hans Nielsen Hauges gate donnerten die Autos vorbei und zwangen sie manchmal zu einer Pause im Gespräch.

»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie plötzlich und zog Sanders aufgerollte Zeichnung aus der Tasche. »Darüber wollte ich mit dir sprechen.«

Sie schob Teller und Tassen zur Seite und legte das Bild vorsichtig vor Joachim hin. Es wollte nicht flach liegen, und sie stellte die Wassergläser auf die oberen Ecken. Joachim nahm langsam seine Sonnenbrille ab und hängte sie vorn in sein Hemd.

»Oh verdammt«, sagte er leise.

Seine Hand fuhr vorsichtig über die Zeichnung, eine Liebkosung.

»Das ist bei dir, nicht wahr?«, fragte Inger Johanne.

Er nickte.

»Klonken«, sagte er und zeigte darauf.

»Was?«

»Das Schwein. Das grüne Schwein heißt Klonken. Ich habe es vor langer Zeit in Spanien gekauft. Ich weiß nicht, wie Sander auf den Namen gekommen ist.«

»Klonken«, wiederholte Inger Johanne und lächelte.

»Wie ungeheuer detailliert«, sagte Joachim leise und beugte sich noch tiefer über die Zeichnung. »Sieh dir doch das Plakat mit dem Wasser an. Das hatte ich als Junge an der Wand hängen. Sander hat es gefunden, als wir meiner Mutter vor zwei Jahren geholfen haben, den Keller aufzuräumen. Und er wollte es so gern haben. Er hat sich ungeheuer für Wale interessiert, Sander. Wale und Autos und Dinos.«

»Durfte er es denn nicht haben?«

»Doch, sicher.«

Joachim sah für einen Moment verwirrt aus.

»Er wollte es nur nicht mit nach Hause nehmen. Wollte es bei mir haben, über dem Bett.«

Sein Zeigefinger tippte behutsam auf das Bild.

»Er war ein sauguter Zeichner, aber das ist das Beste, was ich von ihm gesehen habe.«

Dann schwiegen sie lange. Es störte Inger Johanne nicht. Joachim konnte sich an Sanders Zeichnung nicht sattsehen, immer wieder berührte er sie mit den Fingern. Ab und zu murmelte er etwas in sich hinein. Als er am Ende wieder aufschaute, setzte er die Sonnenbrille auf und rollte die Zeichnung vorsichtig zusammen.

»Darf ich das Bild haben?«, fragte er. »Ich würde es gerne einrahmen.«

»Ja«, sagte Inger Johanne. »Unter zwei Bedingungen.«

Er schaute sie fragend über den Brillenrand hinweg an.

Sie rückte ihre Brille gerade. »Erstens brauche ich es vielleicht wieder. Und zweitens ...«

Sie reichte ihm ein Gummi, und er wickelte es zweimal um die Rolle.

»Bitte, erzähl mir von Sander«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

»Du hast ihn gekannt. Du hast ihn offenbar gern gehabt, und er dich. Was war mit ihm los?«

»Was mit ihm los war?«

Joachim lächelte kurz und hob mit beiden Händen die Kaffeetasse. Er holte Atem und zögerte für eine Sekunde, dann wurde sein Lächeln breit und strahlend.

»Sander war ein witziger Junge. Er war sehr lieb. Manchmal war er der Einzige, mit dem ich zusammen sein wollte. Schon seltsam, er war doch ein Kind und nicht mal mit mir verwandt. Aber, weißt du ...«

Mehr als zwanzig Minuten lang erzählte Joachim Boyer über seinen zwanzig Jahre jüngeren besten Freund. Ab und zu warf Inger Johanne eine Frage ein, aber Joachim zeichnete ein Porträt von Sander, das so anders war als ihr eigenes Bild des Jungen, dass sie schließlich verstummte. Während Ellen darüber geklagt hatte, dass Sander beim Essen so wählerisch sei, erzählte Joachim von einem Jungen, der alles aß, wenn er nur beim Kochen helfen durfte. Ellen und Jon hatten darüber gejammert, dass ihr Sohn seit seiner Geburt nicht richtig geschlafen habe. Joachim dagegen lächelte, als er daran dachte, wie der Junge es immer kaum erwarten konnte, dass die Uhr halb neun zeigte, denn dann durfte er mit Klonken im Doppelbett liegen und eine Viertelstunde lang Donald Duck lesen, ehe das Licht ausgeknipst wurde und er sofort einschlief. Joachim erzählte von einem Jungen, der sich ewig lange konzentrieren konnte, um das zu schaffen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, zum Beispiel von einem Steg in Larkollen, wo Joachims Eltern einen Wohnwagen stehen hatten, eine Schwalbe ins Wasser zu machen. Ellen und Jon hatten über Sanders Unfähigkeit, sich länger als zehn Minuten mit etwas zu beschäftigen, immer verlegen gelächelt, er habe nun einmal ADHS.

»Aber dann war da die Sache mit ...«

Joachim rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sah hinüber zu einem Lastwagen, der versuchte, in die Åsengate einzubiegen, wo zwischen den parkenden Autos kaum Platz war für einen Personenwagen.

»Was denn?«, fragte Inger Johanne.

Er zögerte.

»Diese Zeichnung«, sagte er schließlich und nickte kurz zu der Rolle mit dem blauen Gummi hinüber. »Man braucht doch kein Psychologe zu sein, um auf den Rahmen zu reagieren.«

»Nein.«

»Du bist Psychologin. Ich hab dich gegoogelt.«

»Ja. Unter anderem.«

»Was meinst du dazu?«

»Das ist nicht so wichtig«, sagte Inger Johanne. »Ich möchte lieber hören, was du meinst.«

Eine Wolke glitt vor die Sonne, und Inger Johanne glaubte, winzige Regentropfen zu spüren. Die Sonnenbrille hinderte sie daran, ihm in die Augen zu schauen, aber sie wusste, dass er ihre sah.

»Ich habe nie geglaubt, dass bei Sander zu Hause etwas nicht stimmte«, sagte er. »Bis jetzt.«

»Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?«

Jetzt rutschte er wieder hin und her. Zwei Frauen von vielleicht zwanzig Jahren setzten sich an den Nebentisch, leicht zögernd, während sie zum Himmel hochschauten. Joachim sah sie sich beide genau an, dann wandte er sich wieder Inger Johanne zu und sagte: »Warum wolltest du mich eigentlich treffen?«

»Vor allem, um dir die Zeichnung zu zeigen und zu hören, was du dazu sagst. Und auch, weil ich ein klareres Bild von Sander bekommen möchte.«

»Aber warum? Du bist doch nicht bei der Polizei.«

Inger Johanne beugte sich ein wenig zu ihm vor und legte beide Handflächen auf den Tisch.

»Wann hast du mich gegoogelt?«

»Was?«

Inger Johanne starrte ihr doppeltes Spiegelbild an und wiederholte mit einem kleinen Lächeln: »Du hast eben gesagt, dass du mich gegoogelt hast. Wann hast du das gemacht?«

»Ich ... ich weiß nicht mehr so genau. Wieso fragst du?«

»Vorige Woche, nicht wahr?«

Joachim rührte in seinem kalten Kaffee.

»Vielleicht. Ich weiß nicht mehr genau. Spielt das eine Rolle?«

»Ich habe dich vor ziemlich genau drei Stunden angerufen. Da warst du im Büro, und wir hatten seit dem 22. Juli bei Ellen und Jon nichts mehr miteinander zu tun. Jemanden zu googeln, mit dem man verabredet ist und den man noch nicht kennt, finde ich normal. Ich mache das auch oft. Aber wenn du es heute gemacht hättest, würdest du dich wohl daran erinnern.«

Joachim gab keine Antwort.

Unter seiner sonnenbraunen Haut breitete sich eine schwache Röte aus, die er damit zu tarnen versuchte, dass er die Tasse hob und trank.

»Du hast mir die SMS geschickt«, sagte Inger Johanne ruhig. »Am Freitag. In der stand, dass ich mir Sanders Tod genauer ansehen sollte. Du hast mich nicht gegoogelt, weil wir uns heute verabredet haben. Sondern in der vorigen Woche, vermutlich, weil du vage wusstest, dass ich schon häufiger mit Kriminalfällen zu tun gehabt habe. Du hast mich gegoogelt, bevor du die SMS geschickt hast, nicht wahr?«

Er antwortete nicht. Nickte nicht. Saß ganz still da.

»Na los, Joachim.«

Sie schaute ihn mit resigniertem Lächeln an.

»Ich begreife nicht, warum du das unbedingt verheimlichen willst. Ich begreife nicht, warum du mir überhaupt diese SMS schicken musstest. Hättest du mich nicht einfach anrufen können?«

Er sog einen Moment an seinen Zähnen, dann schaute er endlich auf.

»Es kam mir so ... illoyal vor.«

»Illoyal? Wem gegenüber? Jon? Wenn du jemandem Loyalität schuldest, dann doch wohl Sander! Und wieso ist es denn weniger illoyal, sich zu verstecken und eine SMS zu schicken? Also ehrlich ...«

Die beiden Blondinen, beide mit minimalen Oberteilen, superkurzen Jeansröcken und Schuhen, auf denen Inger Johanne keine zehn Meter weit gekommen wäre, interessierten sich jetzt für das Gespräch. Inger Johanne senkte die Stimme: »Du vermutest, dass ich als Ermittlerin gewisse Fähigkeiten besitze. Das ist absolut korrekt. Ich habe der Polizei in so vielen Fällen geholfen, dass ich häufiger seltsame Mitteilungen erhalte, per Mail und per SMS. Und sogar per Post. Mit den Jahren habe ich mir angewöhnt, sie zu ignorieren. Ich lösche sie, und sie sind mir scheißegal. Das habe ich übrigens auch mit deiner gemacht. Aber was glaubst du wohl, wie lange ich brauchen würde, um den Absender zu ermitteln, wenn ich das will?«

Jetzt ließ die Röte sich nicht mehr verbergen. Seine Brille beschlug, und er drehte sich von den Blondinen weg.

»Nicht sehr lange«, murmelte er.

»Nein, das kann ich dir sagen. Hast du ein Auto?«

Joachim sah sie verwirrt an.

»Ja ...«

»Ich meine, hier? Bist du mit dem Auto hier?«

»Ja. Steht gleich um die Ecke.«

»Dann gehen wir«, sagte sie und stand auf. »Bitte fahr mich nach Hause. Wir können unterwegs weiterreden. Da haben wir nicht so viele Zuhörerinnen.«

Sie suchten sich ihren Weg zwischen Stühlen und Tischen, überquerten die Straße und bogen schließlich in die Nordkappgate ein.

»Wow«, sagte sie und blieb stehen, als ein BMW Cabriolet kurz aufbellte und mit allen Lichtern blinkte.

Inger Johanne hatte keine Ahnung von Autos. Sie charakterisierte sie in der Regel nach Farbe und Größe, liebte den Volvo, weil er immer ansprang, und verachtete den Golf, weil er das so selten tat. Doch sogar sie konnte sehen, dass dieses Auto etwas Besonderes war. Joachim schaute kurz zum Himmel hoch, öffnete für sie die Tür und setzte sich hinter das Lenkrad. Offenbar hatte er auf irgendeinen Knopf gedrückt, denn das Dach hob sich mit einem leisen Summen und war verschwunden.

»Wo wohnst du?«

»Hauges vei in Tåsen. Fahr einfach in Richtung Nydalen.«

Inger Johanne bereute ihren Vorschlag bereits. Sie fühlte sich fremd in diesem Salon von einem Wagen, mit den tiefen Ledersitzen und dem teuren Duft. Joachim dagegen hatte zu seinem alten Ich zurückgefunden. Mit selbstsicherem Lächeln manövrierte er sich aus der engen Parklücke.

»Warum hast du die SMS geschickt?«, fragte Inger Johanne.

»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte er leichthin. »War ein bisschen nervös. Das war blöd.«

Das Café zu verlassen war wirklich ein Fehler gewesen. Sie konnte ihm nicht mehr ins Gesicht sehen. Die brüchige Fastvertrautheit war verschwunden. Vermutlich hatten die beiden langbeinigen Mädels sich eher für Joachim interessiert als für ihr Gespräch. In wenigen Minuten würde der Wagen vor dem weißen Zweiparteienhaus im Hauges vei halten, und das Gespräch würde beendet sein.

»Du hast gesagt, du hättest nie den Verdacht gehabt, dass im Glads vei etwas nicht stimmen könnte«, sagte sie trotzdem. »Bis jetzt. Warum?«

»Ich hatte nie einen Grund dazu. Das habe ich jetzt wohl auch nicht.«

Sie hatte ihn verloren. An der Kreuzung vor der Nordpol-Schule hielten sie an einer roten Ampel.

»Du kannst natürlich mit diesem Unsinn weitermachen«, sagte Inger Johanne. »Aber das wäre dumm von dir. Unbeschreiblich dumm.«

Es wurde grün, aber er starrte sie so lange verdutzt an, dass der Wagen hinter ihnen hupte. Joachim schaltete ungeschickt in den ersten Gang und würgte den Motor ab.

»Verdammt«, flüsterte er und versuchte es erneut.

Das Auto machte einen Sprung nach vorn, dann starb der Motor wieder ab.

»Ganz neuer Wagen, wie ich sehe.« Inger Johanne lächelte und fügte hinzu: »Zu diesem Fahrstil passt er eigentlich nicht so ganz. Bist du eher Automatik gewohnt?«

»Nein«, fauchte er durch zusammengebissene Zähne und konnte den Motor endlich wieder zum Leben erwecken.

Die Reifen kreischten über den Asphalt, als sie über die Kreuzung schossen.

»Was meinst du eigentlich mit dumm?«, fragte er.

»Du vergisst, warum du mir die SMS geschickt hast. Ich habe einige Erfahrung als eine Art ... Ermittlerin. Im Netz findest du auch mehrere Artikel, in denen ziemlich klar gesagt wird, dass ich eine Vergangenheit beim FBI habe. In manchen werde ich als ›Profilerin‹ bezeichnet. Das ist eine sinnlose und unklare Bezeichnung, aber trotzdem nicht ganz falsch.«

Sie lächelte und wusste, dass er das registrierte, obwohl er die ganze Zeit nach vorn auf die Straße starrte. Dennoch wären sie fast mit einem Bus zusammengestoßen.

»Ich kann das Verhalten von anderen also ganz gut deuten«, sagte sie. »Und im Moment deute ich deins.«

Er sagte nichts, wartete aber offenbar darauf, dass sie weiterredete.

»Tatsache Nummer eins«, sagte sie und zählte an den Fingern ab. »Ich soll untersuchen, unter welchen Umständen Sander gestorben ist, aber ich sollte nicht wissen, dass die Aufforderung von dir kam. Tatsache Nummer zwei: Du hattest nichts dagegen, von mir in meine Untersuchungen hineingezogen zu werden. Im Gegenteil, als ich dich heute Morgen angerufen habe, wolltest du dich unbedingt noch heute mit mir treffen. Tatsache Nummer drei oder jedenfalls etwas, das ich bis auf Weiteres als Tatsache betrachten werde: Du hattest Sander sehr gern und hast dich ungewöhnlich gut mit ihm verstanden.«

Bei der Brücke über den Akerselv in der Kristoffer Aamots gate hatte ein Müllwagen einen Motorschaden und versperrte die Fahrbahn nach Westen. Der Gegenverkehr floss ihnen als stetiger Strom entgegen. Sie steckten fest.

»Tatsache Nummer vier«, sagte Inger Johanne und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf den linken Ringfinger. »Du wolltest mir eben etwas Besorgniserregendes über Sanders Leben erzählen, aber dann hast du plötzlich Angst bekommen.«

»Verdammt noch mal«, sagte Joachim wütend und drückte auf die Hupe.

Der Fahrer des Müllwagens stand nur zwei Meter von dem schwarzem BMW entfernt und schüttelte angesichts dieser Ungeduld den Kopf. Er rief etwas, das Inger Johanne nicht verstehen konnte.

»Viel mehr Tatsachen habe ich nicht«, sagte sie. »Aber soll ich dir erzählen, wie ich sie deute?«

Joachim hatte das Fenster heruntergekurbelt und lehnte sich, so weit er konnte, hinaus. Ohne zu antworten, riss er das Lenkrad herum und trat das Gaspedal durch. Der Müllmann fuhr zurück, als der BMW zur Seite und an seinem Wagen vorbeischoss. »Wankelmütigkeit«, sagte Inger Johanne, als wäre nichts passiert. »Wenn man sich so gespalten fühlt wie du, dann, weil man das Gefühl hat, dass es bei jeder Möglichkeit etwas zu verlieren und etwas zu gewinnen gibt. Du möchtest, dass ich mir genauer ansehe, unter welchen Umständen Sander gestorben ist, aber es soll nicht auf deine Initiative hin geschehen. Du willst mir von Bedenken erzählen, die dir nach Sanders Tod gekommen sind, aber am Ende traust du dich dann doch nicht. Weil du selbst etwas zu verbergen hast. Eigentlich möchtest du mit der ganzen Sache nichts zu tun haben.«

Sie näherten sich dem Maridalsvei. Zum Glück war auch hier dichter Verkehr, und sie kamen nur im Schneckentempo voran.

»Davon hast du keine Ahnung«, sagte Joachim leise.

Inger Johanne fiel auf, dass seine Fingerknöchel am Lenkrad weiß wurden.

»Doch. Ein bisschen weiß ich, wie ich eben vorgeführt habe. Aber ich weiß bei Weitem nicht genug. Deshalb wäre es nett, wenn du mir helfen könntest.«

Er gab keine Antwort. Sie sagte nichts mehr. Stattdessen musterte sie sein Gesicht, halb von hinten, ohne dass er es sehen konnte. Seine Wangenmuskeln zuckten unter der glatt rasierten Haut, und sie konnte durch das Rauschen des Windes und das gleichmäßige tiefe Dröhnen des Motors hören, dass er mit den Zähnen knirschte. Seine Augen hinter der Sonnenbrille waren schmal, und er nagte nervös an seiner trockenen Unterlippe.

Joachim Boyer hatte Angst, das sah sie.

Als er auf ihre Anweisung hin vor ihrem Gartentor hielt, blieb sie sitzen. Er sagte nichts und machte auch keine Anstalten, ihr die Tür zu öffnen. Sie konnte Jacks heiseres Gebell im Haus hören, er merkte immer, wenn sie kam, auch wenn sie von anderen gefahren wurde.

»Wir haben alle unsere Geheimnisse«, sagte sie leise. »Alle haben wir Fehler gemacht. Das macht die Ermittlungen in der Regel so schwer, Joachim. Wir haben im Grunde alle Angst, in etwas hineingezogen zu werden. Es gibt kaum ein Leben, das Flutlicht verträgt.«

»Ich habe Sander nie angefasst.«

Er sah sie noch immer nicht an. Schaltete den Motor nicht aus. Seine Hände umklammerten noch immer das mit Leder überzogene Lenkrad.

»Das glaube ich ja«, sagte sie. »Aber du hast einen anderen Fehler gemacht, stimmt’s?«

Er antwortete nicht. Jack hörte nicht auf zu bellen.

»Deshalb hast du versucht, mich anzustacheln, statt zur Polizei zu gehen. Du willst Gerechtigkeit für Sander, aber diese Gerechtigkeit soll dich nicht einholen. Was immer du nun getan hast. Wenn es nichts mit Sander zu tun hat, hast du von mir jedenfalls nichts zu befürchten.«

»Sander war ein bisschen zu oft verletzt«, sagte Joachim endlich und atmete langsam die angestaute Luft aus. »Und das ist nur selten bei mir passiert, und er hat die Verletzungen oft bagatellisiert.«

Er ließ das Lenkrad los, zog die Bremse und schaltete den Motor aus.

»Erzähl«, sagte Inger Johanne und löste den Sicherheitsgurt.

Helga Mohr hatte die neuen Räumlichkeiten von Mohr und Westberg noch nicht gesehen. Unter normalen Umständen hätte sie sich über diese Gelegenheit gefreut. Größe, Inneneinrichtung und nicht zuletzt die Lage zeugten alle vom großen beruflichen Erfolg ihres einzigen Sohnes, in diesem neuen Stadtteil einer Gegend, die in ihrer Jugend Tyvholmen geheißen und aus einer wilden Ansammlung riesiger Lagerhäuser bestanden hatte. Sie hätte die dänischen Möbel in Jons Büro bewundert und hätte das seidenweiche Kalbsleder der Sitzgruppe berührt, wo sie mit einer Tasse Tee hingesetzt worden war. Unter anderen Umständen hätte Helga Mohr angesichts der Aussicht und der Technik, die es ermöglichte, mit einem Tastendruck das klare Fensterglas in eine Sonnenbrille zu verwandeln, nur stumm gestaunt.

Jetzt bemerkte sie das alles kaum.

Sie hatte nicht einmal ihren Burberry-Mantel abgelegt, und ihr war heiß. Der Teebeutel hing in der unberührten Tasse. Bald würde der Tee ungenießbar sein. Sie spielte an ihrem Trauring herum, der in der vergangenen Woche spürbar lockerer an ihrem Finger gesessen hatte.

»Kann ich denn nicht mit ihr sprechen?«, fragte sie zum dritten Mal.

»Nein«, wiederholte er resigniert. »Ich will nicht, dass Inger Johanne in diese Angelegenheit hineingezogen wird. Verstehst du das, Mutter? Jetzt hör bitte auf damit.«

Er stand auf und fing an, rastlos im Zimmer hin und her zu laufen.

»Die Beerdigung ist am Freitag. Das müssen wir noch überstehen. Nach dem Freitag ist es vorbei. Wir müssen nach vorn sehen, Mutter. Wenn nur der Freitag erst überstanden ist.«

»Ich will ja gerade nach vorn sehen«, sagte sie, in ungewollt scharfem Ton. »Aber dafür müssen wir sichergehen können, dass die Polizei nicht mehr so in unserem Leben herumstochert, wie dieser unerträgliche Grünschnabel es bereits getan hat. Du weißt doch, was dein Vater immer gesagt hat: Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, um richtig oder falsch, sondern darum, wofür die Polizei sich entscheidet. Nichts ist so gefährlich wie ...«

»Hör auf!«

Jon griff sich an den Kopf und verzog das Gesicht, als ob er plötzlich Schmerzen hätte. Er sah elend aus. Sonst war er doch sehr ansehnlich, fand sie, mit dem jungenhaften schmalen Knochenbau seines Vaters, ohne mager zu wirken, nur gesund und schlank. Jetzt wirkte er verhärmt, genau wie Ellen. Helga Mohr fragte sich, ob die beiden wohl aufgehört hatten zu essen. Am schlimmsten war es aber, in seine Augen zu schauen, wenn ihr das einmal gelang. Die waren immer das Schönste an ihm gewesen, groß und dunkelblau mit langen schwarzen Wimpern. Jetzt waren sie dabei, in seinem Schädel zu verschwinden.

»Man kann nie vorsichtig genug sein«, sagte sie nach einer Pause, in der er sich endlich wieder gesetzt hatte. »Der Polizei zuvorkommen, sozusagen. Inger Johanne hat sehr viel Erfahrung in diesen Dingen, und sicher würde sie auf dich eher hören als auf mich. Ihr seid doch alte Freunde, und sie wird nicht Nein sagen, wenn du sie darum bittest. So ein Fall kann völlig ausufern. Du weißt ja nicht mehr, was mit deinem Vater passiert ist, du warst noch zu klein, aber ich kann dir sagen ...«

»Mutter ... Mutter!«

Jon setzte sich jählings auf, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie.

»Das ist kein Fall, Mutter. Sander ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er wurde obduziert, wir haben ihn wieder, am Freitag ist die Beisetzung. Die Polizei hat sich nicht mehr gemeldet, und sie haben bei Gott anderes zu tun, verdammt noch mal!«

Helga saß bewegungslos da, abgesehen von den Fingern der linken Hand, die unablässig den Trauring an der rechten drehten. Jon wickelte den Teebeutel um einen kleinen Löffel, presste die fast schwarze Flüssigkeit heraus und legte Löffel und Tüte auf einen Glasteller mitten auf dem Tisch. Erst jetzt sah Helga ein großes fleischfarbenes Pflaster auf seiner Hand. Es sah schmutzig aus, und sie musste sich zusammenreißen, um keinen Kommentar abzugeben.

»In diesem Fall ist es das Beste, sich ganz still zu verhalten«, sagte er endlich. »Das Leben ist auch so schon schwer genug. Lass die Finger davon, Mutter.«

Seine Stimme klang so heiser. So elend. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und zu ihm gegangen. Hätte die Hand in seinen Nacken gelegt, den schmalen sehnigen Nacken, den ihre Hände so gut kannten. Sie wollte seinen Kopf an sich ziehen und die unsinnigen Worte flüstern, die ihn als Kind immer beruhigt hatten. Mehr als alles andere wollte sie Jon helfen, ihm versichern, dass alles gut werden würde. Sie wollte ihn beruhigen, mit warmen Händen und Beteuerungen, dass alles in Ordnung kommen würde, so wie sie immer alles für ihn geklärt hatte, bis er sechzehn geworden war und man nicht mehr mit ihm hatte reden können, wie mit den meisten Jungen.

Jon wusste nicht, dass sie es wusste. Das war offensichtlich.

Sie war sich ganz sicher, dass er sie nicht gesehen hatte, auf dem Balkon, als ihr am Nachmittag des 22. Juli, gleich nachdem sie das Haus verlassen hatte, eingefallen war, dass ihr Buch noch im Wohnzimmer lag, der Roman, den sie an diesem Abend gern noch zu Ende lesen wollte. Sie stand schon an ihrem Auto, als ihr das einfiel. Sie ging zurück über den Platz vor der Garage, die breite Schiefertreppe hinunter, und hielt es für einfacher, über die Außentreppe auf den Balkon zu gehen, wo sie selbst noch vor zehn Minuten die Wohnzimmertür geöffnet hatte.

Er hatte sie nicht dort draußen stehen sehen.

Er hätte es nicht verbergen können, wenn er sie gesehen hätte. Nicht Jon. Ihre Töchter hatten ihrer Mutter leichter etwas verheimlichen können, das war immer schon so gewesen, aber Jon war so nackt für sie wie bei seiner Geburt. Als Baby hatte er kaum geweint. Helga hatte seine Bedürfnisse erkannt, noch ehe sie ihm selbst bewusst wurden. Jon war ihre größte Freude gewesen. Er war Wilhelms Triumph gewesen und der größte Stolz seiner älteren Schwestern, und für Helga Mohr war der Sohn die Verlängerung dessen, was sie selbst war und empfand.

So war es immer gewesen, und obwohl sie seit einer Ewigkeit nicht mehr der wichtigste Mensch in seinem Leben war, gab es in Helgas Leben nichts Wichtigeres als Jon. Helga war ganz sicher, dass er sie nicht gesehen hatte. Nicht einmal, als sie rückwärts getaumelt und mit dem Bein gegen einen Stuhl gestoßen war, hatte er sie bemerkt.

Das hätte sie ihm angesehen.

Als Helga Mohr, damals Axelsen, im Jahr 1950 mit zweiundzwanzig geheiratet hatte, waren ihre Eltern zutiefst skeptisch gewesen. Wilhelm war schon in Ordnung, es fehlte auch nicht an Geld, Tatkraft oder Bildung bei dem sechs Jahre Älteren, der um sie warb. Das Problem war die Politik. Während Helgas Vater 1941 mit der ganzen Familie nach Schweden geflohen und bis Kriegsende dort geblieben war, hatte der alte Trygve Mohr im besetzten Norwegen geschickt laviert. Er wurde kein Nazi, trat nicht in die Partei ein, aber es waren nicht nur haltlose Gerüchte, die von großartigen Festen in dem Haus im Dagalivei berichteten, zu einer Zeit, in der die meisten anderen sich mit mageren Rationen begnügen mussten. Als im Frühjahr 1945 der Friede kam, stellte das vervielfachte mohrsche Vermögen einen Beweis dar, der an sich zu einer Verurteilung hätte führen können. Auf eine Weise, die die wenigsten erklären konnten, kam Trygve Mohr jedoch ungeschoren davon. Der Volksmund hatte dem Barackenbaron noch nicht vergeben, als sein Sohn an einem Sommertag vier Jahre später bei Herrn und Frau Axelsen anklopfte, um sie um die Hand ihrer ältesten Tochter zu bitten.

Aber Wilhelm besaß Charme. Er war selbstständig und tatkräftig und hatte sich auf eine ganz andere Branche verlegt als sein Vater. Die Reederei Wilhelm Mohr Transocean verfügte bereits über eine beträchtliche Tonnage, und falls Wilhelm von seinem vierschrötigen Vater überhaupt etwas geerbt hatte, dann die Fähigkeit zu lavieren. Die norwegische Schifffahrt erlebte eine Zeit unvorstellbaren Wachstums, und Wilhelm Mohr war überall dabei. Helgas Eltern wurden endlich weich, und im folgenden Jahr wurde Hochzeit gehalten. Trygve Mohr war inzwischen im Alter von neunundfünfzig Jahren verstorben, und Wilhelms ansehnliches Bankguthaben war zu einem kleinen Vermögen geworden.

Helgas Rolle im Leben war die der Bewahrerin gewesen.

Sie kümmerte sich um die Kinder und um das Haus. Und um Kleidung und Erscheinung ihres Mannes. Sie hatten natürlich Hilfe im Haus und im Garten, aber in diesem kleinen Königreich regierte Helga. Sie veranstaltete Geselligkeiten und Familienessen, sie pflegte die richtigen Verbindungen und sorgte dafür, dass ihr Mann das auch tun konnte. Geboren und aufgewachsen in der kleinen Gruppe von Menschen, die damals als Norwegens Oberklasse bezeichnet werden konnte, wusste sie, was sie tat, und sie brachte es darin zur Perfektion.

Helga kümmerte sich ganz einfach um die Werte der Familie, und der größte von allen war der gute Name der Familie Mohr. Wilhelm hatte durch wohltätiges Engagement und Kontakte bis hinein ins Königshaus den braun gefleckten Namen seines Vaters reinwaschen können. Das war ihm wichtig gewesen. Das Allerwichtigste sogar, auch für Helga. Auch, als der Großteil des Vermögens verschwand. Der Jom-Kippur-Krieg im Herbst 1973 erschien Wilhelm, wie so vielen anderen, als abenteuerliche Möglichkeit. Wilhelm Mohr Transocean investierte ausgiebig in Bulkschiffe, um den erwarteten Bedarf an Öltransporten decken zu können. Kurze Zeit später, als die gewaltigen Frachtraten abrupt zu sinken begannen, wurden die Schiffe zu unnützen Treibankern in der Ökonomie der Firma. Ungefähr zu dieser Zeit vermuteten die Behörden, Wilhelm habe in fast demselben Umfang Steuern hinterzogen wie die noch bekannteren Reeder Reksten und Jahre. In schwierigen Zeiten unter den Augen von Ermittlern Geschäfte zu machen wurde unmöglich. Nach drei Jahren war der Konkurs eine Tatsache.

Helga Mohr ließ den Kopf dennoch nicht hängen. Sie luden noch immer ein und behielten das Haus, auch wenn das Personal auf eine Putzfrau jeden zweiten Donnerstag reduziert wurde. Die Tatsache, dass die Behörden mit ihrem Verdacht auf ein beiseitegeschafftes Vermögen im Ausland zwar richtiglagen, dieses jedoch nicht finden konnten, verhinderte den totalen Ruin der Familie.

Als Helga Mohr 1978 Witwe wurde, ließen die Behörden sie endlich in Ruhe. Ihre Töchter waren fast erwachsen, und Jon und seine Mutter wohnten weiterhin in dem riesigen, wenn auch inzwischen heruntergekommenen Haus in Smestad. Es wurde immer schwieriger, im Ausland verstecktes Geld nach Hause zu bringen. Dennoch hielt die Fassade. Bis sie jetzt abermals bedroht wurde. Aber Helga Mohr hatte nicht vor, nach einundsechzig Jahren ihre Aufgabe als Hüterin der Familie zu vernachlässigen. Sie konnte noch viele Jahre leben, sie war gesund und hatte kaum andere Beschwerden als ein wenig Rheuma und ein trübes Auge, und es wäre ein Verrat an ihrem eigenen Leben gewesen, sich von den Ereignissen einholen zu lassen. Sander war tot, und sie betrauerte ihn aufrichtig. Aber nichts konnte ihn wieder zum Leben erwecken. Ihre Verpflichtungen standen ihr so deutlich vor Augen wie eh und je.

Jetzt saß die wichtigste davon im Sessel auf der anderen Seite des niedrigen Glastisches und sah aus wie tot. Obwohl er erst drei Wochen zuvor aus Italien zurückgekommen war, wirkte die Haut unter den dunklen Bartstoppeln fast milchig weiß. Seine Augen waren geschlossen und der Mund halb offen.

»Jon«, sagte Helga Mohr leise, aber entschieden. »Jetzt hör mir zu. Ich habe einen Plan.«

»Nein«, murmelte er. »Das will ich nicht.«

Helga dachte kurz nach, gerade lange genug, um es zu denken und dann zu verwerfen, ihm also nicht zu sagen, was sie wusste.

»Jon«, sagte sie noch einmal und setzte sich gerade.

Sie feuchtete sich die Lippen an und sah, dass er immerhin die Augen geöffnet hatte. Ihre scharfe Stimme hatte bei ihm einen Reflex ausgelöst, einen Funken von Gehorsam. Er setzte sich ebenfalls aufrecht und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dann räusperte er sich, schluckte und starrte ihr in die Augen.

»Ja?«

»Mit Schande kann man leben«, sagte sie. »So lange es die eigene ist. Jeder kann seine Schande tragen, wenn er Würde und Stärke besitzt. Es gibt Schlimmeres. Viel Schlimmeres, und dem ist diese Familie entgangen, so lange ich auf der Welt bin.«

Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, zu einer schmerzhaften Grimasse, dann schlug er die Hände vors Gesicht. »Schlimmeres?«, fragte er mit halb erstickter Stimme. »Was könnte denn schlimmer sein als das hier?«

»Gefängnis«, antwortete sie mit scharfer Stimme. »Und jetzt hör mir gefälligst zu.«

Henrik Holme hatte Oslo in den Jahren an der Polizeischule gut kennengelernt. Seine Freunde hatten in Zimmern und Wohngemeinschaften überall in der Stadt gehaust, die glücklichsten in Majorstua, wo sie zu Fuß zur Schule gehen konnten. Aber niemand hatte in Tåsen gewohnt, ging ihm auf, als er im Maridalsvei aus dem Bus stieg und nicht sicher war, welche Richtung er einschlagen sollte.

Der Tag, an dem Henrik seine erste Polizeiuniform erhalten hatte, gehörte zu den unvergesslichen Augenblicken seines Lebens. Damit die Ärmel lang genug wären, waren Hemd und Jacke am Hals zu weit, und es war unmöglich, eine Hose zu finden, die weder zu kurz war noch herunterrutschte. Dennoch war das Gefühl, eine neue und wichtige Rolle zu übernehmen, absolut überwältigend. Eine fast sexuelle Erregung hatte ihn erfasst, als er im Mädchenzimmer bei seiner Tante die Uniform ausgepackt und langsam angezogen hatte. Als er am Ende die Füße in ein Paar neue glänzend schwarze Schuhe steckte und vor dem großen Spiegel, den er vom Gang in sein Zimmer geschafft hatte, den Kragen zurechtzog, war er sich endlich erwachsen vorgekommen. Das hier war er. Der Mann, der er endlich geworden war.

Jetzt trug er Jeans, einen gestreiften Baumwollpullover und Turnschuhe. Als er zögernd die Straße überquerte und sich auf die Suche nach der Nygårds allé machte, versuchte er, sich davon zu überzeugen, dass er genau derselbe war wie immer. Der Unterschied war nur, dass er freihatte. Dennoch war er in einer Art Mission unterwegs, und er dachte an den Rat eines alten Professors auf der Hochschule: »Als norwegischer Polizist bist du immer Polizist. Verhalte dich in jeder Situation so, als trügest du Uniform.«

Die anderen Studierenden hatten gekichert. Henrik hatte die Sätze auswendig gelernt. Jetzt flüsterte er sie vor sich hin, wieder und wieder, bis er den Hauges vei gefunden hatte und sich dem Haus mit dem richtigen Nummernschild näherte.

Inger Johanne Vik war merklich überrascht gewesen, als er vor anderthalb Stunden bei ihr angerufen hatte. Aber sie hörte zu, zu seinem Erstaunen. Er hatte sich auf eine Abweisung gefasst gemacht, es wirkte doch wie nicht ganz gescheit, dass er als Polizist in seiner Freizeit um ein Treffen mit einer Art Zeugin in einem Fall bat, mit dem er sich nicht mehr befassen durfte.

Vorher hatte er lange nach einer Möglichkeit gesucht, seine Geschichte auszuschmücken, sie genießbarer zu machen für eine, die mit einem erfahrenen Polizisten verheiratet war und sicher stutzig werden würde, wenn er sich außerhalb der Dienstzeit an sie wendete. Am Ende hatte er es aufgegeben und sich für die Wahrheit entschieden, er war ein elender Lügner. Er musste es eben darauf ankommen lassen, dachte er, und sie ließ ihn seinen Spruch ungestört aufsagen. Er erzählte über sein Gespräch mit Elin Foss, über die Begegnung mit Sanders Lehrerin in Grorud und am Ende über Tove Byfjords strikte Weisung, einen großen Bogen um den ganzen Fall zu machen.

Sogar als Inger Johanne nach fast einer Stunde gefragt hatte, warum er sich gerade an sie wende, war er bei der Wahrheit geblieben. Er hatte sie bereits am 22. Juli im Glads vei erkannt. Zu Hause in seinem Zimmer standen acht Ordner mit Zeitungsartikeln über wichtige Kriminalfälle der vergangenen fünfzehn Jahre. Er hatte schon mit elf zu sammeln angefangen, zuerst auf Papier, dann im Computer.

Deshalb.

Inger Johanne Vik hatte nicht einmal gelacht. Sie hatte ihn nur gebeten, so schnell wie möglich zu kommen.

Jetzt stand er oben auf einer kleinen Betontreppe und drückte auf eine Klingel. Drinnen hörte er schnelle Schritte eine Treppe herunterkommen. Die Tür wurde geöffnet.

»Hallo«, sagte Inger Johanne. »Das ging aber schnell. Kommen Sie rein.«

In normaler Kleidung sah der Polizist nicht ganz so jung aus. Sie passte ihm viel besser als die Uniform, und er hatte sich etwas in die Haare gestrichen und sie zu einer Art Crewcut frisiert. Das stand ihm. Er lächelte vorsichtig und begrüßte sie höflich, dann schob er die Hand in die Tasche und folgte ihr die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer. Er trug einen kleinen Rucksack auf der Schulter.

»Der Hund ist sehr lieb«, sagte sie beruhigend, als Jack auf den Gast zutrottete und schnuppern wollte.

Der junge Mann stand während dieser Musterung stramm, ohne sich vorzubeugen und Jack auch an seinen Händen riechen zu lassen.

»Schlafzimmer«, befahl Inger Johanne, und der Hund lief glücklich hinaus.

»Ich bin wirklich froh, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte er und setzte sich auf das ihm angewiesene Sofa. »Ich bin wirklich ... ehrlich ... richtig verzweifelt. Alle Türen scheinen vor mir zuzufallen, während ich zugleich immer mehr davon überzeugt bin, dass ...«

Er schluckte und griff sich an die Nase, ehe er die Teetasse berührte, ohne sie hochzuheben. Dann griff er sich wieder an die Nase.

»Mein Nachfolger hat alle Hände voll zu tun mit dieser anderen Sache, und wenn die dann irgendwann mal abgeschlossen ist, wird er sicher Urlaub nehmen. Ich weiß, dass es mich nichts mehr angeht, aber ich habe wirklich das Gefühl, ich muss Sander ...«

Endlich führte er die Tasse halb zum Mund, um sie dann so abrupt hinzustellen, dass der Tee überschwappte.

»... Gerechtigkeit verschaffen«, sagte er wütend.

»Das ist ganz richtig von Ihnen«, sagte Inger Johanne ruhig, während sie seine Bewegungen verfolgte. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.«

Abermals wanderte seine rechte Hand von seiner Nase zur Tasse und zurück.

»Hätten Sie lieber Wasser?«, fragte sie.

»Ja, bitte. Ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.«

»Sie haben von Sanders Lehrerin erzählt«, sagte sie aufmunternd, während sie ein Glas für ihn holte. »Haldis Grande, hieß sie nicht so? Ich muss Sie loben für Ihre Schlussfolgerung, was Sanders Zeit in der Schule angeht. Dass er sich dort nur selten verletzt hat, meine ich, aber oft mit gebrochenem Arm und blauem Auge erschien. Gut gesehen. Gut gedacht.«

Sie lächelte, als sie ihm das gefüllte Glas reichte. Seine Hand zitterte ein bisschen, und er stellte das Glas ab und berührte wieder seine Nase, ehe er es an den Mund hob und trank.

Inger Johanne verspürte einen Stich von schlechtem Gewissen. Der Junge ist dabei, eine ganze Reihe von Regeln zu brechen, dachte sie, als sie sich setzte. Henrik Holme hatte vermutlich das Gefühl, sie auszunutzen. Tatsache war, dass sie ihn grob ausnutzte.

Als sie am Vormittag nicht mehr weitergewusst und keine Ahnung gehabt hatte, was sie jetzt tun sollte, um die Wahrheit über Sanders Tod herauszufinden, hatte dieser grüne Junge angerufen und ihr auf dem Silbertablett einen Schatz von Informationen serviert. Einige hätte sie sich so nach und nach wohl selbst beschaffen können. Andere, wie das, was er über die Krankenberichte von Volvat erzählte, hätten weit außerhalb ihrer Reichweite gelegen. Er hatte sogar erwähnt, dass möglicherweise wegen eines Insiderhandels gegen Jon Mohr ermittelt werden würde, auch wenn der Verdacht noch sehr vage war. Nicht ein Geheimnis hatte der junge Polizist für sich behalten. Yngvar wäre wütend gewesen. Tove Byfjord würde das auch sein.

Aber die waren beide nicht hier.

»Sie haben auch Elin Foss erwähnt«, sagte sie dann, als er nicht richtig in Gang zu kommen schien. »Das war das Interessanteste, finde ich. Dass sie meint ...«

»Wissen Sie, wie viele Kinder in Norwegen von ihren Eltern misshandelt werden?«, unterbrach er sie so plötzlich, dass Inger Johanne die Augenbrauen hob. »Und ich meine wirklich Gewalt, keine anderen Übergriffe oder Vernachlässigung.«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Und es scheint auch sonst niemand zu wissen. Ich habe überall gesucht. Habe sicher zehn Stunden im Netz verbracht. Ich habe mich an Jugendämter gewandt. Niemand weiß es genau. Einige Quellen sagen, über zwanzigtausend. Andere Zahlen liegen höher, einige auch tiefer.«

»Schwierige Materie«, sagte Inger Johanne und nickte. »Hohe Dunkelziffer, nehme ich an.«

»Wissen Sie, wie viele verurteilt werden, weil sie ihre Kinder misshandelt haben?«

»Nicht viele.«

»Eine Handvoll pro Jahr. Falls überhaupt.«

Als er die Hand nach dem Wasserglas ausstreckte, brauchte sie nicht den Umweg über die Nase zu nehmen. Er zitterte nicht mehr.

»Vielleicht hat es mich deshalb besonders provoziert, dass der Rektor an Sanders Schule beide Meldungen in einer Schublade vergammeln lässt.«

»Das wissen Sie aber noch gar nicht«, sagte sie. »Er kann seine eigenen Untersuchungen angestellt haben, ohne Elin Foss darüber zu informieren.«

»Nein. Die Vorschriften verlangen in solchen Fällen, dass die Person, die Meldung erstattet hat, zum Gespräch bestellt wird. Jedenfalls, wenn sie an der Schule angestellt ist. Das habe ich überprüft.«

»Na gut«, sagte Inger Johanne skeptisch. »Aber es wird doch dauernd gegen Vorschriften verstoßen. Und dafür kann es gute Gründe geben.«

»Überlegen Sie doch mal!«, sagte er mit einem Lächeln, das ihn viel selbstsicherer aussehen ließ. »Haldis Grande hätte es gewusst, wenn die Schule sich nach Sanders Lebensumständen erkundigt hätte. Sie war seit zwei Jahren seine Klassenlehrerin. Sie hatte keine Ahnung. Im Gegenteil. Sie wollte davon, dass Sander misshandelt worden sein könnte, nichts wissen.«

»Das klingt richtig. Natürlich hätte sie es gewusst. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«

Sein Lächeln wurde noch breiter.

»Hat Elin Foss Kopien ihrer Meldungen?«, fragte Inger Johanne. »Irgendeinen Beweis, dass sie die wirklich eingereicht hat?«

»Das ... danach konnte ich nicht mehr fragen. Das Gespräch wurde ... ein wenig plötzlich abgebrochen.«

Es war faszinierend, wie schnell Henrik Holmes Farbe wechseln konnte. Eben noch hatte er mit stolzem Lächeln und frischem Sommerteint vor ihr gesessen, und plötzlich war sein Gesicht tiefrot. Er schluckte, und seine Hände fuhren hektisch zwischen Wasserglas und Nase hin und her.

»Keine Angst«, sagte Inger Johanne leise. »Das finden wir schon noch raus.«

»Sie ist in Australien«, sagte er kleinlaut. »Reist da herum. Ich kann sie nicht so schnell erreichen. Aber ich habe jedenfalls ...«

Er bückte sich nach seinem Rucksack, öffnete ihn und zog eine Plastikmappe hervor. Der Inhalt wurde sorgfältig auf dem Couchtisch verteilt, in vier Stapeln. Einer enthielt Kopien der eigentlichen Fallunterlagen, wie sie sah. Bei dem nächsten schien es sich um Artikel zu handeln, die er wie ein Student gelesen hatte, mit Notizen am Rand und gelben Markierungen. Der dritte sagte ihr nichts. Er reichte ihr den vierten, einige Blätter in einer roten Mappe.

»Hier«, sagte er. »Sanders Rektor.«

»Sie halten ja bewundernswert Ordnung in Ihrem Nähkästchen«, sagte sie und schlug die Mappe auf. »Wie heißt er?«

»Ragnar Reiten, dreiundvierzig Jahre alt. Seit fast vier Jahren Rektor, vorher war er Lehrer an derselben Schule. Auf der zweiten Seite ist eine Art Lebenslauf. Ich habe die Infos auf der Website der Schule gefunden und auf einer für ... er ist Numismatiker, habe ich festgestellt. Ziemlich leidenschaftlich.«

Inger Johanne gab keine Antwort. Sie sah sich das Bild an und zeigte keinerlei Interesse an Seite 2.

»Vielleicht ... vielleicht ist das mit der Münzsammlung nicht so relevant«, sagte Henrik nervös.

Noch immer schaute sie nicht auf.

»Ist vielleicht auch blöd, das Foto auszudrucken«, fügte er eilig hinzu. »Ist doch egal, wie der Typ aussieht.«

Inger Johanne schluckte hörbar.

»Mehr als sein Name war ja nicht nötig«, sagte Henrik, legte die anderen Unterlagen aufeinander und schob sie rasch in die Plastikhülle. »Ich nehme das ein bisschen zu wichtig ... will irgendwie alles in ein System bringen. Tut mir leid. War immer schon so bei mir.«

Hilflos blieb er mit der Plastikmappe auf den Knien sitzen.

»Nein«, sagte Inger Johanne, ohne aufzusehen. »Der Name hätte nicht gereicht.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein. Ich nicht. Aber Jon Mohr kennt ihn gut. Sie waren in unserer ganzen Schulzeit eng befreundet. Ich war auch auf der Schule. Ich würde mich aber nicht an ihn erinnern ohne ...«

Endlich schaute sie auf.

»Ich bin ihm später noch mal begegnet. Auf Jons und Ellens Sommerfest im vorigen oder vorvorigen Jahr. Da sind immer viele Gäste, und ich habe nicht mit ihm gesprochen. Aber er hatte ein wunderhübsches kleines Mädchen auf dem Arm. Ich glaube, seine Adoptivtochter. Aus Äthiopien, und eins der schönsten Kinder, die ich je gesehen habe. Deshalb erinnere ich mich an ihn.«

»Aber das bedeutet doch ...«

Henrik kam nicht weiter.

»Das bedeutet, dass es vielleicht kein Wunder ist, dass der Rektor wegen Sander keinen Alarm gegeben hat«, sagte Inger Johanne und holte tief Atem. »Er ist einer von Jon Mohrs besten Freunden.«

Inger Johanne hatte einmal einen Journalisten sagen hören, es sei typisch für Norwegen, dass man nie mehr als zwei Stunden brauche, um jemanden zu erreichen. Ministerpräsident, König oder Hutmacher. Sie wusste nicht, ob das zutraf, aber es war jedenfalls nicht schwer gewesen, Ragnar Reiten ausfindig zu machen. Er und seine Familie waren in einem Ferienhaus bei Fredrikstad, und sie hatte nur seine Mobilnummer anzurufen brauchen, um eine genaue Beschreibung der Lage zu erhalten. Als Freundin von Ellen war sie natürlich herzlich willkommen, auch wenn es ihn zu überraschen schien, dass Inger Johanne so dringend mit ihm sprechen wollte. Vor allem, weil sie am Telefon nichts verraten mochte. Dass Sander zu Hause bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war, wusste er bereits, er hatte erst vor wenigen Tagen mit Jon telefoniert.

»Wirklich schrecklich«, sagte er. »Und das mitten in allem anderen. Kommen Sie einfach.«

Inger Johanne hatte zu höheren Mächten gebetet, dass der Golf sich anständig benahm. Vorläufig war sie erhört worden. Sogar als sie einen Weg hinabruckelte, der wohl aus der Zeit stammte, als in der Forstwirtschaft noch Pferde eingesetzt wurden, ließ er sie nicht im Stich. Als sie ungefähr einen Kilometer nach der Abfahrt von der Landstraße um eine Kurve bog, öffnete sich vor ihr die Landschaft zu einer Idylle von der Art, von der Yngvar wohl immer nur würde träumen können. Geerbt, dachte sie sofort. So etwas könnte man vom Gehalt im öffentlichen Dienst niemals finanzieren.

Sie hielt zwischen einem moosüberwachsenen Findling und einem riesigen Ameisenhaufen und blieb einen Moment stehen, nur um sich umzuschauen.

Eine rot angestrichene Hütte lag auf einer Felskuppe vor vier schlanken Kiefern. Ein Anbau auf jeder Seite bildete mit der Hütte ein zum offenen Meer hin gelegenes Hufeisen. In der Mitte fiel ein mit Gras bewachsener Hang zum Wasser hin ab und endete mit flachen Felsen. Vom Hof bis zum steinernen Steg, neben dem ein kleines Badehaus lag, waren es kaum mehr als dreißig Meter. Es war halb acht, und über dem Horizont stand eine hohe Abendsonne und färbte das spiegelglatte Meer golden.

»Hallo«, sagte ein dunkelhäutiges kleines Mädchen atemlos. »Ich hab dein Auto gehört.«

»Hallo. Ich heiße Inger Johanne.«

Die Kleine war vielleicht sechs Jahre alt und reichte ihr eine klebrige, warme Hand.

»Kari«, sagte sie und machte einen Knicks. »Papa hat gesagt, dass du kommst. Komm mit.«

Inger Johanne folgte ihr. Sie roch den Grill und merkte, wie hungrig sie war.

»Hallo und willkommen«, rief Ragnar Reiten, als sie um die Ecke des Anbaus bog und den ganzen Hof und eine Sitzgruppe um die gut ausgerüstete Grillküche sah. »Wir kennen uns doch schon, oder? Vom Sommerfest bei Ellen und Jon vor zwei Jahren? Es gibt in ungefähr einer Dreiviertelstunde Essen. Setzen Sie sich.«

Er wischte sich die Hände an einer weißen Schürze mit dem grünen Aufdruck »SUPERPAPA« ab, dann kam er mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Schön, dass Sie hier sind. Die Umstände könnten natürlich besser sein, aber genießen wir die Tage, die wir haben, sage ich immer. Setzen Sie sich. Es gibt Entrecote.«

Inger Johanne hustete vor Angst, er könnte ihr Magenknurren hören. Sie hatte seit elf Uhr nichts mehr gegessen. Sie war auch nicht hungrig gewesen. Jetzt lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie ließ seine Hand los und schaute aus zusammengekniffenen Augen aufs Meer.

»Ich kann leider nicht zum Essen bleiben«, sagte sie. »Ich will nicht viel von Ihrer Zeit vergeuden.«

Kari zog sich gerade eine Schwimmweste an.

»Ich kann aber schwimmen! Ich muss die bloß anziehen, wenn ich Krebse fange. Das ist eine Regel. Hier auf der Hütte gibt es ganz schön viele Regeln. Die haben fast alle mit Wasser zu tun. Und mit Feuer. Und mit der Felswand da hinten.«

Die Kleine zeigte nach Norden, ehe sie sich eine mit Bindfaden umwickelte Wäscheklammer schnappte und zum Strand neben dem Steg hinuntertanzte. Inger Johanne schaute ihr hinterher, als sie zwischen den Steinen nach Miesmuscheln suchte.

»Hier ist es wirklich schön«, sagte sie leise.

»Wir sind zufrieden«, sagte Ragnar Reiten grinsend. »Das Grundstück gehört meinen Eltern, aber die sind fast nie hier. Kommen so langsam in die Jahre, wissen Sie, und es ist ja doch ein bisschen primitiv hier am Meer, trotz allen modernen Komforts.«

Er öffnete einen kleinen Kühlschrank unter dem langen Anrichtetisch, zog eine Flasche Mineralwasser heraus und warf sie ihr zu. Sie hätte sie fast nicht erwischt.

»Aber nun setzen Sie sich doch. Meine Frau kommt in einer halben Stunde, sie holt Freunde vom Bahnhof in Fredrikstad ab. Solche Orte wie den hier muss man teilen! Wir haben fast den ganzen Sommer lang Gäste.«

»Das glaube ich Ihnen gern.«

Sie setzte sich in den Schatten, halb von der Aussicht abgewandt. Als sie den Verschluss von der Flasche drehte, schäumte ein Drittel des Inhalts heraus. Ragnar Reiten schien ihr kein Glas holen zu wollen, deshalb setzte sie die Flasche an den Mund und trank.

»Schade, dass Sie nicht bleiben können«, sagte er. »Wo Sie schon den ganzen Weg aus Oslo gekommen sind ...«

»So weit ist das doch nicht.«

Er biss sich konzentriert in die Lippe, als er das große Fleischstück umdrehte, ehe er sich ihr zuwandte.

»Was kann ich denn nun für Sie tun?«

»Es geht um Sander.«

»Ach?«

Sein Lächeln war verschwunden.

»Ich habe Grund zu der Annahme, dass zwei Meldungen bei Ihnen eingelaufen sind, weil sich jemand Sorgen um ihn machte.«

Er legte den Ölpinsel weg. Ein tiefes V zeichnete sich über seiner Nasenwurzel ab, und seine Stimme klang anders, als er sich ihr gegenüber auf einen Stuhl setzte, die Sonnenbrille weglegte und fragte: »Und was in aller Welt geht Sie das an?«

»Ganz offiziell?«

Sie zuckte kurz mit den Schultern.

»Nichts. Aber ich glaube, mich mit Fug und Recht dafür zu interessieren.«

»Am Telefon haben Sie gesagt, dass Sie als Freundin von Ellen kommen. Wenn das stimmte, würden Sie wohl kaum hier sitzen und mich nach Meldungen fragen, die ihren Mann der Kindesmisshandlung bezichtigen.«

»Vielleicht nicht. Aber stimmt es denn nun? Dass Sie solche Meldungen erhalten haben?«

Er griff in seine Brusttasche hinter der Schürze und zog eine Packung Marlboro heraus. Mit einem verstohlenen Blick zu seiner Tochter schob er sich die Zigarette in den Mund und steckte sie sich mit dem Grillanzünder an.

»Ich sehe ja ein, dass ich es indirekt bereits bestätigt habe«, sagte er und machte einen Lungenzug. »Aber Sie verstehen sicher, dass ich dieses Thema unter keinen Umständen mit Ihnen diskutieren kann. Schweigepflicht and all that jazz

»Papa«, rief Kari vom Strand her. »Sieh mal! Ein Seestern!«

Er versteckte die Zigarette in der einen Hand und winkte mit der anderen seiner Tochter zu.

»Wie schön, Schnuffel. Aber such doch noch mehr Miesmuscheln.«

»Dafür habe ich Verständnis«, sagte Inger Johanne freundlich. »Ich wollte Ihnen nur die Möglichkeit geben, sich zu erklären, bevor ich die Sache weiterreiche.«

»Weiterreichen? Was für eine Sache? Und was zum Teufel wollen Sie damit eigentlich sagen?«

Er zog wütend an seiner Zigarette.

»Die Einzelheiten zu Sanders Tod.«

»Das war ein Unfall.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das will ich ja gerade herausfinden.«

»Und wer hat Sie beauftragt?«

»Niemand. Es sei denn, mein Gewissen.«

Sie hörte sofort, wie idiotisch und dünkelhaft das klang, und sie versuchte, es durch ein Lächeln zu überspielen. Er erwiderte das Lächeln nicht. Er musterte sie unangenehm sorgfältig, schweigend, und rauchte die Zigarette fast bis zum Filter.

»Ich bin wirklich froh, dass ich nicht mit Ihnen befreundet bin«, sagte er endlich und ließ die Kippe auf den Boden fallen, trat sie aus und hob sie wieder auf. »Und in der Hoffnung, dass Sie Ellen und Jon nicht mit einem vergleichbaren Besuch quälen, werde ich Ihnen etwas sagen, das unter uns bleiben muss.«

Er ließ die Kippe in eine leere Coladose fallen.

»Diese Elin Foss«, sagte er und stand auf, um das Fleisch ein weiteres Mal umzudrehen.

Es war angebrannt, und er versuchte, es vom Grillrost zu lösen. Er griff zu einer Sprühflasche mit Wasser und dämpfte die Flammen, die das herabtropfende Öl auflodern ließ.

»Haben Sie eine Ahnung, wie viele besorgte Meldungen die im Laufe eines Jahres einreicht?«

Inger Johanne war es unangenehm warm, und sie versuchte, mit dem Stuhl noch weiter in den Schatten zu rücken, aber er war zu schwer.

»Natürlich nicht.«

»Aber ich kann es Ihnen sagen. Zwischen zehn und fünfzehn. Jedes Jahr. In all den sechs Jahren, in denen sie jetzt an unserer Schule angestellt ist. Bei einigen geht es um dieselben Kinder, aber insgesamt sind es wohl vierzig bis fünfzig Familien, die Elin Foss angeschwärzt hat.«

Inger Johanne hatte keinen Hunger mehr. Sie musste sauer aufstoßen und fing an zu husten.

»Gewalt gegen Kinder ist ein ernst zu nehmendes Problem«, sagte Ragnar Reiten und riss ein großes Stück Alufolie von einer Rolle. »Zahlenmäßig ebenso wie von der Sache her. Aber diese Vorwürfe sind doch an den Haaren herbeigezogen. Elin Foss ist eine ungelernte Unruhestifterin, aber sie liebt Kinder. Sie hat viele gute Seiten. So lange sie ihre irrsinnigen Misshandlungstheorien nicht mit den Kindern diskutiert, drücken wir deshalb ein Auge zu, wenn jeden Monat oder noch häufiger eine Meldung auf meinem Schreibtisch landet.«

Er wickelte die Alufolie mit einer Geschicklichkeit um das Entrecote, die zeigte, dass er das nicht zum ersten Mal machte, und legte es auf den Anrichtetisch.

»So«, sagte er. »Und Sie wollen bestimmt nicht zum Essen bleiben?«

Inger Johanne erhob sich.

»Bestimmt nicht. Sehen Sie sich die Meldungen denn überhaupt an?«

»Ja. Natürlich. Jede einzige verdammte Meldung wird überprüft und von mir und meinem Stellvertreter diskutiert. Bekanntlich findet ja auch ein blindes Huhn manchmal ein Korn, und ich würde niemals wagen, diese Mitteilungen einfach wegzuwerfen. Zweimal, was aber jetzt schon länger her ist, hatten wir auch Grund, der Sache nachzugehen. Beide Male erwies die Besorgnis sich als restlos unbegründet.«

Er legte die Hand an die Stirn und hielt Ausschau nach Kari.

»Kari! Kari, wo steckst du?«

Ein schwarz gelockter Kopf tauchte hinter dem Steg auf.

»Jetzt hab ich genug Muscheln, Papa!«

»Schön. Dann leg dich auf dem Steg auf den Bauch, damit du nicht ins Wasser fällst.«

Die Möwen schrien über der pittoresken Szene am Wasser. Hundert Meter weiter draußen tuckerte ein kleines Holzboot vorbei. Kari kletterte auf den Steg, setzte sich in den Schneidersitz und fing an, mit einem großen Stein Muscheln aufzuschlagen.

»Elin Foss ist fast eine Parodie auf eine Altlinke«, sagte Ragnar Reiten mit nachsichtigem Lächeln. »So eine, die diesen Unsinn nie ganz aufgegeben hat. Die deutlichste Parallele zwischen allen Kindern, um die sie sich Sorgen gemacht hat, war, dass ihre Väter alle reich und erfolgreich sind und meistens in der Wirtschaft arbeiten. Sie ist eben gegen alles, was nach ›Patriarchat und Kapitalismus‹ riecht.«

Er schaute sie halb mitleidig an.

Inger Johanne wandte sich ab.

»Tut mir leid. Das war ja wohl ein Schuss in den
Ofen.«

»Nicht unbedingt.«

Es hörte sich an, als ob er lächelte. Sie starrte noch immer auf das Meer hinaus.

»Wenn das nun dazu führt, dass Sie die Angelegenheit auf sich beruhen lassen, haben wir Ellen und Jon einen großen Gefallen getan. Sie leiden beide sehr.«

»Das weiß ich. Ich möchte Sie noch einmal bitten, die Störung zu entschuldigen. Und jetzt muss ich zurück nach Oslo.«

Ragnar Reiten hob die Hand zu einem schlaffen Gruß. Er interessierte sich schon mehr für den Kartoffelsalat und öffnete ein Glas Kapern.

»Fahren Sie vorsichtig«, rief er, als sie um die Ecke bog und einen letzten Blick auf das Mädchen unten am Wasser warf.

Kari war aufgestanden und hob triumphierend einen Arm zu ihr hin. An ihrer Hand hing eine Schnur, die fast so lang war wie sie selbst. Unten klammerte sich ein Krebs mit einer Schere an eine zerschlagene Muschel.

»Schau mal! Der ist riesengroß!«

Inger Johanne hob den Daumen und versuchte zu lächeln, ehe sie zum Auto ging und dabei in Gedanken ihr übliches Stoßgebet zum Himmel sandte: »Mach, dass der verdammte Wagen anspringt!«