2
»Inger Johanne, du musst aufstehen.«
Die Stimme kam ihr fern und gedämpft vor. Inger Johanne kämpfte sich aus einem so tiefen Schlaf, dass sie in den ersten Sekunden nicht begriff, wo sie war. Im Zimmer war es dunkel und kühl, und erst als sie den Geruch ihrer eigenen Bettwäsche wahrnahm, erwachte sie.
»Wie spät ist es denn?«, fragte sie gähnend und setzte sich im Bett auf.
»Halb sechs«, antwortete die Mutter aus der Türöffnung. »Wenn du noch länger schläfst, stellst du Tag und Nacht auf den Kopf.«
»Halb sechs? Halb sechs am Abend?«
Sie warf die Decke beiseite. Als sie merkte, dass sie nackt war, wickelte sie sich rasch wieder hinein, aber die Mutter war schon gegangen. Ein widerlicher Kopfschmerz presste hinter ihren Augen, als sich die Ereignisse des Vortages wieder in ihr Bewusstsein schlichen.
»Halb sechs«, wiederholte Inger Johanne leise. »Großer Gott ...«
Sie hatte mehr als neun Stunden geschlafen. Den ganzen Tag. Wenn die Mutter sie nicht geweckt hätte, wäre sie mindestens noch drei Stunden liegen geblieben, merkte sie ihrem schweren, widerwilligen Körper an, als sie sich wieder ins Bett sinken ließ. Sie war in letzter Zeit wirklich erschöpft gewesen. Müde und langsam. Vielleicht brütete sie irgendetwas aus.
Yngvar. Er musste nach Hause gekommen sein.
Die Kinder. Sie mussten angerufen haben.
Jetzt mussten sie doch angerufen haben.
»Yngvar«, rief sie laut, als sie zum zweiten Mal versuchte aufzustehen.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie duschen sollte, dann aber fiel ihr ein, dass sie vor dem Schlafengehen lange gebadet hatte. Also nahm sie saubere Unterwäsche aus einer halb offenen Schublade, zog eine Jeans an, die auf dem Boden lag, und schnappte sich dann einen angeschmuddelten Pullover oben aus dem Wäschekorb. Ihr ging auf, dass sie wieder mit dem Training anfangen müsste. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie zugenommen, merkte sie. Die Hose war zu eng, und der BH spannte.
»Yngvar?«
»Der ist nicht hier«, rief die Mutter aus der Küche. »Aber er hat angerufen. Er hat dich nicht erreicht und es auf dem Festanschluss probiert. Bei ihm ist alles in Ordnung.«
Natürlich ist bei ihm alles in Ordnung, dachte Inger Johanne gereizt. Sie machte sich keine Sorgen um Yngvar. Sie wollte, dass er sich um sie Sorgen machte, nach allen Mitteilungen, die sie auf seiner Mailbox hinterlassen hatte.
Aus dem Wohnzimmer roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee, und Inger Johanne fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, ehe sie barfuß hineinstapfte und die Tasse nahm, die die Mutter ihr hinhielt.
»Danke. Großer Gott, hab ich lange geschlafen.«
Reflexartig wappnete sie sich für die Zurechtweisung, die jetzt kommen würde. Ihre Mutter konnte nicht einmal die mildesten Formen von Flüchen ertragen.
»Das hat dir sicher gutgetan«, sagte die Mutter jedoch nur. »Milch? Ich hab sie warm gemacht.«
Inger Johanne schloss die Hände um die glühend heiße Tasse und ging zum Fenster.
»Nein, danke. Ich glaube, ich brauche jetzt schwarzen. Gibt’s was Neues?«
Sie nickte kurz zum Fernseher hinüber, der
lautlos
lief.
»Jede Menge«, sagte die Mutter kurz. »Viel zu viel. Du kannst dir um sieben die Zusammenfassung in den Nachrichten ansehen.«
»Hast du denn geschlafen?«
»Ein bisschen.«
»Aber Mama, du musst ...«
»In meinem Alter braucht man fast keinen Schlaf mehr. Ich war mit Jack unterwegs, sogar ziemlich lange. Er ist noch steifbeiniger als ich, aber wir haben das gut geschafft. Ich hatte außerdem etwas zu erledigen.«
»Du warst draußen? Ich habe rein gar nichts gehört, Mama, ich muss wohl ...«
»Hier«, sagte die Mutter und reichte ihr ein Mobiltelefon.
»Wem gehört das?«
»Dir. Das alte ist ja zerbrochen.«
Die Mutter schwenkte den neuen Android.
»Nimm es schon! Der reizende junge Mann im Storsenter hat gesagt, du müsstest eigentlich selbst unterschreiben, aber diese grauenhafte Tragödie hat die Leute offenbar verändert. Also ging es auch so. Er hat die Dingskarte aus deinem alten Telefon umgesteckt und alles bereit gemacht.«
»SIM-Karte«, sagte Inger Johanne. »Danke. Tausend Dank, Mama.«
Als sie nach dem neuen Smartphone greifen wollte, überkam sie eine entsetzliche Übelkeit. Der Schwindel ließ sie taumeln, und die Mutter konnte das Telefon gerade noch an sich reißen, ehe die noch fast volle Kaffeetasse zu Boden fiel. Inger Johanne griff sich an den Mund und stürzte ins Badezimmer.
»Ich bringe Eiswürfel und einen Lappen«, hörte sie die Mutter sagen.
»Nein«, stöhnte Inger Johanne, als ein plötzlicher Gedanke sie zwang, sich heftig zu übergeben. »Nein!«
Es ging daneben. Das Erbrochene floss über den Toilettensitz und lief nach unten auf die Fliesen, dünnflüssig und stinkend, und sie erbrach sich ein weiteres Mal. Dann war nichts mehr in ihrem Magen. Mit der einen Hand stützte sie sich an der Wand ab und erhob sich vorsichtig, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
»Das kann einfach nicht sein«, flüsterte sie und legte die eine Hand behutsam um ihre rechte Brust.
Inger Johanne war dreiundvierzig Jahre alt und fühlte sich auch nicht jünger. Im Gegenteil: Sie staunte oft über Yngvar, der, weit über fünfzig, eine spielerische, pragmatische Herangehensweise an das Leben hatte, wenn es sich sperrig zeigte. Er war immer so viel jünger gewesen als sie. Flexibler. Inger Johanne brauchte es so, wollte es so, und jetzt, wo die Kinder heranwuchsen, wurde es immer leichter, über den Unfug zwischen ihm und den Mädchen zu lächeln, obwohl sie niemals richtig daran teilnahm. Für sie bedeuteten die Kinder Angst und Sorge und eine Liebe, so groß, dass sie ab und zu drohte, sie selbst und die anderen zu ersticken.
Es konnte einfach nicht stimmen.
»Da musste ja eine Reaktion kommen«, sagte die Mutter tröstend und schob ihr einen Eiswürfel zwischen die Lippen. »Nach so einem grauenhaften Tag. Lutsch am Eis und putz dir dann die Zähne. Das fühlt sich frisch und gut an. Bist du fertig? Dann kann ich hier sauber machen, wenn du nur ...«
»Nein, Mama, das mach ich selbst.«
Ihre alte Mutter hätte sie beiseitegeschoben und sich das Recht, das Badezimmer zu putzen, erzwungen. Die neue Mutter, diese Frau, die Inger Johanne noch immer nicht richtig kennengelernt hatte, trat einen Schritt zurück, strich sich kurz über die Haare und sagte ruhig: »Ich habe für dich und deine Schwester schlimmere Dinge weggewischt. Und auch für die Enkelkinder. Aber ich will mich natürlich nicht aufdrängen. Das Angebot besteht, falls du es dir anders überlegst.«
Dann dieses Lächeln, dieses fremde, anspruchslose Lächeln, ehe sie vorsichtig die Tür zuzog und ins Wohnzimmer zurückging, noch immer ein Glas mit klirrenden Eiswürfeln in der Hand.
»Mama«, flüsterte Inger Johanne unhörbar. »Komm zurück.«
Als es halb neun Uhr abends geworden war und das nagelneue Telefon schrillte, erkannte keine von ihnen das Klingelzeichen. Sogar Jack hob den Kopf von seinem festen Platz unter dem Couchtisch und spitzte neugierig die Ohren. Erst nach vier Klingeltönen begriff Inger Johanne, dass jemand versuchte, sie zu erreichen. Der Mann im Telefonladen hatte ihre Telefonliste nicht in das neue Android überführt, und sie erkannte die Nummer nicht.
»Hallo«, sagte sie vorsichtig.
»Du musst kommen«, weinte eine Frauenstimme.
»Hallo«, sagte Inger Johanne noch einmal. »Mit wem spreche ich?«
»Ich bin’s«, schrie die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ellen! Du musst kommen, Inger Johanne. Die haben Jon verhaftet. Die waren hier und haben Jon verhaftet!«
Inger Johanne nahm das Telefon in die andere Hand.
»Du musst dich beruhigen«, sagte sie. »Ich verstehe rein gar nichts, wenn du nicht aufhörst zu schreien.«
Ein Schluchzen, dem ein heftiger Husten folgte, ging in gedämpftes Weinen über.
»Sie haben Jon festgenommen«, brachte Ellen mühsam heraus. »Ein Polizist war vor einigen Stunden hier und hat ihn festgenommen. Er ist bestimmt im Gefängnis, Inger Johanne. Jon, der doch nie ...«
»Er ist ganz bestimmt nicht im Gefängnis. Warum sollte ...«
»Sie glauben, dass er Sander umgebracht hat!«
»Natürlich glauben sie nicht, dass er ...«
»Doch! Der Polizist von gestern, dieser dünne hässliche Polizist von gestern, der war hier und hat einfach ...«
Der Rest ging in Schluchzern unter.
»Hör mal zu«, sagte Inger Johanne und hob die Hand zu einer beruhigenden Geste, als ob Ellen sie sehen könnte. »Jetzt beruhig dich erst mal. Ich komme gleich. Hörst du? In einer Viertelstunde bin ich da. Ist das in Ordnung?«
Noch immer war am anderen Ende der Leitung nur Weinen zu hören.
»Ist das in Ordnung, Ellen?«
Ihr Ton war jetzt schärfer.
»Ja. Schön. Danke.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Was in aller Welt war das denn?«, fragte die Mutter, die noch immer den Fernseher anstarrte, wo dieselben absurden Bilder eines Massenmörders immer wieder gezeigt wurden.
»Ellen. Sie war ziemlich hysterisch.«
»Kein Wunder. Ihren Jungen unter solchen Umständen zu verlieren, und das noch mitten in alldem ...«
Die Mutter hob die Hand in Richtung Fernseher.
»Da wäre doch jeder völlig aufgelöst.«
»Sie behauptet, Jon sei verhaftet worden.«
Endlich riss sich die Mutter vom Fernseher los und drehte sich zu Inger Johanne um.
»Verhaftet?«, fragte sie mit einem trockenen kleinen Lachen. »Das kann doch nicht sein! Erstens hat die Polizei schon genug zu tun und wird ihre Zeit nicht mit einem offenkundigen Unglücksfall verschwenden. Du hast doch selbst gesagt, dass dieser Sander ziemlich wild war. So ein ADFH-Junge, hast du gesagt.«
»ADHS«, sagte Inger Johanne.
»Außerdem kann der Obduktionsbericht unmöglich schon vorliegen. Nicht unter normalen Umständen und jetzt erst recht nicht.«
Wieder winkte sie mit der Hand in Richtung Fernseher.
»Wow«, murmelte Inger Johanne. »Was weißt du denn über Obduktionen?«
»Ich sehe auch fern, meine Liebe. Und zwar Krimiserien, etwas anderes gibt es ja nachts, wenn ich nicht schlafen kann, so gut wie nie.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, fast als ob sie für ein ungeheuerliches Geständnis um Verzeihung bitten wollte.
Inger Johanne musterte wortlos ihr Gesicht. Ihre Mutter war in kurzer Zeit deutlich gealtert. Obwohl sie weiterhin immer gepflegt war, gab sie sich nicht mehr solche Mühe, jederzeit als die tadellose Hausfrau zu erscheinen, die sie ihr ganzes erwachsenes Leben hindurch gewesen war. Sie schminkte sich nicht mehr so stark und eher ein wenig achtlos. Ihre Haare, die, so lange Inger Johanne sich erinnern konnte, jeden Freitag von Frau Gundersen im Blåsbortvei gewaschen und gelegt worden waren und für die folgende Woche den Kopf umschlossen hatten wie ein wohlgeformter Helm, waren in sich zusammengefallen und konnten die wunde, hellrote Kopfhaut nicht mehr verbergen. Sie hatte ihr Leben lang alle Kräfte in ihr Aussehen, ihren Mann und die Kinder investiert, und zwar in dieser Reihenfolge, bis dann die Enkelkinder gekommen waren und ihr Leben einen neuen Sinn gefunden hatte.
Aber ihre Mutter war zu alt, um noch einmal Großmutter zu werden, dachte Inger Johanne.
Ich bin zu alt für eine weitere Runde, versuchte sie, nicht zu denken.
Vielleicht irrte sie sich ja auch. Es gab andere körperliche Veränderungen, die vielleicht ein wenig zu früh kamen. Und Übelkeit, wehe Brüste und Unruhe konnten auch ganz andere Ursachen haben. Vielleicht steckte ja ein Virus dahinter.
»Kann ich dein Auto leihen?«, fragte sie. »Ich glaube, ich sollte mal bei Ellen vorbeischauen. Yngvar hat den Volvo genommen, und der alte Golf verreckt bei jeder zweiten Straßenecke.«
»Natürlich«, sagte die Mutter überrascht. »Soll ich hierbleiben?«
»Ja«, sagte Inger Johanne, ohne nachzudenken.
Sie zögerte einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Jedenfalls bis morgen. Bis ich mehr von Yngvar gehört habe. Wenn dir das recht ist?«
»Ja. Ich habe mir heute Vormittag meine Toilettensachen und Wäsche zum Wechseln geholt, sicherheitshalber. Aber nur, wenn du das wirklich willst.«
Wieder starrte die Mutter den Bildschirm an.
»Meine Schlüssel hängen am Haken neben der Wohnungstür«, sagte sie mit schwachem Zittern in der Stimme. »Ich fange an, Sachen zu verlegen. Schlüssel und so was. Das Beste ist, alles ist an seinem Platz, das habe ich jetzt begriffen.«
Als hätte ihre Mutter nicht immer nach dem Motto »Alles an seinem Platz« gelebt, dachte Inger Johanne und ging zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie stehen. Wegen des vagen Drucks in den Brüsten steckte sie durch den Pullover den Daumen in den BH und zog vorsichtig daran. Dabei nahm sie ihren eigenen Körpergeruch wahr, der Pullover war doch nicht so sauber, wie sie geglaubt hatte. Sie zog ihn aus, während sie zum Schlafzimmer ging, um sich einen anderen zu suchen. Jack erhob sich und kam hinter ihr her, während sein Schwanz hin und her fegte, ehe er eine schmutzige Socke vom Boden aufhob. Er hatte immer etwas im Maul, wenn sie Gassi gingen, ein Zeichen dafür, dass in seinem überaus gemischten Stammbaum auch ein Retriever vorkommen musste.
»Hierbleiben«, sagte Inger Johanne streng und zog ihm die Socke aus dem Maul. »Und nichts anfassen.«
Dasselbe hatte sie am Vorabend zu Ellen, Jon und Joachim gesagt.
Sie schlüpfte in einen flaschengrünen Pullover und erstarrte abermals. Es war wirklich etwas angerührt worden, ganz wie sie es sich gestern gedacht hatte. Entfernt, hinzugefügt oder bewegt: eine Veränderung, aber nicht groß, im Wohnzimmer, in der Diele, im Bad oder in der Küche. Nur wollte ihr nicht einfallen, was es war.
Vermutlich spielte es auch überhaupt keine Rolle, tröstete sie sich.
In einem kleinen Büro im Grønlandsleiret 44 saß Jon Mohr und starrte die Wand an. Sein schmales Gesicht wirkte geschwollen, seine Augen waren gerötet, und darunter hing schlaff die Haut. Immer wieder befeuchtete er sich die Lippen. Seine rechte Hand spielte mit einem Splitter an der Armlehne.
»Ich verstehe ja, dass das schwierig für Sie ist«, sagte der junge Polizist mit der etwas zu großen Uniform und dem einen Stern auf der Schulterklappe. »Aber bei dem Zustand, in dem Ihre Frau sich befindet, hielt ich es für besser, die Zeugenbefragung hier auf der Wache vorzunehmen. Ich glaube nicht, dass wir weit kommen würden, wenn sie dabei wäre. Und wie Sie sicher verstehen, müssen wir klarstellen, was geschehen ist.«
Jon Mohr gab keine Antwort. Noch immer starrte er einen Punkt an der Wand an, gleich oben links über dem jungen Polizisten.
»Na gut. Mal sehen. Ich bin also Henrik Holme ...«
Die Finger liefen über die Tastatur des Rechners, der auf einem Beistelltisch stand.
Er wusste nicht so ganz, was er erwartet hatte. Er hatte doch noch nie jemanden vernommen, der gerade jemanden verloren hatte. Streng genommen hatte er überhaupt noch nicht viele Vernehmungen durchgeführt. Fünf vielleicht, und bei allen war es um Geschwindigkeitsüberschreitung gegangen.
Ihm war heiß.
Und er war ziemlich unsicher, wenn er es sich genau überlegte, was er allerdings zu vermeiden versuchte.
Es war schon schlimm genug gewesen, als er am Vorabend plötzlich ganz allein nach Grefsen geschickt worden war, wegen eines verdammten Unfalls. Er hatte in der Schule natürlich einiges über Trauerreaktionen gehört, aber Ellen Mohrs Hysterie übertraf doch alles, was er sich hätte vorstellen können. Sie war sicher vorher auch schon ziemlich verrückt, hatte Henrik Holme gedacht, sie schäumte und kreischte und klammerte sich an den verletzten Körper des Kindes. Den Vater heute zu vernehmen, in aller Ruhe und weit weg von ihr, war ihm zuerst als gute Idee erschienen.
In der Schule hatte er gelernt, dass alle Außenstehenden unsicher wurden, wenn sie nur die Schwelle der Polizei überschritten. Für ihn war dies ein Heimspiel, auf dem Gelände der Polizei, und eigentlich hätte er die Oberhand haben müssen. Aber es kam ihm nicht so vor, vermutlich, weil er noch nie einen Fuß in dieses geliehene Büro gesetzt hatte, und nun saß er hier und sollte als professioneller Polizist auftreten.
Aber er musste ja auch gar nicht die Oberhand haben. Trotz allem war das hier nur ein bedauernswerter Vater, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß, mitgenommen und verheult. Henrik Holme würde diese Sache so ordentlich und schonend wie möglich hinter sich bringen, demnächst dann den Obduktionsbericht beilegen und am Ende irgendeinen Juristen dazu bringen, den Fall als das abzuschließen, was er war: kein strafbarer Sachverhalt.
Henrik Holme wollte sich nicht mit einem Familienunfall befassen.
Er wollte bei der Katastrophe dabei sein.
»Na gut«, sagte er noch einmal und versuchte, Jons Blick einzufangen. »Zuerst die Personalien, und dann gehen wir Schritt für Schritt vor. Jon Mohr, ist das Ihr vollständiger Name?«
Der Mann im Besuchersessel nickte knapp. Leise teilte er Geburtsdatum und Adresse mit.
»Beruf?«, fragte Henrik Holme.
Jon Mohr ließ endlich die Armlehnen los und legte beide Hände in den Schoß.
»Geschäftsführer und Teilhaber bei der Mohr und Westberg AG.«
»Und das ist?«
»Ein Kommunikationshaus.«
»Also ein PR-Büro.«
»Nein. Ein Kommunikationshaus. Wir helfen Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen beim strategischen Umgang mit jeder Art Kommunikation. Vor allem im Umgang mit Behörden. Aber auch mit Medien, ja.«
Es klang mechanisch, als ob er einen auswendig gelernten Spruch herunterleierte.
»Sieh an«, sagte Henrik Holme und ließ die Hände neben der Tastatur ruhen. »Mit anderen Worten, ein PR-Büro.«
»Nein.«
»Und der Verstorbene heißt ... der vollständige Name des Jungen ist Sander Sebastian Krogh Mohr, ist das korrekt?«
»Wir nennen ihn nur Sander, Sander Mohr.«
»Geboren am 17. Mai 2003, stimmt das?«
»Ja.«
Henrik Holme deutete ein Lächeln an.
»Geburtstag am Nationalfeiertag. Wie langweilig.«
Jon Mohr starrte noch immer die Wand hinter dem Polizisten an. Seine Augen wurden wieder feucht, und er ließ keinen Laut hören.
»Also«, sagte Henrik Holme und räusperte sich. »Dann wäre es schön, wenn Sie erzählen könnten, was geschehen ist. Mit Ihren eigenen Worten.«
Er hob auffordernd die Augenbrauen.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte Jon Mohr kaum hörbar.
»Wo Sie anfangen sollen?«
Der Polizist biss sich auf die Unterlippe und errötete. Jon Mohr sah ihm endlich ins Gesicht. Der Polizist schluckte.
»Sie haben das noch nie gemacht«, sagte Jon Mohr.
»Was gemacht?«
»Das hier«, sagte Jon. »Eine Zeugenvernehmung durchgeführt.«
»Natürlich hab ich das schon gemacht«, sagte Henrik Holme, während sich die Röte von seinen Wangen über den Hals ausbreitete. »Schon sehr oft.«
»Mag sein. Aber nie bei einem Todesfall.«
»Das stimmt zwar, aber ...«
»Sander hatte ADHS«, sagte Jon laut. »Vor allem hyperaktiv und impulsiv.«
»Aha.«
Die Finger des Polizisten eilten über die Tastatur.
»Er war außerdem ein sehr großer, kräftiger Junge, wie Sie gesehen haben. Stark, mit großem Aktionsradius. Es war eine dauernde Herausforderung. Er ist nicht immer ... Sander hat nicht immer gut auf sich aufgepasst. Das mussten wir übernehmen. Die ganze Zeit. Aufpassen. Aufpassen.«
Seine Worte wurden zu einem Flüstern.
»Aha.«
Ein gleichmäßiges Brummen von einem Fernseher oder vielleicht einem Radio war aus dem Nachbarzimmer zu hören, laut genug, um zu stören, zu leise, als dass man etwas hätte verstehen können. Henrik Holme überlegte, ob er hinübergehen und die Kollegen bitten sollte, was immer sie sich da anhörten, leiser zu stellen.
»Sander musste Medikamente nehmen«, sagte Jon Mohr laut, ehe der Polizist sich entschieden hatte. »Ritalin. Das hat ein wenig geholfen. Aber ab und zu hat er sich gedrückt. Wollte es nicht nehmen. Hat uns reingelegt. Hat die Tabletten unter der Zunge versteckt und dann ausgespuckt. Wir fanden diese kleinen Pillen immer an Stellen, wo ...«
Er holte keuchend Atem und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Ich verstehe nicht ... ich kann es einfach nicht fassen. Die Medikamente haben ihm doch geholfen. Er wurde ruhiger. Konzentrierter irgendwie. Das hat das Leben für ihn und uns leichter gemacht. Vor allem für ... vor allem für Ellen.«
»Ich verstehe. Sie musste also die Last auf sich nehmen, meistens, meine ich?«
»Die Last?«
Zum ersten Mal bei dieser Vernehmung zeigte Jon Mohr Anzeichen von Irritation. Die Furchen über seiner Nasenwurzel wurden deutlicher, und er beugte sich ein wenig vor.
»Man spricht nicht von einer ›Last‹, wenn es um das eigene Kind geht! Aber Sander war unruhig, von seiner Geburt an, und da wir nicht auf Ellens Einkommen angewiesen sind, hielten wir es beide für die beste Lösung, dass sie nicht arbeitet ...«
»Dass sie nicht arbeitet?«, fiel Holme ihm ins Wort. »Für mich klingt das aber nach ganz schön viel Arbeit, mit Sander und dem großen Haus ...«
»So war das doch nicht gemeint«, unterbrach ihn Jon Mohr.
Sein Gesicht verdüsterte sich.
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich seit gestern Morgen um halb sechs nicht eine Sekunde geschlafen habe. Ich habe gerade mein einziges Kind durch einen entsetzlichen Unfall verloren, meine Frau ist völlig zusammengebrochen ...«
Er beugte sich auf dem Stuhl so weit vor, dass Henrik Holme seinen ein Stückchen zurückschob, obwohl der große Schreibtisch sie trennte.
»Ich glaube, kein Mensch auf der Welt kann sich das vorstellen«, fauchte Jon Mohr, und eine feine Speichelwolke verteilte sich über der Tischplatte. »Niemand kann sich vorstellen, wie es ist, das eigene Kind zu verlieren, auf so sinnlose, entsetzliche, grausame ...«
Er fand keine Worte. Langsam ließ er sich zurücksinken und umfasste mit beiden Händen so fest sein Gesicht, dass die Fingerknöchel weiß wurden.
»Tragischerweise gibt es gerade sehr viele, die sich das vorstellen können«, sagte Henrik Holme leise und starrte auf seinen Bildschirm. »Der Unterschied ist nur, dass bei den anderen der Täter bekannt ist.«
Jon Mohr ließ sein Gesicht los und starrte Holme an, ungläubig, an der Grenze zum Abscheu. Sein Mund bebte, und die Augen in dem verweinten Gesicht wurden schmal.
Henrik Holme schüttelte leicht den Kopf und hob beide Handflächen zu einer versöhnlichen Geste.
»Beruhigen Sie sich«, sagte er.
»Täter?«, fauchte Jon Mohr. »Was zum Teufel meinen Sie mit Täter? Sander ist von einer Leiter gefallen! Einer Trittleiter in unserem eigenen Wohnzimmer. Niemand sonst war da, als es passiert ist. Was zum Teufel unterstellen Sie mir hier eigentlich?«
»Nichts«, sagte Holme, so ruhig er konnte. Jetzt schwitzte er kräftig. Er räusperte sich und holte tief Luft.
»Ich gehe davon aus, dass Ihnen klar ist, dass der Tod Ihres Sohnes als verdächtiger Todesfall eingestuft werden muss. Das bedeutet nicht ...« Wieder hob er die Hände, diesmal, um nicht unterbrochen zu werden.
Jon Mohr saß sprungbereit da, und sein Gesicht war dunkelrot und feucht.
»Das bedeutet nicht, dass wir Sie in irgendeinem Verdacht haben«, sagte Holme. »Bis auf Weiteres. Wir müssen Klarheit in die Umstände bringen. Wir werden alle vernehmen, die dafür infrage kommen, wir werden einen Obduktionsbericht anfordern, und die Technikerin wird sich das, was sie heute Nacht gefunden hat, noch genauer ansehen. Wir werden einfach alle Tatsachen auswerten, die uns zugänglich sind. Am Ende, wenn das alles geschehen ist, ziehen wir unsere Schlussfolgerungen. In Ordnung?«
Jetzt war er schon zufriedener mit sich.
Der Mann im Besuchersessel wirkte ein wenig ruhiger.
Er, der sechsundzwanzig Jahre alte Anfänger Henrik Holme, hatte es geschafft, einen verzweifelten Mann mittleren Alters zu beruhigen, kurz bevor der Kerl ihm die Augen ausgekratzt hätte.
Es lief doch ganz gut.
Seit er nur wenige Wochen zuvor die Polizeihochschule verlassen und das Glück gehabt hatte, einen Sommerjob in Oslo zu bekommen, hatte er seine Zeit vor allem mit Verkehrsdelikten vergeudet. Und auch wenn dieser Fall nicht gerade einen Meisterdetektiv verdiente, war er doch interessanter als die Aufgaben, die Holme bisher übertragen worden waren. Außerdem würde die Sache schnell erledigt sein. Holme lächelte Jon Mohr aufmunternd an, denn legte er beide Hände auf die Tischplatte und fügte hinzu: »Und falls wir nicht zu dem Schluss kommen, dass der Junge zu Tode misshandelt worden ist, wird das Krankenhaus Ihnen den Leichnam übergeben, und Sie können die Beerdigung abhalten. Es wird sicher nicht lange dauern.«
Er konnte sich gerade noch eingestehen, dass er sich nicht sehr taktvoll ausgedrückt hatte, da gab es einen Knall. Jon Mohr war so schnell aufgesprungen, dass der Stuhl umkippte und hinter ihm gegen die Wand flog. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung hatte er den Schreibtisch umrundet, den Stuhl des Polizisten mit der linken Hand gepackt und die rechte Faust zum Schlag erhoben.
»Mein Junge ist tot«, schrie er. »Er ist tot, verstehen Sie? Durch einen Unfall! Einen grauenhaften, unnötigen Unfall! Wenn Sie glauben, dass ein Grünschnabel wie Sie hier so einfach unterstellen darf, dass meine Frau oder ich ...«
Die Faust schoss vor und hielt wundersamerweise zwei Zentimeter vor Henrik Holmes Kinn an.
»Begreifen Sie denn gar nicht?«, flüsterte Jon Mohr mit heiserer Stimme. »Wissen Sie denn gar nichts über Trauer und Verlust und Schmerz?«
Henrik Holme spürte den Atem des anderen an seinem eigenen Mund, harsch und bitter und mit einer Andeutung von Pfefferminz. Das riss ihn aus seinem Schock über den unerwarteten Angriff und ließ ihn seinen Stuhl zurückschieben. Blitzschnell sprang er auf und hob die Hände zu einer halb beschützenden, halb drohenden Boxhaltung.
»Setzen Sie sich!«, sagte er, so energisch er konnte.
Seine Stimme zitterte, aber der andere wirkte zu erregt, um das zu merken. Am liebsten hätte Henrik Holme um Hilfe gerufen. Überall waren Leute, es würde nur Sekunden dauern, bis jemand da wäre.
Aber es wäre ein bisschen peinlich.
Das hier war sein allererster echter Fall.
»Setzen Sie sich«, sagte er, noch einmal, diesmal lauter.
»Nein, verdammt«, sagte Jon Mohr mit zusammengebissenen Zähnen. »Mit Ihnen rede ich kein verdammtes Wort mehr.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke drehte er sich dann halb um.
»Und wenn Sie vorhaben, mich wegen Gewalt gegen einen Beamten im Dienst anzuzeigen, dann können Sie das gleich vergessen. Ich habe Sie ja nicht mal berührt. Das nenne ich ...«
Er schluckte hart und hob einen langen schmalen Zeigefinger.
»... das nenne ich Selbstbeherrschung«, fügte er heiser hinzu und ging.
Er ließ die Tür sperrangelweit offen, und Henrik Holme hörte nur das Geräusch seiner eigenen hämmernden Herzschläge.
Erst nach mehreren Sekunden wagte er, die Arme sinken zu lassen.
Als Ellen K. Mohr nur Ellen Krogh geheißen hatte, war sie die gewesen, die alle wollten.
Sie war umgeben von Sternenstaub.
Ob man Ellen Krogh nahestand oder nicht, machte den alles entscheidenden Unterschied. Als Mädchen war sie keine typische Grundschulkönigin gewesen. Sie spielte die anderen nicht gegeneinander aus. Statt deren Unsicherheit auszunutzen, machte sie alle selbstsicher. Ellen Krogh herrschte nicht und schikanierte nicht, sie entschied einfach, weil ihre Umgebung das so wollte. Das zierliche hübsche Mädchen regierte ungewöhnlich lange. Als sie dann älter waren, bedeutete zu Ellen Kroghs Clique zu gehören, dass die eigenen Chancen auf dem Markt der Geschlechter stiegen. Jungen, später Männer, fühlten sich mit einer solchen Kraft zu Ellen Krogh hingezogen, dass sie sich glücklich mit einer Hofdame begnügten, wenn die Königin selbst sie nicht wollte.
Eine gute Schülerin war sie noch dazu.
Gleich nach dem Abitur begann sie Zahnmedizin zu studieren, brachte das Studium in der vorgeschriebenen Zeit hinter sich und übernahm nur drei Jahre nach dem Examen die Praxis einer Großtante. Mit achtundzwanzig Jahren besaß sie ein blühendes Unternehmen mit sechs Angestellten und verdiente mehr als eine Million Kronen im Jahr.
Das war jetzt fünfzehn Jahre her, und Inger Johanne hätte gern gewusst, wann Ellen eigentlich vom Thron gestürzt war.
Vielleicht war die Veränderung mit dem Namenswechsel einhergegangen.
Dass am Ende Jon Mohr bei Ellen Krogh Erfolg haben sollte, hätte zu Schulzeiten niemand geglaubt. Jon war schlaksig und groß, er war ein schlechter Fußballspieler und meist mit seinesgleichen zusammen. Die, die etwas bedeuteten, bemerkten ihn eigentlich erst, als er mit siebzehn Jahren mit dem geistreichen Essay »Rubbish and b***shit – the limitation of oral communication« einen internationalen Schreibwettbewerb gewann.
Dieser Sieg brachte ihm fünfzigtausend Kronen ein, er wurde von Aftenposten interviewt und war damit in der Schule nachdrücklich aus der Anonymität herausgetreten. Aber das spielte keine Rolle, der Junge fühlte sich noch immer am wohlsten in dem kleinen Kreis von Gleichgesinnten, die gut in der Schule waren, Computer bauten, Pickel ausdrückten und Jens Bjørneboe lasen.
Überraschenderweise studierte er dann Jura. Irgendetwas passierte mit ihm, sowie er einen Fuß in die Universität setzte. Er war nicht mehr in der erbarmungslosen Teenagerhierarchie der letzten Schuljahre gefangen. Jon Mohr konnte ein neues Leben beginnen und ergriff diese Gelegenheit mit beiden Händen. Das Jurastudium war perfekt für ihn. Er war ein heller Kopf, gerade konservativ genug, und schon im zweiten Semester wurde er ins Studentenparlament gewählt. Er fiel den Professoren auf. Im zweiten Jahr schrieb er einen langen Essay, dem er den Titel gab: »Vierzehn Ratschläge an Studierende, die nach oben wollen, ohne sich große Mühe zu geben – oder wie man die Tatsache verbirgt, dass man rein gar nichts weiß«. Er verteilte das Heft gratis an alle, die es haben wollten. Alle wollten es, und die meisten schütteten sich aus vor Lachen. Jon Mohr war zu einem kleinen König in seinem Studienfach geworden und hatte jetzt sogar Erfolg bei den Frauen.
Aber ein fertiger Jurist wurde er dann doch nicht.
Schon im dritten Studienjahr wurde ihm ein fett bezahlter Posten in Norwegens größtem PR-Büro angeboten, und das in einer Zeit, als der Pfeil für diese Branche so steil und weit nach oben zeigte, dass kein Ende abzusehen war. Mit vier Jahren Erfahrung nahm er dann den besten Kollegen und den Löwenanteil der lukrativen Kundenkontakte der Firma mit und machte sich selbstständig.
Und traf Ellen.
Er traf sie wieder, wie er immer sagte. Seit der Grundschule war er in sie verliebt gewesen, er wie so viele andere. Der Unterschied war, dass sie ihn jetzt auch sah.
Ungefähr um diese Zeit muss sich alles verändert haben, dachte Inger Johanne, als sie den Polo ihrer Mutter vor der Doppelgarage im Glads vei abstellte. Jedenfalls muss es der Anfang des seltsamen Prozesses gewesen sein, in dem Jon aufblühte und Ellen langsam, anfangs fast unmerklich, zu einer anderen wurde.
Die Haustür war nur angelehnt.
»Hallo?«
Inger Johanne schaute in die Diele.
»Komm rein«, sagte Ellen, die aus dem ersten Stock heruntergelaufen kam.
Sie trug einen roten Pullover und Jeans, ihre bloßen Füße steckten in schwarzen Crocs. Inger Johanne wurde verlegen, als sie das leicht geschminkte Gesicht mit dem frisch aufgetragenen Lippenstift sah. Sie selbst hatte sich dieses ganze Ritual geschenkt, in der Gewissheit, dass sie einen verweinten Menschen besuchen würde, der vermutlich im Trainingsanzug herumlief.
»Ich habe noch nichts von Jon gehört!«, sagte Ellen atemlos. »Ich habe versucht, Gabriel Grossmann anzurufen, aber ich habe ihn noch nicht erreicht.«
»Moment«, sagte Inger Johanne. »Welchen Gabriel Grossmann?«
»Den Anwalt. Jons Anwalt!«
Ellen machte keinerlei Anstalten, sie willkommen zu heißen.
»Er ist wohl eher ein Wirtschaftsanwalt«, sagte Inger Johanne. »Außerdem haben sie Jon sicher nur zur Vernehmung geholt. Wenn die Polizei erst ...«
»Dieser Polizist ist doch hergekommen! Hätte er nicht einfach anrufen können? Man macht doch am Samstagabend keine Vernehmungen, oder? Nicht, wenn man nicht glaubt, dass etwas wirklich Schwerwiegendes ...«
Schon bekam die Fassade Risse. Ellen fing an zu weinen und verbarg für einen Moment das Gesicht hinter ihrem Unterarm, ehe sie plötzlich drei Schritte vortrat und sich Inger Johanne an die Brust warf.
»Mord«, schluchzte sie nach einigen Sekunden. »Sie glauben, dass Jon Sander umgebracht hat.«
»Natürlich glauben sie das nicht«, sagte Inger Johanne und streichelte den schmalen Rücken ihrer Freundin.
Sie duftete frisch geduscht, und ihr Rückgrat fühlte sich unter dem weichen Pullover an wie eine Holzperlenkette.
»Er wollte sicher nur ...«
»Dieser verdammte Polizist hat es doch gesagt!«
Ellen ließ sie so plötzlich los, wie sie ihr um den Hals gefallen war. Sie trat schwankend zwei Schritte zurück. Ihre Wimperntusche war verschmiert, und ihr Lippenstift hatte auf Inger Johannes Pullover Spuren hinterlassen.
»Er hat es gesagt, als Jon wissen wollte, warum die Vernehmung schon jetzt sein müsse«, weinte sie. »Er hat gesagt ...«
Sie holte tief Luft und hob die Schultern in dem krampfhaften Versuch, sich zusammenzureißen.
»... er hat gesagt, in solchen Fällen können wir das doch nie wissen. Wenn ein Kind stirbt, müssen wir natürlich feststellen, ob Misshandlungen vorliegen.«
Ihre Augen wurden noch größer.
»Hör mal zu«, sagte Inger Johanne und seufzte vernehmbar. »Dieser Polizist ist noch schrecklich unerfahren. Das hast du doch gestern Abend gesehen.«
»Ich hab gestern Abend überhaupt nichts gesehen«, schrie Ellen, sank langsam in die Hocke und verschränkte die Hände im Nacken. »Ich habe nur gesehen, dass Sander tot war. Mein Junge ist tot, Inger Johanne. Er ist von einer Trittleiter gefallen, und ich ...«
Das Weinen ging in ein lang gedehntes Geheul über. Inger Johanne merkte, dass sie eine Gänsehaut bekam, und sie hatte wirklich keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Ellen erschien ihr so gut wie unzurechnungsfähig, und es wäre vermutlich sinnlos, ihrer Hysterie mit Vernunft zu begegnen.
»Aber ich habe mitbekommen, was geschehen ist«, sagte sie dennoch gelassen. »Und das Auffälligste an diesem Polizisten war, dass er das erst seit sehr kurzer Zeit ist. Glaub mir. Er hat die Schule besucht und allerlei gelernt. Sie lernen eben, dass sie beim Tod eines Kindes Untersuchungen anstellen müssen, im Hinblick auf ...«
Das Gejammer war nicht auszuhalten.
Inger Johanne ließ sich auf ein Knie nieder. Sie legte Ellen vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
Als Ellen Mohr noch Ellen Krogh gewesen war, hatte ihr Körper Kurven gehabt. Mit den Jahren war sie dünn geworden und am Ende mager. Drei Fehlgeburten hatten ihr fast alle Kraft genommen, bis sie dann mithilfe einer Spezialklinik ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte. Sander wog 4850 Gramm, als er per Kaiserschnitt auf die Welt kam, und der Rest von Ellens einst üppigem Körper schien mit ihm verschwunden zu sein. Ellen trainierte viermal die Woche, das ganze Jahr hindurch, und sah inzwischen aus wie eine Marathonläuferin. Sehnig, stark und klapperdürr. Inger Johanne spürte ihr Schlüsselbein wie einen Stock unter ihrer Hand.
»Das ist nur Routine«, sagte sie leise und versuchte, Blickkontakt zu Ellen aufzunehmen. »Können wir nicht ins Wohnzimmer gehen und über alles reden?«
Das Geheul verstummte. Ellen richtete sich langsam und unsicher auf. Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Haut unter den Augen, aber das half nichts, die Schminke zeichnete schwarze Falten auf die hohen Wangenknochen.
Wortlos ging sie die Treppe hoch. Inger Johanne folgte ihr.
Im Wohnzimmer war aufgeräumt worden. Alle Spuren vom Vortag, als für das Fest gedeckt gewesen war, waren verschwunden. Der Esstisch war leer, abgesehen von einer gefüllten Obstschüssel aus buntem Glas. Durch die Türen einer Vitrine neben den nach Südwesten gerichteten Fenstern konnte Inger Johanne sehen, dass alle Gläser ordentlich zurückgestellt worden waren, in Reih und Glied von oben bis ins unterste Fach. Die kleinen Gestecke vom Vortag waren verschwunden. Die größeren Sträuße in den identischen Vasen waren mit Gartenrosen aufgefrischt worden und standen zu beiden Seiten des Kamins.
»Jon hat heute Nacht aufgeräumt«, sagte Ellen, als ob sie sofort bemerkt hätte, wie sehr Inger Johanne darüber staunte, dass nach den Ereignissen des Vortages jemand an solche Dinge gedacht hatte. »Wir konnten beide nicht schlafen. Ich bin nur ruhelos hin und her gelaufen, aber du kennst ja Jon.«
Eigentlich nicht, dachte Inger Johanne zu ihrer eigenen Überraschung.
»Er ist so organisiert«, sagte Ellen jetzt. »Er muss immer jede Sekunde jedes einzelnen Tages ausnutzen. Das Essen von gestern hat er eingefroren. Jon ist so ...«
Sie ließ sich in einen der beiden Sessel sinken, die vor den Fenstern standen.
»Wir haben das mit dem Terroranschlag gar nicht so richtig mitbekommen. Aber heute Morgen war dann Jons Mutter hier und hat uns alles erzählt.«
»Ist vielleicht auch besser so«, meinte Inger Johanne und setzte sich in den anderen Sessel. »Es war wirklich ein grauenhaftes Wochenende. Hast du überhaupt geschlafen?«
»Ein bisschen. Heute Vormittag. Helga, Jons Mutter, hatte Schlafmittel dabei. Sie ist so ... praktisch, diese Helga. Genau wie Jon.«
Ellen nahm das Mobiltelefon, das zwischen ihnen auf einem kleinen Beistelltisch lag. Es waren offenbar keine Nachrichten eingegangen, denn sie schüttelte den Kopf und knallte es wütend wieder auf den Tisch.
»Wenn Jon nur endlich nach Hause kommen könnte«, jammerte sie und griff sich an den Kopf. »Ich kann diese Unsicherheit einfach nicht ertragen!«
Inger Johanne versuchte, sich in dem riesigen Sessel bequemer hinzusetzen.
»Kannst du mir nicht erzählen, was überhaupt passiert ist, während wir darauf warten, dass wir von ihm hören?«, fragte sie. »Wenn du das über dich bringst, meine ich.«
»Kannst du mir versprechen, dass sie Jon nicht einsperren?«
»Versprechen?«
»Ja! Du bist doch selbst fast Polizistin, Inger Johanne. Du hast Yngvar oft bei schwierigen Fällen geholfen. Das hat sogar in der Zeitung gestanden. Du musst mir versprechen zu beweisen, dass er nichts verbrochen hat! Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, zuerst Sander zu verlieren und dann ...«
»Ich bin wirklich alles andere als eine Polizistin«, fiel Inger Johanne ihr ins Wort, in der Hoffnung, einen neuen hysterischen Anfall zu verhindern. »Ich bin Forscherin, Ellen. Das weißt du genau. Ich kann überhaupt nichts versprechen. Aber wenn du mir sagst, was eigentlich passiert ist, kann ich jedenfalls ...«
Sie wusste nicht, was sie möglicherweise könnte. Vermutlich gar nichts. Das Wichtigste war es aber jetzt, Ellen zu beruhigen. Bald würde Jon nach Hause kommen, und Inger Johanne könnte sich wieder ihren eigenen Sorgen widmen.
»Hier war niemand«, sagte Ellen langsam.
Ihre Stimme vibrierte ein wenig, und sie kam nicht weiter.
»Hier im Wohnzimmer, meinst du, oder im Haus?«
»Jon war unten, um sich von seiner Mutter zu verabschieden.«
»Helga? Sie war gestern auch schon hier?«
»Ja. Sie ist so lieb. Wenn sie mich nicht so oft entlastet hätte, weiß ich nicht, was geworden wäre. Sie kann so gut mit Sander umgehen. Ein Fest vorzubereiten, während er in der Nähe ist, ist eine Belastung, es ist ...«
Sie schlug die Hände vor die Augen.
Als ob sie sich schämte, dachte Inger Johanne überrascht.
»Ich habe Helga gesagt, dass du kommst, damit sie gehen konnte.«
»Wo warst du?«
»In der Küche. Glaube ich.«
»Glaubst du?«
»Ich meine ...«
Plötzlich faltete sie die Hände im Schoß und drehte in wildem Tempo Däumchen.
»Ich weiß ja nicht, ob ich in der Küche war, als er gestürzt ist. Aber ich kam aus der Küche, als ich ihn gefunden habe. Joachim war auch gerade gegangen, er sollte ...«
»Joachim? War der auch hier? So früh schon, meine ich?«
»Nein. Da stimmt meine Erinnerung nicht. Doch ... nein! Er war viel früher hier, fast noch am Morgen, er wollte später zurückkommen und mit Jon und Sander ins Kino gehen. Danach wollten sie irgendwo etwas essen und zu Hause bei Joachim am Computer spielen. Er kann so gut mit Sander umgehen, Joachim, meine ich.«
Offenbar konnten sehr viele gut mit Sander umgehen, dachte Inger Johanne.
»Ich habe Jon unten in der Diele gehört, als Helga gegangen ist«, sagte Ellen.
Sie fing an, an einem langen, gepflegten Fingernagel zu knabbern.
Obwohl auch dieser Sommerabend grau war und der Himmel die ganze Zeit mit Regen drohte, war die Aussicht vor ihnen ein Erlebnis. Inger Johanne bildete sich ein, dass man an einem klaren Tag bis Dänemark sehen konnte, aber sie hatte sich immer über die Aufteilung des Hauses gewundert. Das riesige Wohnzimmer mit dem Essbereich und dahinter ein Fernsehzimmer lagen im ersten Stock. Die Küche befand sich im Erdgeschoss, im Schlafzimmergeschoss, neben der Diele. Zwar war auch die Küche groß und hatte einen Tisch für die normalen Mahlzeiten, aber sie war für Inger Johannes Geschmack doch viel zu weit vom Esszimmer entfernt.
Natürlich war es wegen der Aussicht, erkannte sie jetzt zum ersten Mal, als sie hier vor der zwölf Meter breiten Glasfläche saß.
»Ihr wart also ziemlich viele hier, in der Zeit kurz vor ... vor Sanders Tod?«
»Ja. Nein, eigentlich weiß ich es ja nicht ... Doch. Also, ich war in der Küche, Jon war in der Diele und ging dann in sein Arbeitszimmer, glaube ich, während Helga schon weg war, als ich mit den Servietten nach oben kam, der letzte Schliff sozusagen, bevor ...«
Sie verstummte und seufzte kaum hörbar. Ihre Augen waren trocken, als ob in ihr keine Körperflüssigkeit mehr übrig wäre. Sie legte die rechte Hand in einer sanften, tröstenden Bewegung an ihre Wange. Der Zeigefingernagel war fast ganz abgenagt.
Als Inger Johanne mit Anfang zwanzig in den USA gewesen war, hatte sie den Kontakt zu Ellen fast verloren. Die Freundin wusste nichts über die katastrophalen Geschehnisse, die Inger Johanne dann nach Hause getrieben hatten. Erst viele Jahre später hatte Inger Johanne gewagt, Yngvar davon zu erzählen. Ihm und niemandem sonst. Aber Ellen hatte immerhin versucht, zu ihr durchzudringen.
Ellen, die damals noch Krogh geheißen und einen fast hundert Personen großen Freundeskreis angeführt hatte. Ellen holte sie aus ihrer winzigen Wohnung in Majorstua heraus, und das manchmal so energisch, dass Inger Johanne ärgerlich wurde und sich weigerte. Aber Ellen gab nicht nach. Durch Ellen war Inger Johanne dann endlich wieder in ihrem Heimatland angekommen. Durch sie hatte sie Isak kennengelernt, den sorglosen Vater von Kristiane, einen Mann mit so sonnigem Gemüt, dass die Ehe einfach zum Scheitern verurteilt war.
Ellen war immer so gut zu ihr gewesen, ging Inger Johanne jetzt auf, bis das Leben ihr die dritte Fehlgeburt zugemutet hatte und Ellen es kaum noch schaffte, gut zu sich selbst zu sein.
Inger Johanne schaute verstohlen auf die Uhr.
»Du hast ihn also gefunden?«, fragte sie und zog, so diskret sie konnte, den Pulloverärmel darüber.
»Ja. Ich kam da hoch ...«
Mit einem ziemlich unnötigen Seitenblick auf die Treppe.
»... und habe ihn sofort gesehen. Er hat sich nicht bewegt.«
»Und die Trittleiter?«
»Die hatte er selbst geholt. Die steht sonst in einem Abstellraum hinter der Küche.«
Wieder zeigte sie in die Richtung. Diesmal mit einem kleinen Nicken, als ob Inger Johanne noch nie im Haus gewesen wäre.
»Ich vermute, er wollte die Decke bemalen. Wir waren vor drei Wochen in Rom im Petersdom, und er hat sich fast das Genick gebrochen, weil er die ganze Zeit zu den Deckengemälden hochgestarrt hat.«
Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, das erste, das Inger Johanne seit ihrem Eintreffen hier sah.
»Du solltest mal sein Zimmer sehen. Vier Autos mit Auspuffwolken. An der Decke. Über dem Bett. Er zeichnet so gern. Es ist das Einzige, wobei er sich wirklich eine Weile konzentrieren kann.«
Inger Johanne erwiderte das Lächeln.
Dann schwiegen sie so lange, dass Inger Johanne schon dachte, Ellen sei vielleicht eingeschlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete langsam und regelmäßig.
»Ellen?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich schlafe nicht.«
»Gut.«
»Er war tot. Das habe ich sofort gesehen.«
»Woran denn?«
»So was weiß man einfach.«
Eigentlich nicht, dachte Inger Johanne.
»Wirklich?«, fragte sie nach.
»So, wie er da lag. Er atmete nicht. War so still. So grauenhaft still.«
»Ich bin froh, dass du nicht allein warst«, sagte Inger Johanne.
»Was?«, fragte Ellen und riss die Augen auf.
»Dass Jon hier war. Ich gehe davon aus, dass du ... geschrien hast? Dass er dich gehört hat?«
»Ja. Doch. Er war fast sofort hier. Glaube ich. Ich bin nicht ganz sicher. War er nicht in seinem Arbeitszimmer?«
»Das hast du gesagt.«
»Ja.«
Ellen fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, so fest, dass ihre Augen für einen Moment schräg standen.
»Ich weiß das alles nicht mehr so genau!«, sagte sie, und ihre Stimme klang fast wieder schrill. »Helga war gerade gegangen, und ich kam mit den Servietten nach oben und sah Sander tot neben ... neben der verdammten Trittleiter liegen. Jon hat mich festgehalten. Er hat versucht, mich festzuhalten, und ich ...«
»Er war also hier.«
»Wer?«
»Jon«, sagte Inger Johanne.
»Ja, er kam nach mir rauf, ich hab doch gesagt ...«
Sie sprang auf und stellte sich vor Inger Johanne hin. Das Zimmer lag im Halbdunkel, und die Sommernacht senkte sich hinter den Fenstern herab. Das Licht einer Terrassenlampe gab Ellen einen Glorienschein, unter dem ihr Gesicht im Dunkeln lag.
»Du darfst nicht glauben, dass Jon es war! Ich war zuerst hier oben. Ich ... ich schwöre, Inger Johanne, ich kam mit den Servietten rauf, und Jon muss mich schreien gehört haben, denn er kam angelaufen und hat mich festgehalten und auch mit aufgepasst und ...«
»Ganz ruhig. Es ist normal, dass man sich nach einem solchen Trauma nicht an alle Details erinnern kann. So funktioniert das Gehirn eben, es ...«
»Du darfst nicht zulassen, dass sie Jon einsperren«, sagte Ellen, und jetzt war ihre Stimme vom Schmerz so verzerrt, dass Inger Johanne eine Gänsehaut bekam. »Dann hab ich nichts mehr. Nichts, Inger Johanne. Kein Kind, keine Arbeit, keinen Mann, kein Geld. Nichts.«
»Du musst wirklich versuchen, dich zu beruhigen«, sagte Inger Johanne und erhob sich langsam. »Vielleicht solltest du dich hinlegen. Hast du noch welche von den Schlaftabletten?«
Ellen nickte kaum merklich.
»Er war es nicht«, murmelte sie. »Die Polizei glaubt, dass Jon es war, aber ...«
Eine Tür knallte. Die Haustür, nach dem dumpfen schweren Geräusch zu urteilen.
»Jon«, brach es aus Ellen hervor wie ein Schrei.
Rasche Schritte auf der Treppe.
»Warum ist es hier so dunkel?«, fragte Joachim.
Enttäuscht sank Ellen in sich zusammen.
Neue Schritte. Diesmal schwerer.
»Jon«, flüsterte Ellen.
»Jetzt mach doch mal Licht hier«, sagte Jon verärgert. »Du sitzt ja im Dunkeln da.«
Inger Johanne räusperte sich und beugte sich im Sessel vor.
»Ach, du bist das«, sagte Jon tonlos. »Ich hab schon überlegt, wem das Auto vor der Garagentür wohl gehört.«
Er ging durch das Zimmer und griff nach einer weißen Fernbedienung. Licht strahlte von der Decke wie von einem Scheinwerfer, aber sofort dämpfte er es zu einem gelben Abendlicht und schaltete dann hier und dort eine Tischlampe ein.
»Joachim und ich müssen arbeiten«, sagte er kurz.
»Arbeiten? Aber ...«
Ellen setzte sich gerade und drehte sich zu ihrem Mann um. Sie fuhr sich nervös über die Oberschenkel, wieder und wieder.
»Wie war es? Bei der Polizei?«
»Nicht gerade gut. Die haben diesen Trottel wohl von Manpower gemietet.«
»Aber du bist ...«
»Der hatte bestimmt in seinem ganzen Leben noch keine Vernehmung geleitet.«
Inger Johanne war jetzt aufgestanden. Es war Viertel vor zehn, und Ellen war nicht mehr allein. Jedenfalls nicht physisch. Dennoch sah sie immer elender aus, wie sie so dasaß, offenbar kurz vor dem nächsten Zusammenbruch.
»Warum musst du jetzt arbeiten?«, fragte sie, und ihre Stimme war kaum zu hören. »Ich hatte solche Angst, und ich dachte, wir könnten ...«
»Das sind komplizierte Sachen, die bis Montag geklärt sein müssen«, fiel Jon ihr ins Wort. »Die Geschäfte hören nicht auf, nur weil ...«
Inger Johanne ging jetzt auf die Treppe zu. Um die beiden Männer nicht ansehen zu müssen, nahm sie ihre Brille und putzte sie mit dem Pulloverbund. Sie hätte Ellen umarmen müssen, aber die Stimmung war so düster, dass sie nur noch wegwollte.
»Danke«, hörte sie Jon sagen, und sie drehte sich doch noch um, als sie die Treppe erreichte und die Brille wieder aufgesetzt hatte.
»Wofür?«, rutschte es ihr heraus.
Jon war auf dem Weg zu Ellen. Mitten im Zimmer blieb er stehen.
»Danke, dass du zu Ellen gekommen bist. Ich gehe davon aus, dass sie dich angerufen hat, weil ich so lange weg war.«
»Ja.«
»Ich musste auf dem Weg von der Wache noch im Büro vorbei. Danke.«
Er wirkte jetzt zehn Jahre älter. Dennoch hatte er lange nicht mehr so sehr wie der Junge aus ihrer Schulzeit ausgesehen. Sein Rücken war krumm, und seine Schultern gingen in zwei viel zu lange Arme über, die schlaff herabhingen. Obwohl es eher kühl war, malte der Schweiß große Ringe unter seine Achseln.
»Wir müssen mal loslegen«, sagte Joachim. »Ich schaff es nicht, bis tief in die Nacht zu arbeiten.«
Der junge Kollege wirkte genauso frisch und gepflegt wie am Vorabend. Seine Jeans war dieselbe, meinte Inger Johanne, aber jetzt trug er ein kreideweißes, frisch gebügeltes Baumwollhemd. Das Einzige, was das Bild des perfekt aussehenden jungen Mannes störte, war, dass er zu den braunen Mokassins weiße Socken trug. Er lehnte wie am Vortag am Kaminsims und spielte mit einem großen Schlüsselbund.
Dass Jon jetzt unbedingt arbeiten musste, einen Tag nach dem Tod seines einzigen Kindes, am späten Samstagabend mitten in der Ferienzeit, war nicht zu begreifen. Auch nicht, dass er sich dazu in der Lage sah. Andererseits waren Trauerreaktionen oft unvorhersagbar. Inger Johanne schaute noch einmal zu Ellen hinüber. Sie saß zum Fenster und der dunkelgrauen Aussicht gewandt, hatte die Hände auf die Armlehnen gelegt und die Augen geschlossen.
»Klar«, sagte Inger Johanne. »Bis dann.«
Wenn irgendetwas ist, ruft einfach an, hätte sie hinzufügen müssen.
Das sagte sie nicht.
Der Todesfall hatte nicht nur die Menschen gezeichnet, die hier wohnten. Das Haus selbst hatte einen anderen Charakter angenommen. Sogar die frischen Blumen wirkten tot, allzu farbenfroh und glänzend, als wären sie aus billigem Kunststoff. Dass nirgends Spielzeug lag, war vielleicht nicht so verwunderlich, am Vortag waren ja immerhin Gäste erwartet worden. Dennoch schien das Haus bereits alle Spuren von Sander ausgelöscht zu haben. Das Fehlen von Familienbildern an den Wänden, sogar in der Küche und auf dem Gang, hatte Jon einmal damit erklärt, dass ihr Junge im täglichen Leben mehr Aufmerksamkeit als genug verlangte. Er hatte gelacht, und andere hatten mit ihm gelacht, aber Inger Johanne hatte das schon damals seltsam gefunden.
Jetzt tat das Fehlen von greifbaren Erinnerungen an Sander weh. Es kam ihr unanständig vor.
Sie winkte Ellen kurz zu und ging leise die Treppe hinunter. Die Diele war untypisch für Norwegen: ein rechteckiger Raum von etwa dreißig Quadratmetern. Die sechs Türen aus Eiche sahen alle gleich aus, bis auf die zu Sanders Zimmer. Als Inger Johanne am Vorabend die Familie Mohr verlassen hatte, stand der Name des Jungen in großen bunten Buchstaben darauf. Die waren jetzt verschwunden. Das Holz der Tür war dort, wo es acht Jahre lang vor Licht geschützt gewesen war, etwas blasser. Sanders Name war noch zu lesen, aber nur mit Mühe.
Inger Johanne blieb stehen. Aus dem ersten Stock hörte sie einen leisen Wortwechsel zwischen Joachim und Jon. Ellen sagte nichts. Vielleicht war sie nun doch eingeschlafen, sie musste vollkommen erschöpft sein.
Einem Impuls folgend, ging Inger Johanne zu Sanders Tür. Der dicke Eichenboden knarrte kein bisschen, ganz anders als das Parkett aus dem Baumarkt, das Yngvar im vergangenen Jahr verlegt hatte und das es unmöglich machte, sich irgendwohin zu schleichen.
Sie merkte, wie ihr Puls ein wenig schneller ging, als sie vorsichtig die Hand auf die Klinke legte. Auch die war gut geölt, und sie konnte die Tür lautlos öffnen. Ein schwacher Geruch, wie nach Wandfarbe, streifte ihre Nase.
Eine Nachttischlampe brannte und tunkte das Zimmer in ein warmes goldenes Licht.
Inger Johanne ließ die Klinke los, als ob sie plötzlich Strom führte.
An der einen Wand standen drei mal drei Kisten gestapelt. Laken, Bett- und Kissenbezug waren entfernt worden. Die Decke lag ordentlich zusammengefaltet am Fußende des Bettes, das aussah wie ein knallroter Formel-1-Wagen. Der große Schreibtisch unter dem Fenster war leer, bis auf einen großen, mit braunem Klebeband versiegelten Plastikkasten. Jemand hatte mit rotem Filzstift auf das Klebeband geschrieben: »Heilsarmee.«
Eine Schranktür stand einen Spalt offen. Auch der Schrank war leer.
Inger Johanne presste die Hand auf die Brust. Sie schaute zur Decke hoch. Die war weiß und frisch gestrichen, aber nur einmal. Unter dem Weiß waren noch die Konturen von vier großen gemalten Autos zu sehen, alle mit wütenden Schwänzen aus grauen Auspuffgasen.
Nach dem nächsten Streichen würden sie ganz verschwunden sein.
»Psst«, flüsterte Inger Johannes Mutter und legte den Finger an ihren Schmollmund.
Sie trug Morgenrock und Pantoffeln, obwohl es erst Viertel nach zehn war. Ihr Gesicht war blank von einer fetten Nachtcreme, und um die Schultern trug sie ein altes Katzenfell, auf dessen Wirkung sie mit unerschütterlichem Glauben schwor.
»Yngvar schläft!«
Eine tiefe Sehnsucht ließ Inger Johanne laut nach Luft schnappen, dann lehnte sie sich in dem engen Treppenhaus zu ihrer Wohnung im ersten Stock des Zweiparteienhauses in Tåsen an die Wand. Ihre Mutter hatte wohl das Auto gehört und war ihr entgegengekommen.
»Er ist total erschöpft«, berichtete die Mutter halb flüsternd. »Ich konnte ihn nur mit Mühe zum Essen bringen. Ich wollte ja nur hierbleiben, bis er gekommen wäre, aber ich hatte mich schon zurechtgemacht, und da dachte ich ...«
Ihr Blick war ängstlich und fragend.
»Natürlich bleibst du bis morgen«, sagte Inger Johanne. »Was hat er denn die ganze Zeit gemacht?«
»Das wollte er nicht sagen. Er hat fast nichts gesagt. Er wirkte völlig ... völlig fertig, sagt ihr das nicht so? Aber ...«
Ihre Mutter streckte eine Hand nach ihrer Wange aus, zog sie aber rasch zurück, als Inger Johanne mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung auswich.
»Was ist denn los mit dir, Liebes? Du bist so ...«
»Es war einfach ein anstrengender Tag. Ich bin auch reichlich fertig, muss ich zugeben. Auch wenn ich fast den ganzen Tag geschlafen habe.«
Inger Johanne drückte sich an der Mutter vorbei und stieg die Treppe hoch. Sie blieb für einen Moment vor einem der zahllosen Familienbilder stehen, die vom Fuß der Treppe bis nach oben die ganze Wand bedeckten. Kristiane lächelte sie zahnlos an, schmächtig und blond mit sieben Jahren, mit einer schon ziemlich abgenutzten Sulamit in den Armen.
»Dieses Bild ist so schön«, sagte sie leise, ihre Mutter war auf der engen Treppe hinter ihr stehen geblieben.
»Ja. Aber das da ist fast noch besser. Da hat sie solche Ähnlichkeit mit dir.«
Die Mutter zeigte auf ein Bild, das erst zwei Monate alt war. Kristiane saß auf der Kante einer Gartenbank und baumelte mit den Beinen. Der ernste Ausdruck des schmalen Gesichts ließ die großen wasserblauen Augen noch größer erscheinen, und ihre Haare bildeten im Wind einen Glorienschein um ihren Kopf. Sie war siebzehn Jahre alt, aber klein wie eine zierliche Dreizehnjährige.
»Wohl kaum. Das halbe Gewicht, schätze ich mal.«
Inger Johanne ging weiter nach oben.
Ihre Mutter kam hinterher.
»Wenn du mich nicht brauchst«, sagte sie leise, »dann gehe ich jetzt lieber schlafen.«
»Ich beziehe Kristianes Bett neu«, sagte Inger Johanne.
»Ich kann ja wohl eine Nacht im Bettzeug meiner eigenen Enkelin schlafen. Gute Nacht, mein Schatz. Ich hoffe wirklich, dass du schlafen kannst.«
Diesmal wich Inger Johanne nicht aus, als die Mutter federleicht über ihre Wange strich. Im Gegenteil, sie lächelte müde und legte ihre Hand auf die der Mutter.
»Schlaf du auch gut.«
Für ein oder zwei Sekunden ließen sie ihre Blicke ineinander ruhen. Kristiane hatte ihre Augen von der Großmutter geerbt, konnte Inger Johanne gerade noch denken. Die gleiche Form und Farbe, und jetzt, im vergangenen halben Jahr, die gleichen plötzlichen Momente der Resignation.
»Ich habe dir etwas zu essen hingestellt«, sagte die Mutter. »Wenn du nichts möchtest, stell es einfach zurück in den Kühlschrank.«
Obwohl sie sich alle Mühe gab, leise zu sein, ächzte der Boden unter ihr, als sie durch den Gang schlich. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu Kristianes Zimmer und sog für einen Moment den Geruch von Nachtcreme und Zahnpasta ein, der noch in der Luft hing.
Danach legte Inger Johanne das Ohr an ihre eigene Schlafzimmertür.
Ein schwaches, gleichmäßiges Schnarchen war zu hören, wenn sie den Atem anhielt. Der Wunsch, Yngvar zu wecken und mit ihm über alles zu sprechen, was passiert war, wurde für einen Moment so stark, dass ihre Hand sich der Klinke näherte. Dann riss sie sich zusammen, schlich ins Wohnzimmer mit der offenen Küche und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu.
Die Mutter hatte aufgeräumt. Jack lag unter dem Couchtisch und schlief, er bewegte kaum die Ohren, als Inger Johanne »Hallo« flüsterte. Alle Flächen waren leer und sauber, der Boden war offenbar staubgesaugt, und die Küche sah aus, als wäre sie zu einer Wohnungsbesichtigung hergerichtet worden. Inger Johanne konnte nicht begreifen, wie die Mutter das alles geschafft hatte. Sie war doch nur anderthalb Stunden weg gewesen. Das Einzige, was auf dem Tisch stand, war ein Teller mit zwei belegten Broten. Eins mit grober Leberwurst, warmen Champignons und einer kross gebratenen Scheibe Speck, das andere mit Schinken und Ananas über einem Salatblatt. Alles war ordentlich mit Frischhaltefolie überzogen, und neben dem Teller stand ein Glas Rotwein. Ebenfalls mit Folie geschützt.
»Mama«, flüsterte Inger Johanne und merkte plötzlich, wie hungrig sie war.
Das Essen schmeckte nach den Siebzigerjahren. Nach Kindheit und Samstag und Mamas Butterbroten. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so sehr über zwei Brote gefreut hatte, und aß mit Messer und Gabel, wie ihre Mutter das früher gewollt hätte.
Inger Johanne aß langsam und trank kleine Schlucke Wein dazwischen. Sie war noch immer ziemlich entsetzt über die Demontage von Sanders Existenz. Sie hatte gerade noch aus seinem Zimmer verschwinden können, als Joachim und Jon die Treppe heruntergekommen waren, und nur noch einen kurzen Abschiedsgruß gemurmelt, dann war sie zu ihrem Auto hinausgegangen.
Sulamit lag noch immer oben auf der Steintreppe.
Sie hatte die Versuchung verspürt, das Feuerwehrauto aufzuheben und mitzunehmen, wie in einer Art Verpflichtung, sich in aller Heimlichkeit darum zu kümmern. Aber sie hatte es nur tiefer unter die Rhododendronblätter geschoben.
Sie bohrte die Gabel in den allerletzten Brotrest.
In der nächsten Zeit würden in Norwegen so viele Kinderzimmer leer stehen, dachte sie und kaute langsam. Unberührt, erfüllt von einem verschwindenden Duft nach Kindern, die nicht mehr da waren. Mausoleen für ein Leben, das sich nie richtig entfalten durfte. Mütter und Väter würden ab und zu hineingehen, irgendeinen Gegenstand aufheben, einen Hauch von Nähe verspüren, eine Berührung von etwas, das noch hätte da sein müssen.
Sander lag in Plastikdosen und Pappkartons hinter einer schweren dunklen Eichentür, von der das Licht bald seinen Namen getilgt haben würde.
Yngvar hatte ihr erzählt, dass er die Kleider seiner verstorbenen Frau lange nicht weggeräumt hatte, nachdem sie und ihre gerade erwachsene Tochter anderthalb Jahre vor seiner ersten Begegnung mit Inger Johanne bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Er hatte monatelang ihren Baumwollpullover auf dem Kopfkissen liegen gehabt, bis ihr Geruch verflogen war und er den Pullover gewaschen und mit den anderen Kleidern in Kartons gepackt hatte, von denen er sich nicht trennen konnte. Selbst als er mit Inger Johanne zusammengezogen war, hatte er noch mehrere Kartons mit Elisabeths und Trines Sachen behalten.
»Die sind für Amund«, murmelte er, als er sie auf dem Dachboden verstaute. »Er war doch noch ein Baby, als seine Mutter gestorben ist. Er braucht etwas, um sich an sie zu erinnern. Und an seine Großmutter.«
Amund war inzwischen dreizehn und liebte seinen Großvater über alles, aber für Frauenkleider und Mädchenspielzeug aus den Achtzigerjahren interessierte er sich nur in Maßen. Die Kartons standen trotzdem noch da.
Inger Johanne schluckte das letzte Stück Brot hinunter und legte das Gesicht in die Hände.
Ellen konnte es nicht gewesen sein.
Ellen konnte Sander nicht weggeräumt haben. Sie war zu aufgelöst, zu niedergeschlagen. Sie konnte sich ja kaum auf den Beinen halten, konnte nicht einmal ein Gespräch führen. Das Systematische an der Beseitigung von Sanders Sachen kam ihr plötzlich geradezu bösartig vor, und Inger Johanne merkte, dass sie ihr Besteck krampfhaft umklammert hielt.
Jon konnte es auch nicht gewesen sein.
Jon hatte seinen Jungen geliebt. Da war sie sich sicher. Sie hatte die beiden so oft zusammen gesehen, und manchmal hatte es ihr einen Stich gegeben, dass Jon den Jungen immer wieder tadelte. Aber es geschah immer mit einem Lachen, nach dem der Vater dem Jungen durch die Haare fuhr. Einmal, als sie zu einem Familienfest dort gewesen waren, das war jetzt wohl zwei oder drei Jahre her, war Sander vom Trampolin gefallen. Die Grobmotorik des Jungen stand in keinem Verhältnis zu seiner Unternehmungslust, und als er einen Salto versuchte, wurde er gegen das Sicherheitsnetz geschleudert und fiel durch einen Riss auf den Boden. Jon hatte neben Inger Johanne gesessen, als es passierte. Sein Blick, die Angst, als er aufsprang und zu dem Jungen hinüberstürzte, sagte Inger Johanne mehr darüber, was Jon und Ellen durchmachten, als Ellens Klagen.
Beide Eltern liebten Sander.
Trotzdem räumten sie ihn weg.
Inger Johanne erstarrte. Sie hörte etwas, weit weg und doch sehr nah. Ihr Gehör hatte sich in siebzehn Jahren voller Angst und Sorge geschärft, und sie legte den Kopf schräg, um das Geräusch zu lokalisieren.
Jemand weinte.
Inger Johanne legte das Besteck weg und erhob sich, so leise sie konnte. Sie versuchte, nur auf die Bodenbretter zu treten, die ganz bestimmt nicht knackten, und bewegte sich in einem absurden langsamen Tanz auf das Schlafzimmer zu. Als sie mit offenem Mund und außer Atem vor der Tür stehen blieb, um zu horchen, wurde ihr eiskalt.
»Yngvar«, flüsterte sie am Ende und öffnete die Tür. »Ich bin’s.«
Sie zog die Tür hinter sich zu und ging die drei Schritte bis zur Bettkante.
»Was ist denn los?«, fragte sie leise und legte unter der Decke die Hand auf seinen Rücken. Er lag auf dem Bauch und hatte sich ein Kissen über den Kopf gezogen.
Sein Weinen war fremd und beängstigend. Inger Johanne legte sich ins Bett. Er drehte ihr den Rücken zu und vergrub sein Gesicht in den Händen, er schniefte und schluchzte leise, während sie sich in einer misslungenen Umarmung an ihn schmiegte. Er war riesig geworden. Breit und schwer krümmte er sich zusammen wie ein Kind und presste sich ein Kissen auf den Mund, bis er keine Luft mehr bekam und in einem halb erstickten Wimmern ausatmete.
»Was ist los?«, fragte sie wieder und wieder, bis sie endlich begriff, dass Yngvar es ihr nicht sagen konnte.
»Herrgott«, murmelte der ältere Mann und legte die linke Hand um seinen mageren Nacken.
Der grünen Krankenhauskleidung sah man an, dass er seit mehr als vierundzwanzig Stunden im Dienst war. Seine Brille saß ganz unten auf der schmalen krummen Nase und drohte hinunterzufallen, als er sich mit harten, groben Bewegungen massierte.
»Und das ist nur der Anfang. Haben wir genug Leute einbestellt?«
Die viel jüngere Frau, die Zivil trug und sich die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, seufzte laut.
»Alles, was noch kriechen kann«, sagte sie. »Obduzenten, Radiologen, Röntgenassistenten, Fingerabdruckexperten. Zahnärzte. Sie haben ihren Urlaub erstaunlich bereitwillig unterbrochen.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte der Mann schnaubend. »Im Moment gibt es hierzulande Tausende von Menschen, denen es erstaunlich viel schlechter geht. Wie spät ist es?«
Die Frau warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand hinter dem älteren Pathologen.
»Bald halb zwei«, sagte sie seufzend. »Ich habe die meisten nach Hause geschickt. Fünf Stunden Schlaf brauchen sie mindestens.«
Der Professor ließ endlich seinen Nacken los und bewegte den Kopf hin und her.
»Ich habe nie so sehr bedauert, dass ich nicht mit siebenundsechzig in Pension gegangen bin«, sagte er resigniert und lehnte sich an die weiße Wand, während er die Brille mit dem Zeigefinger ein wenig höher schob.
»Sie werden nie in Pension gehen«, sagte die Frau, ohne zu lächeln. »Sie werden uns alle quälen, bis Sie sterben.«
»Was jeden Moment passieren kann«, seufzte er. »So kommt es mir jedenfalls gerade vor. Was für eine durch und durch grauenhafte Geschichte!«
Dann wurde es still. Die Frau war gerade erst dreißig und hatte noch ein ganzes Leben vor sich, ehe sie das fachliche Niveau ihres Mentors erreicht haben würde, aber aus irgendeinem Grund hatte sie hier die Oberhand. Böse Zungen behaupteten, er sei in sie verliebt, aber seit sie ihn ein halbes Jahr zuvor mit seiner Tochter vor einem Kino gesehen hatte, wusste sie es besser. Die beiden gleichaltrigen Frauen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Außerdem gefiel es ihm wohl, dass sie nicht vor ihm kroch, anders als die meisten bei einer der größten Kapazitäten des gesamten Rikshospitals.
Jetzt schloss er die Augen und lehnte den Kopf an die Wand.
»Dieser Junge«, sagte die Frau nach einer Weile.
»Welcher Junge?«, fragte er, ohne seine Haltung zu ändern.
»Der gestern Abend gekommen ist. Er ist einfach liegen geblieben. Hat nichts mit den Anschlägen zu tun. Von einer Leiter gefallen, glaube ich.«
Er öffnete die Augen und starrte sie unter buschigen Brauen an.
»Ich habe eine CT gemacht«, fügte sie hinzu. »Schädelbruch. Intrazerebrale Blutung, mit Durchbruch in die Ventrikel. Dazu minimale Mittellinienverlagerung. Außerdem hatte er eine schwere Ellbogenfraktur.«
»Das alles nach einem Sturz?«
»Das weiß ich doch nicht, aber wenn er Pech gehabt hat und auf etwas Hartem gelandet ist ...«
Der Professor trat einen Schritt von der Wand vor und rollte abermals den Kopf hin und her.
»Der Junge hatte außerdem zwei Schneidezähne ausgebrochen«, sagte die Frau jetzt. »Der eine ...«
Sie räusperte sich und hielt dabei die Hand vor den Mund.
»Der lag noch drinnen. Im Mund, meine ich.«
»Machen Sie Blutproben«, befahl er. »Alles nach Vorschrift. Aber kurz und einfach. Füllen Sie den Totenschein aus, und wenn Sie nicht mehr finden als bisher, dann kreuzen Sie das Übliche für ›verdächtiger Todesfall‹ an und schicken Sie den ganzen Kram an die Polizei. Dann sollen die sehen, wie sie weitermachen.«
Ein düsteres Lächeln ließ seine Lippen schmaler werden.
»Heute haben wir nur die aus dem Regierungsviertel bekommen«, sagte er leise. »Morgen wird es schlimmer. Da ist Utøya dran. Ich will hundertprozentige Konzentration auf die ungeheure Aufgabe, vor der wir stehen. Schließen Sie den Jungen so schnell wie möglich ab.«
Der Schlaf entließ ihn ebenso brutal, wie er ihn wenige Stunden zuvor überwältigt hatte.
Es war erst sechs Uhr morgens am Sonntag, dem 24. Juli, als Jon Mohr die Augen aufschlug und merkte, dass sein Puls viel zu hoch war. Seine Ohren rauschten nach einem Traum, in dem er zusammengekrümmt in einem kleinen Raum gelegen hatte, der um ihn herum immer weiter schrumpfte. Turmhohe Metallwände waren auf ihn zugerückt, während er zu einem schwindenden Himmel hochblickte, den er nicht erreichen konnte. Als er keine Luft mehr bekam und sah, dass die Wände Stacheln hatten, erwachte er.
Er lag auf dem Rücken, die Arme an der Seite, die Beine leicht gespreizt, und grauenhafte Kopfschmerzen ließen ihn wimmern, als er sich abrupt aufsetzte. Ellen schlief tief. Sie hatte eine Schlaftablette genommen. Oder zwei, mutmaßte er, sie war so zusammengeschreckt, als er sie in dem unverschlossenen Badezimmer überrascht hatte. Jetzt lag sie friedlich auf der Seite, die Haare nach hinten gestrichen, dunkel und fettig, eingeschmiert mit einer Art Nachtbalsam, dem sie zu verdanken glaubte, dass sie mit dreiundvierzig Jahren ihre Haare als ihren größten Aktivposten verbuchen konnte. Neben dem schlanken Körper natürlich, dem durchtrainierten sehnigen Körper, auf den sie so stolz war, auch wenn die Brüste durch das Training ebenso verschwunden waren wie der einst so knackige Hintern.
Er stöhnte, als er die Füße auf den Boden stellte.
Barfuß und nackt schlurfte er aus dem Schlafzimmer. Im Bad leerte er seine Blase und musterte sich dabei in dem großen, in die Wand eingelassenen Spiegel. Er hatte kein Licht gemacht, und im Morgengrauen, das durch die mit Sandstrahl behandelten Fenster noch matter wirkte, sah er aus wie ein Wiedergänger. Trotz des vierzehntägigen Urlaubs in Italien vor erst zwei Wochen wirkte seine Haut bleich, fast bläulich. Sein Gesicht war verhärmt, die Augen blutunterlaufen, und er schnitt für sein eigenes Spiegelbild eine Grimasse.
Ohne nachzudenken, hob er die Faust. Er sah sie einen Moment an, im Spiegel, mit schrägem Blick, dann stieß er sie mit aller Kraft in die zwei Quadratmeter große Glasfläche. Der Spiegel zersprang fast geräuschlos. Die Scherben klebten fest an der Wand, aber dort, wo seine Hand aufgeschlagen war, breitete sich ein gezackter Stern aus. »Sander«, formte Jon lautlos mit den Lippen. »Sander.«
Von seiner Hand lief Blut herab.
Er griff nach dem Toilettenpapier und wickelte es um die Wunde. Es blutete so heftig, dass er fast die halbe Rolle verbrauchte, ehe er wagte, das Blut von Waschbecken und Boden zu wischen.
Das Schlimmste war eigentlich nicht seine schreckliche Angst.
Das Schlimmste war die Einsamkeit.
Nackt, bis auf das Klopapier um die rechte Hand, ging er hinaus auf den Gang, vorbei an den vielen Schränken mit der teuren Damenkleidung, in die Diele und dann, ohne zu zögern, in Sanders Zimmer.
Jemand hatte vergessen, die Nachttischlampe auszuschalten. Das goldene Licht ließ ihn die Tür hinter sich schließen. Dort in dem halb leeren Zimmer mit Sanders in Kartons und Dosen sortierten Sachen, während die blauen Vorhänge mit den Rennwagen sich vor dem einen Spaltbreit geöffneten Fenster bewegten, hatte er für einen Moment das Gefühl, alles könnte noch gut werden. Er hätte nur geträumt. Er könnte die Zeit zurückdrehen, einige Monate oder Jahre, einige Wochen, vielleicht nur einige Tage, und noch einmal von vorn anfangen.
Vorsichtig legte er sich auf das Bett und zog die nackte Decke über sich.
Das Blut war jetzt durch das Klopapier gesickert. Er riss das Papier ab und umschloss die Wunde mit dem Mund, bis der widerliche Eisengeschmack seine Zunge taub machte. Noch immer blutete die Hand, gleichmäßig und tropfend, und er gab auf. Verkroch sich unter der kalten Decke und schloss die Augen.
Er könnte Ellen wecken, dachte er, sie mit einer Tasse Kaffee vorsichtig aus dem Tablettenschlaf holen, er könnte sie wachlieben und ihr alles erzählen. Sie könnten das Geheimnis teilen, wie sie alle Geheimnisse teilten, immer. Zwischen ihnen gab es noch immer Liebe, jedenfalls Ablagerungen von alldem, was sie verbunden hatte, als er sie denen, die glaubten, sie eher zu verdienen, vor der Nase weggeschnappt hatte. Er verdiente sie noch immer. Er brauchte sie, und sie brauchte ihn. So war es einfach, und so war es immer gewesen.
Es ist zu spät, dachte er dann und richtete sich auf.
Er zog den Farbeimer unter dem Bett hervor. Der Pinsel stand in einem abgeschnittenen Milchkarton im Wasser, unten in einem der leeren Schränke. Mit den Fingern presste er die Flüssigkeit aus den Schweineborsten und tunkte den Pinsel in die weiße Farbe. Er hätte eine Rolle nehmen müssen, aber er hatte keine. Es war auch egal. Mit wütenden Pinselstrichen malte Jon Mohr die Decke an, mit der linken Hand, während er immer wieder Blut von der rechten leckte, und tilgte die letzten Spuren der Malereien seines Sohnes.
Es ist nie zu spät, dachte er, als alles weiß war und er selbst am ganzen Leib mit Farbe gefleckt. Es war nie zu spät, und Jon Mohr würde niemals aufgeben. Er war keiner, der aufgab. Er war der, der aufpasste.
Das war er immer gewesen.
Joachim Boyer hatte nicht geschlafen.
Als er um halb ein Uhr nachts von Jon und Ellen nach Hause gekommen war, war er zu erregt gewesen. Nach einer halben Stunde auf dem Rudergerät und einer Stunde Yoga, gefolgt von einem warmen Bad, hatte er endlich die richtige Bettschwere. Aber der Schlaf wollte trotzdem nicht kommen. In seinem Hirn herrschte zu großes Chaos. Lange spielte er mit dem Gedanken, wieder aufzustehen, aber sein Kopf war zu schwer und sein Körper zu träge.
Unter der Decke wurde es bald zu warm, doch er fror, sowie er sie beiseiteschlug.
Der Wecker zeigte 06.17 Uhr.
Er drehte sich auf die Seite und bereute, kein Schlafmittel mehr im Haus zu haben. Im Mai hatte er seine Schwester, die Ärztin war, um Imovane gebeten. Da er nie krank war und bisher auch nie über Schlafprobleme geklagt hatte, hatte sie sich Sorgen gemacht. Er schob alles auf die Arbeit, zu viel zu tun, und dann darauf, dass es mit Anja nicht mehr so gut lief. Das alles stimmte ja eigentlich auch. Anjas hatte er sich zwei Wochen später entledigt. Das andere war schlimmer. Vier Nächte lang hatte er vor dem Schlafengehen eine Tablette genommen. Die Trägheit und das Gefühl, nicht mehr in seinem eigenen Körper zu Hause zu sein, veranlassten ihn dann, den Rest in der Toilette zu entsorgen. Das hätte er nicht tun sollen.
Auf dem Nachttisch, neben dem Wecker, stand eine Holzfigur, die man mit viel gutem Willen ein Boot nennen konnte. Joachim erhob sich auf den einen Ellbogen und zog es vorsichtig zu sich heran. Es war vielleicht zwanzig Zentimeter lang und der Bug viel zu stumpf. Das Steuerhaus, ein aufgeleimter Betonbrocken, den Sander auf dem Schulhof gefunden hatte, saß schief und war zu groß. Der Junge war ein hervorragender Zeichner gewesen, aber sowie die Figuren dreidimensional wurden und zurechtgeschnitzt werden mussten, verfiel er in seine übliche Ungeschicklichkeit. Als er das Fahrzeug, stolz und glücklich, in der Badewanne zu Wasser ließ, drehte es sich sofort um sich selbst, um dann langsam in dem klaren Wasser zu versinken. Sander hatte geweint und war untröstlich gewesen, bis Joachim ihm versprochen hatte, mit ihm zusammen ein neues zu bauen. Dieses hier sei so schön, man müsste es eigentlich zur Zierde aufstellen, hatte ihn Joachim getröstet und das Boot geschenkt bekommen.
Es fühlte sich schwer an in seiner Hand.
Joachim roch an dem Boot.
Irgendwie roch es nach Sander: Sand und Farbe und noch etwas anderes.
Rasch stellte er das Boot wieder hin, schlug die Decke zurück und stand auf. Die Boxershorts klebten an seinen Oberschenkeln, und er riss sie sich vom Leib, ehe er ins Badezimmer ging und in der Dusche den Kaltwasserhahn aufdrehte.
Sander war tot, ansonsten aber würde alles gut gehen. Er war jetzt Herr der Lage. Wenn er die Uhr zurückdrehen könnte, würde Sander noch leben. Das war Joachim klar, es war ihm klar gewesen, er hätte etwas unternehmen müssen, aber im Leben gab es keine Rücklauftaste, und alles musste eben seinen Lauf nehmen. Er ließ sich von dem eiskalten Wasser wecken, bis er einen klaren Kopf hatte und sein Körper wieder das war, was er sein sollte: sein Verbündeter.
Wenn er nur nicht diese verdammte Angst gehabt hätte.
Nach der großen Katastrophe hatte Henrik Holme das Gefühl, gar nicht mehr richtig bei der Polizei zu sein. Als der Terrorist am Freitagabend festgenommen wurde und es sich herausstellte, dass er in Oslo wohnte, wurde Henrik Holme zu dem reduziert, was er ja auch war: eine unerfahrene Sommeraushilfe. Er gehörte zu keiner Abteilung, außer der, die ihm diese dünne Akte über einen Todesfall beschert hatte, für den sich kein Arsch interessierte. Die zuständige Juristin stand auf dem Deckel. Vermutlich hatte die Frau bisher noch keine Ahnung von dem Fall.
Streng genommen war es wohl auch gar kein Fall.
Obwohl Jon Mohr sich in der knappen halben Stunde, die die Vernehmung am Vorabend gedauert hatte, wie ein Verrückter aufgeführt hatte, konnte Henrik Holme ihm eigentlich keinen Vorwurf machen. Wenn er ehrlich sein sollte, so ganz für sich hinter dem Schreibtisch, hatte der Mann doch ganz recht. Jon Mohr hatte ihn nicht angefasst. Hatte ihm nur Angst gemacht, und teilweise war Henrik Holme selbst daran schuld. Seine Worte waren nicht gerade taktvoll gewesen. Es musste eine grauenhafte Belastung sein, ein Kind zu verlieren, und wenn es dann auch noch zu Hause passierte, machte man sich bestimmt schreckliche Vorwürfe.
Die grüne Mappe enthielt wohl gar keinen Fall.
Aber es war Henrik Holmes Fall, der einzige, den er hatte.
Jetzt saß er in diesem tristen, anonymen Büro und begriff nicht ganz, warum er überhaupt hergekommen war. Es war Sonntagmorgen, und wenn auch viele andere in dem großen geschwungenen Gebäude im Grønlandsleiret aus den Ferien oder der Freizeit zurückgerufen worden waren, galt das offenbar nicht für ihn. Niemand hatte seit Freitagnachmittag mit ihm auch nur ein Wort gesprochen.
Henrik Holme öffnete die Flasche Cola light und trank einen großzügigen Schluck. Er hatte sich an einem Kiosk eine Tüte mit Schokoladenbrötchen gekauft. Zwei hatte er bereits verzehrt, das dritte sah unappetitlich flach gequetscht aus, als er es aus dem Rucksack zog. Die Schokolade, die teilweise geschmolzen war und am Papier klebte, erinnerte an etwas sehr Unschönes. Er musterte das klägliche Backwerk für einen Moment, dann presste er es zusammen und warf die Tüte in den leeren Papierkorb.
Der Aktendeckel des Ordners diente auch als Dokumentenliste.
Das passte alles nicht so ganz. Er hatte keinen Verdächtigen, den er dort eintragen könnte. Auch für die Rubrik Zur Anzeige gebrachter Sachverhalt hatte er nichts. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht? Es gab vielleicht eigene Mappen für Fälle wie diesen, für verdächtige Todesfälle, die nur von der Polizei registriert und dann als Kein strafbarer Sachverhalt abgehakt werden sollten.
Verdächtige Todesfälle war ohnehin nur eine Überschrift für vieles, das wusste er, und oft waren sie nicht einmal verdächtig. Überdosis. Selbstmord. Ertrinken. Solche Dinge. Vielleicht hatte er das falsche Formular ausgesucht.
Plötzlich wurde Henrik Holme sehr unsicher und fing an, tief in der Nase zu bohren.
Auf der Mappe gab es die Rubriken Personalien, Sachbearbeiter von der Staatsanwaltschaft und Ermittler. Außerdem freie Felder für Nummerierung und Beschreibung von einzelnen Dokumenten zu dem Fall, mit Datumsvermerk und Verfasser.
Dokument 00 war die Mappe selbst.
Dokument 01 war eine Vernehmung des »Zeugen Jon Mohr«, verfasst von Henrik Holme.
Und das war’s.
Bald würde er die Papiere von der Rechtsmedizin erhalten, hoffte er. Das würde dann immerhin ein Dokument 02 ergeben.
Ziemlich dünn, das Ganze.
Verwandte Fälle, hieß eine Rubrik weiter oben. Die Spalten waren leer.
Er könnte im Strasak nachsehen, dem polizeilichen Register für strafbare Fälle, und sei es nur zum Spaß. Es war ja nicht wahrscheinlich, dass der Mann mit der riesigen Villa in Grefsen und den zwei Autos in der Garage noch andere Straffälle am Laufen hatte.
Rasch loggte er sich im Strasak ein und gab Jon Mohrs Namen und sein Geburtsdatum an.
Jon Mohr war registriert als Verdächtiger in einer laufenden Ermittlung, las er und schluckte so laut, dass er es selbst hörte.
Verdacht auf Verstoß gegen WpHG § 3-3, vgl. §§ 2-2 und 17-3, 1. Abs. WpHG? Wertpapierhandelsgesetz, natürlich, dachte er.
Henrik Holme prägte sich die Paragrafen ein und klickte sich blitzschnell aus dem STRASAK hinüber zu den Gesetzen. Seine Augen huschten über den Text, bis er das Gesuchte fand, dann lehnte er sich triumphierend zurück.
Insiderhandel!
Jon Mohr war ein Verbrecher. Ein Schurke, gegen den ermittelt wurde, weil er sich auf kriminelle Weise Geld angeeignet hatte. Zwar sagte das STRASAK nichts darüber, wie weit die Ermittlungen gediehen waren oder worum es überhaupt ging, aber Henrik Holme wusste genug über Insiderhandel, um zu begreifen, dass jemand in Jon Mohrs Stellung immer über Informationen verfügen würde, die an der Börse einen erklecklichen Ertrag einbringen könnten. Vor einigen Jahren hatte es einen ähnlichen Fall gegeben, fiel ihm jetzt ein, mit einem Mann aus einem PR-Büro. Der Mann war verurteilt worden, weil er einem Kumpel Firmengeheimnisse zugespielt und dieser dann Aktien gekauft und später ordentlich daran verdient hatte, nicht ohne dem PR-Mann mit einem hübschen Sümmchen zu danken.
Zwischen Wirtschaftskriminalität und Kindermord bestand nicht unbedingt ein Zusammenhang, gab Henrik Holme widerwillig zu. Andererseits konnte diese Insidergeschichte Jon Mohr gereizt, nervös und ungeduldig gemacht haben. Das hatte er am Vorabend ja nachdrücklich unter Beweis gestellt. Er ging doch sofort hoch. Dass ein Junge von acht Jahren eine Prüfung sein konnte, wusste Henrik Holme nur zu gut. Er hatte einen Cousin in diesem Alter. Manchmal würde er den Bengel am liebsten an die Wand hängen und festnageln.
Der dünne Hefter auf dem Schreibtisch wirkte plötzlich ein wenig interessanter.
Vielleicht enthielt er ja doch einen Fall.
Und dann wäre es ein großer Fall, einer, in dem es um Mord und Tod ging. Und es war sein Fall, Henrik Holmes Fall, er allein ermittelte.
Er leerte seine Flasche auf einen Zug und schluckte einen Rülpser hinunter.
Zuerst wollte er einen Bericht schreiben. Das würde der Akte ein wenig mehr Gewicht geben, im doppelten Sinn. Morgen wollte er die Unterlagen der Rechtsmedizin verlangen. Je nachdem, was darin stand, würde er die Polizeijuristin bitten, weitermachen zu dürfen. Mehr in die Tiefe gehen. Er würde sich nicht von einer hysterischen Mama und einem Papa mit teurem Anzug und Porsche aufhalten lassen. Bei Kindermorden gab es eine große Dunkelziffer, das wusste er, und wenn er einen solchen Fall aufklären könnte, er als unleugbarer Anfänger, würde das ein großer Schritt fort von Geschwindigkeitsüberschreitungen und Fahren ohne Führerschein sein.
»Sander Mohr«, flüsterte er und trommelte mit der leeren Plastikflasche leicht auf dem Tisch.