5
Im Kalender stand zum ersten Mal August, und es war Montag.
Inger Johanne hatte das Wochenende mit Gartenarbeit verbracht, etwas, das sie abermals daran erinnerte, dass sie in eine Wohnung ziehen müssten. Der Rasen war eine ziemlich flache Ansammlung von Moos und Löwenzahn. Das Tulpenbeet zur Straße hin sah im Frühling für ein oder zwei Wochen schön aus. Jetzt quoll es über von Pflanzen und Blumen, die sie nicht kannte, aber schön waren sie jedenfalls nicht. Der Kiesweg zur Haustür war dermaßen von Unkraut überwuchert, dass sie ernsthaft erwog, ihn auf eigene Faust asphaltieren zu lassen.
Es hatte trotzdem gutgetan, draußen zu sein. Körperliche Arbeit zu leisten. Daran erinnert zu werden, dass die Welt sich nicht anhalten ließ, so wie die Lupinen, die sich vor einigen Jahren auf der anderen Seite des Zauns angesiedelt hatten, jetzt auf dem Vormarsch durch den Garten waren.
Inger Johanne konnte sich nicht erinnern, jemals auf diese Weise freigehabt zu haben. Keine Kinder, keine Arbeit, und Yngvar von morgens um acht bis spätabends aus dem Haus. Kein richtiger Urlaub, nur tote Zeit. Es lag eine unangenehme Unsicherheit darin, die ganze Zeit tun zu können, was sie wollte. Inger Johanne war es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie auf dem Sofa saß und in die Luft starrte, ohne so richtig zu wissen, was sie jetzt machen sollte.
Es war zehn vor zwölf, und sie starrte auf die noch immer warmen Weizenbrötchen. Dass sie noch warm waren, war das einzig Verlockende daran. Mit der Hefe hatte offenbar etwas nicht gestimmt. Vielleicht war sie zu alt gewesen, sie hatte das Verfallsdatum nicht überprüft. Auf jeden Fall waren die Brötchen winzig klein und hart, und sie hatten einige Minuten zu lang im Backofen gestanden. Einige waren fast schwarz. Wenn der Golf guter Laune war, könnte sie schnell zur Tankstelle im Maridalsvei fahren und neue kaufen. Sie griff zu einem Brötchen und schnitt es in zwei Teile. Innen war es immerhin recht hell. Fast roh in der Mitte, wie sie jetzt sah.
Sie hörte die Türklingel.
»Shit«, flüsterte Inger Johanne und warf die Brötchen in den Mülleimer, ehe sie einen Schrank aufriss, eine Packung Kekse herausnahm und auf einen Teller kippte.
»Schon unterwegs«, rief sie.
Agnes Krogh kam einige Minuten zu früh. Mit ernster Miene streckte sie die Hand aus, als die Tür geöffnet wurde. Inger Johanne ignorierte die Hand, beugte sich vor und umarmte die ältere Frau. Sie blieben ein wenig zu lange so stehen, und als Inger Johanne sich losriss, konnte sie sehen, dass Agnes Krogh mit den Tränen rang.
»Ich weiß«, sagte Inger Johanne und nahm ihre Hand. »Kommen Sie rein.«
Agnes Krogh war die Frau, die Ellen hätte werden können. Die blonden Haare waren im Alter aschblond geworden, waren aber noch immer üppig und schulterlang. Sie wog einige Kilo mehr als früher. Das stand ihr und machte ihr Gesicht weicher. Ihre Zähne waren sicher gebleicht worden, sah Inger Johanne, als sie sich an den Küchentisch setzten und Agnes Krogh rasch und verlegen lächelte. Sie war sonnenbraun und hatte rote Wangen. Agnes Krogh war eine Frau, die sich gut hielt, die aber nicht um ihr Leben rannte.
»Es tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, sagte sie. »Mitten in den Ferien und überhaupt.«
»Sie stören nicht. Im Gegenteil. Es ist schön, Sie wiederzusehen.«
Das stimmte. Inger Johanne merkte, dass sie sich über diesen Besuch freute und dass sie sich nicht einmal über ihren missratenen Backversuch ärgerte.
»Und die Kinder?«, fragte Agnes Krogh. »Geht es gut mit den Kindern?«
»Ja. Sie wachsen. Im Moment sind sie in Frankreich. Mit Isak.«
»Alle beide?«
»Ja. Kristiane ist unglücklich ohne ihre Schwester. Und Isak ist da ganz locker.«
»Ihr habt es also geschafft.«
»Was denn?«
Inger Johanne goss ihnen beiden Kaffee ein, setzte sich und schob dem Gast den Teller mit den Keksen zu.
»Ihr habt es mit der Familie geschafft. Dieses ganze moderne ›deine, meine, unsere Kinder‹.«
»Na ja. Es hat gedauert. Und dann ist es vielleicht ein Vorteil, dass Isak keine weiteren Kinder hat. Er ist außerdem so großzügig. So war er immer schon.«
»Für ihn ist es ja noch nicht zu spät. Männer können ja bis in alle Ewigkeit Kinder bekommen. Für uns Frauen sieht es da schlechter aus.«
Inger Johanne rang sich ein Lächeln ab und hob die Kaffeetasse.
»Sie wollten über Sander sprechen?«
Agnes Krogh schien sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen, als fürchte sie sich und habe geglaubt, es werde länger dauern, zur Sache zu kommen. Sie hatten einander seit Jahren nicht gesehen, und sie wirkte plötzlich unsicher. Sie blinzelte und griff nach einem Keks, den sie dann anstarrte, ohne hineinzubeißen.
»Ja«, sagte sie endlich. »Torbjørn meint, wir sollten zur Polizei gehen. Mir selbst käme es vor wie ein ... Verrat, irgendwie. Obwohl Ellen nichts mehr mit uns zu tun haben will, ist sie doch immer noch unsere Tochter. Unser einziges Kind.«
Sie verstummte, legte den Keks auf ihren Teller und presste sich die rechte Hand auf die Brust.
»Ich war so verzweifelt. Zuerst, als Ellen Jon heiraten wollte. Ich habe nie verstehen können, was sie an ihm findet. Sie hätte doch jeden haben können. Einfach jeden!«
Bei diesem plötzlichen Ausbruch zerbrach Inger Johanne vor Schreck einen Keks. Sie schob, so diskret sie konnte, mit der Handkante die Krümel zusammen.
»Jon hat viele gute Seiten«, sagte sie. »Ich glaube, für Ellen war es wichtig, dass er ...«
Inger Johanne hatte auch keine Ahnung, was Ellen an Jon gefunden hatte. Niemand aus dem gesamten Freundeskreis hatte das begriffen. Außer Yngvar, der meinte, es gehe um Jons Durchsetzungsvermögen. Ellen war es gewohnt, dass Männer immer taten, was sie wollte. Aber Jon hatte vom ersten Tag an das Steuer an sich gerissen.
»Ich konnte jedenfalls nichts daran ändern«, sagte Agnes Krogh, als Inger Johanne ihren Satz nicht beendete. »Torbjørn und ich haben uns alle Mühe gegeben, um mit ihm auszukommen. Und es ging einigermaßen. Jedenfalls zu Anfang.«
»Und dann?«
»Du weißt schon. Diese Fehlgeburten. Ellen und Jon wirkten völlig ... völlig besessen davon, ein Kind zu bekommen. Ich habe einmal eine Adoption vorgeschlagen. Das war wohl nach der zweiten Fehlgeburt. Ellen war total erschöpft. Jon war außer sich vor Zorn.«
»Ach? Vor Zorn?«
»Jedenfalls sehr aufgebracht. Offenbar hatten sie diese Diskussion schon geführt, und er hatte gewonnen. Ellen hätte gern ein Kind adoptiert. Da bin ich mir sicher. Sie ist schließlich meine Tochter, und ich kenne sie.«
Wenn du ahntest, wie wenig Mütter eigentlich über ihre Kinder wissen, dachte Inger Johanne.
»Ja«, sagte sie und ließ die Krümel auf ihren Teller fallen.
»Nach der dritten Fehlgeburt habe ich sie fast nicht wiedererkannt. Damals hat sie dann ihre Praxis verkauft. Es ist nicht gesund für eine Frau in den besten Jahren, nichts zu tun zu haben. Sie wurde total verrückt, vor allem, als sie dann angefangen haben, zu dieser Kinderwunschklinik in Finnland zu fahren, und sie mit Hormonen vollgestopft wurde.«
»Warum hat sie eigentlich ihre Praxis verkauft?«
Inger Johanne ging auf, dass sie Ellen nie danach gefragt hatte. Bei einem Essen vor vielen Jahren war ganz einfach darauf angestoßen worden. Ellen und Jon hatten es beide als eine Befreiung dargestellt, und einen schönen Batzen Geld hatte der Verkauf ja auch erbracht.
»Es war Jons Idee«, sagte Agnes Krogh. »Er scheint Ellen die ganze Zeit unter Kontrolle haben zu wollen. Er konnte es nicht ertragen, dass sie im Grunde von ihm unabhängig war. Dieses Haus im Glads vei hätte er sich allein wohl kaum leisten können, aber es ist ja wirklich übertrieben groß. Als Ellen die Praxis verkauft hat, wurde sie ... danach gehörte sie sozusagen ihm. Verstehen Sie?«
Inger Johanne nickte müde.
»Aber dann wurde Ellen schwanger. Endlich.«
Agnes schaute ins Leere.
»Alle haben sich so gefreut. Jon und Ellen und wir. Die Schwangerschaft verlief problemlos. Ellen wurde nicht einmal schlecht, oder kaum. Keine Beckeninstabilität, obwohl sie einen riesigen Bauch hatte. Sander wog bei seiner Geburt fast fünf Kilo. Wussten Sie das?«
Inger Johanne hatte keine Ahnung, wie groß er gewesen war, sie hatte ihn mit sechs Monaten zum ersten Mal gesehen. Sie nickte.
»Erst mit seiner Geburt fingen die Schwierigkeiten wieder an«, sagte Agnes jetzt. »Sander war so ... wach.«
Sie lächelte rasch und fuhr sich über die Haare, dann hob sie ihre Kaffeetasse.
»Er hat wenig geschlafen. Sehr wenig. Torbjørn und ich haben angeboten, sie zu entlasten, aber wir haben damals beide noch gearbeitet, und so konnten wir das nur in Grenzen. Helga, Jons Mutter, hat auch geholfen, das weiß ich, aber in ihrem Alter ist das ja nicht mehr so leicht. Sie ist zwanzig Jahre älter als ich.«
»Viele Säuglinge sind anstrengend«, sagte Inger Johanne. »Meinen Sie, Sander war schon damals irgendwie anders?«
Agnes schien zu überlegen. Sie hielt die Tasse an den Mund, ohne zu trinken, und kniff die Augen zusammen.
»Ja. Ich denke schon. Ich hatte zwar nur ein Kind, aber ich bin doch Krankenschwester. Ich habe damals viel über Schlafprobleme gelesen und wusste daher, dass Sander ungewöhnlich schwierig war. Es half sicher auch nicht, dass sie es mit einer Therapie nach der anderen versucht haben, der Junge war doch total verwirrt.«
»Und Ellen war erschöpft.«
»Ja. Jon auch, glaube ich, das muss ich ihm lassen, aber in der Zeit zeigte sich ja deutlich, wie vorteilhaft es für ihn war, dass Ellen nicht mehr in die Praxis musste. Er hat dann oft im Gästezimmer geschlafen, das weiß ich.«
»Wie lange hat das eigentlich gedauert?«
»Es hat eigentlich nie aufgehört. Mit einem Jahr fing er zwar an, die Nacht durchzuschlafen, und das war ein großer Fortschritt. Aber das war vielleicht immer ein Zirkus, ihn zu beruhigen.«
Ihr resigniertes Lachen entlockte Inger Johanne ein Lächeln.
»Jon hat sich wirklich Mühe gegeben, ihn vor dem Schlafengehen müde zu machen«, sagte Agnes jetzt. »Sie haben gespielt und herumgetobt. Es half aber überhaupt nichts. Manchmal gab es nur eine Lösung, nämlich ihn ins Auto zu setzen und durch die Gegend zu fahren, bis er eingeschlafen war. Ihn ins Haus zu tragen, ohne dass er erwachte, war auch alles andere als leicht. Und Jon schaffte das am Ende richtig gut.«
Agnes stellte die Tasse ab und schob die Untertasse ein Stück von sich weg.
»Das Seltsame war, dass er sich bei uns immer ziemlich normal benahm. Er kam manchmal an den Wochenenden zu uns. Unruhig und unkonzentriert war er ja immer, aber ...«
Wieder wurden ihre Augen feucht.
»Bis wir ihn nicht mehr holen durften«, sagte sie leise. »Aber wir hatten dann ja einige Tricks gelernt.«
»Ja? Welche denn?«
»Ihn zeichnen zu lassen, ehe er schlafen ging. Er zeichnet so ungeheuer gern. Hat gezeichnet, meine ich. Früher. Ich weiß ja nicht ...«
»Er hat immer gern gezeichnet«, sagte Inger Johanne. »Überall, scheint mir. Sehr gut zudem, nach dem wenigen, was ich gesehen habe.«
Sie dachte an die übermalten Autoumrisse an Sanders Zimmerdecke. Sie waren viel detaillierter und besser proportioniert, als ihre Kinder das geschafft hätten.
»Und dann das mit den Schmusetieren«, sagte Agnes. »Aus irgendeinem Grund haben sie ihm seinen Teddy weggenommen, als er drei Jahre alt war. Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, dass Jungen so was nicht länger haben dürfen. Das ist natürlich der pure Unsinn, nicht wahr? Bei uns hatte er ein braunes Kaninchen, das er liebte. Wenn er eine Stunde zeichnen durfte und wusste, dass er danach ins Bett musste, und wenn er Burre mitnehmen durfte, war das dann eigentlich kein Problem.«
»Aber Meinungsverschiedenheiten über Schmusetiere haben doch wohl nicht zu diesem dramatischen Bruch zwischen euch geführt«, sagte Inger Johanne.
»Nein. Es kam noch mehr. Nach und nach. Uns fiel dann auf, dass Sander oft kleine ...«
Sie schien nicht recht zu wissen, welches Wort sie verwenden sollte.
»... Verletzungen hatte«, sagte sie endlich.
Inger Johanne wartete.
»Ein blaues Auge«, sagte Agnes nach einer kleinen Ewigkeit. »Eine Schwellung hier, einen blauen Flecken dort. Ab und zu kleine Brandwunden. Nichts Großes, deshalb haben wir anfangs nicht weiter darauf geachtet. Wir hatten keine große Erfahrung mit Jungen, und obwohl die ADHS-Diagnose noch nicht gestellt war, begriffen wir ja, dass er ein ungeheuer aktives Kind war.«
Jack hatte sich zwischen sie unter den Tisch gelegt. Seine Schnauze ruhte auf Inger Johannes Fuß. Er hatte sicher etwas Schwerverdauliches gefressen, denn die Winde, die er in regelmäßigen Abständen entweichen ließ, waren nicht zu ertragen.
»Das mit dem Hund tut mir leid«, sagte Inger Johanne und stand auf, um das nächstgelegene Fenster zu öffnen. »Er ist schon sehr alt. Jack, geh ins Schlafzimmer. Schlafzimmer!«
Das war der einzige Befehl, dem er gewöhnlich gehorchte. Es bedeutete freien Zutritt zu dem normalerweise verbotenen Bett, und er erhob sich und trottete mit über den Boden fegendem Schwanz durch den Raum.
»Haben Sie mit Ellen darüber gesprochen?«, fragte Inger Johanne und setzte sich wieder.
»Nein. Jedenfalls nicht sofort. Wir sind einfach nicht auf die Idee gekommen, dass da etwas nicht stimmen könnte. Dass Sander, unser eigener Enkel, möglicherweise ... Wer kommt denn auf eine solche Idee?«
Sie machte eine hilflose Handbewegung und starrte Inger Johanne an.
Die Frage blieb unbeantwortet. Agnes seufzte und erzählte dann weiter.
»Aber irgendwann wollte er dann nicht mehr nach Hause. Wenn er bei uns gewesen war, meine ich. Ab und zu kam er auch unter der Woche, und in den Kindergarten ging er gern. Aber sonntagabends, wenn er das ganze Wochenende bei uns verbracht hatte, wollte er eindeutig nicht wieder weg.«
»Kinder sind doch oft so gern bei ihren Großeltern«, sagte Inger Johanne und lächelte ein wenig. »Ragnhild kann ein Mordsspektakel veranstalten, wenn es bei meiner Mutter richtig schön war. Neulich hat sie auf dem ganzen Heimweg geheult, weil ich sie holen musste, ehe sie mit ihrer Oma ein riesiges Puzzle fertig hatte.«
Agnes erwiderte das Lächeln nicht.
»Ich glaube, ich kenne mich mit Kindern gut genug aus, um das unterscheiden zu können.«
»Natürlich.«
»Das hier war etwas ganz anderes. Ich glaube, er wollte nicht nach Hause, weil er Angst vor etwas hatte. Vor ... Misshandlungen. So. Jetzt habe ich es gesagt.«
Inger Johanne empfand eine wachsende Irritation, die sie nicht richtig erklären konnte. Zunächst hielt sie es für eine Reaktion auf Agnes’ Erwartungshaltung, auf ihre flehenden Augen, die kleinen Zwischenfragen, mit denen sie sich überzeugen wollte, dass Inger Johanne ihr zustimmte. Dann begriff sie, dass ihr die ganze Situation einfach unangenehm war. In ihrem Urteil über Ellen konnte Agnes ja wohl kaum als unbefangen gelten, was Jon anging, erst recht nicht. Der Bruch drei Jahre zuvor war endgültig gewesen, und was immer dazu geführt haben mochte: Ellen hatte sicher ihre guten Gründe gehabt. Sich mit Agnes zu treffen war Inger Johanne als nette Abwechslung erschienen, obwohl sie wusste, dass Ellens Mutter einen grauenhaften Verdacht hegte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser Verdacht unberechtigt, und Inger Johanne hatte sich vorgenommen, sie zu trösten. Ihr zu versichern, dass Sander ein gutes Leben gehabt hatte und dass sein Tod ein tragischer Unfall war, für den niemand irgendeine Verantwortung trug.
Sie war bereit gewesen, sich anderer Leute Sorgen anzuhören, aber das hier wirkte inzwischen wie Verleumdung.
»Ich verstehe, dass Sie verzweifelt sind, weil das passiert ist«, sagte sie. »Das sind Ellen und Jon auch. Ich finde es aber dennoch ein starkes Stück, derartige Anklagen vorzubringen. Wenn Sie sich solche Sorgen gemacht haben, warum in aller Welt haben Sie nicht damals schon Alarm geschlagen? Was bringt es denn, jetzt, wo Sander tot ist, solche Beschuldigungen zu erheben? Sie wissen ja nicht mal, wie sein Leben in den vergangenen Jahren aussah.«
Inger Johanne merkte, dass sie zu laut redete. Sie war wütend und versuchte, ihrem Ausbruch die Spitze zu nehmen, indem sie ihrem Gast die trockenen Kekse zuschob.
»Ich zeig es Ihnen«, sagte Agnes tonlos.
»Was?«
Agnes zog ein Mobiltelefon aus der Handtasche. Es war ein Smartphone, ein HTC der allerersten Generation. Yngvar hatte so eines gehabt, das wusste Inger Johanne noch, aber es musste einige Jahre her sein.
»Wir haben das hier aufbewahrt«, sagte Agnes. »Es zeigt Sander, als er nach seinem letzten Besuch bei uns abgeholt werden sollte. Danach habe ich Ellen angerufen, und seither wollte sie nie wieder etwas mit uns zu tun haben.«
Ihre Stimme hatte ihre appellierende Sanftheit ganz und gar verloren. Als sie das Telefon einschaltete und etwas suchte, das, so dachte Inger Johanne, wohl ein Foto sein würde, nahm ihr Gesicht einen entschiedenen, fast gebieterischen Ausdruck an. Ihre Lippen spannten sich, und ihre Kiefermuskeln verrieten, dass sie die Zähne in einem gleichmäßigen Rhythmus zusammenbiss.
»Hier«, sagte sie und reichte das Telefon über den Tisch.
Inger Johanne hatte keine Lust, es zu nehmen.
»Trauen Sie sich nicht, es sich anzusehen?«, fragte Agnes.
Widerwillig griff Inger Johanne zu.
Es war kein Foto. Es war ein Video, und sie hörte es, ehe sie es sah. Ein Junge, der schrie. Als sie das Telefon dann in der Hand hielt, begriff sie, dass die Bilder noch schlimmer waren als der Ton. Der Film war technisch schlecht, und das Bild sprang auf und ab. Es war etwas zu dunkel in dem Raum, wo das Ganze vor sich ging, aber nicht dunkel genug.
Das hier waren nicht Trotz und Unwille. Der Ausbruch des fünf Jahre alten Sander war um Lichtjahre von kindlicher abendlicher Verweigerung entfernt, wie Ragnhild sie gezeigt hatte, wenn sie nicht bekam, was sie wollte.
Das hier war Angst. Als eine erwachsene Gestalt den Jungen dann packte und durch eine Tür mit ihm verschwand, brach der Film ab.
»Glauben Sie mir jetzt?«, fragte Agnes Krogh und nahm sich endlich einen Keks und aß ihn.
Henrik Holme saß wieder in seinem ursprünglichen Büro. Zwei Türme aus Unterlagen füllten die linke Seite des Schreibtisches. Auf der rechten Seite lag ein viel kleinerer Stapel, mit dem er fertig zu sein glaubte. Dieser Stapel war im Laufe des Tages kaum größer geworden.
Als er seinen Sommerjob angetreten hatte, hatte er die Verkehrsvergehen durchaus witzig gefunden. Die Leute brachten die unglaublichsten Entschuldigungen vor, wenn sie gegen die Verkehrsregeln verstoßen hatten. Einige wenige wurden wütend bei der Vorstellung, den Führerschein einzubüßen, aber die meisten entschieden sich für die entgegengesetzte Strategie. Sie krochen und schleimten, weinten und jammerten: Der Verlust des Führerscheins war offenbar für viele schlimmer als Gefängnis und hohe Bußgelder. Henrik Holme konnte sie gut verstehen. Er war in einem Dorf aufgewachsen, wo es kaum Busverbindungen gab. Man fühlte sich wie ein von den Eltern abhängiger Rotzbengel, bis zu dem Tag, an dem man achtzehn und von der Verkehrsbehörde als erwachsen betrachtet wurde.
Jetzt langweilte er sich.
Die Fälle unterschieden sich eigentlich kaum voneinander. Außerdem ging es meistens um ganz normale Leute. Um Steuerprüfer und Lehrer, Klempner und Rentner, die keine Schilder lesen konnten.
Henrik Holme wollte normalen Leuten nicht das Leben sauer machen. Er wollte Verbrecher verfolgen. Die kurze Woche, in der er an einem echten Fall hatte schnuppern dürfen, hatte ihn daran erinnert, warum er überhaupt zur Polizei gegangen war. Er wollte für Gesetz und Ordnung sorgen und wehrlose Opfer beschützen, schon als er sich mit zwölf Jahren für diesen Beruf entschieden hatte.
Mutlos öffnete er eine Mappe.
Mann, vierundfünfzig, auf der E 16 bei Alnabru mit 147 Stundenkilometern erwischt. Das ist wild, dachte Henrik und wandte sich seinem Rechner zu, um dem Mann eine Einbestellung zur Vernehmung zu schicken.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Henrik starrte es einen Moment lang an, dann nahm er den Hörer ab, räusperte sich und versuchte, seine Stimme etwas dunkler klingen zu lassen.
»Holme.«
»Hallo«, sagte am anderen Ende der Leitung eine Stimme. »Hier spricht Elin Foss. Ich sollte mich bei Ihnen melden.«
Sanders Betreuerin in der Schule, fiel Henrik sofort ein. In der Leitung gab es einen leichten Widerhall, und ihre Stimme war von einem unangenehmen Pfeifton untermalt.
»Ja! Äh ... Sie hören sich aber an, als ob Sie weit weg wären.«
»Das bin ich auch. In Australien. Tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe, aber ich wollte warten, bis ich bei Freunden von einem Festnetzanschluss aus telefonieren könnte und ...«
Ihre Stimme verschwand im Rauschen.
»Hallo?«
»Ich bin hier im Urlaub«, schrie sie fast. »Sie haben gesagt, es geht um Sander Mohr. Was ist denn los?«
Henrik wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Als er nach seinem Besuch bei Haldis Grande bei Elin Foss eine Nachricht hinterlassen hatte, hatte er nichts davon gesagt, dass Sander tot war. Es war ihm nicht richtig vorgekommen, das auf eine Mailbox zu sprechen. Elin Foss hatte Sander mehrere Jahre lang betreut, und vielleicht hing sie an dem Jungen. Streng genommen war es überhaupt nicht richtig von ihm, mit ihr zu reden. Er hätte sie an seinen Nachfolger verweisen müssen. Sander Mohr ging Henrik Holme nichts mehr an.
»Wo Sie bei Freunden sind – haben Sie vielleicht einen Computer mit Skype?«, fragte er.
»Ja.«
»Würden Sie mir Ihren Skypenamen nennen und sich einloggen? Ich glaube, das wäre leichter für uns beide.«
»Elinfossekall«, sagte sie und buchstabierte das zweimal.
Henrik legte auf und stellte auf seinem privaten Laptop die Verbindung her. Elin Foss sah ganz anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte.
»Hallo«, sagte er zaghaft.
Henrik Holme hatte sich eine Betreuerin in der Schule als junge Frau ohne Ausbildung vorgestellt. Dass sie eine Rundreise durch Australien machte, hatte ihn an eine Mittzwanzigerin mit schwarz gefärbten Haaren und vielleicht einem Piercing in der Nase denken lassen.
»Jetzt möchte ich aber wirklich wissen, worum es geht«, sagte sie und lächelte in die Kamera. »Ich hab ja nicht oft mit der Polizei zu tun.«
Sie hatte die grau melierten Haare achtlos hochgesteckt. Sie war munter und schlank und sicher über fünfzig. Vielleicht noch älter. Sie trug ein rosa Trägerhemd, und an ihren Oberarmen erahnte Henrik schlaffe Haut. Außerdem war sie auffällig braun gebrannt, und die Haut an Hals und Ausschnitt war voller Altersflecken.
»Ist in Australien jetzt nicht Winter?«, fragte er.
»Ich bin in Cooktown«, sagte sie lächelnd. »Im Norden. Im Vergleich zu Norwegen ist hier Hochsommer.«
Dann hielt sie sich eine schmale Hand mit kurzen Nägeln vor den Mund.
»Hat das hier etwas mit den Anschlägen zu tun?«
Ihre Augen wurden noch größer, als sie sich zur Kamera vorbeugte.
»Nein«, sagte Henrik rasch. »Nicht das Geringste.«
Sie ließ die Hand sinken und seufzte laut.
»Es geht wie gesagt um Sander Mohr«, sagte Henrik. »Er ist tot.«
Elin Foss reagierte nicht. Rein gar nicht. Sie saß still da und starrte in die Kamera, noch immer mit einem kleinen erleichterten Lächeln.
»Sind Sie noch da?«, fragte Henrik und schwenkte kurz die Hand vor der Kamera.
»Was haben Sie gesagt?«
»Sander Mohr ist tot.«
Noch immer saß sie bewegungslos da, das Bild schien erstarrt zu sein. Henrik wollte schon die Verbindung überprüfen, doch nun schlug sie die Hände vors Gesicht.
»Das ist nicht wahr«, sagte sie mit halb erstickter Stimme. »Das kann einfach nicht wahr sein.«
»Doch. Es tut mir leid, Ihnen das so mitteilen zu müssen.«
Sie ließ die Hände sinken und schlug damit auf den Tisch. Offenbar hatte sie dabei den Laptop getroffen, denn das Bild geriet heftig ins Schwanken.
»Lassen Sie mich raten«, sagte sie viel zu laut. »Er ist von irgend so einem Scheißbaum gefallen. Oder mit dem Fahrrad umgekippt?«
Für eine Frau in reiferen Jahren, die noch dazu in der Schule arbeitete, drückte sie sich ganz schön salopp aus, fand Henrik.
»Fast richtig«, sagte er. »Er ist im Wohnzimmer von einer hohen Trittleiter gefallen. Zu Hause, meine ich.«
Die Frau in Australien fing an zu weinen. Wieder schlug sie die Hände vors Gesicht und beugte sich so weit vor, dass nur ihre Haare für Henrik zu sehen waren. Ein Dutt, sah er jetzt, eine altmodische Rolle aus grauen Haaren, die von Kämmen festgehalten wurde.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er und überlegte, was er sonst noch sagen könnte.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Sie holte Luft und sprang auf.
»Das glaub ich einfach nicht!«, rief sie.
Ein Kamm hatte sich gelockert und eine dicke Locke war über das eine Ohr gefallen.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Henrik.
»Der Junge kam doch pausenlos verletzt in die Schule. Wenn er kein Veilchen hatte, dann einen gebrochenen Arm. Einen Fuß, auf dem er kaum stehen konnte. Brandwunden an den Armen, ein geschwollenes Handgelenk ... Herrgott! Auch wenn Sander ADHS hatte, muss ein vernünftiger Mensch doch begreifen, dass es in diesem Schloss im Glads vei nicht so idyllisch zuging, wie es vielleicht aussah.«
»Jetzt komme ich nicht ganz mit ...«
»Sander Mohr hatte es zu Hause schwer, darauf können Sie Gift nehmen. Da sind Dinge passiert, die ...«
Elin Foss kam Henrik vor wie ein alter Hippie. Nicht einmal das Friedenszeichen um ihren Hals fehlte. Er versuchte, auszurechnen, wie alt sie sein musste, um damals jung gewesen zu sein. Um die sechzig. Das konnte durchaus stimmen, dachte er. Blumen, Friede, Freude und Eierkuchen für alle, Liebe zu Kindern und eine gelinde gesagt farbige Ausdrucksweise. Andererseits kam sie ihm reichlich temperamentvoll vor. Vielleicht war sie eine verblühte alte Maoistin, die den Glauben noch nicht ganz verloren hatte.
Jetzt atmete sie schwer mit offenem Mund. Henrik ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und warf ein: »Meinen Sie, dass da auf irgendeine Weise Übergriffe ...«
»Ja!«, schluchzte sie. »Dieser Junge wurde ganz bewusst verletzt, darauf wette ich alles, was ich habe. Nicht, dass das sehr viel wäre, aber dennoch. Ich hätte ja nie gedacht, dass ich der Bullerei je so was sagen würde, aber lasst den Kerl nicht ungeschoren davonkommen. Lasst nicht zu, dass der Vater des Jungen sich aus der Sache rausredet ...«
»Moment mal«, unterbrach Henrik sie und hob die rechte Hand. »Sie haben den Verdacht, dass Sander schon lange misshandelt wurde?«
»Ja. Sind Sie seinem Vater begegnet?«
»Sicher«, er nickte. »Aber ich ...«
»Unangenehmer Typ. Düster. Abweisend. Er konnte mich nicht ausstehen. Obwohl ich mit seiner Frau durchaus zurechtkomme, hat er mehrmals versucht, mich loszuwerden.«
»Davon hat Haldis Grande gar nichts gesagt. Im Gegenteil, sie hat gemeint, die Eltern hätten hart dafür gekämpft, dass Sander eine Betreuerin bekam.«
»Eine Betreuerin, ja! Aber als sie mich dann hatten, klang das schon anders. Außerdem ...«
Sie strich sich die Locke hinter das Ohr.
»Haldis Grande«, sagte sie verächtlich.
»Was ist mit ihr?«
»Die traut doch niemandem was Schlechtes zu. Der liebste Mensch der Welt. Kann unglaublich gut mit den Kindern umgehen. Sie lieben sie. Sander auch. Das Problem an Leuten wie Haldis Grande ist, sie sind zu ... naiv. Viel zu naiv.«
»Haben Sie je mit ihr über Ihren Verdacht gesprochen?«
»Das hätte nichts gebracht. Haldis Grande und ich sind fast gleichaltrig, aber ziemlich ... verschieden, könnte man sagen.«
Henrik nickte und schluckte.
»Leute wie Haldis glauben an das System«, sagte Elin Foss, mit mehr als nur einem Hauch von Verachtung in der Stimme. »Sie glaubt, dass alles funktioniert. Sie glaubt an die Sozialdemokraten und die Hierarchie in der Schule und den Nationalfeiertag, sie glaubt an ...«
Sie verdrehte die Augen und schlug sich an die Stirn.
»Nehmen Sie doch diesen Terroristen! Ich bin sicher, dass Haldis im tiefsten Herzen glaubt, dass er eigentlich weder böse noch verrückt ist. Sie sieht nicht, dass es so kommen muss, so lange wir den übelsten Rassisten überall freie Hand lassen. Er ist als Kind sicher nicht genug geliebt worden, denkt Haldis. Wurde nicht gesehen, oder so.«
Das hatte sich Henrik auch schon überlegt.
»Wäre es aber nicht doch naheliegend gewesen, mit ihr über diesen Verdacht zu sprechen?«
»Nein.«
»Nein?«
»Sie kennen sie nicht. Ich schon.«
Henrik merkte, dass seine Begeisterung für diese alternde Radikale rasch abnahm. Wenn sie die Wahrheit sagte und davon überzeugt gewesen war, dass bei Familie Mohr etwas nicht stimmte, war es nicht nur nachlässig gewesen, nicht Alarm zu schlagen. Es verstieß gegen das Gesetz.
»Deshalb bin ich lieber gleich zum Rektor gegangen«, sagte Elin Foss.
Henrik räusperte sich. Er legte den Kopf schräg.
»Was?«, fragte er verblüfft.
»Ich bin zum Rektor gegangen.«
»Womit denn?«
»Mit einer schriftlichen Mitteilung. Zweimal. Zum ersten Mal vor etwa anderthalb Jahren, gegen Weihnachten 2009. Und dann jetzt im Frühjahr. Sander kam mit dem Arm in Gips zur Schule. Ich glaube, das war im April. Als ich gefragt habe, was denn passiert sei, tat er die Sache mit seinem üblichen Schulterzucken ab.«
»Was ... was hat er gesagt?«
»Ich weiß nicht mehr genau. Doch ...«
Sie feuchtete sich die Lippen an. Die Übertragung ließ alle Bewegungen verlangsamt erscheinen, und beim Anblick der trägen Zungenspitze musste Henrik sich ebenfalls die Lippen lecken.
»Nur eine Bagatelle«, sagte sie. »Das hat er oft gesagt. Nur eine Bagatelle.«
»Und was hat der Rektor gemacht?«
»Nichts. Absolut gar nichts.«
»Wissen Sie das sicher?«
Sie zuckte mit den bloßen Schultern und versuchte, die lose Locke zu befestigen. Als sie die Arme hob, sah Henrik, dass sie sich unter den Achseln nicht rasiert hatte. Er versuchte, ruhig zu atmen, als er zusammenfasste: »Der Rektor hat also zwei schriftliche Mitteilungen einer seiner Angestellten erhalten und rein gar nichts unternommen?«
»Als Erstes hätte er ja wohl mit mir reden müssen. Ich habe von ihm keinen Mucks gehört. So läuft das eben, wissen Sie. Der feigste Rektor der Welt unternimmt doch nichts gegen einen Mann wie Jon Mohr. Einen Mann mit Position. Niemand unternimmt etwas gegen einen Mann mit Position. So läuft das System doch. Oder?«
Sie starrte ihn herausfordernd an, ehe sie mit einer weichen Kreisbewegung ihres Kopfes die Haare herabfallen ließ. Danach starrte sie überrascht auf ihren eigenen Bildschirm. Der war leer.
Henrik Holme stürzte bereits aus dem Zimmer.
»Sander und Kasper waren eigentlich nicht befreundet«, sagte Marianne Kaspersen und schenkte Tee nach, der so stark nach Erdbeeren roch, dass das Aroma den ganzen Raum füllte. »Nicht richtig, meine ich. Kasper hat viele in der Klasse, die ihm viel näher stehen, aber da Ellen und ich alte Freundinnen sind, dachte ich, ich könnte nicht Nein sagen.«
»Wozu denn?«, fragte Inger Johanne.
»Dazu, dass er ab und zu hier war. Nicht oft. Vielleicht einmal im Monat.«
Von der Wand über dem Sofa in der Villa im Kapellvei lächelte der acht Jahre alte Kasper Kaspersen von einem riesigen Foto auf Inger Johanne herab. Er stand darauf mit zwei älteren Schwestern, alle drei weißblond und blauäugig, vor einem kreideweißen Hintergrund, und streckte wie in einer Art Pseudogymnastik Arme und Beine von sich, mit Blick in die Kamera. Zwischen ihnen saß ein Riesenschnauzer mit weit aufgerissenem Maul, hellroter Zunge und schräg gelegtem Kopf. Das eine Mädchen hatte eine kohlschwarze Katze auf der Schulter. Inger Johanne verspürte einen vagen Widerwillen gegen dieses Bild, diese posierende Quasi-Idylle, die vermutlich eine Sekunde später in chaotische Auflösung übergegangen war.
»Du hast vorhin gemeint, sie waren sehr verschieden«, sagte sie.
Marianne schniefte ein wenig und tupfte sich mit einer Serviette die Nase.
»Beifußallergie«, erklärte sie. »Es wird jedes Jahr schlimmer. Meine Schwester, die, die mit dem Muslim verheiratet ist, leidet unsäglich. Unter der Allergie, meine ich. Nicht unter dem Muslim.«
Sie lachte dasselbe Lachen, mit dem sie immer alles und alle begrüßt hatte. Marianne war auf der Weiterführenden Schule die schlechteste Schülerin in der Klasse gewesen, ja beinahe das, was Inger Johanne in Gedanken, aber nur dort, als dumm bezeichnet hatte. Dennoch hatte Marianne immer zur Clique um Ellen Krogh gehört. Marianne nahm das Leben, wie es kam. Sie schaffte es auf irgendeine Weise bis zum Abitur, vor allem durch ihren Charme, und heiratete mit dreiundzwanzig einen geschäftstüchtigen Elektriker. Die Ehe wirkte unerschütterlich, und Thor Kaspersen behandelte Marianne noch immer wie edles Kristall. Die beiden Töchter waren jetzt Teenager. Kasper war zur großen Freude der Familie noch nachgekommen, gleichsam zum Dessert. Der Junge war bezaubernd, gut in der Schule und bildhübsch. Alle drei hatten genetisch den Hauptgewinn gezogen: das Aussehen der Mutter und den scharfen Verstand und die geschickten Hände des Vaters.
Marianne bezeichnete ihren Schwager konsequent als den »Muslim«. Bei allen anderen hätte Inger Johanne sich provoziert gefühlt, aber jetzt lächelte sie und schüttelte kurz den Kopf.
»Was war denn der Unterschied?«, fragte sie. »Zwischen Sander und Kasper?«
»Zehn Kilo«, kicherte Marianne, dann wurde sie sofort wieder ernst und riss dramatisch die Augen auf. »Verzeihung. Das sollte bloß ein Witz sein. Kasper ist ja eher klein geraten, wie du weißt, und Sander war doch ziemlich ... groß.«
»Ja.« Inger Johanne nickte. »Er war ein großer, kräftiger Junge. Aber das hatte ich nicht gemeint.«
»Kasper ist eher ... ruhig. Ich meine, klar ist er ein richtiger Junge, Gott bewahre. Viel aktiver, als Kjerstin und Kristin in dem Alter waren. Guter Fußballspieler. Aber bei Sander war das doch irgendwie anders.«
Inger Johanne fiel auf, dass eigentlich das ganze Wohnzimmer blau war. Weiße Wände, ein wenig blassrosa zwischendurch, ein Kissen und eine Kerze, aber die Sofas auf beiden Seiten des Glastisches waren eisblau, auf dem Tisch lag eine babyblaue Decke, und die drei Ölgemälde an den Wänden waren in Mitternachtsblau bis Chlorblau gehalten. Sogar die Kleider der Kinder auf dem überdimensionalen Foto waren blau. Marianne arbeitete in Teilzeit als Schwesternhelferin und hatte offenbar Freizeit genug.
»Ich begreife immer noch nicht, was an ihm so anders war«, sagte Inger Johanne und griff nach einer Flasche mit Mineralwasser. »Ich würde gern dahinterkommen, was den Jungen wirklich ... charakterisiert hat. Nicht, dass er laut war. Das sind viele Kinder. Nicht, dass er sehr aktiv war. Da war er auch nicht der Einzige. Ich denke mehr an ...«
Sie goss Wasser in ein schönes blaues Glas und überlegte.
»Er schien die ganze Zeit die Erwachsenen zu testen«, sagte Marianne plötzlich, und Inger Johanne schaute auf.
»Ach?«
»Alle Kinder müssen zurechtgewiesen werden«, sagte Marianne. »Meine natürlich auch. Vor allem Kasper. Alle reden darüber, wie Kinder Grenzen ausdehnen wollen, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie eigentlich nur nach Grenzen suchen. Glaubst du nicht? Wenn die Grenzen klar sind, dann sind Kinder eigentlich ziemlich pflegeleicht. Aber Sander schien die ganze Zeit auf Hochtouren zu laufen, immer mit einem halben Auge auf die Erwachsenen, die gerade in der Nähe waren. Er schien nie so ganz zu wissen, wo die Grenzen lagen. Er hatte etwas ... Nervöses. Verstehst du?«
»Du meinst, dass er Angst hatte?«
»Angst vielleicht nicht gerade, aber auf jeden Fall war er unsicher. Als ob die Grenzen in seinem Leben mal hier gelegen hätten ...«
Sie markierte mit der rechten Hand einen Punkt in der Luft.
»... und mal dort.«
Die linke Hand zeichnete an einer ganz anderen Stelle einen Strich.
»Ich will Ellen und Jon wirklich nicht kritisieren, aber für Sander kann es nicht leicht gewesen sein. Und sein Verhalten wirkte auf andere Kinder manchmal arg verwirrend. Jedenfalls war das so bei Kasper. Es war einfach anstrengend für ihn, mit Sander zusammen zu sein.«
Inger Johanne spielte an einem Sofakissen herum. Sie hatte sich seit einer Ewigkeit nicht mehr so verwirrt gefühlt. Vor einer Woche hatte die eine Großmutter von Sander sie als Detektivin anheuern wollen, um zu beweisen, dass der Junge nicht von seinem Vater umgebracht worden war. Heute hatte die andere Großmutter den Gegenbeweis von ihr erbeten. Außerdem hatte ihr irgendwer eine anonyme Mitteilung gesendet, um ihr Interesse für den Fall zu wecken. Sie hatte keine Ahnung, wer das sein konnte, und kaum einen Gedanken an die SMS verschwendet, bis Agnes Krogh den Hauges vei verlassen hatte und sie endlich zu dem Schluss gekommen war, dass sie etwas unternehmen musste.
Seit dem fatalen Freitag vor zehn Tagen hatte sie versucht, sich möglichst weit von Sander Mohrs Schicksal zu distanzieren. Erst an diesem Tag hatte sie eingesehen, dass das unmöglich war. Die Filmszene, die Agnes ihr gezeigt hatte, konnte man unmöglich vergessen. Jedenfalls die Geräusche. Die Bilder waren beim zweiten Durchgang nicht mehr ganz so schlimm gewesen. Der Junge war ungeheuer trotzig gewesen. Hatte sich auf den Boden fallen lassen, sich schwer gemacht. Ihn einfach hochzuheben und mitzunehmen war da nicht unbedingt die schlechteste Idee gewesen.
Mit seinen Schreien aber konnte sie nicht leben.
Sander war ein Junge, den sie gekannt hatte, wenn auch nicht besonders gut, und es gab zwischen ihnen zu viele Berührungspunkte, um der Sache jetzt den Rücken zu kehren. Die Unklarheiten rund um den Unfall ließen sie nicht mehr los. Yngvar und Inger Johanne hatten sich gut zehn Jahre zuvor bei einer polizeilichen Ermittlung kennengelernt, an der sie sich um keinen Preis hatte beteiligen wollen. Seither wehrte sie immer ab, wenn er sie abends, vielleicht nur durch einen Nebensatz, in irgendein Geheimnis einweihen wollte.
Diesmal war sie ganz allein. Ihr Widerwille war noch größer gewesen als sonst. Es hatte länger gedauert.
Mit Marianne hatte sie sich aus einem plötzlichen Impuls heraus verabredet, aber vielleicht war das gar nicht so dumm. Auf irgendeine Weise musste sie sich Sander nähern, ihn besser kennenlernen.
»Aber er konnte unglaublich gut zeichnen«, sagte Marianne.
»Das habe ich schon verstanden.«
»Das hier musst du sehen. Einen Moment.«
Marianne stand auf und lief aus dem Zimmer. Inger Johanne leerte ihr Glas. Ihr Rücken schmerzte nach der Gartenarbeit des Vortages, und das leise Ziehen im Kreuz machte ihr Sorgen.
»Sieh mal«, sagte Marianne lächelnd und setzte sich wieder, ehe sie Inger Johanne eine große Zeichnung hinhielt. »Hast du schon mal so was Schönes gesehen? Sander hat das im vorigen Herbst gemalt. Er wollte es wohl Ellen geben, aber dann ist es hier liegen geblieben.«
Es war ein DIN-A3-Blatt. Inger Johanne legte es auf ihre Knie und rückte ihre Brille gerade.
In ein großes Viereck mitten auf dem Blatt hatte Sander ein Schlafzimmer gezeichnet. In einem breiten Doppelbett mit dunkelrotem Bettzeug saß ein blonder lächelnder Junge. Auf jeder Seite des Bettes stand ein Nachttisch, detailliert wiedergegeben bis zum digitalen Wecker mit roten Zahlen, einem Spielzeugboot und ein paar Büchern. Über dem Bett hing das gerahmte Bild eines tauchenden Wals, die breite Schwanzflosse erhob sich über einer Kaskade aus Tropfen.
»Unglaublich, was?«
Marianne lächelte, legte den Kopf schräg und beugte sich vor, als könne sie von dem schönen Bild nicht genug bekommen.
»Ja«, murmelte Inger Johanne. »Das ist ... phantastisch.«
Der Junge auf der Zeichnung hielt ein Schmusetier im Arm. Es war grün und hatte große Ähnlichkeit mit einem Schwein. Obwohl das Bild natürlich eine Kinderzeichnung war, war es nicht flach und zweidimensional. Die Bücher, die auf dem Nachttisch lagen, waren mit einem Blick für das Perspektivische gezeichnet, den Inger Johanne bei einem Siebenjährigen für sehr ungewöhnlich hielt. Das Bett hatte ebenfalls Tiefe: Sander hatte es vorn breiter gemacht als hinten an der Wand.
»Er hat sogar Batman gezeichnet«, sagte Marianne und beugte sich noch weiter vor. »Er sagt, das ist sein Lieblingsschlafanzug.«
Inger Johanne nickte zerstreut.
Sie blickte nicht mehr auf die Schlafzimmerszene. Sie interessierte sich eher für den Rahmen. Das rechteckige Bild war von einem schwarzen, acht bis zehn Zentimeter breiten Feld umgeben. Hier und dort hatte Sander so fest aufgedrückt, dass im Papier Löcher entstanden waren.
»Das muss doch der Nachthimmel sein«, sagte Marianne, als sie sah, wie Inger Johannes Zeigefinger vorsichtig über die schwarze Fläche strich. »Siehst du die Löcher? Das sind sicher die Sterne. Wenn man das Bild an eine weiße Wand hängt, sieht es jedenfalls so aus.«
Sie lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und faltete die Hände vor den Knien.
»Ich muss es Ellen und Jon ja wohl irgendwann geben. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber wenn eine gewisse Zeit vergangen ist. Sander war doch ein echter Künstler. Vielleicht hat die Welt einen neuen Edvard Munch verloren.«
Inger Johanne hörte nicht zu. Noch immer ließ sie den Finger über das breite Feld um die Zeichnung wandern. Offenbar waren unterschiedliche Stifte benutzt worden. So, wie es sich anfühlte, waren es wohl Wachsmalkreiden gewesen, aber in der schwarzen Fläche fand sie auch noch dunklere, wütende Striche, wie von einem dünnen Filzstift oder einem Kugelschreiber. Sander hatte alle schwarzen Stifte benutzt, die ihm zur Verfügung gestanden hatten, als ob er den Rahmen um das gemütliche Schlafzimmer gar nicht dunkel und düster genug hätte malen können.
»Ellen und Jon haben sicher jede Menge Zeichnungen von Sander«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Glaubst du, ich könnte diese hier haben?«
»Du? Warum denn? Du hast Sander doch gar nicht gut gekannt, du hast doch selbst gesagt, dass du ihn nur ein- oder zweimal pro Jahr gesehen hast.«
»Ich hätte sie aber trotzdem gern. Ich kann sie ja später mal Ellen geben. Ist das okay?«
Marianne zuckte mit den Schultern.
»Wo du so nett bittest ...« Sie lächelte. »Aber was willst du damit?«
Inger Johanne zog wegen ihrer Rückenschmerzen eine Grimasse und stand auf.
»Ich will sie mir nur ein bisschen näher ansehen.«
Sie ging mit der Zeichnung hinaus und hoffte, dass Marianne sie in wenigen Minuten vergessen haben würde. Sanders Bild hatte sie auf eine Weise berührt, wie es seinen Großmüttern nicht gelungen war.
»Glaubst du, wir können unser Nostalgieessen irgendwann mal nachholen?«, rief Marianne ihr nach. »Es wäre doch witzig, wenn wir Mädels uns alle mal wieder treffen könnten.«
Inger Johanne hörte es, als sie über den Kiesweg lief, ließ sich jedoch nichts anmerken. Der Schnauzer, der an einer Laufleine zwischen Fahnenstange und Haus hin und her lief, bellte ihr wütend hinterher, als sie sich ins Auto setzte und losfuhr.
»Ich habe da so ein Gerücht gehört, dass Sie ein genialer Modellbauer sind. Stimmt das?«
Henrik Holme witterte eine Fangfrage und gab keine Antwort. Er versuchte verzweifelt, still zu sitzen. Seine Schwester hatte ihm gesagt, dass er noch kindlicher wirkte, wenn er auf dem Stuhl hin und her rutschte. Außerdem zitterte immer sein rechter Oberschenkel, wenn er nervös war, und er brauchte all seine Selbstdisziplin, um ruhig zu bleiben. Tove Byfjords Stimme hatte etwas Beängstigendes. Sie war leise und beherrscht und hatte einen scharfen Unterton, bei dem ihm glühend heiß wurde. Vermutlich war sie wütend. Es wäre besser, gar nichts zu sagen, solange das nicht unbedingt nötig war.
»Stimmt das?«, fragte sie noch einmal.
Es war unbedingt nötig.
»Ja. Doch. So einigermaßen.«
Sie verzog den Mund zu etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte. Die kleinen spitzen Zähne gaben ihr das Aussehen eines Raubfisches, und Henriks rechter Oberschenkel zitterte jetzt unkontrollierbar.
»Was haben Sie denn zum Beispiel gebaut?«
Henrik räusperte sich und schluckte.
»Im Moment arbeite ich am Tadsch Mahal«, flüsterte er.
»Was?«
Tove Byfjord legte die Arme auf den Schreibtisch und stützte sich darauf.
»Dem Tadsch Mahal«, wiederholte Henrik viel lauter. »Einem indischen Prachtbau aus dem siebzehnten Jahrhundert, errichtet von ...«
»Ich weiß, was der Tadsch Mahal ist! Wie bauen Sie den?«
»Wie ich den baue ... ich ... ich brauche zuerst viele Bilder, sehr detaillierte, aus allen Blickwinkeln, auch von oben.«
Tove Byfjord winkte gereizt ab.
»Das ist mir klar. Was ich wissen will, ist, was Sie machen, wenn Sie mit dem Bauen anfangen.«
Henrik konnte nicht begreifen, was sein Hobby mit dem Fall Sander Mohr zu tun haben sollte. Er hatte Tove Byfjord aufgesucht, um ihr von seinem Gespräch mit Elin Foss zu berichten. Die Polizeijuristin hatte die Tür hinter ihm geschlossen, ihn in einen Sessel gedrückt und lange wortlos zugehört. Dann, einfach so, stellte sie diese Fragen nach seinen Modellen.
Das machte ihm größere Angst, als wenn sie ihm Vorwürfe gemacht hätte. Mit denen hatte er gerechnet, und er hatte sich darauf vorbereitet. Das hier aber konnte er nicht begreifen, und er merkte, wie in ihm Panik aufstieg. Der letzte Panikanfall war so lange her, dass er sein Gedächtnis nach Strategien durchsuchen musste, nach Regeln und Atemübungen und Tricks, an denen er während seiner ganzen Jugend herumgefeilt hatte, um Anfälle zu mildern oder zu vermeiden.
»Ich brauche eine Platte, auf der ich es bauen kann.«
Seine Stimme war kaum zu hören.
»Und eine Stelle, wo das Modell ungestört stehen kann, viele Monate, während ich daran arbeite.«
Tove Byfjord nickte kurz.
»Danach zeichne ich einen Umriss mit den genauen Proportionen. In den Umriss muss ich ein Gerüst einbauen. Eine Stütze für die Fassade, sozusagen. Ich muss alles ganz genau planen, denn wenn die Fassaden montiert werden, dürfen die Fenster ja nicht ...« Er starrte auf den Tisch, aber ihr Schweigen ließ ihn aufblicken.
»Haben Sie das so gemeint? Was ich mache, wenn ich ...«
»Reden Sie einfach weiter.«
»Die Fenster im fertigen Modell müssen ... Wenn man in ein Fenster oder andere Öffnungen schaut, darf man das Gerüst nicht sehen.«
»Das Gerüst ist also ein wichtiger Teil der Arbeit?«
»Mm.«
Er nickte und starrte wieder die Tischplatte an, als Tove Byfjord sagte: »Wenn das Modell fertig ist, dann müssen Stützen und Gerüst so unsichtbar wie möglich sein. Das Modell soll doch die Leute beeindrucken. Aber ohne Gerüst kein Modell. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja.«
»Und das können Sie gut?«
»Ziemlich gut. Ich mach das schon lange. Hab mit fünf angefangen.«
»Und warum haben Sie daraus dann nichts gelernt?«
»Was?«
»Warum ...«
Pause.
»... haben ...«
Pause.
»... Sie in all diesen Jahren verdammt noch mal daraus nichts gelernt?«
Henrik atmete zu schnell, das merkte er jetzt. Fingerspitzen und Füße prickelten, und ihm wurde schwindlig. Sein Herz hämmerte dermaßen, dass er glaubte, er würde hier und jetzt sterben. Ihm kamen die Tränen. Eine heftige Übelkeit machte es ihm unmöglich, den zähen Schleim in seinem Hals hinunterzuschlucken.
»He«, sagte Tove Byfjord jetzt mit einer ganz anderen Stimme, sie schien sehr weit weg zu sein. »Ist alles in Ordnung? Henrik? Henrik!«
Ehe er sich’s versah, drückte er sich mit der rechten Hand eine Plastiktüte auf den Mund. Tove Byfjord hockte neben seinem Sessel und hatte eine Hand auf seine gelegt.
»Ruhig«, sagte sie wieder und wieder. »Laaaange, tiiiiiefe Atemzüge.«
Alles wurde leichter. Sein Herz nahm sich zusammen. Er konnte wieder atmen, obwohl seine Zunge ihm noch immer zu groß und viel zu trocken vorkam. Er nahm die Plastiktüte vom Mund und atmete zweimal tief durch.
»Nicht böse sein«, sagte er und spürte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Rasch wischte er sie mit dem Handrücken ab.
»Tut mir leid«, sagte sie und richtete sich auf, ohne seine Hand loszulassen. »Ich wusste ja nicht, dass Sie ...«
»Man müsste hier im Haus doch miteinander reden können wie unter Kollegen«, sagte er leise. »Ich habe nie verstanden, wozu es gut sein soll ...«
Sie ließ seine Hand los und ging ruhig zu ihrem Sessel zurück.
»Geht’s wieder besser?«
»Ja.«
»Ich habe Sie nach Ihren Modellen gefragt, weil Sie eben eine solide polizeiliche Ermittlung beschrieben haben. Begreifen Sie das nicht? Das fertige Modell zeigen wir vor Gericht. Damit es für eine Urteilsverkündung reicht, müssen wir ein solides Fundament haben. Das kriegen wir nicht über Nacht. Es gibt Regeln dafür, wie man es bekommt. Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen. Stein auf Stein legen. Es kann langweilig sein, es wird nicht zu sehen sein, wenn alles fertig ist, aber es ist dennoch absolut entscheidend dafür, dass unser Bau hält.«
»Verstehe.«
»Wirklich?«
Sie wirkte eher resigniert als wütend, aber er wagte nicht, ihren Blick zu erwidern, als sie sagte: »Ohne diesen ...«
Sie warf einen Blick zur Tür und zog die gespreizten Finger der rechten Hand durch ihre Haare.
»... wäre diese Ermittlung nicht so schiefgelaufen. Sie wären nie in den Glads vei geschickt worden. Sie hätten niemals Ihre wirren ... Vernehmungen durchführen dürfen, falls man das überhaupt so nennen kann. Sie fahren mit der U-Bahn nach Grorud und sprechen mit einer zentralen Zeugin per ...«
»Skype«, murmelte er, als sie zögerte.
»Skype«, sie nickte. »Aus Australien. Wissen Sie, wann sie zurückkommt?«
»Nein.«
»Haben Sie sie gefragt?«
»Nein. Aber ich weiß immerhin, wie ich sie erreichen kann.«
»Sie werden sie überhaupt nicht erreichen. Sie hätten gar nicht mit ihr reden dürfen. Sie können mir alle Informationen geben, die Sie haben, und den Fall dann vergessen.«
Sie beugte sich wieder zu ihm vor, aber diesmal eher mütterlich als aggressiv.
»Sie müssen loslassen, Henrik. Loslassen. Wenn sich weitere Zeugen oder Beteiligte oder Gott weiß was an Sie wenden, verweisen Sie sie weiter.«
Er saß ganz still da. Sogar seinen Oberschenkel hatte er endlich unter Kontrolle.
»Haben Sie mich verstanden?«, fragte sie eindringlich.
Er hatte verstanden.
Das Problem war, dass sie ihn nicht verstand. Tove Byfjord hatte nicht an der Wand der Großmutter ein Foto von Sander gesehen. Sie wusste wohl kaum, wie es war, ein Kind zu sein, wenn die Welt draußen gegen einen war und der einzige Ort, wo es Licht und Geborgenheit gab, der Küchentisch zu Hause, wo man Kakao trank und über Brachiosaurier plauderte und andere längst ausgestorbene und also ungefährliche Wesen. Tove Byfjord hatte einen festen Blick und eine scharfe Zunge und einen Busen, von dem er unmöglich die Augen abwenden konnte. Sie war auf dem Schulhof nie schikaniert worden. Er erkannte sie, trotz des Altersunterschieds, so wie er immer die Könige und Königinnen seiner Kindheit erkannte, die Sieger von damals, als er das Leben für eine ewige Übung in der Kunst des Ausweichens gehalten hatte, der Kunst, sich bedeckt zu halten und Tricks gegen die Angst zu finden. Tove Byfjord hatte keine Ahnung, wie sehr ein Kind sich danach sehnen konnte, abends ins Bett zu kriechen, nach der Geborgenheit, die der Arm eines starken Mannes bot, der nach Wald und ein wenig nach Schweiß roch. Sie war immer allein zurechtgekommen, diese Tove Byfjord, das konnte er sehen, denn er hatte sein Leben lang solche wie sie gesehen.
»Sander hatte es zu Hause nicht gut«, sagte Henrik trotzig. »So sollten Kinder nicht leben müssen. Wir können einen solchen Fall nicht auf sich beruhen lassen.«
»Das werden wir ja auch nicht. Das wissen Sie doch.«
Er merkte, dass sie jetzt wieder ungeduldig wurde, und stand auf.
»Na gut«, sagte er. »Aber ich hoffe, jemand wendet sich ziemlich bald an diesen Rektor. Wenn Elin Foss die Wahrheit gesagt hat, ist das doch ein Skandal.«
»Das sehe ich auch so«, sagte sie. »Wir machen das so bald wie möglich. Aber jetzt ist Sommer, die Schulen haben Ferien, und dann ist da eben dieser ...«
»Dieser andere Fall«, sagte Henrik Holme und ging, leicht erstaunt darüber, dass ihm diese spöttische Bemerkung gelungen war.
»Yngvar ...«
Inger Johanne flüsterte, auch wenn sie ihn eigentlich wecken wollte. Er brummte etwas, das sie nicht verstand, und kehrte ihr den Rücken zu. Es war zwanzig vor eins. Yngvar war wie üblich nach dem Essen ins Bett gefallen, er schlief mehr, als sie bei einem Erwachsenen für möglich gehalten hätte. Meistens kam er gegen acht nach Hause, aß, duschte und ging schlafen. Alles fast ohne ein Wort. Der Schlaf war eine Flucht, vermutete Inger Johanne. Sie ließ ihn flüchten. Das Essen stand auf dem Tisch, wenn er kam, und er aß allein. Ab und zu machte sie mit Jack einen Abendspaziergang, wenn sie das Essen auf den Tisch gestellt hatte, und in der Regel war Yngvar eingeschlafen, wenn sie nach Hause kam. Sie führten parallele Leben, ohne die Kinder und alles, was sie sonst an die alltäglichen Trivialitäten band, aber seltsamerweise hatte sie sich ihm lange nicht mehr so nahe gefühlt. Es konnte ein Blick sein, den er ihr zuwarf, wenn er die Treppe hochkam, schwer und müde, eine Weichheit in seinen Händen, wenn er ihre Schultern streifte, während er an dem Sofa vorbeiging, auf dem sie in ein Buch vertieft saß, mit dem Rücken zu ihm. Er fehlte ihr, aber in diesen kleinen Zeichen lag eine unausgesprochene Dankbarkeit, eine stumme Zusammengehörigkeit, die sie beide brauchten. Jedenfalls sie selbst.
»Yngvar«, wiederholte sie ein wenig lauter. »Bitte, wach auf.«
Verwirrt versuchte er, aus dem Schlaf und dem Bettzeug aufzutauchen.
»Wie spät ist es denn?«, murmelte er matt.
»Mitten in der Nacht. Aber du musst mir helfen.«
Plötzlich wirkte er hellwach.
»Stimmt was nicht? Die Kinder ... wo sind die Kinder?«
Er stand nackt mitten im Zimmer, in einem Tempo, das sie ihm niemals zugetraut hätte.
»Alles ist gut!«, rief sie. »Yngvar! Allen geht es gut!«
Jetzt wurde er richtig wach. Die Luft wich aus seiner Lunge. Seine Schultern senkten sich, der Bauch wurde schlaff, und er gähnte ausgiebig, ehe er sich setzte und sich im Bett nach hinten kippen ließ.
»Verdammt«, murmelte er. »Da hab ich wohl geträumt.«
»Ich wollte nur mit dir reden.«
»Muss schlafen. Wirklich. Ich muss schlafen.«
»Ich brauche Hilfe.«
»Wobei denn?«
Er stützte sich auf den Unterarm und griff nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch.
»Du musst dir eine Zeichnung ansehen«, sagte sie.
Er leerte das Glas, dann drehte er sich mit irritierter Miene zu ihr um.
»Was? Du weckst mich mitten in der Nacht, damit ich mir eine Zeichnung ansehe? Es ist doch ...«
»Fast eins«, sagte sie rasch. »Aber das hier ist wichtig, Yngvar. Und jetzt bist du ja ohnehin schon wach. Bitte.«
»Na gut. Was denn für eine Zeichnung?«
»Warte.«
Sie streifte die Decke ab und lief aus dem Zimmer. Als sie gleich darauf zurückkehrte, hatte Yngvar sich aufgesetzt, sich Kissen in den Rücken gestopft und die Nachttischlampe eingeschaltet.
»Hätten wir das nicht machen können, bevor ich schlafen gegangen bin?«
»Du warst nicht ... im Moment ist es nicht gerade leicht, mit dir zu sprechen. Außerdem wollte ich dich nicht damit belästigen. Aber ich kann nicht schlafen, und da dachte ich, du könntest ...«
Sein Gesicht öffnete sich zu einem Lächeln, das sie seit über einer Woche nicht mehr gesehen hatte.
»Du bist wunderbar«, sagte er. »Weißt du das?«
Sie reichte ihm Sanders Zeichnung und kam wieder ins Bett. Yngvar suchte auf dem Nachttisch nach seiner Lesebrille und setzte sie auf die Nase. Er hielt das Bild ins Licht und musterte es lange.
»Eine Kinderzeichnung«, sagte er endlich. »Aber nicht von einem von unseren. Ragnhild zeichnet alles flach, und die Menschen sind immer von vorn zu sehen. Aber hier sind doch ...«
Er schob sich mit seinem dicken Zeigefinger die Brille höher auf die Nase.
»Dieses Kind kennt sich mit der Perspektive fast perfekt aus«, sagte er sichtlich beeindruckt. »Wer ist es?«
»Nachher«, winkte sie ab. »Ich will wissen, was du siehst.«
»Ein glückliches Kind in einem Doppelbett«, sagte er gehorsam. »Ein Plakat aus den Neunzigerjahren oder so über dem Bett, eine Walflosse, die gleich verschwinden wird. Die Wassertropfen sind wirklich gut gelungen. Es ist ein Junge, glaube ich, und er hat ein grünes Schmusetier, das ist wohl ein ... Schwein? Gibt es Schmuseschweine?«
»Also, Yngvar! Was ist mit Ferkel aus Pu? Dussel. Was siehst du sonst noch?«
»Ist das ein Batman-Schlafanzug? Ein Schiff neben der Lampe, es ist halb neun, und die Bettwäsche ist tiefrot und hat eine Art Muster. Drei Bücher. Eins ist von ...«
Er drehte die Zeichnung um und hielt sie sich dichter vor die Augen.
»Jo Nesbø.« Er lächelte. »Das andere ist von Tom Egeland. Das dritte ...«
Er kniff die Augen zusammen.
»Und Jeffrey Archer ist auch ganz richtig geschrieben! Wer in aller Welt hat das hier gezeichnet?«
»Siehst du noch mehr?«
»Nein.«
»Doch. Schau gut hin.«
Er ließ den Zeigefinger an seinem Nasenrücken auf und ab wandern und schob die Unterlippe vor.
»Eigentlich schade, das mit dem Rahmen«, sagte er endlich. »Wo der Junge ... das ist doch ein Junge, oder?«
Sie nickte kurz.
»Wo der Junge sich solche Mühe mit der Zeichnung gegeben hat, ist es schade, dass er sie mit dem dicken schwarzen Rand fast schon ruiniert hat. Da war er arg heftig! Schau mal, er hat so fest aufgedrückt, dass das Papier gerissen ist.«
Er hielt das Bild ins Licht. An mehreren Stellen fielen Lichtstrahlen durch das Schwarze.
»Wie würdest du das erklären?«, fragte Inger Johanne.
»Was?«, fragte er und legte die Zeichnung auf die Bettdecke. »Das Bild oder den Rahmen?«
»Beides. Alles zusammen. Die Zeichnung als Ganzes, sozusagen.«
»Du bist hier die Psychologin.«
»Und du kennst dich mit Kindern aus.«
Yngvar lächelte und küsste sie auf den Kopf.
»Es kann sich ganz einfach um einen misslungenen Rahmen handeln«, sagte er. »Der Junge hat altmodische Gemälde mit breiten, schweren Rahmen gesehen und wollte auch so einen.«
»Wäre der dann nicht eher aus Gold? Und ein so guter Zeichner würde doch sicher versuchen, die Schnitzereien zu kopieren?«
Yngvar bewegte den Kopf hin und her und schnalzte mit der Zunge.
»Tja. Vielleicht. Pechschwarze Rahmen kommen nicht gerade häufig vor.«
»Und dann?«
»Dann bleibt nur noch die einfachste Erklärung«, sagte Yngvar und legte die Brille weg. »Dieser Junge hat ein Zimmer gezeichnet, einen Ort, wo er sich sicher und glücklich fühlt. Es ist wohl kaum bei ihm zu Hause. Kinder haben ja normalerweise kein Doppelbett. Und sie lesen auch eher selten Tom Egeland und Jeffrey Archer. In diesem Zimmer ist der Junge glücklich. Die Welt draußen ist bedrohlich, düster und böse.«
Er schob die Zeichnung auf Inger Johannes Seite des Bettes hinüber.
»Und damit ist es für heute genug. Ich muss schlafen, meine Liebe. Dringend.«
Er zog ein Kissen hinter seinem Rücken hervor, knipste die Nachttischlampe aus und drehte sich von Inger Johanne weg. Sie schaltete ihre eigene Lampe ein.
»War das Sander?«, murmelte Yngvar kaum hörbar.
»Ja.«
»Ich will das nicht hören. Ich kann jetzt einfach nicht mehr ertragen. Okay?«
»Okay.«
Inger Johanne starrte die Zeichnung an, bis Yngvars Atem langsamer wurde, gleichmäßiger. Er hatte in Sanders kleinem Kunstwerk dasselbe gesehen wie sie, am liebsten hätte sie ihn wieder geweckt, mit ihm gesprochen, ihm erzählt, was geschehen war, seit sie vor zehn Tagen und einer Ewigkeit im Glads vei erschienen war.
Das Schlafzimmer auf dem Bild kam ihr maskulin vor. Die Bücher, die dunkle Tapete, das Fehlen von Fotos und Cremes auf dem Nachttisch – das konnte nicht Helga Mohrs Zimmer sein. Es entsprach auch nicht Ellens Geschmack, und Inger Johanne war sich zudem sicher, dass Jon und Ellen Hästens-Betten hatten. Sander hätte die typischen Karos gezeichnet. Dies war ein Bett mit hohen Beinen und hohem Kopf- und Fußteil.
Joachim, dachte sie und runzelte die Stirn. Ellen hatte gesagt, er könne mit Sander so gut umgehen. Es kam ihr komisch vor, dass der Junge so oft bei dem viel jüngeren Freund des Vaters übernachtet hatte. Andererseits waren Ellen und Jon auf solche Hilfe angewiesen. Agnes Krogh hatte Joachim nicht erwähnt, aber sie hatte zu ihrem Enkel ja auch seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt.
Joachim hatte nach Sanders Tod sehr betroffen gewirkt, das fiel ihr jetzt ein. Vielleicht hatte er den Jungen wirklich gekannt. Vielleicht gab es da außerhalb der Familie endlich einen Menschen, der Sander gern hatte und der erzählen konnte, wie dessen Leben in den vergangenen Jahren wirklich ausgesehen hatte.
Gleich morgen würde sie Kontakt zu Joachim aufnehmen. Sie wusste nicht mehr, wie er mit Nachnamen hieß, aber das würde ihr die Website von Mohr und Westberg verraten. Morgen, dachte sie, schob die Zeichnung auf den Nachttisch, legte sich hin und knipste das Licht aus.
»Wir kriegen einen kleinen Jungen«, flüsterte sie ins Dunkel.
Aber Yngvar schlief.
»Glaubst du, es kommt jemand?«, fragte Ellen Mohr leise und schenkte sich Rotwein nach.
Jon lehnte schweigend am Türrahmen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sein dunkelgrüner Seidenschlafanzug wirkte im trüben Licht der einsamen Kerze auf dem Küchentisch fast schwarz. Es war nach halb vier. Ein neuer Sommertag ließ einen feinen Streifen Himmel im Osten aufleuchten, aber der Raum lag noch im Halbdunkel. Es waren noch anderthalb Stunden bis Sonnenaufgang.
»Trinkst du schon wieder«, sagte er tonlos.
»Ich kann nicht schlafen.«
Er schaltete die Deckenlampe ein.
»Glaubst du, es kommt jemand?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
»Es ist Sommer«, sagte er. »Die meisten sind verreist.«
»Ich habe um eine extragroße Todesanzeige gebeten, aber das war wohl nicht möglich, jedenfalls nicht in Aftenposten. Alles muss gleich groß sein. So ist das jetzt hierzulande. Sogar im Tod sollen alle gleich sein.«
Sie lachte trocken, ein angestrengtes Keuchen, und hob das Glas.
»Du lallst«, sagte er.
»Ich lalle nicht.«
»Sag: Todesanzeige.«
»Todesanzeige.«
»Da hörst du’s doch.«
»Ich lalle nicht!«, schrie Ellen und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich rede über die Beerdigung unseres Sohnes.«
»Du siehst unmöglich aus. Blick doch mal in den Spiegel, Ellen.«
Ihre Haare waren verfilzt, und der helle Morgenrock hatte Rotweinflecken an der Brust. Um die Lippen zog sich ein trockener bläulicher Rand, und ihre Zähne hatten sich verfärbt. Die Hände fummelten am Etikett herum, es war bereits zur Hälfte abgerissen und in Form von Kügelchen auf dem Tisch verteilt. Eine Zigarette schwelte in einer mit Kippen gefüllten Tasse. Jon ging zum Fenster und öffnete es.
»Wie viel hast du eigentlich getrunken?«
»Weiß nicht«, murmelte sie. »Ich kann nicht schlafen.«
»Kannst du nicht zum Arzt gehen?«
Sie gab keine Antwort. Jon setzte sich, ließ den Stuhl gegen die Wand kippen und legte die Beine auf den Tisch.
»Das kannst du allerdings nicht«, sagte er. »Du bist ja die ganze Zeit blau. Entweder das, oder du schläfst deinen Rausch aus.«
Ellen kippte den Wein hinunter wie Saft und schenkte nach.
»Glaubst du, es kommt jemand?«
Ihre Stimme war dünn und flehend.
»Du hast eine Million vierhundertfünfundfünfzigtausend Freunde. Da werden schon einige auftauchen.«
»Die hatte ich. Als Sander noch lebte. Wo sind sie jetzt? Warum kommt niemand? Oder ruft an? Warum will mir niemand helfen?«
»Die sind verreist«, sagte er resigniert. »Fast alle, die wir kennen, sind im Ausland. Die Anzeige ist noch nicht erschienen. Außerdem haben viele geschrieben und Blumen geschickt. Und dann ist da natürlich noch der ...«
»Wenn du diesen verdammten Terroristen auch nur erwähnst ...«
Ellen sank in sich zusammen. Atmete schwer, mit offenem Mund. Endlich setzte sie sich wieder gerade und bewegte den Zeigefinger über der Kerzenflamme hin und her, immer langsamer, bis sie sich verbrannte und den Finger in den Mund steckte.
»Wann erscheint die Anzeige?«, fragte Jon.
»Mittwoch. Morgen.«
»Du bringst alles durcheinander, Ellen. Morgen ist Dienstag.«
»Du bist das, der alles durcheinanderbringt. Jetzt ist Dienstagmorgen ... Gott, was bin ich voll.«
Im Garten schrie eine Katze. Der Zigarettengestank war dem schweren Duft des Hochsommers gewichen, und Ellen fröstelte, als sie den Morgenrock um sich zusammenzog.
»So kann das nicht weitergehen«, sagte Jon ruhig, nahm die Beine vom Tisch und ließ den Stuhl wieder nach vorn kippen. »Wir brauchen Hilfe. So können wir nicht leben, Ellen. So kannst du nicht leben.«
»Doch. Aber für die Beerdigung werde ich mich zusammennehmen. Hab keine Angst. Ich werde die brave Ehefrau sein. Ich werde meinen toten Sohn betrauern, wie es sich gehört. Und dir keine Schande ...«
Er beugte sich über den Tisch vor und versuchte, ihre Hand zu nehmen. Sie zog die Hand so abrupt zurück, dass sie fast vom Stuhl gefallen wäre.
»Du hast nicht aufgepasst«, schrie sie und erwiderte zum ersten Mal seinen Blick.
»Versuch das ja nicht. Das ist eine Warnung, Ellen. Tu das nicht.«
Er schluckte und erhob sich halbwegs vom Stuhl.
»Was hast du mit uns gemacht!«, heulte sie und fuhr mit der linken Hand wütend durch die Luft.
Das Glas kippte um.
Jon sprang auf und schloss das Fenster.
»Reiß dich zusammen«, fauchte er und riss Küchenpapier aus einem Behälter an der Wand. »Die Nachbarn können dich hören, verdammt noch mal. Halt die Fresse!«
»Darauf scheiß ich doch! Ist mir doch egal, was die Nachbarn ...«
Jon fuhr herum. Er klatschte das Küchenpapier mit aller Kraft auf den Tisch, dass der Rotwein aufspritzte, und packte mit der linken Hand Ellens Haare. Langsam zog er ihren Kopf nach hinten und hob dabei die rechte Faust zum Schlag. Sie versuchte nicht einmal, Widerstand zu leisten.
Endlich war sie verstummt.
»Ich weiß nicht, für wen ich mich mehr schäme«, schluchzte er. »Dich oder mich. Verdammt! Aber ich tippe doch mal auf dich. Du hast aus mir einen ...«
Plötzlich ließ er ihre Haare los. Er ließ die Faust sinken. Seine Schlafanzugärmel bedeckten fast seine Hände, und die Hose war zu weit. Er trat einen unsicheren Schritt zurück, dann noch einen.
Und noch einen.