Die Rasur: Einführung der Anfänger

 

Der Umkleideraum hallte wider von Blödeleien, als Luc »Lucky« Martineau seine Montur anlegte. Die meisten seiner Teamkameraden scharten sich um Daniel Holstrom, den Neuling aus Schweden, und boten ihm zwei verschiedene Möglichkeiten der Initiation an. Daniel konnte sich entweder von den Jungs einen Irokesen rasieren lassen, oder er musste das gesamte Team zum Essen einladen. Da Neulingsgelage zwischen zehn- und zwölftausend Dollar kosteten, vermutete Luc, dass der junge Verteidiger wohl eine Zeit lang wie ein Punker herumlaufen würde.

Daniel suchte mit großen, blauen Augen den Raum nach einem Hinweis darauf ab, dass die Jungs ihn hochnahmen. Er fand keinen. Alle waren einmal Anfänger gewesen, und jeder hatte irgendwelche Schikanen über sich ergehen lassen müssen. In Lucs Anfängersaison waren öfter mal die Schnürsenkel seiner Schlittschuhe verschwunden, und oft genug waren die Laken in seinem Hotelzimmer gekürzt worden.

Luc ergriff seinen Schläger und machte sich auf den Weg zum Tunnel. Er kam an ein paar Jungs vorüber, die ihre Schläger mit Schweißgeräten bearbeiteten. Kurz vor dem Tunnel standen Coach Larry Nystrom und Geschäftsführer Clark Gamache und sprachen mit einer kleinen, ganz in Schwarz gekleideten Frau. Die Männer hatten die Arme vor der Brust verschränkt und blickten finster auf die Frau, die auf sie einredete. Ihr dunkles Haar war am Hinterkopf mit einem dieser komischen Gummiteile zusammengefasst, die auch seine Schwester benutzte.

Luc nahm kaum Notiz von ihr und hatte sie bereits vergessen, als er zum Trainieren aufs Eis glitt. Er horchte auf das erfrischende Sch-sch, das er nach stundenlangem Schleifen der Kufen freudig erwartet hatte. Durch das Gitter seiner Maske streifte kühle Luft seine Wangen und füllte seine Lungen, während er verschiedene Aufwärmübungen absolvierte.

Wie alle Torhüter war er zwar Mitglied des Teams, trotzdem durch die typische Einsamkeit seines Jobs ein Außenseiter. Für Männer wie Luc gab es niemanden, hinter dem sie sich verstecken konnten. Wenn er einen Puck durchgehen ließ, blinkten die Alarmzeichen wie riesige in Neon geschriebene Versager-Zeichen, und es bedurfte immer wieder aller Entschlossenheit und großen Muts, sich für ein neues Spiel zwischen die Pfosten zu stellen. Ein Torhüter musste ein Mann sein, der ehrgeizig und arrogant genug war, sich selbst für unbesiegbar zu halten.

Der Torhüter-Coach, Don Boclair, schob einen Behälter voller Pucks aufs Eis, während Luc das gleiche Ritual wie seit elf Jahren absolvierte, sei es vor einem Spiel oder zum Training. Er lief dreimal im Uhrzeigersinn um das Tor herum und einmal in der Gegenrichtung. Er nahm seinen Platz zwischen den Pfosten ein und haute mit seinem Schläger links und rechts dagegen. Dann bekreuzigte er sich wie ein Priester und blickte Don, der an der blauen Linie stand, fest in die Augen. In der folgenden halben Stunde schlitterte der Coach um ihn herum, schoss wie ein Scharfschütze auf alle sieben Löcher und feuerte vom Punkt aus.

Luc war zufrieden. Zufrieden mit dem Spiel, zufrieden mit seiner körperlichen Kondition. Inzwischen war er einigermaßen schmerzfrei und nahm keine Tabletten, die stärker waren als Advil. Er erlebte die beste Saison seiner Karriere, und jetzt, da es aufs Finale der Sportvereinigung zuging, war er mit seinen zweiunddreißig Jahren in Höchstform. Sein Berufsleben hätte nicht besser aussehen können.

Schade nur, dass sein Privatleben schwer zu wünschen übrig ließ.

Der Torhüter-Coach feuerte einen Puck ins obere Drittel, und Luc fing ihn mit einem dumpfen »Pock« im Handschuh. Durch die dicke Polsterung hindurch brannte das halbe Pfund vulkanisierten Gummis in seiner Handfläche. Er ließ sich auf die Knie fallen, als der nächste Puck sein Fünfer-Loch bedrohte und gegen seine Beinschützer knallte. Er spürte den vertrauten, stechenden Schmerz in den Sehnen und Bändern, aber es war nichts, was er nicht hätte verkraften können. Nichts, was er nicht verkraftet hätte, und nichts, von dem er je laut zugegeben hätte, dass er es überhaupt spürte.

Manch einer hatte ihn schon abgeschrieben. Einen Strich unter seine Karriere gezogen. Vor zwei Jahren, als er noch für die Red Wings spielte, hatte er sich beide Knie kaputtgemacht. Nach mehreren Operationen, zahllosen Stunden Krankengymnastik, einer Stippvisite in der Betty-Ford-Stiftung, um die Abhängigkeit von Schmerzmitteln loszuwerden, und einem Wechsel zu den Seattle Chinooks war Luc wieder da und spielte besser denn je.

In dieser Saison musste er etwas beweisen. Sich selbst. Denen, die ihn abgeschrieben hatten. Er hatte die Eigenschaften wiedererlangt, die ihn immer zu einem der Besten gemacht hatten. Luc hatte einen unheimlichen Puckverstand und konnte einen Spielverlauf geradezu voraussehen. Und wenn er die Gefahr nicht mit einer flinken Parade abwehren konnte, hatte er immer noch rohe Gewalt und einen gefährlichen Haken in Reserve.

Nach dem Training zog Luc Shorts und ein T-Shirt an und ging zum Übungsraum. Er strampelte sich eine Dreiviertelstunde auf dem Trainingsfahrrad ab, bevor er zu den Gewichten wechselte. Anderthalb Stunden lang trainierte er Arm-, Brust- und Bauchmuskeln. Die Muskeln an Beinen und Rücken brannten, und der Schweiß tropfte ihm von den Schläfen, während er die Schmerzen wegatmete.

Er duschte ausgiebig, schlang ein Handtuch um seine Hüften und ging zum Umkleideraum. Die anderen Jungs waren schon dort, lümmelten auf Stühlen und Bänken und lauschten auf das, was Gamache von sich gab. Virgil Duffy stand ebenfalls mitten im Raum und redete über Kartenverkäufe. Kartenverkäufe waren nicht Lucs Angelegenheit. Er hatte Tore zu halten und Spiele zu gewinnen. Bisher machte er seinen Job gut.

Luc lehnte sich mit einer bloßen Schulter an den Türrahmen. Er verschränkte die Arme vor der Brust, und sein Blick fiel auf die kleine Frau, die er schon vor Trainingsbeginn gesehen hatte. Sie stand neben Duffy, und Luc hatte Muße, sie eingehender zu betrachten. Sie war eine von diesen naturbelassenen Frauen, die keine Spur von Make-up tragen. Die beiden Striche ihrer Augenbrauen waren die einzige Farbe in ihrem blassen Gesicht. Die schwarze Jacke und die schwarze Hose waren unförmig und verbargen jeden noch so kleinen Hinweis auf Kurven. Über einer Schulter hing eine Ledertasche, in der Hand hielt sie einen Pappbecher.

Sie war nicht hässlich – nur nichts sagend. Manche Männer mochten die naturbelassene Sorte Frau. Luc nicht. Ihm gefielen Frauen, die roten Lippenstift trugen, nach Puder dufteten und ihre Beine rasierten. Ihm gefielen Frauen, die sich Mühe gaben, gut auszusehen. Diese Frau gab sich eindeutig nicht die geringste Mühe.

»Ihr wisst sicher alle längst, dass Chris Evans wegen Krankheit für eine Weile ausfällt. An seiner Stelle wird Jane Alcott über unsere Spiele berichten«, erklärte der Besitzer. »Sie wird uns während der restlichen Saison begleiten und mit uns reisen.«

Die Spieler saßen in verblüfftem Schweigen da. Keiner sagte etwas, doch Luc wusste, was sie dachten. Sie dachten das Gleiche wie er, nämlich, dass er lieber einen Puck an den Schädel bekam, als mit einem Reporter, geschweige denn mit einer Reporterin zu reisen.

Die Spieler sahen den Mannschaftskapitän, Mark »der Hitman« Bressler, an, richteten dann ihre Aufmerksamkeit auf die Trainer, die ebenfalls in frostigem Schweigen verharrten. Sie warteten darauf, dass jemand etwas sagte. Sie vor dem zu klein geratenen, dunkelhaarigen Albtraum bewahrte, der ihnen aufgezwungen werden sollte.

»Tja, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, hub der Hitman an, doch ein Blick aus Virgil Duffys eisigen, grauen Augen ließ den Kapitän verstummen. Niemand wagte es, noch einmal das Wort zu ergreifen.

Niemand außer Luc Martineau. Er hatte Respekt vor Virgil. Er mochte ihn sogar ein wenig. Aber Luc erlebte die beste Saison seines Lebens. Die Chinooks hatten wirklich gute Chancen auf den Pokal, und er wollte verflucht sein, wenn er nicht alles tat, um zu verhindern, dass irgendeine dahergelaufene Reporterin ihnen diese Chancen verdarb. Ihm diese Chance verdarb. Seiner Meinung nach war die Katastrophe vorprogrammiert.

»Bei allem Respekt, Mr. Duffy, haben Sie den Verstand verloren, verdammt noch mal?«, fragte er und stieß sich von der Wand ab. Auf Tour passierten nun mal Dinge, von denen der Rest des Landes nicht unbedingt beim Frühstück lesen musste. Luc war in der Beziehung diskreter als seine Teamkameraden, trotzdem war eine Reporterin, die sie auf ihren Reisen begleitete, das Letzte, was sie brauchen konnten.

Außerdem durfte man den Pechsträhnenfaktor nicht außer Acht lassen. Alles, was der Norm widersprach, konnte das Glück ganz schnell ins Gegenteil verkehren. Und eine Frau, die mit ihnen reiste, wich ganz eindeutig stark von der Norm ab.

»Wir haben ja durchaus Verständnis für eure Sorgen, Jungs«, entgegnete Duffy. »Aber nach gründlicher Überlegung und der Zusicherung seitens der Times und auch Ms. Alcotts können wir euch allen die Wahrung eurer Intimsphäre garantieren. Die Berichterstattung wird euer Privatleben in keiner Weise verletzen.«

Blödsinn, dachte Luc, doch er vergeudete keinen Atemzug für weiteren Widerstand. Luc sah die Entschlossenheit in der Miene des Besitzers und wusste, dass Einwände sinnlos waren. Virgil Duffy bezahlte die Rechnungen. Aber das bedeutete nicht, dass es Luc gefallen musste.

»Tja, dann sollten Sie sie schnellstens auf echt grobe Sprache vorbereiten«, warnte er.

Ms. Alcott wandte sich Luc zu. Ihr Blick war offen und fest. Sie zog einen Mundwinkel hoch, als wäre sie leicht amüsiert. »Ich bin Journalistin, Mr. Martineau«, sagte sie, und ihre Stimme war dezenter als ihr Blick, eine verblüffende Mischung aus weicher Weiblichkeit und scharfer Entschlossenheit. »Ihre Sprache kann mich nicht schockieren.«

Er schenkte ihr ein herausforderndes Lächeln und begab sich auf seinen Umkleideplatz am Ende des Raums.

»Ist sie die Frau, die schreibt Kolumne über Partnerfinden ?«, fragte Vlad »der Pfähler« Fetisov.

»Ich schreibe die Kolumne Als Singlefrau in der Stadt für die Times«, antwortete sie.

»Ich dachte, die Frau wäre Orientalin«, bemerkte Bruce Fish.

»Nein, der Eindruck entsteht nur durch ihren schlechten Lidstrich«, klärte ihn Ms. Alcott auf.

Himmel, sie war nicht mal eine richtige Sportreporterin. Luc hatte ihre Kolumne ein paarmal gelesen, das heißt, er hatte versucht, sie zu lesen. Sie war die Frau, die über ihre Männerprobleme und die ihrer Freundinnen schrieb. Sie gehörte zu den Frauen, die gern über »Beziehungskisten und Probleme« redeten, als ob das alles zu Tode analysiert werden müsste. Als ob die meisten Probleme zwischen Männern und Frauen nicht ohnehin reine Erfindung von Frauen wären.

»Mit wem teilt sie das Zimmer?«, fragte jemand von links her, und das darauf folgende Gelächter löste die Spannung ein wenig. Die Unterhaltung wechselte von Ms. Alcott zu den nächsten vier Spielen, die ihnen in einem Acht-Tage-Marathon bevorstanden.

Luc ließ sein Handtuch zu Boden fallen und kramte in seiner Sporttasche. Virgil Duffy ist inzwischen offenbar senil, dachte Luc und warf seine weiße Unterhose und das T-Shirt auf die Bank. Senil, oder die Scheidung, die er gerade durchstand, machte ihn verrückt. Diese Frau hatte nicht die geringste Ahnung von Hockey. Am Ende wollte sie nur über Gefühle und Beziehungsprobleme reden. Nun, sie konnte ihm Fragen stellen, bis sie schwarz wurde, von ihm würde sie keine einzige Antwort erhalten. Nach seinen Erfahrungen in den letzten Jahren redete Luc nicht mehr mit Reportern. Nie mehr. Daran änderte sich auch nichts, wenn eine Reporterin sie auf ihren Reisen begleitete.

Er zog sich die Unterhose übers Gesäß, warf einen Blick über die Schulter auf Ms. Alcott und schlüpfte in sein T-Shirt. Er sah, dass sie auf ihre Schuhe starrte. Weibliche Sportreporter im Umkleideraum waren nichts Neues. Falls eine Frau sich an einem Raum voller nacktärschiger Männer nicht störte, wurde sie seines Wissens kaum anders behandelt als ihre männlichen Gegenstücke. Doch Ms. Alcott wirkte so verklemmt wie eine altjüngferliche Tante. Was nicht hieß, dass Luc irgendetwas von Jungfrauen verstand.

Er komplettierte sein Outfit mit einer ausgebleichten Levi’s und einem blauen Rippenpullover. Dann stieg er in seine schwarzen Stiefel und schnallte sich die goldene Rolex ums Handgelenk. Die Uhr hatte er bei der Vertragsunterzeichnung von Virgil Duffy geschenkt bekommen. Ein kleiner Bonus zum Abschluss des Handels.

Luc schnappte sich seine lederne Bomberjacke und die Sporttasche und begab sich ins Büro. Dort holte er sich die Reiseroute für die nächsten acht Tage ab und überzeugte sich, dass nicht vergessen worden war, ihm ein Einzelzimmer zu geben. Beim letzten Mal war es in Toronto zu einer Panne gekommen, und sie hatten Rob Sutter zu ihm ins Zimmer gesteckt. Gewöhnlich schlief Luc ein, sobald sein Kopf das Kissen berührte, aber Rob hatte wie eine Motorsäge geschnarcht.

Es war kurz nach Mittag, als Luc das Gebäude verließ. Das dumpfe Knallen seiner Stiefelabsätze hallte auf dem Weg zum Ausgang von den Betonwänden wider. Als er hinaustrat, schlug ihm grauer Nebel ins Gesicht und sickerte in den Kragen seiner Jacke. Es war diese Art von Dunst, die noch nicht ganz Regen, aber trotzdem unheimlich melancholisch war. Die Art, an die er sich noch gewöhnen musste. Dieses Wetter war einer der Gründe, warum er gern reiste und die Stadt verließ, allerdings nicht der Hauptgrund. Der Hauptgrund war die Ruhe, die er unterwegs fand. Doch er hatte so eine Vorahnung, dass diese Ruhe wohl von der Frau gestört werden würde, die jetzt ein paar Schritte entfernt von ihm stand und in ihrer Schultertasche kramte.

Ms. Alcott hatte sich in einen glänzenden Regenmantel gewickelt, der in der Taille gegürtet war. Er war lang und schwarz, und der Wind, der von der Bucht her wehte, blähte ihn auf, sodass es aussah, als hätte Ballast ihr Hinterteil aufgepolstert. In einer Hand hielt sie noch immer den Pappbecher.

»Der Flug nach Phoenix um sechs Uhr morgens ist die Härte«, sagte er, als er auf dem Weg zum Parkhaus auf sie zuging. »Kommen Sie nicht zu spät. Es wäre schade, wenn Sie ihn verpassen würden.«

»Ich werde pünktlich da sein«, versicherte sie, als er an ihr vorbeiging. »Sie wollen nicht, dass ich mit dem Team reise. Liegt es daran, dass ich eine Frau bin?«

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Eine frische Brise zerrte an den Aufschlägen ihres Mantels und blies ein paar Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz über ihre rosigen Wangen. Auch bei näherer Betrachtung wurde sie nicht unbedingt schöner. »Nein. Ich kann Reporter nicht ausstehen.«

»Das ist angesichts Ihrer Vergangenheit nicht weiter verwunderlich, möchte ich meinen.« Sie hatte sich augenscheinlich über ihn informiert.

»Welcher Vergangenheit?« Er fragte sich, ob sie dieses Scheißbuch Die Schlimmen Finger des Hockeysports gelesen hatte, in dem ihm allein fünf Kapitel gewidmet waren, mit Fotos. Etwa die Hälfte von allem, was der Autor in diesem Buch behauptete, war Klatsch und pure Erfindung. Und der einzige Grund, warum Luc ihn nicht verklagt hatte, war der, dass er nicht noch mehr Medienrummel um sich haben wollte.

»Ihre Vergangenheit in der Presse.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Pappbecher und zuckte mit den Schultern. »Die allgegenwärtige Berichterstattung über Ihre Probleme mit Drogen und Frauen.«

Ja, sie hatte es gelesen. Und, zum Kuckuck, was für Leute waren das, die Wörter wie allgegenwärtig benutzten? Reporter, wer sonst. »Um eines klarzustellen: Ich hatte noch nie Probleme mit Frauen. Weder allgegenwärtig noch sonst wie. Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen.«

Zumindest hängte sie ihm keine kriminelle Vergangenheit an. Und seine Abhängigkeit von Schmerzmitteln lag in der Vergangenheit. Wo sie auch bleiben sollte.

Er ließ den Blick von ihrem zurückgekämmten Haar über die makellose Haut ihres Gesichts und am Rest ihrer in diesen scheußlichen Mantel gewickelten Gestalt hinabwandern. Wenn sie ihr Haar offen trug, würde sie vielleicht nicht so furchtbar klemmärschig aussehen. »Ich habe Ihre Kolumne in der Zeitung gelesen«, sagte er und sah in ihre grünen Augen. »Sie sind die Singlefrau, die ständig über Beziehungen schwafelt und keinen Mann findet.« Sie zog die dunklen Brauen zusammen, ihr Blick wurde hart. »Nachdem ich Sie jetzt kennen gelernt habe, verstehe ich Ihr Problem.« Er hatte ihren wunden Punkt getroffen. Gut. Vielleicht ließ sie ihn jetzt in Ruhe.

»Sind Sie noch clean und trocken?«, fragte sie.

Er vermutete, dass sie, wenn er jetzt nicht antwortete, irgendwas erfinden würde. So machten sie es immer. »Absolut.«

»Tatsächlich?« Ihre zusammengezogenen Brauen hoben sich zu perfekten Bögen, als würde sie ihm nicht so recht glauben.

Er machte einen Schritt auf sie zu. »Soll ich in Ihren Becher pissen, Süße?«, fragte er die verklemmte Frau mit den harten Augen, die bestimmt seit fünf Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte.

»Nein danke. Ich trinke meinen Kaffee schwarz.«

Er hätte sich vielleicht die Zeit genommen, ihre Retourkutsche gebührend zu würdigen, wäre sie nicht Reporterin gewesen und hätte er nicht das Gefühl gehabt, dass sie ihm aufgezwungen wurde. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie’s sich mal anders überlegen sollten. Und glauben Sie bloß nicht, die Tatsache, dass Duffy Sie den Jungs aufgehalst hat, könnte Ihnen den Job in irgendeiner Weise erleichtern.«

»Und das bedeutet?«

»Überlegen Sie doch mal«, sagte er und ging weiter.

Er legte das kurze Stück zum Parkhaus zurück und fand seine graue Ducati, die neben dem Behindertenparkplatz aufgebockt stand. Die Farbe des Motorrads entsprach haargenau der der düsteren Garage und den dicken Wolken, die über der Stadt hingen. Er klemmte seine Tasche auf den Gepäckträger und schwang ein Bein über den schwarzen Sitz. Mit dem Stiefelabsatz trat er den Ständer hoch, dann ließ er die Zwei-Zylinder-Maschine an. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an Ms. Alcott, als er aus dem Parkhaus fuhr, das dumpfe Dröhnen des Motors hinter sich herziehend. Er passierte die Tini Bigs Bar, fuhr die Broad hinauf bis zur Second Avenue, bog nach ein paar Häuserblocks in die Gemeinschaftsgarage seines Wohnkomplexes ein und stellte das Motorrad neben seinem Landcruiser ab.

Mit zwei Fingern zog er die Manschette seiner Jacke zurück und warf einen Blick auf die Uhr. Er griff in seine Tasche und rechnete aus, dass ihm noch drei Stunden der Ruhe blieben. Er konnte eine Spielekassette in den Videorekorder schieben und vor seinem Großbildschirmfernseher entspannen. Oder er konnte eine Freundin anrufen und sie zum Mittagessen zu sich einladen. Eine gewisse langbeinige Rothaarige kam ihm in den Sinn.

Im neunzehnten Stock verließ Luc den Aufzug und ging den Flur entlang zu seinem nach Nordosten gelegenen Eckapartment. Er hatte es im letzten Sommer kurz nach seinem Wechsel zu den Chinooks gekauft. Von der Einrichtung – die ihn mit viel Chrom und Stein und abgerundeten Ecken an den alten Cartoon The Jetsons erinnerte – war er nicht sonderlich begeistert, aber die Aussicht … die Aussicht war umwerfend.

Er öffnete die Tür, und seine Pläne für den Tag fielen in sich zusammen, als er über einen blauen North-Face-Rucksack auf dem hellen Teppich stolperte. Eine rote Snowboarder-Jacke lag auf dem marineblauen Ledersofa, Ringe und Armreifen stapelten sich auf einem der Beistelltischchen aus Schmiedeeisen und Glas. Rap-Musik dröhnte aus seiner Stereoanlage, und auf dem Großbildschirm führte Shaggy seine Verrenkungen vor.

Marie. Marie war schon zu Hause.

Auf dem Weg durch den Flur warf Luc im Vorbeigehen den Rucksack und seine Tasche auf das Sofa. Er klopfte an eine der drei Schlafzimmertüren und öffnete sie einen Spalt. Marie lag auf ihrem Bett, das kurze, dunkle Haar wie einen gekappten schwarzen Flederwisch auf dem Kopf zusammengenommen. Die Wimperntusche war unter ihren Augen verlaufen, ihre Wangen waren blass. Sie drückte einen zottigen blauen Teddybär an ihre Brust.

»Wieso bist du zu Hause?«

»Die Schule hat versucht, dich anzurufen. Mir geht’s nicht gut.«

Luc trat näher, um seine sechzehnjährige Schwester, die zusammengerollt auf ihrer Spitzenbettdecke lag, genauer in Augenschein zu nehmen. Vermutlich weinte sie wieder einmal um ihre Mutter. Seit der Beerdigung war erst ein Monat vergangen, und er glaubte, etwas sagen zu müssen, um Marie zu trösten, wusste aber beim besten Willen nicht, was; er hatte es ein paarmal versucht, damit aber alles noch schlimmer gemacht.

»Hast du die Grippe?«, fragte er stattdessen. Sie sah ihrer Mutter so ähnlich, dass es schon unheimlich war. Oder zumindest sah sie ihrer Mutter, wie er sie in Erinnerung hatte, sehr ähnlich.

»Nein.«

»Brütest du eine Erkältung aus? Was fehlt dir denn?«

»Ich fühl mich einfach nicht gut.«

Luc selbst war sechzehn gewesen, als seine Schwester geboren wurde, als Kind seines Vaters und der vierten Frau seines Vaters. Abgesehen von ein paar Feiertagsbesuchen hatte Luc nie etwas mit Marie zu tun gehabt. Sie hatten in Los Angeles gewohnt; er lebte auf der anderen Seite des Landes. Er hatte mit seinem eigenen Leben zu tun gehabt, und bevor sie im vergangenen Monat bei ihm eingezogen war, hatte er sie zuletzt auf dem Begräbnis ihres Vaters vor zehn Jahren gesehen. Und jetzt trug er plötzlich die Verantwortung für eine Schwester, die er gar nicht kannte. Er war ihr einziger lebender Verwandter, der noch nicht das Rentenalter erreicht hatte. Er war Hockeyspieler. Junggeselle. Männlich. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, was zum Teufel er mit ihr anfangen sollte.

»Möchtest du eine Suppe?«, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern, und wieder wurden ihre Augen nass. »Ja, vielleicht«, schniefte sie.

Erleichtert zog Luc sich zurück und ging in die Küche. Er holte eine große Dose Hühnersuppe mit Nudeln aus dem Schrank und schob sie unter den Büchsenöffner auf der Arbeitsplatte aus schwarzem Marmor. Ihm war bewusst, dass sie eine schwierige Phase durchlebte, aber, Herrgott, sie trieb ihn in den Wahnsinn. Wenn sie nicht heulte, dann schmollte sie. Wenn sie nicht schmollte, behandelte sie ihn wie einen Schwachsinnigen.

Luc füllte die Suppe in zwei Schalen und gab Wasser hinzu. Er hatte versucht, sie zu einer Therapie zu schicken, aber sie war während der Krankheit ihrer Mutter schon in einer Therapie gewesen und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen eine weitere, war der Meinung, dass es genug sei.

Er schob sein und Maries Mittagessen in die Mikrowelle und stellte die Zeit ein. Abgesehen davon, dass es ihn in den Wahnsinn trieb, schränkte der Umstand, dass eine launische Sechzehnjährige bei ihm wohnte, auch sein gesellschaftliches Leben empfindlich ein. Er hatte nur noch Zeit für sich selbst, wenn er unterwegs war. Irgendetwas musste sich ändern. Die Situation, wie sie jetzt war, tat ihnen beiden nicht gut. Er hatte eine verantwortungsbewusste Frau eingestellt, die mit Marie in seiner Wohnung wohnte, wenn er nicht in der Stadt war. Sie hieß Gloria Jackson und war wahrscheinlich über sechzig Jahre alt. Marie mochte sie nicht, aber es gab offenbar kaum einen Menschen, den Marie mochte.

Das Beste, was er tun konnte, war wohl, ein gutes Internat für Marie zu finden. Dort wäre sie bestimmt glücklicher, unter lauter Mädchen in ihrem Alter, die sich mit Frisuren und Make-up auskannten und gern Rap-Musik hörten. Natürlich waren seine Gründe, Marie in ein Internat zu schicken, keineswegs selbstlos. Er wünschte sich sein altes Leben zurück. Vielleicht war er ein egoistischer Mistkerl, aber er hatte so hart für dieses Leben gearbeitet. Er hatte sich aus dem Chaos befreit, um ein gewisses Maß an Ruhe zu finden.

»Ich brauche Geld.«

Luc unterbrach die Beobachtung der Suppentassen, die sich in der Mikrowelle drehten, und wandte sich seiner Schwester an der Küchentür zu. Sie hatten bereits über ein eigenes Konto für Marie gesprochen. »Wenn wir das Haus deiner Mutter verkauft haben und deine Waisenrente kommt …«

»Ich brauche aber heute Geld«, fiel sie ihm ins Wort. »Jetzt gleich.«

Er griff nach dem Portemonnaie in seiner Gesäßtasche. »Wie viel brauchst du?«

Sie zog leicht die Stirn kraus. »Sieben oder acht Dollar, glaube ich.«

»Du weißt es nicht genau?«

»Gib mir sicherheitshalber zehn.«

Neugierig geworden und auch, weil er sich verpflichtet glaubte, fragen zu müssen, erkundigte er sich: »Wofür brauchst du das Geld?«

Ihre Wangen röteten sich. »Ich habe nicht die Grippe.«

»Was hast du dann?«

»Ich habe Krämpfe und nichts dagegen im Haus.« Sie senkte den Blick auf ihre bestrumpften Füße. »Ich kenne keine Mädchen, die ich fragen könnte, und als ich zur Schulsanitäterin kam, war es schon zu spät. Deswegen musste ich früher nach Hause gehen.«

»Wozu war es zu spät? Wovon redest du überhaupt?«

»Ich habe Krämpfe, und ich habe keine …« Sie wurde hochrot im Gesicht und platzte heraus: »Tampons. Ich habe im Bad nachgesehen, weil ich dachte, vielleicht hat eine von deinen Freundinnen welche hier gelassen. Aber da sind keine.«

In dem Moment, als Luc Maries Problem endlich begriff, klingelte die Mikrowelle. Er öffnete die Klappe und verbrannte sich die Daumen, als er die Suppentassen auf die Arbeitsplatte stellte. »Oh.« Einer Schublade entnahm er zwei Löffel, und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, fragte er einfach: »Willst du Cracker dazu?«

»Ja.«

Irgendwie erschien sie ihm nicht alt genug dafür. Hatten Mädchen schon mit sechzehn ihre Periode? Anscheinend ja, aber Luc hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht. Er war als Einzelkind aufgewachsen und hatte nie etwas anderes als Hockey im Kopf gehabt.

»Möchtest du vielleicht ein Aspirin?« Eine seiner früheren Freundinnen hatte immer ein Schmerzmittel genommen, wenn sie Krämpfe hatte. Wenn er rückblickend darüber nachdachte, waren sein Geld und ihrer beider Abhängigkeit das Einzige, was sie gemeinsam gehabt hatten.

»Nein.«

»Nach dem Essen gehen wir einkaufen«, sagte er. »Ich brauche ein neues Deodorant.«

Schließlich hob sie den Blick, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.

»Oder soll ich gleich gehen?«

»Ja.«

Er sah sie an, wie sie da stand, peinlich berührt und genauso verlegen wie er selbst. Das schlechte Gewissen, das ihn kurz vorher noch geplagt hatte, war wie weggeblasen. Es war bestimmt richtig, sie in ein Internat zu schicken, wo sie unter gleichaltrigen Mädchen lebte. In einem Mädcheninternat würde man über Krämpfe und andere Frauengeschichten Bescheid wissen.

»Ich hole meine Schlüssel«, sagte er. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, wie er ihr seinen Entschluss beibrachte, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er sie loswerden wollte.

Sie kam, sah und liebte
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