16

Sie lauschte mit vorgerecktem Kopf. Aber nichts rührte sich. Kein Knarren der Tür, die das Treppenhaus von der Wohnung trennte, kein Tak-tak von Muttis Absätzen, kein Trippeln von Kinderfüßen war zu hören. Und es roch nicht nach Pfeifenrauch, sondern nach abgestandener Luft. Von draußen drang der Geruch von faulem Laub herein. Janna-Berta setzte sich auf die Treppe und stützte den Kopf in die Hände.

Aber da waren doch Geräusche! Langsam tappten Schritte aus dem Oberstock, wo Oma Bertas und Opa Hans-Georgs Wohnung lag, die Treppe herab. Opa Hans-Georgs Schritte – unverwechselbar! Jetzt hörte sie ihn sich sogar räuspern.

»Ist da wer?« rief er herunter.

Sie fuhr herum, riß die weiße, bauschige Mütze aus der Jutetasche und zog sie sich über den Kopf. Dann trat sie vor.

»Ich bin's«, sagte sie.

Er beugte sich übers Treppengeländer. Sie erkannte sein langes, schmales, glattrasiertes Gesicht mit den Tränensäcken und der grauen Strähne, die ihm immer in die Stirn fiel. Seine Augen waren schon nicht mehr sehr gut. Er brauchte eine Weile, um sie zu erkennen. Aber als er begriff, geriet er außer sich.

»Großer Gott – Janna-Berta, bist du's?« rief er, kam ihr zwei Stufen entgegen, kehrte dann wieder um und rief hinauf: »Berta, komm schnell, Janna ist da!«

Noch bevor er Janna-Berta erreicht hatte, öffnete sich im Oberstock die Wohnungstür, trippelten Schritte. Oma Berta erschien: erst ihre Hand am Geländer, dann ihr Kopf, der sich darüberbeugte. Und schon hastete sie die Treppe herunter.

»Ach Jannchen, Jannchen«, rief sie, »daß du schon gekommen bist! Was für eine Überraschung!«

Opa Hans-Georg erreichte Janna-Berta zurst. Er drückte sie an sich und küßte sie auf beide Wangen. Sie hielt die Mütze fest, die zu rutschen drohte. Dann schob ihn Oma Berta beiseite. Janna-Berta hatte sie nicht so klein in Erinnerung. Sie mußte sich zu ihr hinunterbeugen. Oder war sie, Janna-Berta, inzwischen gewachsen?

»Wie schmal du geworden bist«, sagte Oma Berta und tätschelte ihr die Wange. »Kein Wunder nach all der Aufregung. Nun wollen wir dich aber schnell herausfüttern.«

Janna-Berta schien es, als träumte sie. Langsam stieg sie die Treppe hinauf. Hinter ihr gingen Oma und Opa. Oma Berta hatte sich bei Opa Hans-Georg eingehängt. So war sie schon immer die Treppe hinaufgegangen, solange sich Janna-Berta erinnern konnte. Und aus der offenen Wohnungstür duftete es nach Kaffee, so, wie es hier schon immer um diese Tageszeit geduftet hatte.

»Du mußt entschuldigen«, keuchte Oma Berta, »daß wir noch nicht alles saubergemacht haben. Zum Beispiel das Gästezimmer und Opas Arbeitszimmer. Wir sind ja heute erst den dritten Tag hier. Du glaubst nicht, wie schmutzig alles war. Alles verstaubt. Und was für ein Geruch in der Wohnung!«

»Wir waren mit bei den ersten«, sagte Opa Hans-Georg,«die hier in Schlitz wieder eingezogen sind. Wir hatten ja auf Mallorca schon erfahren, daß die Sperrzone DREI am ersten Oktober aufgehoben werden sollte. Da war's mit unserer Geduld vorbei. Wir haben den Flug so gebucht, daß wir gleich vom Flughafen aus herfahren konnten. Wir haben ein Taxi genommen, Bus und Bahn verkehren ja noch nicht wieder regelmäßig. Und wir haben gleich in Frankfurt vor einem Supermarkt gehalten und das Taxi voll Lebensmittel geladen. Hier wird sich das alles ja erst allmählich wieder einspielen – ich meine die Einkaufsmöglichkeiten und all das.«

»Weißt du, wir hatten Mallorca so satt«, unterbrach ihn Oma Berta, »und dann hatten wir auch Sorge um unsere Wohnung hier.«

»Es ist ja alles ein bißchen aus der Fassung geraten durch die unglückselige Geschichte in Grafenrheinfeld«, fuhr Opa Hans-Georg lächelnd fort, »vielleicht auch die Moral, nicht wahr. Jedenfalls waren wir beide der Meinung, daß wir auf unsere Sachen hier besser selber aufpassen, anstatt alles der Polizei zu überlassen.«

»Ich glaube«, sagte Oma Berta, »wir können auf dem Balkon Kaffee trinken. Die Sonne ist herausgekommen. Um diese Jahreszeit heizt sie noch schnell auf.«

»Die Oma hat sogar schon Kuchen gebacken«, verkündete Opa Hans-Georg schmunzelnd.

»Dafür war er schon im Garten zugange«, sagte Oma Berta. »Er hat's ja auch gar nicht abwarten können. Die Treppe war fast zugewachsen. Das hättest du sehen sollen! Das Gebüsch hatte sich ganz ungeniert ausgebreitet. Und hinterm Haus die Beete – unbeschreiblich!«

Während Opa Hans-Georg die Stühle zurechtrückte und ein altvertrautes Tischtuch ausbreitete, stand Janna-Berta am Balkongeländer und schaute hinunter auf die Stadt. Die lag still in der Sonne.

Ein paar Fußgänger, ab und zu ein Wagen – das war alles. Die Straßen waren gesprenkelt von braunem Laub, das niemand weggefegt hatte. Die herbstlichen Bäume schimmerten in der Sonne. Viele waren schon kahl.

»Damals, an diesem Tag –«, begann sie langsam.

»Pst«, unterbrach sie Oma Berta und machte eine ängstlich abwehrende Handbewegung, »ich will nichts hören. Bitte! Ich will an das alles nicht erinnert sein. Seien wir froh, daß alles noch gut ausgegangen ist.«

»Vom Frankfurter Flughafen aus«, sagte Opa Hans-Georg, »haben wir Helga angerufen. Wir haben erfahren, daß es allen gutgeht. Sie können bald entlassen werden.«

Janna-Berta atmete tief durch. Sie sah Oma Berta an. Die lächelte so zärtlich, so zufrieden zurück.

»Ja«, sagte Janna-Berta ruhig, und sie war sich einen Augenblick lang ganz sicher, daß sie nicht log, »es geht ihnen gut. Sehr gut.«

»Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Opa Hans-Georg, ließ sich am Kopfende des Kaffeetischs nieder und lehnte sich zurück. »Wir werden sie sicher bald wiedersehen. Die Jungen werden ordentlich gewachsen sein. Aber einen Gruß hätten sie wirklich nach Mallorca schicken können. So krank ist man nicht, daß man nicht wenigstens eine Karte schreiben kann.«

»Du vergißt den Schock«, sagte Oma Berta milde. »Es muß hier ja ziemlich drunter und drüber gegangen sein.«

Sie machte eine Pause, dann fügte sie etwas hastig hinzu: »Hat man denn auch ahnen können, daß diese Atommeiler so gefährlich sind?«

Opa Hans-Georg wollte etwas sagen, aber Janna-Berta konnte nicht warten.

»Haben es euch Mutti und Vati nicht oft genug gesagt?« fragte sie und beugte sich vor, gespannt auf Oma Bertas Antwort.

»Ich bin der Meinung –«, begann Opa Hans-Georg und hob die Hand zu einer großen Geste.

»Nein, Hans-Georg«, unterbrach ihn Oma Berta, »laß uns erst Kaffee trinken. Danach kannst du politisieren.«

Politisieren. Janna-Berta erinnerte sich gut an dieses Wort. Oma Berta hatte es oft gebraucht. Ein bißchen abwertend, als ob es sich dabei um ein besonders nutzloses Hobby handle, wie Fußball, Briefmarken sammeln oder Kreuzworträtsel lösen. Das Wort hatte die Eltern immer wütend gemacht.

Auch Oma Berta hatte sich nun niedergelassen. Der Tisch war liebevoll gedeckt. Ein Streuselkuchen duftete köstlich. Es fehlte an nichts – nicht einmal an Schlagsahne: Köstlichkeiten aus der guten alten Zeit. Bei Helga und Almut gab es weder Schlagsahne noch Streuselkuchen, und den Kaffee hellten sie mit Milchpulver auf.

»Setz dich doch, Kind«, sagte Oma Berta. Sie lächelte über ihr ganzes liebes Gesicht. »Wer hätte gedacht, daß wir heute zu dritt Kaffee trinken würden?« Sie kicherte. »Das heißt, genaugenommen trinken wir auch nicht zu dritt Kaffee. Jannchen bekommt Kakao, wie immer. In deinem Alter ist Kaffee noch Gift.«

Sie beugte sich über Janna-Bertas Tasse und schenkte ihr Kakao ein. Janna-Berta setzte sich auf die Stuhlkante, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen.

»Aber jetzt sag mir doch bloß mal, Kind, warum ihr Coco nicht mitgenommen habt«, sagte Opa Hans-Georg, und Janna-Berta merkte, wie er sich Mühe gab, seine Stimme nicht zu vorwurfsvoll klingen zu lassen. »Als wir herkamen, fanden wir das arme Tier verhungert im Käfig. Wenn ihr's wenigstens freigelassen hättet! Wie konnte das nur passieren?«

»Wir haben ihn vergessen, Opa«, sagte Janna-Berta.

»Vergessen?« riefen Oma und Opa wie aus einem Mund und starrten Janna-Berta bestürzt an.

»Ich habe geweint, als ich ihn fand«, seufzte Oma Berta.

Janna-Berta blieb stumm.

»Nun ja«, sagte Opa Hans-Georg versöhnlich, »wir wollen uns diesen schönen Nachmittag nicht mit Vorwürfen verderben. Schwamm drüber.«

Eine Pause entstand. Janna-Berta starrte auf die Blümchen der Kaffeedecke und dachte an Uli. Leise klingelten die Kaffeelöffel in den feinen Porzellantassen. Eine Wespe kreiste über dem Kuchen.

»Nimm doch die Mütze ab, Kind«, sagte Opa Hans-Georg.

Janna-Berta schüttelte den Kopf. Sie langte nach einem Stück Kuchen. Sie hatte an diesem Tag noch nichts gegessen, nicht einmal gefrühstückt. Sie stopfte. Ein Stück gute alte Zeit, garantiert verseucht. Sie versuchte, gar nicht daran zu denken.

»Die Mütze, Jannchen, die Mütze«, erinnerte sie Opa Hans-Georg. »Du hast sie noch immer auf dem Kopf.«

»Laß sie doch«, sagte Oma Berta, an den Opa gewandt – und dann zu Janna-Berta: »Sicher hast du sie selber gestrickt und bist stolz auf sie. Ich finde sie auch wirklich wunderhübsch. Du auch – nicht wahr, Hans-Georg?«

»Mich stört die Farbe«, sagte Opa Hans-Georg. »Von weitem könnte man das Kind damit für eine alte Dame mit weißem Haar halten. Zumal sie ja ihr eigenes Haar ganz und gar darunter versteckt hat.«

Oma Berta legte ihre Hand auf Janna-Bertas Arm und sagte mit einer eigensinnigen Kopfbewegung: »Mir gefällt sie. Und gerade die Farbe finde ich zauberhaft. Außerdem«, sie beugte sich wieder zu Opa Hans-Georg hinüber, »vergiß nicht, daß das Kind eine Menge Aufregung hinter sich hat.«

»Allerdings«, sagte Opa Hans-Georg und setzte geräuschvoll seine Tasse ab. »Viel zuviel Aufregung. Unnötige Aufregung. Deutsche Hysterie. Wir sind hier neunzig, hundert Kilometer von Grafenrheinfeld entfernt, und auf den puren Verdacht hin scheucht man gleich die gesamte Bevölkerung fort. Wegen eines Verdachts legt man Fabriken still, läßt man das Vieh krepieren und die Ernte verkommen. Mir ist das einfach unverständlich. Es hätte doch genügt, wenn man Schwangere und Kinder für eine oder zwei Wochen evakuiert hätte. So wie es die Russen damals auch gemacht haben. Das muß man denen lassen: Die haben nach diesem Tschernobyl gezeigt, wie man solche Dinge in den Griff bekommt.«

Janna-Berta öffnete den Mund. Aber Oma Berta kam ihr zuvor.

»Aber Hans-Georg«, sagte sie, »es heißt doch, bei der Katastrophe in Grafenrheinfeld sei neunmal so viel Radioaktivität ausgetreten wie in Tschernobyl.«

Sie hob, wie immer, ihre Tasse mit abgespreiztem kleinen Finger und trank genüßlich.

»Uns kann man viel erzählen«, sagte Opa Hans-Georg finster. »Denk doch nur daran, was für eine Hysterie hier nach Tschernobyl ausgebrochen ist! Und wenn ihr mich fragt, dann sind es heute wieder dieselben, denen die Katastrophe gar nicht groß genug sein kann. Kernkraftgegner, Weltverbesserer, das ganze grüne Gesocks, das uns zurückschicken will in die Steinzeit.«

Janna-Berta kamen wieder die Figürchen vom Wandbord im Nothospital in den Sinn. Sie wünschte sich, Steine zu haben, viele handliche Steine. Sie schaute sich um. Hier auf dem Balkon gab es keine Steine. Nicht einmal ein Holzscheit oder einen Briefbeschwerer. Ihr Blick blieb am Kakaokännchen hängen. Sie umfaßte es mit beiden Händen und hob es hoch.

»Schön heiß, nicht wahr«, sagte Oma Berta mit liebevollem Lächeln. »Trink nur.«

Janna-Berta ließ das Kännchen wieder sinken. Nein.

»Aber in den Zeitungen war doch von so vielen Toten die Rede«, sagte Oma Berta zu Opa Hans-Georg.

»Hast du sie gesehen?« antwortete er mürrisch. »Natürlich, im Kraftwerk und drum herum. Und dann das Verkehrschaos ...«

»Sie schreiben, es waren achtzehntausend«, sagte Oma Berta.

Opa Hans-Georg winkte ärgerlich ab. »Ich will euch sagen, worauf es ankommt«, dozierte er wie vor einer vielköpfigen Zuhörerschaft. »Es kommt darauf an, daß solche Zwischenfälle vor der Presse abgeschottet werden. Dann käme so eine Hysterie gar nicht erst auf, und man wäre vor diesem An-die-große-Glocke-hängen und vor jeder Übertreibung sicher. Heutzutage wird viel zuviel aufgeklärt. Wozu muß Lieschen Müller über das Innere des Reaktors Bescheid wissen, über Rem und Becquerel? Am Ende versteht sie ja doch nichts. Wozu muß alle Welt die Anzahl unserer Toten erfahren? Durch dieses Großkatastrophenmärchen wird unser Ansehen im Ausland unnötig geschädigt. Ich sage nur so viel: Es hat in diesem Land Politiker gegeben, die hätten die ganze Sache so diskret gehandhabt, daß schon hier in Schlitz dieser Zwischenfall gar nicht bemerkt worden wäre. Und kein Pressemensch hätte es gewagt, in der Sache herumzuschnüffeln.«

Oma Berta nickte zustimmend.

Da zog Janna-Berta die Mütze vom Kopf und begann zu sprechen.