10
Dann, an einem regnerischen Samstag, stand Almut vor der Tür: schmal, mager, mit Ringen unter den Augen. Janna-Berta fiel ihr um den Hals.
»Warum hast du nicht schon längst angerufen?« schluchzte sie.
»Nach all dem kann man nicht einfach mal per Telefon von sich hören lassen«, sagte Almut. »Jedenfalls ich kann das nicht. Als du in der Suchkartei noch unter der Herleshausener Adresse gestanden hast, bin ich hingefahren. Aber da warst du schon fort. Dort hab ich erfahren, daß dich Helga abgeholt hat.«
Almut wollte Helga begrüßen, aber die war nicht zu Hause, und Friemels saßen vor dem Fernseher. Janna-Berta half Almut aus dem Regenmantel und zog sie zu sich ins Zimmer.
»Ich hab auch Ulis Namen auf der Totenliste gefunden«, sagte Almut. »Ist es wahr?«
Janna-Berta nickte.
»Erzähl mir von ihm.«
Janna-Berta erzählte stockend. Sie berichtete in dürren Worten, in zwei, drei Sätzen.
Almut schwieg.
»Er ist noch nicht begraben«, sagte Janna-Berta. »Daran muß ich oft denken. Als ob er nachts im kalten Zimmer nicht zugedeckt wäre.«
Almut setzte sich auf Janna-Bertas Bett. Janna-Berta setzte sich neben sie und legte ihren Arm um sie.
»Du hast ja noch deine Haare«, sagte sie und ließ eine von Almuts schwarzen Strähnen durch ihre Finger gleiten.
»Ach, die Haare«, sagte Almut. Dann schwiegen sie beide.
»Was ist – was ist mit dem Kind?« fragte Janna-Berta nach einer Weile.
Almut hob die Hand und ließ sie wieder fallen.
»Hast du's –?« flüsterte Janna-Berta.
Almut nickte. Sie zog Janna-Berta an sich und begann zu weinen. »Das ist auch ein Grund, weshalb ich nicht früher gekommen bin«, sagte sie. »In den Kliniken ist überall ein furchtbarer Andrang. Man muß sich Wochen vorher anmelden. Es ist widerlich!«
»War's denn gar nicht anders möglich?«
»Nein«, sagte Almut. »Man hat es uns dringend geraten. Allen Schwangeren aus dem Schweinfurter Umkreis, die im ersten Drittel der Schwangerschaft waren. Wir haben lange überlegt. Aber ich habe nach der Flucht tagelang gekotzt und hatte einen Durchfall, der mich fast umgebracht hat. Und 'ne Menge Blut im Stuhl. Reinhard genauso. Wir sind zu spät geflüchtet. Wir haben uns erst noch um die Schüler kümmern müssen.«
Auch Janna-Berta weinte jetzt.
»Das Schlimmste ist, daß uns niemand sagen kann, ob wir überhaupt jemals Kinder haben können. Normale Kinder –« Almut lachte kurz auf. »Keine mit einem Auge auf der Stirn oder mit zwei Köpfen.«
Sie ließ sich seitlich aufs Bett fallen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Janna-Berta strich Almut über den Kopf. Wie weich ihr Haar war, wie schön es sich anfühlte!
»Genug geheult«, sagte Almut, setzte sich auf und schneuzte sich. »Reinhard läßt dich ganz herzlich grüßen. Ab nächster Woche unterrichtet er wieder. In Wiesbaden-Frauenstein. Gestern hat er den Bescheid bekommen. Er hatte gar nicht zu hoffen gewagt, daß es so schnell gehen würde. Bei mir wird's wohl noch lange dauern.«
Sie erzählte, daß sie mit einem Bekannten gekommen war. Sie hatte den Sprit mitbezahlt. Nur bis zum Sonntagmorgen hatte sie Zeit, dann fuhr der Bekannte wieder zurück.
»Habt ihr denn euren Wagen nicht mehr?« fragte Janna-Berta.
Nein, sie waren ihn auf der Flucht losgeworden. Im Stau. Drei Männer, deren Wagen stehen geblieben war, hatten die Fahrertür aufgerissen und Reinhard herausgezerrt. Was war Almut anderes übriggeblieben, als auch hinauszuklettern? Bevor die Männer weitergefahren waren, hatten sie Reinhard die Schlüssel ihres eigenen Wagens aus dem Fenster gereicht.
»Sie haben gegrinst dabei«, sagte Almut, »und gesagt: Vielleicht springt er ja bei euch an. ›Toi – toi – toi!‹ Natürlich ist er nicht angesprungen. Wir mußten zu Fuß weiter, bis uns irgendwann jemand mitgenommen hat.«
Janna-Berta dachte nach. Dann fragte sie: »Warum hast du Uli gesagt, wir sollen in den Keller gehn?«
»Ihr wart ja viel weiter weg vom Reaktor als wir«, sagte Almut. »Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auch bei euch evakuiert wird. Und ihr beiden allein auf den vollgestopften Straßen – das hielt ich für zu gefährlich. Ich hab auch immer noch gehofft, daß eure Eltern rechtzeitig wegkommen. Dann hätten sie euch doch bestimmt geholt. Wenn ich gewußt hätte –«
Sie stockte.
»Kurz nach dir hat Mutti angerufen«, erzählte Janna-Berta. »Sie wollte, daß wir flüchten. Vielleicht wäre Uli noch am Leben, wenn wir in den Keller gegangen wären.«
»Vielleicht auch nicht«, murmelte Almut. »Es ist sinnlos, darüber nachzudenken.«
»Das letzte, was sie sagte, war ›um Gottes willen‹«, sagte Janna-Berta.
Dann lief sie in die Küche, briet Almut ein paar Spiegeleier und kochte Kaffee. In ihrem Eifer bekleckerte sie die Herdplatte. Sie schob ihre Schulbücher vom Schreibtisch und deckte auf. Almut aß heißhungrig. Sie hatte während der ganzen Fahrt von Wiesbaden bis Hamburg nichts gegessen. Janna-Berta kauerte mit angezogenen Knien neben ihr auf dem Bett.
»Wenn dich Oma Berta so zu sehen bekäme«, sagte Almut mit vollem Mund, »würde sie dir sofort eine Mütze stricken. Erstens, damit man's nicht sieht, und zweitens, damit du's warm hast.«
»Wenn sie mich so sähe«, sagte Janna-Berta, »das wär für sie, als wenn ich nackt vor ihr rumlaufen würde.«
Almut mußte lachen. Janna-Berta lachte mit.
»Hat aber auch Vorteile«, sagte Almut. »Du bist schon von weitem als Hibakushi erkennbar. Ich muß immer erst sagen, daß ich dazugehöre.«
So hatte es Janna-Berta bisher noch nicht gesehen. Es tat gut, daß Almut hier war. Janna-Berta war in diesen letzten Tagen fast noch schweigsamer als Helga geworden. Nun begann sie zu reden, sie sprudelte wie ein Wasserfall. In allen Einzelheiten schilderte sie die Flucht und was auf dem Bad Hersfelder Bahnhof geschehen war. Sie erzählte von der Zeit im Nothospital von Herleshausen und sprach von Helga und Elmar. Almut hörte still zu und nickte nur hin und wieder. Sie waren so vertieft ins Erzählen und Zuhören, daß sie vergaßen, wo sie sich befanden und wie spät es war.
Dann klopfte es an ihre Zimmertür. Es war Helga. Sie begrüßte Almut in ihrer kühlen Art und fragte, ob sie Genaueres wisse über den Tod von Janna-Bertas Eltern und Kai. Aber Almut wußte nicht mehr als sie.
»Du kannst hier übernachten«, sagte Helga zu ihr, bevor sie das Zimmer wieder verließ.
Beim Abendessen gerieten Onkel Friemel und Almut aneinander. Onkel Friemel sorgte sich um sein Hab und Gut: »Wenn ich mir abends vor dem Einschlafen vorstelle, daß man uns vielleicht längst unseren Laden ausgeplündert hat –«
»Aber Paul«, sagte Tante Friemel und tätschelte seine Hand, »wir leben doch nicht in irgendeiner Bananenrepublik.«
»Bis wir wieder heimkönnen«, sagte Almut, »wächst Efeu durch die Wände. Wir haben alles abgeschrieben. Wir fangen neu an. Und wir freuen uns über jeden Tag, der uns bleibt.«
Dann erzählte sie von den ersten Solidarisierungsversuchen der Hibakusha im Rhein-Main-Gebiet.
»Solidarisierungsversuche?« fragte Onkel Friemel. »Wer solidarisiert sich mit wem gegen wen?«
»Wir Überlebenden aus dem Katastrophengebiet«, sagte Almut, »werden über kurz oder lang eine eigene Klasse in der Gesellschaft werden: die Klasse der kränklichen Habenichtse. Uneffektiv für die Wirtschaft und vor allem nichts zum Vorzeigen. Außerdem unbequem: Wir erzeugen Schuldgefühle und hindern am Vergessen und Verdrängen.«
»Du übertreibst«, meinte Helga.
»Ich übertreibe?« Almut lächelte. »Du solltest dir ein Buch über Hiroshima besorgen. Die Überlebenden dort und wir – und alle, die vielleicht noch dazukommen: Wir sind die Aussätzigen des zwanzigsten Jahrhunderts.«
»Sag doch nicht solche entsetzlichen Sachen«, rief Tante Friemel und hob abwehrend die Hände.
Almut überhörte ihren Protest.
»Dabei können wir noch von Glück sagen«, fuhr sie fort. »Hitler hätte uns vergast. Mit unseren verpfuschten Genen.«
»Na, na«, sagte Onkel Friemel und lehnte sich zurück. »Das gehört nun wirklich nicht hierher. Die Frage ist doch nur, was tun wir, wenn sich herausstellt, daß die schwer Strahlengeschädigten – verzeih, Almut, ich weiß, daß dich das treffen muß – daß also die schwer Geschädigten nur kranke Kinder haben können. Ich meine –«
»Du meinst, dann wird man uns wohl daran hindern müssen, Kinder zu kriegen«, unterbrach ihn Almut. »Hatten wir das nicht auch schon mal?«
»Aber Almut!« rief Tante Friemel aus. »Das hat er doch gar nicht gesagt.«
»Gesagt nicht«, entgegnete Almut.
Helga stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Almut folgte ihr in die Küche. Sie säuberte die Herdplatte und schrubbte die Spiegeleierpfanne aus, während Helga einen Brief von Oma Berta vorlas, der an diesem Tag angekommen war. Es ging ihnen gut, sie waren ganz braun gebrannt und freuten sich, daß bei dem Reaktorunfall niemandem in der Familie etwas wirklich Tragisches zugestoßen war. Sie wünschten Sohn, Schwiegertochter und Enkeln eine baldige vollständige Genesung und wollten also dortbleiben, bis man sich wieder in Schlitz aufhalten dürfe.
»Gott sei Dank«, sagte Helga.
»Was ›wirklich Tragisches‹«, sagte Almut. »Sie bringt es nicht mal fertig, das Wort ›Tod‹ zu gebrauchen.«
Später, beim Flackerlicht einer Kerze wieder in Janna-Bertas Zimmer, erzählte Almut von ihrem jetzigen Leben in Wiesbaden-Bierstadt. In einer winzigen Kellerwohnung – Wohnküche, Schlafraum und Toilette – lebten sie und Reinhard und Reinhards Vater.
Janna-Berta erinnerte sich gern an Reinhards Vater. Er hatte eine kleine Gärtnerei in Bad Kissingen betrieben. Wenn sie an ihn dachte, sah sie ein freundliches Gesicht, das immer zwischen Blumen auftauchte, und Hände mit schmutzigen Fingernägeln und Schwielen.
Almut schilderte, wie schwierig es war, mit der Hauseigentümerin in Frieden auszukommen.
»Sobald wir wieder auf den Beinen stehen konnten«, sagte Almut, »sind wir aus dem Sammellager in die Wohnung eingewiesen worden. Die Madame hat sich gewehrt bis zuletzt, obwohl sie das ganze übrige Haus für sich allein hat. Natürlich sind wir ihr zu laut und zu fordernd und zu anders. Ein bißchen kann ich sie sogar verstehen. Sie ist alt. Sie kann sich nicht so schnell darauf einstellen, daß sie nicht mehr die einzige ist, die in ihrem Haus Geräusche macht – und machen darf.«
Janna-Berta nickte.
Dann sprach Almut von Millionen evakuierter und freiwillig geflüchteter Menschen, die von einem Tag zum anderen im ganzen Bundesgebiet hatten untergebracht werden müssen. Manchmal war es dabei fast zu Mord und Totschlag gekommen. Aber es hatte auch Nichtgeschädigte gegeben, die halfen, wo sie konnten. Almut erzählte von einem Pfarrer in Wiesbaden, der sich unermüdlich für die Flüchtlinge einsetzte, und von einer Sozialhelferin in Mainz, die einen ganzen Ring ehrenamtlicher Helfer aufgezogen hatte, um die Überlebenden zu betreuen.
»Und nun organisieren wir uns auch politisch«, sagte Almut. »Viele Nichtgeschädigte schließen sich uns aus Solidarität an. Wir gewinnen an Boden, wir können etwas bewirken –«
»Kannst du dich noch an die Demonstrationen nach Tschernobyl erinnern?« fragte Janna-Berta. »Da wart ihr auch voller Hoffnungen gewesen, Mutti und Vati und du. Ich hab das gespürt, obwohl ich noch klein war. Aber Oma und Opa haben recht behalten: Alles ist wieder eingeschlafen, und es war, als wäre Tschernobyl nie gewesen. Nicht mal die vielen Ukrainer, die langsam dahinstarben, haben daran was ändern können. Mutti und Vati haben oft darüber gesprochen.«
»Tschernobyl war noch zu wenig«, entgegnete Almut. »Und wer weiß? Vielleicht ist sogar Grafenrheinfeld noch zu wenig. Man kann sich immer noch größere Unfälle vorstellen.«
»Die Leute fangen schon wieder an zu vergessen«, sagte Janna-Berta. »Darum trag ich keine Perücke.«
Almut strich ihr über den Kopf.
Helga wollte die Couch im Wohnzimmer richten, aber Almut wollte bei Janna-Berta schlafen. Gemeinsam trugen sie eine Matratze in Janna-Bertas Zimmer und legten sie auf den Fußboden. Janna-Berta bot Almut das Bett an, aber Almut dankte und streckte sich auf der Matratze aus. Janna-Berta löschte die Kerze.
»Schläfst du schon?« begann Almut nach einer Weile.
»Nein.«
»Es gibt etwas, von dem ich nicht weiß, ob ich's dir erzählen soll –« Almut stockte.
»Erzähl«, sagte Janna-Berta.
»Du mußt mir sagen, wenn ich aufhören soll«, sagte Almut. Dann begann sie: »Gleich am ersten Vormittag, nur ein oder zwei Stunden nach dem Unfall, haben sie einen Gürtel um die Sperrzone EINS gezogen. Polizei und Militär in Schutzanzügen. Sie haben die Leute in der Zone aufgefordert, in die Keller zu gehen. Und – es heißt, wer flüchten wollte, auf den wurde geschossen. Mit Maschinengewehren.«
Janna-Berta dachte an das, was ihr Ayse einmal erzählt hatte.
»Glaubst du, es ist wahr?« fragte sie.
»Ja«, antwortete Almut. »Sie haben es zu verheimlichen versucht, aber so was läßt sich nicht verheimlichen.«
»Und warum –«
»Es heißt, die Bewohner der Sperrzone EINS seien so verseucht gewesen, daß sie den anderen gefährlich geworden wären. Und es heißt, sie hätten sowieso keine Überlebenschance gehabt. Sie wären langsam und qualvoll verreckt.«
Nach einer langen Pause fragte Janna-Berta: »Aber die Polizisten und Soldaten, wie können sie –?«
»Menschen sind zu allem fähig«, antwortete Almut.
Wieder gab es eine lange Pause. Dann fragte Janna-Berta: »Glaubst du, Vati war auch bei denen, die nicht mehr herausdurften?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Almut.
Janna-Berta weinte.
»Ich möchte nicht hierbleiben«, sagte sie. »Nimm mich mit nach Wiesbaden – bitte!«
»Ich tät's gern, das weißt du«, sagte Almut. »Aber in unserem Keller ist einfach kein Platz. Versuch's hier auszuhalten, bis wir eine neue Bleibe gefunden haben. Und hör zu – wenn du's überhaupt nicht mehr aushältst, komm trotzdem.«
Am nächsten Vormittag holte der Bekannte Almut mit dem Wagen ab. Janna-Berta kämpfte mit den Tränen, als Almut einstieg. Sie sah alles nur noch verschwommen.
»Halt die Ohren steif!« hörte sie Almut rufen, bevor der Wagen um die Ecke verschwand.
Sie blieb noch lange stehen. Als sie wieder in die Wohnung zurückkehrte, schnitt Helga in der Küche Zwiebeln. Überrascht hob sie den Kopf. Ihre Augen tränten.
»Ich dachte schon«, sagte sie, »du seist mit ihr auf und davon.«