11

Der Heimweg wurde zu einer einzigen Qual. Die Mutter kam kaum mehr vorwärts. Es schien uns, als wollte sie auch gar nicht mehr vorwärtskommen. Und immer wieder blieb sie stehen, faßte sich an den Leib und murmelte: »Es tritt mich so sehr.«

In die Vogelsberg-Dörfer war nun auch die Grippe eingezogen. Überall sahen wir Bewegung auf den Friedhöfen. Nun hatten sich schon viele Dörfer mit Stacheldraht umgeben. Wir bekamen nirgends mehr Suppe, nirgends einen warmen Stall für die Nacht, obwohl der März klirrende Kälte brachte.

Mein Rucksack war so gut wie leer. Schon während der letzten Tage hatten wir nur noch getrocknete Apfelschnitze und Pilzscheiben gekaut. Alle Kartoffeln und Möhren waren längst gegessen. Nur eine welke Steckrübe war noch da. Mit aufgesprungenen Lippen leckten wir Schnee, wenn wir Durst hatten. Und wir hatten immerzu Durst

Der Vater erschlug einen Hund, der uns hungrig an die Beine fuhr. Er wollte ihn kochen oder braten, aber wir bekamen nirgends Feuer her. Tagelang trug ich das steifgefrorene Tier im Rucksack. Als wir endlich Feuer machen und den Hund auftauen konnten, wurde meinem Vater beim Schlachten übel. Er hatte so was noch nie gemacht. Und Jens und ich brachen alles, was wir gegessen hatten, wieder aus. So eine üppige Mahlzeit schafften unsere Mägen nicht mehr. Von den zähen und halbrohen Resten des Terriers lebten wir noch tagelang. Aber sie widerten mich an. Nur die Mutter zeigte keinen Widerwillen gegen dieses Fleisch. Sie aß sowieso nicht viel und kaute gedankenverloren noch das zäheste Stück weich.

Zufällig kamen wir wieder an dem Feld mit der Winterroggen-Saat vorüber. Erst dachten wir, es sei ein anderes Feld, weil wir nicht glauben wollten, was wir sahen. Aber ich erinnerte mich genau an die drei Birken am Rain. Es war dasselbe Feld! Zwischen Schneewehen lag die Saat bloß.

Sie war gelb geworden, hier und dort schon braun.

»Hier gibt's in diesem Jahr keine Roggenernte«, murmelte der Vater niedergeschlagen.

Wir schliefen nur noch in Viehschuppen auf den Koppeln. Manchmal mußte der Vater einen Platz für uns erkämpfen, weil schon andere Obdachlose darin Unterschlupf gefunden hatten. Wir bekamen Läuse und Flöhe, und dem Vater erfroren zwei Zehen, Zu allem Unglück brach auch noch der Fahrradanhänger auseinander. Er ließ sich nicht mehr reparieren.

Hinter Herbstein begann die Mutter zu fiebern, bald auch Jens. Die Grippe hatte uns eingeholt. Wir blieben über eine Woche in einer Feldscheune, in der noch ein Haufen Heu aus dem letzten Jahr lag. Er war groß genug, um sich hineinzuwühlen. Wir mußten hilflos zusehen, wie Jens vor Fieber glühte und immer schwächer, immer apathischer wurde. Der Vater rannte zum nächsten Dorf, um heißen Tee aufzutreiben. Aber sie ließen ihn nicht hinein - schon gar nicht, als sie erfuhren, daß er von Kranken kam.

In der vierten Nacht wachte ich auf, weil die Mutter so laut keuchte. Ab und zu murmelte sie ein paar Worte. Das meiste konnte ich nicht verstehen. Ich griff nach ihrer Hand. Die war glühend heiß. Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich tastete nach Jens, der neben der Mutter lag, fand sein Gesicht, fuhr sanft darüber. Es bewegte sich nicht unter der Berührung. Es war eiskalt. Ich hörte das Heu rascheln und merkte, daß der Vater wach lag.

»Vater«, flüsterte ich erleichtert, »Jens ist nicht mehr heiß. Er hat kein Fieber mehr.«

»Nein«, sagte der Vater mit brüchiger Stimme, »er hat kein Fieber mehr. Er ist tot.«

Am nächsten Morgen legten wir ihn unter einen Holunderbusch hinter der Scheune. Er fror sofort steif. Ich schlich mich noch ein paarmal zu ihm hinaus und betrachtete ihn. Mir schien jetzt, ich hätte ihn noch lieber als Kerstin gehabt. Kerstin war schon so lange fort, so weit weg. Daß er nicht mein richtiger Bruder gewesen war, hatte sich in meiner Erinnerung längst verwischt.

Wir wußten nicht, wie wir ihn begraben sollten. Die Erde war tief gefroren. Schließlich sammelten wir Steine, die wir vom Erdboden losschlagen mußten. Ich erinnerte mich wieder daran, wie ich Andreas begraben hatte. Mir schien es endlos lange her, obwohl es nur ein paar Wochen waren.

Tote begraben, immerzu Tote begraben, das war eine der Hauptbeschäftigungen der Überlebenden. An diesem Morgen wünschte ich mir, nicht zu ihnen zu gehören. Ich beneidete Jens um die Ruhe, die er jetzt hatte.

Langsam, sehr langsam wuchs der Steinhaufen über ihm. Falls es noch Krähen im Vogelsberg gab, sollten sie ihn nicht kriegen, unseren lieben kleinen Jungen.

Die Mutter überstand die Grippe. Als ihr der Vater Jens' Tod so schonend wie möglich beibrachte, nickte sie nur. Sie weinte nicht einmal. Der Vater warf mir einen verzweifelten Blick zu. Etwas später sagte er zu mir: »Vielleicht ist es besser so.«

Als wir wieder in Richtung Schewenborn weiterzogen, sprachen wir kaum noch miteinander. Jeder brütete vor sich hin. In unseren Köpfen bewegten sich keine klaren Gedanken mehr. Wir waren erschöpft.

Der Vater schritt voran. Er hatte jetzt auch meine Koffer und die Schlafsäcke auf dem Kinderwagen. Die Mutter schleppte sich hinter ihm her. Sie wollte nicht geführt werden. Ich folgte ihr mit Rucksack und Reisetasche.

So trotteten wir bis gegen Ende März weiter - jeden Tag nur ein paar lächerliche Kilometer. An manchen Tagen, wenn wir eine leidliche Unterkunft gefunden hatten, blieben wir einfach liegen.

Kurz vor Lanthen brach die Mutter zusammen. Der Vater warf die beiden großen Koffer vom Kinderwagen in den Schnee, gab mir den kleinen Koffer mit den Babysachen zu tragen, steckte die Mutter in ihren Schlafsack und legte sie auf die anderen Schlafsäcke im Wagen. Die Koffer mußten wir liegenlassen.

Schon vor Wietig begannen die ersten Wehen. Als die Mutter das dem Vater sagte, fing er an zu laufen. Wir schoben den Kinderwagen abwechselnd. Wir rannten in einen Schneesturm hinein. Der Schnee wirbelte in den Kinderwagen. Die Mutter fror. Der Vater wickelte Mutters Beine, die zwischen den Stangen des Schiebegriffs aus dem Wagen hingen, in Jens' Decke, schützte ihren Kopf gegen den Schneefall, indem er ihr meinen leeren Rucksack über den Kopf zog, und deckte ihren Leib mit der Babydecke zu.

»Nein«, jammerte sie, »nicht die Decke. Womit sollen wir das Neue zudecken, wenn sie feucht wird?«

Da zog der Vater Großvaters dicken Rollkragenpullover aus, den er unter seiner Wanderjacke trug, und breitete ihn über sie. Ich wußte, daß er nun entsetzlich fror.

Er versuchte, in Wietig unterzukommen. Er schlug mit den Fäusten gegen die Türen, gegen die zugestopften Fenster.

»Eine Hochschwangere!« brüllte er. »Sie ist schon in den Wehen! Wo ist denn eure ganze Christlichkeit?«

Nichts rührte sich. Der Vater heulte vor Wut. Wir schoben weiter. Zum Glück ging es vom Wietiger Wald aus nur noch bergab. Er ließ mich vorlaufen.

»Sag der Frau Kramer, sie soll Wasser heißmachen«, rief er mir nach, »und die Küche heizen und eine Matratze in die Küche legen! Laß den Koffer dort und komm mir wieder entgegen, so schnell du kannst. Du mußt mir mit dem Wagen über die Trümmer helfen!«

Ich rannte. Ich war so lange nicht mehr gerannt. Die feuchten Kleider, die ich wochenlang nicht mehr hatte wechseln können, rieben mich wund. Der Koffer schlug mir bei jedem Schritt gegen das Bein. Ich kam nach Schewenborn hinein. Es wurde schon Abend. Die Stadt oder das, was von ihr noch übrig war, lag wie tot da. Nur durch ein paar Ritzen schimmerte trübes Licht aus Herdlöchern. Ich kletterte über die Schuttberge, stellte im Vorbeilaufen fest, daß das Hospital bis auf ein paar verkohlte Mauerreste nicht mehr da war und Kernmeyers Eckhaus einen ausgebrannten Dachstuhl hatte, stürzte in unsere Gasse, zum Haus meiner Großeltern, begriff mit ungeheurer Erleichterung, daß es noch stand und unbeschadet war und donnerte mit den Fäusten gegen die Tür.

Ich hörte schlurfende Schritte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich erkannte Frau Kramers mißtrauisches Gesicht.

»Hau ab«, sagte sie, »hier gibt's nichts.«

»Aber ich bin's doch«, rief ich, »Roland! Erkennen Sie mich nicht? Wir sind zurückgekommen!«

»Was - ihr?« fragte sie entgeistert. Ich merkte, wie entsetzt sie war. »Ich dachte, ihr seid längst -«

Sie sprach nicht weiter.

»Wer ist da?« hörte ich eine Männerstimme drinnen im Haus knurren.

»Stell dir vor, Karl, Bennewitzens sind wieder da!« rief sie. Sie behielt die Klinke in der Hand. Sie ließ mich nicht einmal in den Flur. Ein Mann kam gebückt aus der Küche angeschlurft. Ich kannte ihn nicht. Er hatte Großvaters karierte Weste an.

»Kommt gar nicht in Frage«, sagte er, als er mich sah. »Ihr seid weggezogen, basta. Ihr habt ja geglaubt, anderswo ginge es euch besser.«

Ich wandte mich an Frau Kramer, die hinter ihm stand: »Mein Vater hat doch mit Ihnen ausgemacht, daß wir bald wiederkommen! Sie sollten nur so lange -«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Frau Kramer und schob das kleine Mädchen zurück, das neugierig hinter ihr hervorschaute. »An solche Abmachungen kann ich mich nicht erinnern. Er hat mir nur das Haus übergeben und gesagt, von nun an könnte ich darin wohnen.«

»Das ist nicht wahr!« schrie ich. »Ich war doch selber dabei! Und überhaupt: Das ist Großvaters Haus. Er ist tot. Also gehört es jetzt uns!«

»Ach, du lieber Gott«, sagte der alte Mann, »hör dir den Burschen an, jetzt kommt er mit Recht und Gesetz. Diese Zeiten sind vorbei. Habt ihr das noch nicht begriffen? Jeder nimmt sich, was er braucht, und verteidigt es. Eher zünden wir dieses Haus an, als daß wir's wieder hergeben, das kannst du deinen Eltern ausrichten. Denn für uns wär's der Tod. Mach die Tür zu, Marie, es schneit herein.«

Ich schob den Fuß zwischen Tür und Schwelle.

»Meine Mutter bekommt aber ein Kind!« schrie ich.

»Nimm den Fuß weg!« kreischte Frau Kramer.

Da nahm ich den Fuß heraus. Die Tür fiel ins Schloß.

Ich klopfte noch an ein paar Türen in der Nachbarschaft. Die meisten gingen gar nicht erst auf. Andere schlossen sich wieder, noch bevor ich meinen Namen gesagt hatte. Nur eine alte Frau nuschelte durch den Türspalt: »Wir hausen selber schon zu zwölft in einem Raum. Aber wenn ihr Glut braucht Glut könnt ihr haben.« Ich hatte diese Frau noch nie gesehen. Sie mußte eine von den Obdachlosen aus der Fuldaer Gegend sein.

Ich stand mit Tasche und Koffer in der Dämmerung und weinte vor Verzweiflung. Dann fiel mir das Schloß ein. Ich lief in den Schloßpark. Da stand der kahle Klotz, Grau in Grau, einsam zwischen den hohen Bäumen. Vor der Freitreppe stellte ich das Gepäck ab und lief durch die Räume. Ihre Böden waren noch dreckverkrustet vom Sommer her. Durch die großen, offenen Fensterlöcher hatte es hereingeschneit. Der Sturm heulte durch die leeren Hallen und das breite Treppenhaus mit den kostbaren Holzintarsien. Nein, hier konnten wir die Mutter nicht hinlegen. Ebensogut hätten wir sie draußen im Park in den Schnee betten können.

Vorsichtig tastete ich mich die Treppe hinunter in den Keller. Hier war es stockfinster, aber es zog kaum, und Schnee war auch noch nicht eingedrungen. Hier war es spürbar wärmer als draußen und oben. Ich tastete mich in die Ecke, wo ich damals die drei toten Kinder aneinandergekuschelt hatte lehnen sehen. Sie waren nicht mehr da. Ich holte das Gepäck von der Freitreppe und trug es in den Keller. Dann lief ich meinen Eltern entgegen.