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Vater und Mutter erholten sich schneller als ich - wenigstens körperlich, obwohl sich meine Mutter vor dem Gesundwerden scheute. Sie kam über Kerstins und Judiths Tod nicht weg. Sie fiel wieder zurück in ihre Schweigsamkeit der ersten Zeit nach dem Bombentag, fragte nach nichts und wollte nichts wissen. Sie ging nicht nach draußen und schaute nicht einmal ins Schloß hinüber. Nur um Jens und mich und Vater kümmerte sie sich.
Es beruhigte mich, als ich merkte, wie sehr sie nun an Jens hing - und er an ihr.
»Ein ideales Kind für solche Zeiten«, sagte mein Vater einmal.
Das war er wirklich: ein Stehaufmännchen. Ihn kriegte nichts unter. Kerstin und Silke vermißte er nur kurze Zeit.
Dann war er wieder obenauf. Immer strahlte er, mit allem war er zufrieden. Wenn wir uns mit ihm abgaben, vergaßen wir für eine Weile all das Schreckliche, das hinter uns und vor uns lag. Für ihn war dieses Leben längst ganz normal. Er nahm es, wie es kam. Nur nachts rief er manchmal kläglich nach Silke oder seiner Mutter.
Ich brauchte am längsten, bis ich es wagen konnte, das Haus zu verlassen, ohne umzukippen. Der Vater sagte, ich sähe aus wie ein Gespenst. Erst gegen Anfang September schaffte ich es, ins Hospital hinüberzutaumeln.
Es war leer. Die Räume hallten. Auf dem Fußboden klebten noch Blut, Kot und Erbrochenes. Aber die Toten hatte man hinausgeschafft. Ich suchte nach der alten Lisa. Ich hatte fest damit gerechnet, sie hier wiederzusehen. Darauf hatte ich mich gefreut. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie gestorben war. Später fragte ich Schewenborner nach ihr. Aber nach der Typhuszeit war sie niemandem mehr begegnet.
In einem Saal im Keller fand ich einen kleinen schmutzigen Teddybär. Den nahm ich mit für Jens. Ich hatte Mühe, wieder heimzukommen. Schweißüberströmt fiel ich auf Großmutters Sofa.
Den nächsten Ausflug machte ich in die Stadt. Die war sehr still geworden, obwohl die Schewenborner, die sich in die Wälder gefluchtet hatten, längst wieder heimgekommen waren, sofern sie die Seuche überlebt hatten. Der Vater hatte mir erzählt, daß es kaum eine Familie gab, in der nicht jemand gestorben war. Auch eine andere Seuche war umgegangen, eine Art Ruhr, die fast ebenso viele Opfer gefordert hatte.
»Drei- bis viertausend Tote, Einheimische und Fremde, sollen bis jetzt in Schewenborn begraben worden sein«, sagte mein Vater. »Dazu kommen die Schewenborner, die in Fulda umgekommen sind.«
Die Stadt hatte vor dem Bombentag etwa fünftausend Einwohner gehabt. Fast ebenso viele Obdachlose aus der Fuldaer Umgebung waren hier untergekommen.
»Nicht schlecht«, sagte der alte Malek, der seine Frau an Typhus verloren hatte. »Da bleibt uns Überlebenden mehr zu fressen.«
Ich starrte ihn so entsetzt an, daß er ganz verwundert fragte: »Na und? Stimmt's vielleicht nicht?«
So wie er dachten viele. Alle Gedanken begannen, sich nur noch um das Essen zu drehen. Auch bei uns. Der Herbst war nah. Die Tage wurden kürzer und kühler. Man fürchtete sich vor dem Winter.
Während der ersten Woche nach dem Bombentag und während der Seuche hatten nur wenige Bauern ihr Getreide geerntet. Auf vielen Feldern stand der Weizen überreif und hatte längst seine Körner verloren, oder er lag, zusammengeschlagen von Böen und Gewitterregen, in wirren Wirbeln aufeinander. In Scharen wanderten die Schewenborner hinaus, um Körner zu sammeln. Auch wir machten uns mit Plastikbeuteln und Großmutters uralten Leinensäckchen auf den Weg.
Es war das erste Mal nach meiner Krankheit, daß ich wieder auf die Felder kam. Ich wunderte mich: Es war doch erst September, und trotzdem war die ganze Landschaft welk und gelb, und das Laub löste sich von den Bäumen. Ganze Alleen standen schon kahl.
»Was ist das, Vati?« fragte ich beklommen. »Trockenheit«, antwortete er kurz. »In diesem Sommer hat es ja kaum geregnet. Da kommt der Herbst früher.«
»Aber sieh doch die Rübenblätter an«, sagte ich. »Die dürften auch nach einem trockenen Sommer in dieser Zeit nicht so schlapp sein. Und die Erlen an der Schewe sind schon kahl, obwohl sie die Wurzeln im Wasser haben und ihr Laub erst im November abwerfen. Verstehst du das?«
»Du tust, als seist du ein Landwirtschafts- und Forstexperte«, sagte der Vater unwillig, faßte mich am Arm und zwang mich stehenzubleiben. Als die Mutter mit Jens ein paar Schritte vorausgegangen war, flüsterte er mir zu: »Natürlich ist das nicht der Herbst - das weiß ich so gut wie du. Aber halte vor der Mutti den Mund über diese Dinge. Sonst wird sie noch mutloser.«
»Also ist die Fuldaer Wolke doch über uns weggezogen?« fragte ich erschrocken.
»Nicht die von Fulda«, meinte der Vater. »Nach so vielen Atomexplosionen wird die ganze Atmosphäre über unserem Land radioaktiv verseucht sein. Es wäre lächerlich anzunehmen, daß sie ausgerechnet über Schewenborn noch rein wäre.«
»Aber dann sind doch auch alle Pflanzen verseucht«, flüsterte ich entsetzt, »und wir dürften nichts von all dem, was hier wächst, berühren?«
»Dann verhungern wir«, antwortete mein Vater. »Es ist schließlich gleichgültig, welchen Tod wir sterben. So lange wir Hunger haben, werden wir nach Eßbarem greifen, auch wenn es verseucht sein sollte.«
An diesem Tag aß ich nichts mehr, auch nicht am nächsten. Aber am übernächsten hatte ich solchen Hunger, daß ich mich nicht mehr beherrschen konnte und doch über die Kartoffeln herfiel, die der Vater ein paar Tage vorher von den Feldern geholt hatte.
Die Bauernfamilien, die ihre Felder noch abernten konnten, hatten Schwierigkeiten: Die Mähdrescher waren nicht mehr zu gebrauchen. Sie mußten wieder mit der Sense mähen. Viele junge Leute hatten nie mähen gelernt. Jetzt war Rat und Können der Alten plötzlich wieder gefragt. Aber es waren fast keine Sensen mehr aufzutreiben. Manche Bauern rauften das Getreide mit den Hände aus, andere schnitten es mit Sicheln oder Messern ab. Aber das ging langsam. Mehr Helfer mußten her. Die gab es genug, nur wollte niemand mit Geld bezahlt werden. Wozu war Geld nütze, wenn man nichts mehr damit kaufen konnte? Die Leute wollten nur gegen Korn helfen.
Aber es lohnte sich kaum, die Ähren auszudreschen. Was die Bauern ernteten, war fast nur Stroh. Die Körner lagen zwischen den Stoppeln auf dem Boden, und viele hatten schon Wurzeln geschlagen. Auf den Knien rutschten wir über die Stoppelfelder und sammelten sie auf. Wir waren nicht die einzigen. Es wimmelte auf den Feldern von Körnersuchern. Manche glaubten, sie fänden in den Ähren doch noch mehr Körner als auf der Erde. So breiteten sie an den Feldrändern Tücher aus, häuften Ähren darauf und droschen sie mit Stöcken und Steinen aus. »Wie in der Steinzeit«, sagte mein Vater. »Und nächstes Jahr?« fragte ich. »Diese Felder sind alle noch vor dem Bombentag angebaut worden.«
»Das nächste Jahr liegt noch so weit weg«, meinte er. »Laß uns darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen.«
Und die Maisfelder? Die brauchte kein Bauer mehr zu ernten, wenigstens nicht die Kolben. Die waren längst von all den hungrigen Schewenbornern, die keine Vorräte mehr besaßen, geerntet worden.
Es war ein obstreiches Jahr. In Großvaters Garten bogen sich die Bäume unter ihrer Last, aber die Früchte waren klein geblieben und merkwürdig verrunzelt. Wir pflückten die Äpfel und Birnen von den kahlen Zweigen, wir schüttelten die Pflaumen. Aber wir konnten das Obst nicht einkochen. Uns fehlte der Zucker. Wir versuchten, die Pflaumen zu trocknen, aber wir hatten kein Glück damit. Sie begannen zu schimmeln. Wie fehlte uns jetzt die Großmutter mit ihren Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit!
Wir schnippelten die Äpfel und Birnen in dünne Scheiben, die wir auf Brettern und Backblechen in der Sonne trockneten. Wir suchten Pilze und trockneten sie. Aber die Haselnüsse und Walnüsse aus Großvaters Garten wurden noch grün von den Bäumen und Sträuchern gestohlen. Auch die Kürbisse, Riesendinger, waren verschwunden, noch bevor sie richtig reif geworden waren.
Meine Mutter hatte von all der Arbeit rauhe, rissige Hände bekommen. Sie pflegte sie nicht mehr. Früher hatte sie bei der Gartenarbeit immer Gummihandschuhe getragen. Sie saß morgens auch nicht mehr vor dem Frisierspiegel zwischen Tuben und Puderdosen. Braungebrannt, mit vielen kleinen Fältchen im Gesicht, lief sie herum, ließ ihr Haar wachsen, wie es wuchs, roch nach Schweiß und hatte oft Erde an den Schuhen kleben. Aber so hatte ich sie nicht weniger lieb als früher. Im Gegenteil.
Es kamen Tage, da hatte meine Mutter verweinte Augen. Auch der Vater war bedrückt.
»Die Mutti ist schwanger«, sagte er.
Ich starrte ihn erschrocken an. Er zog die Schultern hoch und sah sehr unglücklich aus.
»Vielleicht irrt ihr euch«, sagte ich und dachte an das, was wir in der Sexualkunde darüber gelernt hatten. »Vielleicht ist es nur von der Aufregung weggeblieben -«
»Das hatten wir auch gehofft«, sagte der Vater. Er sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen. »Aber jetzt ist ziemlich klar, daß es eine Schwangerschaft ist: aus der Nacht nach der Geburtstagsparty bei Kellermanns, zwei Tage vor der Bombe.«
»O mein Gott«, schluchzte die Mutter.
Als ich wieder kräftig genug dazu war, machte ich lange Streifzüge durch die Umgebung. Ich sah, daß von den Dörfern im Umkreis von Schewenborn die Ortschaften Wietig und Murn am wenigsten gelitten hatten. Wietig war von Fulda am weitesten entfernt, und Murn lag in einer tiefen Talfalte. Aber von den Dörfern im Fuldatal stand fast nichts mehr. Die Höfe waren eingestürzt oder abgebrannt, die Scheunen und Schuppen wie weggeblasen. Es roch immer noch nach Asche. Man sah kaum Menschen. Die Überlebenden, die nicht fortgezogen waren, hatten sich in den Trümmern eingenistet. Auf den verdorrten Wiesen lagen Kuhkadaver. Von manchen waren nur noch die Skelette übrig. Aber nirgends sah man Krähen hocken.
An den Waldhängen hatte die Druckwelle die Fichten wie Streichhölzer umgeknickt. An vielen Stellen waren Bäume über die Straße gefallen, und noch hatte niemand sie weggeräumt. Ganze Wälder waren niedergemäht, je weiter fuldaaufwärts ich kam. In einem Teich sah ich tote Fische mit dem Bauch nach oben treiben. Sie mußten lange nach dem Bombentag umgekommen sein. Und überall, vor allem unter Bäumen, trat ich auf winzige Vogelskelette.
Bei einem kleinen Dorf führte die Straße über die Fulda. Vom Dorf selbst stand fast nichts mehr. Aber die Brücke war noch ganz. Ein Mast der Stromleitung war über sie gefallen, die Drähte hingen zerrissen herab. Ich blieb eine Weile auf der Brücke stehen und schaute ins Wasser hinunter. Es war grau und trüb. Seitlich in den fahlgelben Weidenbüschen hingen ein paar Leichen ineinander verhakt - kleine schwarze Skelette mit geschrumpftem Fleisch: Verbrannte. Das Unkraut am Ufer durchwucherte sie schon.
Ich wagte mich noch ein Stück weiter in der Richtung nach Fulda vor. Die Landschaft wurde grau, dann schwarz. Das Tal war wie leergefegt. Nur ein paar Baumstümpfe ragten noch auf, ein paar flachgedrückte Autowracks neben der Straße erinnerten daran, daß hier einmal Menschen gelebt hatten. Die Wiesen waren versengt, die Felder verdorrt, die Wälder verbrannt, zerstört, entlaubt wie im Winter. Nur über den Fulda-ufern lag ein grüner Schimmer.
Als ich dorthin kam, von wo aus ich Fulda hätte liegen sehen müssen, kehrte ich um. Von diesem Ausflug brachte ich nichts mit heim. Nicht einmal Pilze wuchsen mehr im Fuldatal.
»Und trotzdem«, sagte mein Vater, als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte, »es kann nur eine kleine Bombe gewesen sein. Fulda war keine Großstadt. Wer auch immer die Bombe geworfen hat - er war sparsam. Schon ein kleines Kaliber genügte, um Fulda auszuradieren.«
Einmal wanderten wir zusammen, der Vater und ich, nach Osten zu, um für die Mutter etwas Speck oder Fett aufzutreiben. Wir kamen bis an die Zonengrenze. Die Wachtürme waren leer, auf den durchgepflügten Streifen keimte Unkraut. Wir konnten in ein Tal hinuntersehen. Dort war der Grenzzaun umgestürzt, waren die Pfeiler zerbrochen. Es sah aus, als sei da einer mit dem Bagger durchgefahren. An mehreren Stellen, auch in unserer Nähe, war der Maschendraht aufgeschnitten. Trampelpfade führten durch die Öffnungen.
Auf dem Pfad, der uns am nächsten lag, kam ein stoppelbärtiger Mann von drüben zu uns herüber. Er hatte einen Rucksack auf dem Rücken und ein Kind auf dem Arm. Ein zweites Kind schob er vorsichtig vor sich her. Wir beobachteten ihn mit angehaltenem Atem. Aber kein Schuß fiel, kein Hund bellte, kein Alarm schrillte. Als er bei uns ankam, grüßte er freundlich.
»Da hatten Sie aber Glück«, sagte mein Vater.
»Wieso?« fragte der Mann. »Hier schießt niemand mehr. Nicht mehr seit dem Bombentag. Man muß nur aufpassen, daß man nicht vom Trampelpfad abkommt. Da ist noch alles vermint.«
»Jetzt kann also rüberflüchten, wer will?« fragte mein Vater ungläubig.
»Flüchten?« fragte der Mann. »Warum? Niemand flüchtet jetzt. Im Gegenteil. Immer mehr von euch kommen zu uns rüber. Hier im Thüringischen sind wir noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Eisenach, Gotha, Erfurt sind natürlich weg, und Meiningen und Suhl hat die Wolke von Fulda erledigt. Aber hier herum läßt sich's noch leben für die, die den Typhus und die Ruhr überstanden haben.«
»Aber Sie«, sagte der Vater, »flüchten doch auch, wie ich sehe.«
»Ich?« fragte der Mann überrascht. »Sie meinen wegen des Rucksacks? Aber nein. Da wär ich schön dumm, wo doch bei euch alles noch viel kaputter sein soll als bei uns. Ich will Verwandte besuchen, gleich dort drüben im Dorf. Den Bruder meiner Mutter. Jahrelang haben sie uns Pakete geschickt. Jetzt bringe ich ihnen ab und zu eine Speckseite rüber. Denen sind alle Schweine kurz nach dem Bombentag krepiert. Auch so eine Seuche. Unser Dorf und ein paar Nachbardörfer hat sie ausgelassen. Dafür hat's bei uns die Kühe erwischt. Innerhalb einer Woche alle zweiundzwanzig Milchkühe hin!«
»Und das hier«, fragte mein Vater ganz verwirrt, »ist also keine Grenze mehr?«
»Nicht daß ich wüßte. Jedenfalls merkt man nichts davon. Wozu denn auch noch Grenzen, so kaputt, wie alles ist? Um Berlin herum soll kein Stein mehr auf dem anderen stehen, und Leipzig und Dresden sollen wie weggeblasen sein. Je weiter nach Osten, um so fleißiger ist man gestorben, und man stirbt dort immer noch. Nicht nur an den Seuchen. Die Strahlen sind's, diese verdammten Strahlen. Vor denen ist keiner sicher.«
»Wir gehören jetzt also wieder zusammen?« fragte mein Vater.
»Sieht so aus«, sagte der Mann. »Aber was weiß man denn heute? Man hört nur Gerüchte. Keine Zeitung, kein Fernsehen, keine Stimme der Regierung. Wahrscheinlich gibt's gar keine Regierung mehr. Wer würde sich denn auch zutrauen, in diesen Scherbenhaufen, diesen Totentanz Ordnung zu bringen? Nicht einmal Bürgermeister will einer werden. Bei uns gehen sie mit diesen Ämtern hausieren. Bürgermeister. Lächerlich. Jetzt gibt's nur ein Motto für jeden: Überleb, wie du kannst, und wenn's auf Kosten anderer geht.«
»Ja«, sagte mein Vater, »man vergißt seine ganze gute Erziehung und die ›Liebe-deinen-Nächsten‹-Moral. Man wird zu einem Tier. Man beißt um sich, wenn's ums Futter geht. Und es geht fast immer ums Futter! Dabei überleben nur die Stärksten.«
»So ist es«, sagte der Mann, nahm seinen Rucksack ab, langte hinein und reichte mir eine Speckseite.
»Da«, sagte er. »Du wirst Fett brauchen können. Du siehst ja aus wie's Leiden Christi persönlich. Übrigens kommt man hier an der Grenze noch am besten vorwärts, auf unserer Seite entlang: Da ist noch die Straße, auf der sie immer Streife fuhren. Die beste Verbindung heutzutage zwischen Nord- und Süddeutschland. Keine Ortschaften, kaum kaputt. Wer noch Benzin im Tank hätte, käme da schnell voran. Aber im Ernst: Radfahrer seh ich oft vorüberstrampeln. Also, auf ein gutes Überleben!«
Damit nahm er das kleinere Kind, ein noch pausbäckiges Mädchen, wieder auf den Arm und wanderte weiter. Er ließ uns kaum Zeit, uns zu bedanken.
»Warum gehen wir nicht rüber, wenn's drüben noch Speck gibt?« fragte ich.
»Wer weiß«, sagte der Vater, »es ist alles so unsicher. Vielleicht gibt es doch noch jemanden, der sich verpflichtet fühlt, die Grenze zu bewachen. Das kann doch nicht so plötzlich anders sein. Was würde mit der Mutti, wenn sie mich festhielten?«
Ich bot mich an, allein hinüberzugehen. Aber das wollte er auch nicht: »Man kann nicht wissen. Es sind ja alles nur Gerüchte.«
Nachdenklich wanderten wir ein Stück am Zaun weiter, dann kehrten wir um. Unterwegs fragten wir noch in ein paar Höfen nach Fett und anderem, bekamen aber nichts.
»Heute waren schon mehr als ein Dutzend Schnorrer da«, sagte eine Bäuerin. »Wir haben auch kein Tischlein-deck-dich.«
Und ein alter Bauer knurrte: »Eineinhalb Männer? Nein. Wenn ich schon was gebe, dann nur Frauen mit kleinen Kindern oder Schwangeren. Ihr könnt euch selber helfen.«
»Meine Frau ist schwanger«, sagte mein Vater. »Und wir haben ein kleines Kind zu Hause.«
»Das kann jeder sagen«, schnauzte ihn der Bauer an.
Wir versuchten, uns selber zu helfen: Als wir den Hof wieder verlassen hatten, trieben wir hinter der Scheunenwand ein Huhn in die Enge. Der Vater bekam es auch zu fassen, brachte es aber nicht fertig, ihm sofort den Hals umzudrehen. Es schlug mit den Flügeln und gackerte aufgeregt. Das hatte der Bauer wohl gehört. Er ließ den Hund los. Der kam mit wütendem Gebell herausgefegt und sprang uns an die Beine. Der Vater mußte das Huhn fahren lassen. Mit einem Pfahl, den er sich aus einem Holzhaufen griff, schlug er dem Köter über den Rücken, daß er sich jaulend verzog. Mir tat der Hund leid. Aber noch mehr tat mir's leid, daß uns das Huhn entgangen war.
»Eigentlich«, sagte der Vater, als wir weitergingen, »hatte der Bauer recht.«
Den ganzen Heimweg über blieb er schweigsam, in Gedanken versunken. In der Abenddämmerung buddelten wir auf einem einsamen Acker noch ein paar Kartoffeln aus und füllten damit unsere Rucksäcke. Hätten wir nicht die Speckseite bekommen, wäre es ein verlorener Tag für uns gewesen. Ich nahm mir vor, das nächste Mal wieder allein schnorren zu gehen. Ich war ja noch ein Kind, mich schickten die Bauern selten weg, ohne mir was zu geben. Und wenn's nur eine Runkelrübe war.
Wir kamen erst nach Mitternacht heim. Die Mutter hatte schon Angst um uns gehabt. Sie war sehr niedergeschlagen.
An diesem Nachmittag hatte jemand, während sie in Großvaters Werkstatt mit Jens Apfelschnitze aufgefädelt hatte, heimlich unseren Keller halb ausgeräumt. Von den Kartoffeln, die wir während der letzten Wochen von den Feldern heimgeholt hatten, fehlte mehr als die Hälfte. Der Dieb hatte sie in aller Ruhe eingesackt und einem Komplizen durch das Kellerfenster hinausgereicht. Er mußte aus der Nachbarschaft stammen. Er mußte gesehen haben, daß der Vater und ich in aller Frühe das Haus verlassen hatten. Auch Möhren und Kohlköpfe fehlten. »Wir brauchen einen Hund«, sagte der Vater wutschnaubend.
»Womit willst du ihn füttern?« fragte die Mutter.
Von nun an ließen wir die Mutter nicht mehr allein zu Hause. Ging der Vater fort, blieb ich bei ihr. Ging ich auf Beute aus, blieb der Vater daheim. Auf diese Weise dauerte es lange, bis wir den Verlust wieder hereinhatten. Dazu wurde es immer gefährlicher, von den Feldern zu stehlen, je näher der Winter kam. Einmal kehrte der Vater stöhnend heim. Sein Hemd war zerrissen, seine Nase blutete: Ein Bauer hatte ihn beim Rübenklauen erwischt und brutal zusammengeschlagen.
Auch als es nichts mehr auf den Feldern zu holen gab, zogen wir weiter Tag für Tag los, einmal der Vater, einmal ich, und holten Holz. Wir fuhren mit Großvaters altem Fahrrad. Als die Reifen nicht mehr zu flicken waren, fuhren wir auf den Felgen weiter. Das Holz luden wir auf einen uralten, zweirädrigen Anhänger aus Großvaters Schuppen. Jeden Tag beluden wir ihn höher. Die Ladung zurrten wir mit Seilen fest. Wir wetteiferten miteinander, wessen Ladung höher war. Wer daheimblieb, zerkleinerte das Holz zu Stücken, die in den Herd paßten.
Um Holz brauchten wir uns noch nicht zu schlagen. Die Schornbergwälder lagen voller dürrer Äste und umgestürzter Stämme. Und auch verkohltes Holz gab Hitze. Aber die Äxte und Sägen waren knapp. Jemand stahl unsere beste Säge, während ich nur für einen Augenblick in die Küche gegangen war, um zu essen. Der Vater raste vor Wut.
»Wenn ich den erwische, erschlage ich ihn!« brüllte er.
Das glaubte ich ihm.
Wir hielten uns jetzt tagsüber nur noch in der Küche auf, wo der Herd stand. Die Küche war der einzige warme Raum im Haus. Nachts schliefen wir in den ungeheizten Zimmern.
Wenn wir alle vier zu Hause waren, wurde es sehr eng in der Küche. Sie war nur etwa zwölf Quadratmeter groß. Und Jens ließ sich nicht anbinden. Er brauchte Platz zum Spielen. Er quengelte jetzt oft. Da wurde der Vater ungeduldig.
»Er kann nichts dafür«, sagte die Mutter.
»Ja, ja, ich weiß«, seufzte der Vater ergeben.
In der Küche trockneten wir unsere halbkaputten Schuhe, wusch die Mutter die Wäsche mit der Hand, spannte eine Leine von Wand zu Wand und trocknete sie. Die Küche roch nach Essensdunst und Asche, nach Waschlauge und Schweiß. Aber daran störten wir uns längst nicht mehr. Die Küche war unser Zuhause.