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Schon zwei Wochen nach dem Bombentag war das geschehen, was alle längst erwartet und gefürchtet hatten: Die ersten Typhusfälle waren aufgetreten. Zwar hatte man versucht, sie wegzureden. Wer einen Typhuskranken im Haus hatte, versteckte ihn und ließ ihn irgendeine andere Krankheit haben. Viele wußten auch wirklich nicht, daß sie's mit Typhus zu tun hatten. Wer hatte denn schon Erfahrung mit dieser Krankheit? Hohes Fieber und Durchfall - das konnte auch eine besonders heftige Darmgrippe sein oder die Strahlenkrankheit.
Aber jetzt, ein paar Tage nach meinem Geburtstag, griff die Seuche wie rasend um sich. In jedem Haus lagen Kranke. Es hatte keinen Zweck, sie zum Hospital zu bringen. Es gab weder Platz noch Medikamente. Und die Ärzte schafften die Arbeit nicht. Sechs Ärzte hatte Schewenborn vor dem Bombentag gehabt. Einer war gerade in Urlaub gewesen. Er kam nie wieder zurück. Ein anderer war auf dem Weg nach Fulda umgekommen, ein dritter vor dem Haus eines Patienten von Trümmern erschlagen worden. Und nun bekamen kurz nacheinander zwei von den drei letzten Ärzten Typhus. Der eine starb, der andere blieb noch wochenlang so geschwächt, daß er nicht auf die Beine kam. Der letzte arbeitete allein weiter, aber er konnte nicht mehr viel helfen. Er hatte keine Medikamente, kein Verbandszeug, kein Desinfektionsmittel mehr. Er mußte die Kranken sich selbst überlassen. Ich sah ihn noch ein paarmal durch die Reihen gehen und freundlich nach rechts und links nicken. Aber er blieb nirgends mehr stehen, beugte sich über keinen Kranken mehr, antwortete nicht mehr auf das Gejammer. Eines Tages fand man ihn tot in der Waschekammer.
Noch einmal begannen die Schewenborner auf Hilfe von außen zu hoffen. Gerüchte liefen um: Ein Rote-Kreuz-Konvoi sei in Richtung Schewenborn unterwegs, mit Personal, das auf Typhus-Epidemien spezialisiert sei.
»Na also«, hörte ich Frau Kramer sagen. »Endlich. Deutschland ist schließlich keine Insel. Sind uns die anderen nicht Hilfe schuldig? Haben wir nicht Millionen gespendet für die Erdbebenopfer in Italien? Haben wir nicht Tausende von Paketen nach Polen geschickt?«
»Vielleicht sieht es in Polen jetzt nicht anders aus als hier?« antwortete ihr mein Vater. »Vielleicht gibt es gar kein Italien mehr. Vielleicht ist ganz Europa kaputt.«
Da nannte Frau Kramer ihn einen Miesmacher.
Jemand wollte sogar einen Hubschrauber gesehen haben - eine Nachricht, die ganz Schewenborn in helle Aufregung versetzte. Aber als kein Konvoi ankam und kein Hubschrauber erschien, brach alle Hoffnung und damit auch das letzte bißchen Ordnung in Schewenborn zusammen. Niemand kochte mehr Suppe für die Kranken, Waisen und Obdachlosen. Sie blieben sich selbst überlassen. Niemand wollte mehr die Toten begraben, obwohl jetzt das zweite große Sterben begonnen hatte.
Die letzten Krankenschwestern und Pfleger erschienen nicht mehr im Hospital. Jeder versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Wer noch laufen, wer noch kriechen konnte, verließ das Hospital, denn darin lagen bald mehr Tote als Lebendige.
Viele Schewenborner und Obdachlose zogen Hals über Kopf in die Wälder und kampierten dort in Zelten. So hofften sie, der Seuche entgehen zu können. Aber sie trugen den Typhus schon in sich, wurden dort draußen krank und steckten sich gegenseitig an. Den Michi Schubert sah ich nie wieder. Es hieß später, er sei in den Schornbergwäldern gestorben. Die liegen nördlich von Schewenborn und waren vom Feuer verschont geblieben. Dort hatten wir früher oft zusammen Pilze gesucht.
Wer in der Stadt geblieben war, traute sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus. Jede Türklinke, jedes Geländer konnte infiziert sein. Jeder Mensch, der einem begegnete, konnte höchste Gefahr bedeuten. Tagsüber lag die Stadt wie tot da, obwohl jetzt in den Trümmern fast doppelt so viele Menschen wohnten wie früher. Aber nachts wurde es in den Gassen lebendig. Da schlichen die Leute mit Eimern zur Schewe, zu den Löschwasserteichen unter der Stadtmauer, zu den Fischteichen hinter dem Schloßpark und schöpften. Dabei wich jeder jedem aus. Nur von weitem wurden Neuigkeiten ausgetauscht - fast immer Todesnachrichten. Es war fast so, als hielte man die Sonne für die Ansteckungsquelle.
»Unsinn«, sagte mein Vater und schöpfte tagsüber. Aber er holte das Wasser aus dem Freibad. In diesem Wasser hatten zwar vor dem Bombentag schon viele gebadet, und seitdem war es nicht mehr gewechselt worden. Laub und Asche trieben darauf, aber es war gechlort. Dies hielt mein Vater immer noch für den besten Schutz. Das sprach sich herum. Bald drängten sich nachts die Wasserholer vor der aufgebrochenen Tür des Freibads. Jeden Morgen, wenn der Vater und ich mit unseren Eimern hinkamen, war weniger Wasser in den Bassins. Bald war das Kinderbecken leer und im Nichtschwimmerbecken nur noch ein kümmerlicher Rest. Den wollte niemand, denn im knietiefen Wasser trieben zwei Tote. Niemand holte sie heraus. Man tat, als sähe man sie nicht, und schöpfte aus dem Schwimmerbecken. Nicht einmal ihre Angehörigen kümmerten sich um sie. Aber vielleicht hatten sie ja auch keine Angehörigen mehr.
Meine Mutter und Judith machten weiter, auch als im Schloß der Typhus ausbrach. Aber sie gerieten in Panik, weil sie nicht wußten, wie sie die Kinder sattmachen sollten. Der Vater mußte auf die Felder gehen und Frühkartoffeln stehlen. Die waren noch nicht viel größer als Klicker. Er konnte gar nicht so viele aus der Erde buddeln, wie die Kinder aßen. Als die Mutter begann, die Vorräte der Großeltern mit für die Kinder zu verbrauchen, geriet sie mit dem Vater aneinander.
»Und was sollen wir essen, wenn der Winter kommt?« fragte er.
»Soll ich zusehen, wie die Kinder verhungern?« fragte sie hitzig zurück.
Ich staunte. Noch vor wenigen Wochen hatte sie mich vom Fenster weggezerrt, wenn die Obdachlosen sich vorbeischleppten. Damals hatte sie sie abgewiesen, wenn sie um Essen bettelten. Wie hatte sie sich in so kurzer Zeit verändert! Und auch der Vater war anders geworden: härter und rücksichtsloser. Aber gegen die Mutter kam er immer noch nicht an.
»Schau doch ins Hospital«, rief er. »Da kannst du die Leute gleich reihenweise verhungern und an ihren Krankheiten krepieren sehen. Willst du die nicht auch noch mitfüttern?«
»Hier geht's um Kinder«, sagte sie.
»Du nimmst dir zu viel vor!« schrie er. »Du willst Unmögliches möglich machen. Man muß doch irgendwo einen Strich ziehen können!«
»Aber nicht rund um unsere Familie. Ich nicht!«
»Schleppen wir denn nicht schon zwei fremde Kinder mit durch? Mit ihnen zusammen werden wir Glück haben müssen, wenn wir durch den Winter kommen wollen.«
»Dann überleg dir's doch mal andersrum«, sagte sie. »Stell dir vor, du und ich wären tot, auch Judith und Roland. Nur Kerstin hätte überlebt und hockte nun vor dem Hospital. Keiner kennt sie, keiner erbarmt sich. Na?«
Da sagte der Vater nichts mehr und ging wieder hinaus in die Felder. Aber bald brauchte er nicht mehr so viele Kartoffeln heranzuschaffen: Die Kinder starben der Mutter unter den Händen weg. Er mußte nun eine Grube im Schloßpark ausheben und die toten Kinder hineinlegen.
Er setzte durch, daß Kerstin zu Hause blieb. Er wollte, daß auch Judith und ich zu Hause blieben. Er war außer sich vor Angst um uns. Er drohte mir, mich einzusperren, wenn ich nicht freiwillig bliebe. Da wurde ich wild. Ich fühlte mich nicht mehr als Kind und wollte nicht wie ein Kind behandelt werden. Ich hatte auch eine Verantwortung!
»Wenn ich krank werden soll, dann hab ich die Krankheit längst in mir!« rief ich wütend. »Du erreichst nur, daß ich ganz im Hospital bleibe und mich hier überhaupt nicht mehr sehen lasse!«
Auch Judith gab nicht nach. Sie sagte ruhig: »Wenn die Mutti weitermacht, mach ich auch weiter. Sie schafft das nicht allein.«
»Und wenn du dich ansteckst?« rief er. »Du kannst sterben!«
Darauf fragte sie nur: »Na und?«
Ich warf einen Blick auf ihr Haar. Es war dünn geworden. Es hatte seinen Glanz verloren. Sie kämmte es nicht mehr. Fiel das den Eltern nicht auf? Wunderten sie sich nicht darüber, daß sie so viel trank? Sahen sie nicht, wie blaß und elend sie aussah? Aber die Eltern sahen ja selber blaß und elend aus. Es war, als ob jeder von uns den Atem anhielte und nichts ahnen, nichts erkennen, nichts wissen wollte.
Als die Toten so Überhand nahmen, daß die ganze Stadt stank, taten sich ein paar Männer zusammen, die den Typhus überstanden hatten, karrten sie in jedem Viertel auf einen Haufen, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Noch besaß dieser und jener Benzin, noch gab es Feuerzeuge und Streichhölzer in den meisten Häusern.
Auch im Hospital erschienen die Männer. Einen von ihnen kannte ich: den jungen Dreesen. Der war Fotograf gewesen und besaß den schönsten Sportwagen in der ganzen Stadt. Die Mädchen hatten ihn angehimmelt. Nun half er, auf den Wiesen hinter dem Hospital einen Leichenhaufen aufzuschichten. Vom Hospital aus konnte man den Haufen nicht sehen. Aber der Gestank von verbranntem Fleisch lag noch wochenlang über der Stadt.
Nun waren wir allein mit den letzten Kranken, die alte Lisa und ich. Es gab nicht mehr viele Lebende im Hospital zu betreuen. Wer nicht an seinen Verbrennungen oder an der Strahlenkrankheit oder am Typhus gestorben war, der war verhungert. Wer hier noch lag, hatte keine Angehörigen mehr, der war ganz und gar verlassen. Wenn ich einen dieser dreckigen und stinkenden Sterbesäle betrat, schauten mich die Kranken, die noch bei Bewußtsein waren, hoffnungsvoll an. Aber ich brachte ihnen keine Hoffnung. Wer rief, bekam Antwort, wer nicht mehr rufen konnte, bekam nicht einmal mehr einen Blick. Ich war ja selber am Ende. Das einzige, was ich ihnen noch bringen konnte, war Wasser gegen ihren entsetzlichen Durst.
Die meisten von ihnen waren nur noch von Haut überzogene Gerippe, wenn sie starben. Manche klammerten sich an meine Arme, an mein schmutziges und durchschwitztes Hemd. Sie wollten mich nicht loslassen, in panischer Angst vor dem Tod. Manche zerrten mit letzten Kräften an meinem Wassereimer oder bissen in den Plastikbecher und wollten ihn nicht wieder hergeben. Ich mußte mich mit Püffen gegen die Sterbenden wehren, mußte ihre Krallenfinger von meinem Hemd lösen. Und ich war doch selber so erschöpft! Hin und wieder packte mich die Angst, wenn sie noch stark waren. Mir schien es, als wollten sie mir ans Leben, obwohl ich doch der einzige war, den sie noch hatten - außer der alten Lisa, die mich immer wieder ablöste, damit ich ein paar Stunden schlafen konnte. Es war, als ob sie glaubten, mit meinem Leben weiterleben zu können!
Ich hielt eine genaue Reihenfolge ein, um gerecht zu bleiben: Stockwerk um Stockwerk, Zimmer um Zimmer. Wenn ich mich bei der nächsten Runde über besonders wilde Sterbende beugte, waren sie oft schon tot und starrten mit glasigen Augen an die Decke.
An einem heißen Nachmittag brach ich im Keller des Hospitals mit hohem Fieber zusammen. Lisa fand mich und holte meinen Vater. Der kam und schleppte mich heim. In den nächsten Tagen wurde fast meine ganze Familie krank. Nur Judith blieb verschont. Ich lag über zwei Wochen zwischen Leben und Tod auf Großmutters Sofa. Das Fieber kletterte immer wieder so hoch, daß ich das Bewußtsein verlor, kurz danach sank es auf normale Temperatur ab.
Nur in diesen fieberfreien Perioden konnte ich wahrnehmen, was um mich herum vorging. Ich sah weder Vater noch Mutter noch die Kleinen. Nur Judith umsorgte mich. Wenn sie sich über mich beugte, lächelte sie mich traurig an. Sie war noch schmaler geworden. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie hielt mir den Becher genau so an die Lippen, wie ich ihn den Kranken im Hospital an die Lippen gehalten hatte. Zeitweilig war ich so schwach, daß ich nicht mehr sprechen konnte. Einmal fühlte ich, wie das Fieber stieg, mir wurde schwarz vor Augen. Da packte ich sie am Ärmel und klammerte mich an ihre Hand. Ein anderes Mal wollte ich sie fragen, warum sie ein Kopftuch trug, aber dann wußte ich nicht mehr, was ich sie fragen wollte. Sie wusch mich, sie bettete mich um, sie kochte mir Tee. Ich hörte sie Wasser holen und Holz hacken. Im Herd nebenan in der Küche knisterte das Feuer.
Einmal fragte ich sie, warum es so still im Haus sei.
»Sie schlafen alle«, antwortete sie. »Schlaf du nur auch.«
Da schlief ich gehorsam ein, überanstrengt von den paar Worten. Später erzählte sie mir, daß ich einen Tag lang wie tot dagelegen hatte.
Als es mir wieder etwas besser ging, erfuhr ich, daß Kerstin gestorben war, mein quicklebendiges, quengeliges Schwesterchen mit den rotblonden Locken. Sie war nur drei Tage krank gewesen. Auch Silke hatte den Typhus nicht überstanden. Vater und Mutter lagen schwerkrank nebenan. Sie wußten noch nichts vom Tod der beiden. Nur Jens war wieder auf den Beinen. Ihn hatte der Typhus als harmloser Durchfall gestreift. Ich hörte ihn draußen auf dem Hinterhof krähen.
»Ich bin verschont geblieben«, sagte Judith. »Ich bin für was anderes ausersehen.«
Sie bat mich, den Eltern Kerstins und Silkes Tod beizubringen. Sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Aber erst nach ein paar Tagen war ich soweit, daß ich mich zu den Eltern ins Schlafzimmer schleppen konnte. Im ersten Augenblick erkannte ich sie nicht, und auch sie stutzten, als sie mich sahen. Wir waren alle bis auf die Knochen abgemagert. Sie lächelten mir mühsam zu. Nachdem ich meine Botschaft herausgewürgt hatte, schrie die Mutter auf und klammerte sich an den Vater. Der blieb stumm, aber seine Augen füllten sich mit Tränen. Und dann sagte er zur Mutter: »Sie haben's gut dort. Wer weiß, was uns noch bevorsteht.«
»Ach, du mit deinen Plattheiten!« schluchzte die Mutter. Dann rief sie Judith. Die mußte an der Tür gehorcht haben, denn sie schwankte ins Zimmer, noch bevor ich sie hereinholen konnte. Sie war sehr blaß.
»Was hast du mit ihnen gemacht?« fragte die Mutter mit einer fremden, schrillen Stimme.
»Ich hab sie nachts hinter der Werkstatt begraben, neben dem Komposthaufen«, sagte Judith. »Ich hab sie nicht den Männern geben wollen. Aber das Grab ist nicht sehr tief. Ich hatte keine Kraft mehr -«
»O Gott sei Dank«, murmelte die Mutter, »daß sie in die Erde gekommen sind.« Erst später fragte sie, was mit den Kindern im Schloß geschehen sei.
»Ich weiß es nicht«, sagte Judith. »Ich hab nicht alle versorgen können, euch und sie. Ich hab ihnen die Tür aufgemacht und gesagt: ›Geht fort, wenn ihr wollt. Hier ist niemand mehr, der euch zu essen geben könnte. Geht auf die Felder, sucht euch Körner, nagt Maiskolben ab, buddelt euch Kartoffeln aus. Geht in die Wälder, eßt Pilze. Klaut in den Gärten, was sich essen läßt.‹ Ein paar Kinder sind gegangen. Die meisten sind geblieben. Sie haben doch noch gehofft, daß wir wiederkommen. Seitdem bin ich nicht mehr hinübergegangen. Ich will nicht sehen, was dort zu sehen sein wird. Denn es waren so viele von ihnen krank.«
Am Abend des Tages, an dem die Mutter zum erstenmal aufstand, legte sich Judith hin. Sie hatte hohes Fieber. Ihre Jeans blieben ihr kaum über der Hüfte hängen. Sie wollte nichts mehr essen, nur noch trinken. Aber das Schlucken machte ihr von Tag zu Tag mehr Mühe. Einmal rutschte ihr Kopftuch ab. Ich schrie auf, als ich sie so sah: Sie hatte kein Haar mehr. Aber im selben Augenblick bereute ich meinen Schrei, denn ich merkte, wie sehr ich sie durch mein Entsetzen verletzt hatte.
Ihr Körper verfärbte sich, wurde fleckig, dann starb sie ganz leise, ohne Klage. Sie machte sich einfach davon.
Ihr Tod traf den Vater tief. Er war so stolz auf sie gewesen. Sie hatte immer viel bessere Noten als ich heimgebracht. Die Lehrer hatten ihm zu dieser Tochter gratuliert. Ich aber hatte ihn oft in Verlegenheit gebracht - ich, der Faulpelz und Dummkopf, der sich immer nur mit Mühe von Klasse zu Klasse gehangelt hatte.
Weder Vater noch Mutter noch ich hatten Kraft genug, um eine Grube für Judith auszuheben. Wir mußten sie den Männern übergeben, die mit dem Karren durch die Gassen zogen und »Tote? - Tote?« riefen. Aber bevor sie hereinkamen, knüpfte ihr meine Mutter noch hastig das Kopftuch um. Kein Fremder sollte sie ohne ihr Haar sehen. Dann schleppte sich die Mutter zum Vater ins Schlafzimmer. Nur ich blieb bei Judith, als die Männer sie ziemlich unsanft auf ihre Bahre warfen und hinaustrugen.
»Zieh ihr doch die Turnschuhe aus«, sagte einer zu mir. »Die sind viel zu schade zum Verbrennen. Die gibt's nie wieder. Du wirst sie noch brauchen können.« Ich schüttelte den Kopf.
»Dann nehme ich sie«, sagte ein anderer Mann. »Für meinen Neffen, wenn er noch lebt.« Da riß ich sie Judith von den Füßen und warf sie hinter mich ins Zimmer.
»Na, na«, sagte der Mann, »nur nicht so heftig. In solchen Zeiten kann man sich keine Pietät mehr leisten. Wer nicht praktisch denkt, krepiert.«
Als sie draußen waren, brach mir der Schweiß aus, so schwach fühlte ich mich. Ich schlug die Tür hinter ihnen zu. Ich schaute nicht aus dem Fenster. Ich warf mich aufs Sofa und weinte, bis Jens mich, bekümmert über meine Traurigkeit, am Nacken kraulte und mich daran erinnerte, daß er hungrig war.