Kapitel 12

Aus Jennas Tagebuch:
4. Juli 2027
Heute habe ich in Felix’ Teil des Kellers etwas entdeckt, was mich erschüttert hat. Ich dachte, er wäre einigermaßen stabil, seit er sich »Tore ohne Grenzen« angeschlossen hat. Aber ich habe mich geirrt.
Im Keller hat Felix ein Notstromaggregat aufgebaut und ein Lager mit viertausend Litern Diesel angelegt. Im Raum daneben stehen so viele Wasserflaschen, dass ich nicht mal schätzen kann, wie viel Liter das sein könnten. Und Vorräte an Erbsen, Getreide – eine Getreidemühle gibt es auch –, Konservendosen ohne Ende und noch alles Mögliche andere.
Zuerst war ich wütend, dass Felix mich nicht eingeweiht hat. Dann war ich traurig, weil es ihm offenbar viel schlechter geht, als ich dachte. Und dann habe ich mich gefragt: Welche Überwindung muss es ihn jedes Mal kosten, ein Tor zu betreten, wenn er ihnen so wenig traut?

Irland, nahe
der Mobilen-Kommune

Die ersten Kilometer legte Celie unbehelligt zurück. Nur einmal schreckte sie eine Gruppe Jugendlicher auf, die ein nächtliches Bad im Meer genommen hatten. Sie war aber schon an ihnen vorbei, bevor sie sie so recht bemerkt hatten.
Als sie kurz darauf an der noch schwelenden Ruine einer Textilfabrik vorbeiritt, traten ihr wie aus dem Nichts vier bewaffnete Männer entgegen. Celie versuchte, auszuweichen, aber ihr Pferd scheute, tänzelte auf der Stelle und bäumte sich auf, sodass sie alle Hände voll zu tun hatte, um nicht abgeworfen zu werden. Die Männer hatten leichtes Spiel mit ihr und zogen sie vom Pferd. Zwei hielten sie fest, darum konnte sie nicht nach ihrem Messer greifen. Aber das hätte ihr gegen diese Übermacht auch nicht geholfen.
»Loslassen!«, schrie Celie.
Die Männer musterten sie grinsend.
»Na, du bist ja ’ne ganz Wilde, was?«, nuschelte einer, dem zwei Schneidezähne fehlten. Und ein anderer ergänzte: »Ich mag wilde Frauen!«
Celies Gefühle froren ein, Eiskristalle durchdrangen ihren Verstand. Sie versuchte, ihren Zorn am Brennen zu halten, aber die Angst erstickte ihn. In den Augen der Männer stand rohe Gier, und hier draußen war niemand, der sie aufhalten konnte. Außer …
»Sie wissen wohl nicht, wen sie vor sich haben!«, sagte Celie so würdevoll wie möglich.
»Na, wer bist du denn, Kleine?«, fragte der Zahnlose spöttisch. »Vielleicht die Königin von England?« Er packte ihr Gesicht grob mit einer Hand. »Na, so was, siehst der Thronfolgerin ja sogar ein bisschen ähnlich!«
Er und zwei andere Männer lachten, aber der vierte, ein hübscher blonder Junge, runzelte plötzlich die Stirn, kam näher und musterte Celies Gesicht eingehend. Dann sagte er: »Scheiße, das ist das Mädchen vom Bürgermeister!«
Nun erkannten die anderen sie auch.
»Der Engel mit der Klarinette!«, sagte einer verblüfft.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte der blonde Junge mit Panik in der Stimme.
Celie musste etwas sagen, schnell, bevor die vier in ihrer Verwirrung etwas Dummes taten. Sie zur Stadt zurückbrachten. Oder sich entschlossen, jede Spur dieser Begegnung auszulöschen …
»Ihr lasst mich weiterreiten, damit ich Jasons Spezialauftrag erfüllen kann. Und wenn er sich die Aufzeichnungen der Kameradrohnen anschaut …«, alle vier blickten hektisch in den Nachthimmel, »… werde ich ihm sagen, dass nichts passiert ist. Dass ihr nur eine Kontrolle durchgeführt habt, um die Grenzen der Kommune zu schützen.«
»Und wer garantiert uns …?«, begann der blonde Junge, aber der Zahnlose deutete nach oben und unterbrach ihn: »Halt die Klappe, Murkha!«
Er ließ Celie los und deutete mürrisch auf ihr Pferd. »Ms Haversham, wir wünschen Ihnen noch eine gute Reise.«
Von da an trug Celie die Messer immer griffbereit. Die Nacht war nicht mehr ihr Freund, der sie vor Jasons Blicken und denen seiner Helfer schützte. Sie war zu einem tödlichen Dschungel geworden, in dem sich hinter jedem Schatten eine neue Gefahr verbergen konnte.
Es wurde schon hell, als Celie sich, zu Tode erschöpft, endlich erlaubte, Rast an einem alten Bahnhof zu machen. Das Ortschild fehlte, aber Celie schätzte, dass es bis zu ihrem Haus noch etwa zwanzig Kilometer waren. Sie würde versuchen, einige Stunden zu schlafen, und dann am Mittag weiterreiten, sodass sie das Kranen-Anwesen – wenn alles gut ging – noch vor der Dämmerung erreichte. Und vor Jasons Leuten. Ob sie ihr noch auf der Spur waren? Die Kameradrohnen waren durch den Störsender nutzlos geworden, aber vielleicht gelang es Jason, ihren Weg anhand der Übertragungsstörungen zu verfolgen?
Celie schob diese Gedanken energisch beiseite. Sie konnte es jetzt sowieso nicht mehr ändern.
Bis vor Kurzem hatte in diesem Bahnhof noch jemand gewohnt, wie man an dem frischen Müll hinter dem Gebäude und an den Hängekörben vorm Eingang sehen konnte, in denen gelbe und violette Chrysanthemen blühten. Aber jetzt war er verlassen und irgendjemand hatte alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war.
Celie ging mit dem Messer in der Hand um das Gebäude herum, vergewisserte sich, dass sie allein war, und setzte sich dann auf den Bürgersteig vor dem Bahnhofseingang, wo sie die Umgebung im Blick behalten konnte. Als sie ihren Rucksack öffnete, um ein Stück Brot herauszuholen, fiel ihr etwas entgegen. Eine Mundharmonika.
Celie begann zu weinen. Plötzlich fehlte ihr die Kommune entsetzlich. Olle, Karen, die Kinder, Pietro und, ja, sogar Brigid. Nie hätte sie gedacht, dass ihr diese Menschen so ans Herz wachsen würden.
Als Celie in die Kommune gekommen war, hatte sie kaum etwas mitbringen können. Zu groß war die Gefahr gewesen, sich durch etwas Persönliches zu verraten. Nur eine einzige Sache hatte sie dabeigehabt, die ihr etwas bedeutete: die Mundharmonika, die Alex ihr zum elften Geburtstag geschenkt hatte und die sie seit sechs Jahren überallhin begleitete. Die Mundharmonika hatte sie damals zur Musik gebracht, hatte ihr eine völlig neue Welt erschlossen. Kurz darauf hatte sie begonnen, Klarinette zu spielen, und in den letzten beiden Schuljahren war sie bereits eine gefragte Klarinettistin gewesen, hatte mit verschiedenen Bands überall auf der Welt gespielt und davon geträumt, Berufsmusikerin zu werden. Aber wenn sie Trost gebraucht hatte, war es nicht die Klarinette gewesen, sondern Alex’ Mundharmonika, mit der sie zu ihrem geheimen Platz beim Orangenbaum gegangen war, um Kraft zu schöpfen.
Natürlich, das hier war nicht ihre Mundharmonika. Celie hatte sie, wie alles andere, in der Kommune zurücklassen müssen. Noch einmal in die Stadt zu schleichen wäre wegen der Kameradrohnen völlig loco gewesen. Es musste Seans Mundharmonika sein. Er hatte sie offenbar im Getümmel vor ihrem Aufbruch in den Rucksack gesteckt.
Celie wischte sich die Tränen ab, während die Sonne aufging, nahm die Mundharmonika und spielte ihr Lieblingslied, »Irish Blessing«. Sie spielte es für Sean, der ihr seinen größten Schatz gegeben hatte. Für Olle und Brigid, die weiterkämpfen würden, auch wenn sie ihnen jetzt nicht mehr helfen konnte. Für Eliza, die ihre liebste Freundin gewesen war. Für Karen, die ihr die Augen für das geöffnet hatte, was in der Kommune schieflief. Für alle, die sie zurückgelassen hatte und die sich nun, nicht zuletzt wegen ihr, in großer Gefahr befanden. Und sie spielte das Lied als Ermutigung für sich selbst …
Sie konnte nicht aufhören, spielte immer weiter, wie unter Zwang, weil sie spürte, dass noch jemand fehlte. Als sie dann erkannte, wer das war, ließ sie die Mundharmonika sinken. Die Antwort lag ja auf der Hand.
Alex.

Irland, Mobilen-Kommune

Am frühen Morgen zogen die müden Arbeiter nach einer kurzen Nacht wieder auf die Felder. Aber schon bald wurden sie von einer der unzähligen Security-Kontrollen angehalten, die nach Dawn Haversham suchten. Auch die Frühaufsteher in der Stadt waren bereits unterwegs, um in den Gemeinschaftsküchen mit den kärglichen Rationen für den kommenden Tag irgendetwas auf den Tisch zu bringen, das alle satt machte. Doch sie blieben mitten auf der Straße stehen, als sie Celies Video über die Screens laufen sahen. Zur selben Zeit wurde Martin Kleib von seinem Schreibtisch im Sender weg verhaftet und in Handschellen abgeführt. Und Conor und zwei seiner Sicherheitsleute rannten zu Olles Wohnung.
Sie ließen ihm kaum Zeit, sich anzuziehen, und sie sagten ihm auch nicht, was sie von ihm wollten. Als Olle sich weigerte, mitzukommen, legten sie ihm Handschellen an. Auf der Straße beschwerte Olle sich lauthals über die Polizeiwillkür und da knebelten sie ihn auch noch. Die Passanten starrten ihnen nur neugierig hinterher, und Olle hatte sich schon damit abgefunden, auf Nimmerwiedersehen in einer Zelle zu verschwinden. Aber dann waren sie plötzlich am Rathaus und die Sicherheitsleute führten Olle in die Computerzentrale.
Hinter Olles Arbeitsplatz ging der Bürgermeister auf und ab wie ein Tiger, bereit zum Sprung.
»Nehmt ihm den Knebel ab«, knurrte er die Sicherheitsleute an, bevor er sich Olle zuwandte. »Wo ist sie?«
Olle fragte nicht: »Wer?« Das hatte keinen Zweck und er wollte Jason nicht unnötig reizen. Also zuckte er nur die Achseln und sagte: »Ich weiß nur, dass sie weg ist. Aber wohin sie wollte …«
Conor stürzte auf Olle zu, aber Jason war schneller. Er schlug ihn hart ins Gesicht. »Wo – ist – sie?!«
Aus Olles Nase floss Blut. Er zog die Nase hoch und rief: »Ich weiß es nicht!«
Jason holte noch einmal aus, und Olle beeilte sich hinzuzufügen: »Obwohl, sie hat da was gesagt, aber das macht eigentlich gar keinen Sinn …«
Jason packte ihn mit beiden Händen und schüttelte ihn.
»Schon gut!«, rief Olle. »Sie hat gesagt, sie will nach Dublin zu T. O. R. und da helfen. Ich hab aber keine Ahnung, was sie damit gemeint hat. Sie ist schließlich eine Mobile, da wird sie ja wohl kaum helfen wollen, das Tornetz wieder aufzubauen.« Dann murmelte er noch, wie zu sich selbst: »Würde mich außerdem sehr wundern, wenn eine Siebzehnjährige genug von Tortechnologie versteht, um denen von T. O. R. eine Hilfe zu sein.«
»Handschellen ab!«, rief Jason seinen Sicherheitsleuten zu. Er beugte sich zu Olle hinunter. »Sie hat einen Störsender, darum finden unsere Kameradrohnen sie nicht. Du wirst einen Weg suchen, um sie trotzdem aufzuspüren.«
»Okay …«, sagte Olle und setzte sich an seinen Schreibtisch. Aber Jason hörte schon nicht mehr zu. Er stürmte aus dem Raum.
Darum bekam er auch nicht mehr mit, wie Olle hinter dem Taschentuch, das er sich an die blutende Nase drückte, trotz seiner Schmerzen grinste.
* * *
Dieses Flittchen hatte ihn reingelegt! Sie hatte so getan, als würde sie die Tore verabscheuen. Dabei war sie die ganze Zeit eine treue Anhängerin ihrer Mutter gewesen! Und dann hatte sie auch noch einen auf scheue Jungfrau gemacht und gleichzeitig mit ihm geflirtet. Wie verdorben musste jemand sein, um so etwas zu tun?
Egal. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Sie wollte nach Dublin zu T. O. R. gehen? Seine Leute würden sie dort schon erwarten. Sein Arm reichte viel weiter, als irgendjemand ahnte. Schon im Sicherheitsknast hatte er Kontakte geknüpft, die ihm irgendwann die Herrschaft über die Tore sichern würden, wenn die Zeit reif war. Dass die Tore nun ausgefallen waren – warum auch immer –, machte ihm die Sache nur leichter. Und Cecilia Kranen war in keinerlei Hinsicht ein Problem. Seine Leute bei T. O. R. würden sie in Empfang nehmen und zu ihm zurückbringen. Und dann würde sie bekommen, was sie verdiente.
Er packte einen Schraubenzieher, der auf seinem Schreibtisch lag, und hieb ihn in die Screen an seiner Wand, auf der stumm Celies verwackeltes Video lief.
Jetzt musste er sich um andere Dinge kümmern. Sein Lager war geplündert worden. Aber keiner regte sich über dieses Verbrechen auf, sondern nur darüber, dass er es geheim gehalten hatte. Und es gab schon Gerüchte, dass entweder er oder Conor persönlich die vier Jungs umgebracht hatte. Bislang waren das nur Gerüchte, weil Conor das Video beschlagnahmt hatte, bevor es vollständig über die Screens gelaufen war. Aber wenn sich genügend Leute damit beschäftigten, würde am Ende sicher jemand darauf kommen, dass er es gewesen war. Vielleicht sogar, wie er es angestellt hatte.
Dieses verdammte Video! Wieso glaubten sie einem miesen Flittchen mehr als ihm?
Natürlich, weil er selbst sie als »Engel mit der Klarinette« aufgebaut hatte. Seit dem Mord an seinen Eltern hatte er keinen so schweren Fehler mehr begangen. Aber er würde ihn korrigieren. Sobald sie sie zu ihm brachten.
Er zog den Schraubenzieher aus der Wand und stach so lange auf das Gesicht der Verräterin auf der Screen ein, bis er den Arm nicht mehr heben konnte.

Irland, Kranen-Anwesen

Celie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr noch blieb. Irgendwann würde Jason wissen, dass sie nicht nach Dublin gegangen war. Und dann würde er sie hier suchen. Zu Hause.
Es regnete und Celie stand vor dem großen Tor, das zum Kranen-Anwesen führte. Kein Licht leuchtete und nichts deutete darauf hin, dass die Sicherheitseinrichtungen funktionierten. Wie sollten sie auch. Aber es gab erstaunlicherweise auch keine Spuren eines Einbruchs, obwohl das Anwesen für jeden, der es kannte, seit dem Zusammenbruch ein verlockendes Ziel gewesen sein musste. Doch offenbar hatte niemand die sechs Meter hohe Mauer überwinden können, die oben nicht nur mit einem Elektrodraht, sondern auch ganz altmodisch mit Glasscherben abgesichert war. Und das Schloss am Tor wies zwar Kratzer auf, war aber nicht ernsthaft beschädigt. Auch Celie konnte auf diesen Wegen nicht aufs Anwesen gelangen. Aber sie kannte noch einen anderen Weg, wenngleich der ohne Strom eigentlich nicht funktionieren konnte …
Celie bückte sich und legte das biometrische Sensorfeld frei, das in eine der alten Birken eingebaut war und das sowohl den Fingerabdruck als auch die DNA prüfte. Sie legte einen Finger auf das Feld. Als es tatsächlich summte, wich Celie vor Schreck einen Schritt zurück. Das Tor glitt lautlos auf.
Celie zögerte. Plötzlich hatte sie Angst. Dass vielleicht doch jemand eingebrochen war und alles verwüstet hatte. Oder, was vielleicht noch schlimmer wäre: dass alles genau so war wie an dem Tag, als sie fortgegangen war.
Aber sie konnte auch nicht einfach wieder umkehren. Sie hatte sich ja schon eingestanden, dass sie, sie allein, schuld war an Jennas Tod. Etwas Schlimmeres als diese Gewissheit konnte sie hier auch nicht erwarten.
Und dennoch. Ihre Füße wollten sich nicht vom Fleck bewegen. Sie wollten für immer und ewig hier stehen, bis sie Wurzeln schlug wie die alte Birke. Und dann bewegten sie sich doch ganz schnell, als etwas Rot-Braunes kreischend aus dem Gebüsch neben Celie sprang.
»Madame Curie!« Celie bückte sich zu der Katze hinunter. Die musterte sie zunächst misstrauisch, ließ sich dann aber auf den Boden fallen und streckte Celie den Bauch zum Streicheln entgegen.
»Du bist ganz schön dünn geworden«, sagte Celie. Madame Curie kniff wohlig ihre Augen zusammen und begann zu schnurren.
»Na gut«, sagte Celie. »Dann wollen wir mal.« Sie nahm die Katze auf den Arm, schloss das Tor hinter sich und betrat ihr Zuhause.
Das Gras des Parks leuchtete im Regen saftig grün, das Wäldchen schickte schwere Kieferndüfte herüber, die Villa strahlte so weiß, dass es in den Augen wehtat, und das Sicherheitsglas in der Mauer glitzerte wie Diamanten in der Sonne. Alles war wie immer, als wäre Celie einfach nur für einige Wochen in Urlaub gewesen.
Und doch war alles anders. Mom war nicht hier. Niemand war hier außer Celie.
Madame Curie maunzte, sprang von Celies Arm und lief auf das Haus zu, wo zwei andere Katzen sie schon erwarteten. Einstein und Heisenberg. Es gab doch noch Leben hier.
Die Tür zu dem fußballplatzgroßen Wintergarten am Eingang der Villa stand offen. Welke Blätter und Gras waren hereingeweht und die Reste von toten Mäusen verströmten Verwesungsgestank. Celie schimpfte mit den Katzen und holte Handfeger und Kehrblech.
Der Kühlschrank in der Küche war noch von der Abifeier randvoll mit Getränken. Celie trank eine Flasche Bitter Lemon in einem Zug aus, dann nahm sie eine Cola mit in den Wintergarten und ließ sich aufs Sofa sinken.
Erst jetzt bemerkte sie das Buch auf dem Couchtisch. Nein, es war kein Buch, es war eine Kladde. Gebunden in orangefarbenes Leinen.
Sie kannte diese Kladden. So sahen Jennas Notizbücher aus.
Als Celie die Kladde aufschlug, fiel ein Umschlag heraus. »Für Celie Kranen« stand darauf. Celie stockte der Atem. Doch dann wurde ihr klar, dass dies kein Brief ihrer Mutter sein konnte. Es war nicht ihre Handschrift.
Mit zitternden Fingern öffnete sie den Brief und wollte als Erstes die Unterschrift lesen. Doch als ihr Blick auf die Anrede fiel, lächelte sie: Der Brief konnte nur von einem sein.
Hallo, Kürbiskopf,
eigentlich solltest du das hier erst mit achtzehn bekommen. Aber eigentlich sollte Jenna auch noch nicht tot sein. Und eigentlich sollte die Welt nicht zusammenbrechen, wie sie es gerade tut. Außerdem: Wer weiß, ob wir uns noch mal wiedersehen. Wenn nicht, ist das meine letzte Gelegenheit, es dir zu geben. Hier ist also Jennas Tagebuch. (Ich hab’s übrigens nicht gelesen, sei unbesorgt.) Soweit ich weiß, hat sie an dem Tag damit begonnen, als deine Eltern zum ersten Mal etwas gebeamt haben. Sie wollte, dass du es bekommst, damit du irgendwann all den Mist verstehst, der danach passiert ist, mit deinem Vater und so.
Ich fand schon lange, dass du alt genug bist, um die Wahrheit zu erfahren. Aber Jenna hat es irgendwie nicht geschafft, mit dir zu reden. Na ja, du weißt ja am besten, dass Reden nicht gerade ihre Stärke war … Hätte sie es getan, dann wäre es zwischen euch vielleicht anders gelaufen. Jenna wusste selbst, dass es vor allem an ihr lag, dass ihr beide euch in den letzten Jahren nicht gerade packy verstanden habt. Vielleicht verstehst du sie ein bisschen besser, wenn du das hier gelesen hast. (Obwohl ich, wie gesagt, gar nicht genau weiß, was drinsteht. Aber ich hab so eine Ahnung.)
Ich weiß bislang übrigens genauso wenig wie alle anderen, wie die Tore ausfallen konnten. Darum mach ich mich jetzt auf den Weg nach Dublin zu T. O. R. Vielleicht kann ich da was rausfinden. Und mithelfen, das Netz wieder ans Laufen zu kriegen.
Ich wünschte, ich könnte dir jetzt wenigstens sagen, warum oder wie Jenna gestorben ist. Aber leider hab ich das nicht mehr herausfinden können. Ich war gerade dabei, Jennas Testtor (illegalerweise, verrat mich bloß nicht!) am allgemeinen Netz zu checken, als die Tore ausfielen.
Ach ja: Hinten im Getränkekeller findest du eine Tür (ich hab sie mit einem Leuchtpfeil markiert). Die führt in einen Kellerraum, den du wahrscheinlich gar nicht kennst. Darin ist die Notstromversorgung des Anwesens untergebracht und der Treibstoffvorrat dürfte noch einige Monate reichen. Felix hat das alles vor Jahren angelegt, ich glaub, nicht mal deine Mutter wusste davon. Er hat den Toren ja sein ganzes Leben lang nicht so richtig getraut … Ich hab den Strom angelassen, damit die Villa vor Einbrechern geschützt ist. Alle Sicherheitsanlagen, die auch ohne das Tornetz funktionieren, sind eingeschaltet. Du bist hier also eine Weile sicher.
Liebe Celie, sei deinen Eltern nicht allzu böse – sie haben dich sehr lieb gehabt, aber sie hatten jede Menge eigene Probleme, da bist du oft zu kurz gekommen.
Pass auf dich auf, Kürbiskopf, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder!
Dein alter Freund Pierre
Es war schon spät am Abend, und Celie schlich immer noch um die Kladde herum, als wäre sie giftig. Und vielleicht war sie das ja auch. Vielleicht standen Dinge darin, die sie gar nicht wissen wollte. Vielleicht warf das Tagebuch mehr Fragen auf, als es Antworten enthielt. Und sie würde ihre Eltern nicht mehr fragen können, sie würde sie auch nicht mehr anschreien können. Sie würde mit dem, was sie erfuhr, ganz allein fertigwerden müssen.
Sie wünschte sich plötzlich so sehr, dass Alex da wäre, dass ihr ganz flau im Magen wurde. Um sich abzulenken, suchte sie in der Tiefkühltruhe nach etwas, das sie sich aufwärmen konnte.
Pizza Tonno mit Knoblauch und extra Käse. Alex’ Lieblingssorte. Ob er heute Abend auch etwas Warmes zu essen hatte? Oder ob er um jedes Stück Brot und jeden Schluck Wasser kämpfen musste?
Celie hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Sie aß ein Stück Pizza am Couchtisch im Wintergarten und gab den Rest den drei Katzen, die sich wild um den Thunfisch balgten. Im schummrigen Licht einer Kerze, die sie angezündet hatte, um Strom zu sparen, starrte Celie wieder auf die Kladde.
Alex, hilf mir.
Und plötzlich konnte sie ihn aus den Augenwinkeln neben sich auf dem Sofa sehen. Lässig in die Ecke gefläzt, wie er es immer tat. Nicht, weil das cool war. Alex war wirklich so lässig. Er hatte sich schon immer bewegt wie jemand, der vollkommen eins mit seinem Körper war und keinen Gedanken daran verschwendete, wie er wirkte. Das war einer der Gründe, warum er bei den Mädchen so gut ankam. Alex gegenüber hatte Celie sich darüber immer aufgeregt. Aber insgeheim hatte sie ihn ebenso gern betrachtet wie alle anderen. Schon bei ihrer ersten Begegnung auf dem Spielplatz, als sie beide fünf waren, hatte sie fasziniert beobachtet, wie selbstverständlich er sich bewegte, wie ernsthaft und konzentriert er sich dem widmete, was er gerade tat. Damals war es das Sandkuchenbacken gewesen, später dann vor allem das Gärtnern. Alex hatte schon früh seine Liebe zu Pflanzen entdeckt, und er hatte sowohl das Gespür als auch die Geduld, jede Pflanze dazu zu bringen, sich vollständig zu entfalten. Ein Glück für ihn und sein Co-House, dass er dort seine Leidenschaft fürs Gärtnern ausleben konnte.
Celie sah hinaus in den dunklen Park, in dem nur einzelne Bäume im Mondlicht zu erkennen waren. Sie war immer sicher gewesen, dass Alex einmal Gärtner oder Landschaftsarchitekt werden würde. Warum nur hatte er sich plötzlich entschieden, Medizin zu studieren?
Die Antwort war so einfach, dass sie nicht glauben konnte, dass sie erst jetzt darauf kam. Ihr Zorn hatte ihr den Blick verstellt, sonst hätte sie es gleich gewusst.
Wegen Jenna. Oder eher: wegen ihr. Weil sie ihm die Schuld an Jennas Tod gegeben hatte. Er versuchte, etwas wiedergutzumachen. Deshalb war er jetzt in einem Krankenhaus in Berlin, umgeben von Verletzten, denen ohne Medikamente, Strom und Wasser niemand helfen konnte.
Anstatt hier bei ihr zu sein und ihr zu sagen, dass es nicht ihre Schuld war, dass Jenna tot war. Und dass alles gut werden würde.
Celie schlief auf dem Sofa ein und wurde bei den ersten Sonnenstrahlen mit steifem Nacken wieder wach. Gestern Abend hatte sie sich noch geschworen, nicht eher von diesem Sofa aufzustehen, bis sie Jennas Tagebuch gelesen hatte. Das hatte sie nun davon. Und Durst und Hunger noch dazu. Aber Schwur war Schwur. Celie biss die Zähne zusammen, griff nach der Kladde und begann zu lesen.

Irland, nahe
der Mobilen-Kommune

Alex trat bei voller Akkuunterstützung wie ein Wilder in die Pedale, und Bernie schaffte es kaum, sich auf dem Gepäckträger und seine Füße von den Speichen und vom Boden wegzuhalten. Zu allem Überfluss hing auch noch der Roachy mit seinen »Händen« an Bernies Schultern wie ein ziemlich schwerer, ziemlich unbequemer Rucksack.
In Irland war alles anders als in Deutschland. Zwar sahen sie auch hier verlassene Orte, leer stehende Fabriken und verbrannte Ruinen, aber es gab auch jede Menge Hinweise darauf, dass die Menschen sich bemühten, die Zivilisation wieder aufzubauen.
Überall waren Autos, Bagger und Traktoren unterwegs, viele von ihnen verbeult und notdürftig geflickt. Sie stammten offenbar von einem der riesigen Recyclinghöfe, die nach 2024 angelegt worden waren, um die Millionen von plötzlich überflüssig gewordenen Fahrzeugen aufzunehmen. Jetzt fuhren sie wieder – die meisten mit Solarenergie, aber manche auch mit Benzin. Wo immer die Menschen das herhaben mochten. Sie wurden eingesetzt, um alte Rohre und Leitungen freizulegen, die dann repariert wurden.
Manche konnte man auch auf den Feldern sehen. Erstaunlich, fand Bernie, wie viele Felder hier bearbeitet wurden. In Deutschland hatten sie fast nur verlassene Höfe und brachliegende Äcker gesehen.
Gegen Mittag machten sie Rast an einem Feld, auf dem Rosenkohl und Rüben wuchsen. Doch als sie eine der Arbeiterinnen auf dem Feld fragten, ob sie etwas Rosenkohl haben könnten, sah sie sich ängstlich um und flüsterte: »Das geht nicht.«
»Aber wir haben was zum Tauschen«, sagte Alex.
»Nein!«, rief die Frau so entsetzt, als hätte er sie mit einer Pistole bedroht.
»Und warum nicht?«, fragte Alex.
Zuerst sah es aus, als wollte sie wegrennen, doch dann beugte sie sich vor und sagte hastig: »Weil das alles der Kommune gehört. Wer sich etwas davon nimmt, begeht Diebstahl an der Gemeinschaft und wird streng bestraft.«
»Aber wir würden Ihnen doch etwas dafür geben!«, sagte Alex genervt.
Da hob die Frau ihre Hacke. »Arbeitet, dann bekommt ihr auch eure Rationen!«
»Ich hab die Horrorstorys von den Jungs am Meer ja nicht so richtig geglaubt«, sagte Alex, als sie weg war. »Aber jetzt …«
»Schöne neue Welt«, sagte Bernie.
Sie fuhren weiter, bis sie an eine Wiese mit einem Apfelbaum kamen. Sie vergewisserten sich, dass niemand in der Nähe war, dann ließen sie den Roachy schnell ein paar der wurmstichigen Äpfel holen, die im Gras lagen. Sie kauten schweigend, bis Alex plötzlich sagte: »Wir müssen sie da rausholen.«
»Dazu müssen wir aber erst mal reinkommen.«
Sie radelten weiter und der Roachy lief unermüdlich hinter ihnen her. Durch ein Dorf, in dem eine Gruppe von Leuten damit beschäftigt war, Bücher aus der örtlichen Bibliothek zu schleppen. Zuerst dachte Bernie, dass es ein gutes Zeichen war, wenn die Menschen Zeit zum Lesen hatten. Aber dann wurde ihm klar, dass diese Massen an Büchern dazu bestimmt sein mussten, des Nachts die kalten Häuser zu heizen.
Sie tranken an einem Brunnen vor dem Dorf, brachen aber gleich wieder auf, als ein Dorfbewohner mit grimmiger Miene auf sie zu rannte. Kurz darauf wurden sie von einem bewaffneten Trupp uniformierter Sicherheitsleute gestoppt. Bernie behauptete, sie würden in der Nähe der Kommune leben, und Alex fügte hinzu, sie seien auf dem Rückweg von einem Feld mit Wintergemüse. Als ein Sicherheitsmann fragte, warum sie erst so spät zurückfuhren, wo doch in einer Stunde die Ausgangssperre begann, erzählte Alex was von idealen Temperaturen für die Rosenkohlernte und den Gefahren von Tauschimmelbildung. Bernie war sich nicht sicher, ob es so was wie Tauschimmel überhaupt gab, aber die Security-Typen waren zufrieden. Sie meinten, sie sollten sich beeilen, und ließen sie ziehen.
Je näher sie der Kommune kamen, desto bevölkerter wurde die Gegend. Überall wurde gebaut und geerntet, neue Straßen wurden angelegt und die Zelte und Armee-Cubes standen immer dichter.
Sie konnten die Kommune in der Ferne schon sehen und Alex wurde immer aufgeregter. Bernie versuchte mehrmals, ihn zum Anhalten zu bewegen, aber Alex trat nur noch fester in die Pedale. Schließlich stemmte Bernie beide Füße auf den Boden. Sofort fiel er vornüber, schubste Alex dadurch halb über den Lenker und sie landeten beide auf der Straße.
»Was soll das?!«, schrie Alex.
Bernie zog sein MoPad hervor und deutete darauf. 16:42 Uhr. »Wir suchen uns jetzt sofort eine Stelle zum Schlafen«, sagte er. »Wenn wir verhaftet werden, weil wir die Ausgangssperre nicht beachten …«
Alex stand auf und klopfte seine Jeans ab. »Ist ja schon gut«, knurrte er.
Sie versteckten den Roachy an einer Baustelle, die für diesen Tag bereits geschlossen war. Sicher war sicher. Nach allem, was sie über die Mobilen gehört hatten, konnte es gut sein, dass sie den Laufroboter beschlagnahmten, wenn sie ihn in die Finger bekamen.
Nachdem das erledigt war, machten sie sich auf die Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Doch es war unmöglich, bei einer der Familien unterzukommen, die in den Cubes lebten. Sie waren nicht unfreundlich, aber sie hatten Angst vor den nächtlichen Kontrollen. Alex und Bernie sollten sich als Neuankömmlinge bei der Einwandererkontrolle melden, da würde man ihnen eine Unterkunft zuweisen.
Schließlich gaben Alex und Bernie es auf und ließen sich den Weg zur Massenunterkunft für Neuankömmlinge zeigen. Am Eingang waren Plakate aufgehängt, auf denen die Jobs aufgeführt waren, für die Fachkräfte in der Kommune gesucht wurden. Eine halbe Stunde später waren sie als Krankenpfleger und Spezialist für die Wartung von Roachys registriert.
Es war noch früh, aber Bernie war plötzlich todmüde. Heute konnten sie sowieso nichts mehr tun und morgen würden sie wahrscheinlich ohne Probleme in die Stadt kommen. Er legte sich auf das Feldbett, das man ihm zugewiesen hatte, und obwohl es viel zu kurz war und seine Füße in den Gang ragten, war er sofort eingeschlafen.
Alex hingegen konnte nicht schlafen. Er konnte nicht einmal still sitzen. Würde er Celie morgen tatsächlich wiedersehen? Aber bis morgen war es noch ewig hin! Und draußen war es noch nicht mal richtig dunkel …
Alex ging im Cube hin und her und kam sich dabei vor wie der Panther in diesem alten Gedicht. Er brauchte frische Luft! Egal, ob das verboten war – von einem Neuankömmling konnte man ja wohl nicht erwarten, dass er sich mit Dingen wie Ausgangssperren und so was auskannte. Okay, die Durchsagen waren da eindeutig. Aber die konnte man ja auch mal überhören.
Er schlenderte herum, bis er einen Ausgang gefunden hatte, an dem nur wenig los war. Der Security-Typ, der ihn bewachte, stand draußen und rauchte eine Zigarette. Ein zweiter kam dazu und sie begannen ein angeregtes Gespräch. Sie bekamen nicht mit, dass jemand hinter ihrem Rücken aus der Tür schlich und um die nächste Ecke verschwand.
Als Alex außer Sichtweite der Typen war, atmete er erst mal tief durch. Die Luft roch nach Staub und feuchtem Beton, aber auch nach dem nahen Meer. Ob Celie dort oft schwimmen ging? Sie liebte das Meer …
»Na, auch noch nicht müde, was?«
Alex fuhr herum. Hinter ihm stand ein dünner Mann.
»Keine Sorge, ich bin selbst ohne Genehmigung draußen«, sagte er. »Obwohl ich schon so lang hier arbeite, dass sie mir endlich mal eine geben könnten.«
»Ich bin gerade erst angekommen«, sagte Alex.
»Suchst Arbeit, was?«
Alex gab sich einen Ruck. Der Mann wirkte nett und er war schon lange hier. Vielleicht …
»Das auch. Aber vor allem suche ich meine Freundin.«
»Hattest einen weiten Weg, was?«, sagte der Mann.
Alex nickte. »Vielleicht kennen Sie sie ja zufällig? Sie ist so alt wie ich, hat rote Locken, etwa bis zum Kinn reichen die, und sie heißt …« Im letzten Moment fiel ihm ein, dass Celie bei den Mobilen nicht ihren richtigen Namen verwendete. »Sie heißt Dawn.«
Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. »Du meinst aber nicht Dawn Haversham, oder?«
»Dann kennen Sie sie? Wo arbeitet sie denn? Was wissen Sie sonst noch über sie? Wo …«
»Die Schlampe?!«
Alex fuhr zurück. »Was …«
»Vielleicht weißt du’s ja wirklich nicht.« Der Mann spuckte auf den Boden. »Deine ›Freundin‹ ist eine feige Verräterin, eine Spionin!«
Alex packte den Mann am Kragen, aber der riss sich los.
»Sie ist die Tochter von Jenna Kranen! Ja, genau, die Murkha, die die Tore erfunden hat! Deine Freundin hat nicht nur Jason betrogen – jeder Mobile wäre froh, wenn er das Miststück in die Finger kriegen würde!«
Der Mann wollte noch etwas sagen, aber dann winkte er nur ab und ging weg. Alex sah ihm entsetzt hinterher.
Was hatte Celie bloß wieder angestellt? Und wer hatte ihre Tarnung auffliegen lassen? Egal. Wichtig war jetzt nur: Sie war nicht hier.
Celie war nicht hier.
Als Alex zurück in den Cube schlich, waren seine Hände und seine Nase durchgefroren. Halb acht, las er auf dem MoPad, das dem leise schnarchenden Bernie aus der Jackentasche ragte.
»Wach auf, Bernie, wir müssen weg!«
»Wassnlos?«, murmelte Bernie.
»Celie ist nicht hier!«
»Wie meinst du … woher weißt du das?«
Alex erzählte ihm von seiner Begegnung mit dem Mann. »Es hat jedenfalls keinen Zweck, hierzubleiben. Lass uns verschwinden!«
Bernie seufzte. »Okay, sie ist also nicht hier. Aber wo sie ist, weißt du auch nicht. Und wenn wir jetzt abhauen, sperren sie uns garantiert ein.« Er sah Alex an. »Das alles bringt mich zu dem Schluss, dass es tonto wäre, heute noch aufzubrechen. Am besten, wir stehen morgen sehr früh auf und machen uns auf die Suche. Vielleicht finden wir dann auch noch jemanden, der etwas über sie weiß.« Er legte sich wieder hin und versuchte, seine Füße unter die Decke zu ziehen. »Jetzt sollten wir jedenfalls schlafen, damit wir morgen fit sind.«
Alex suchte nach einem Gegenargument, aber schließlich musste er einsehen, dass Bernie recht hatte. »Okay«, sagte er. Aber Bernie schnarchte schon wieder. Vorsichtig zog Alex ihm das MoPad aus der Tasche und stellte den Wecker auf fünf.
Ganz gleich, wo Celie war: Er würde sie finden. An diesen Gedanken klammerte er sich, bis er einschlief.
Am nächsten Morgen um fünf nach fünf waren Alex und Bernie bereits unterwegs. Um zehn nach fünf drohte ihnen eine Frau, sie der Security zu melden, weil sie mit der Verräterin befreundet waren. Und um viertel nach fünf sagte Bernie: »Sie werden uns nichts sagen. Sie halten Celie für so was wie den Teufel. Und die, die das nicht tun, haben zu viel Angst, um es zuzugeben.«
Obwohl er viel größer war als Alex, hatte Bernie Mühe, seinem Freund zu folgen, als der quer über eine Baustelle Richtung Stadt lief. Erst als Alex beinahe in einen kleinen Jungen hineingerannt wäre, blieb er stehen.
»Keine Angst«, sagte Bernie keuchend, als er bei den beiden ankam, »der tut dir nichts. Er hat dich nicht gesehen.«
Der Junge kicherte. »Blindfisch!«
Alex schaute ihn an, dann sagte er zu Bernie: »Vielleicht haben wir bisher einfach die Falschen gefragt.«
Er ging in die Hocke. »Sag mal, kennst du vielleicht meine Freundin? Sie ist terahübsch, hat rote Locken und heißt Dawn.«
Der Junge nickte. »Klar kenn ich die. Sie hat mir Flötenunterricht gegeben.«
»Weißt du, wo sie ist?«
»Nee. Sie war plötzlich weg. Dabei hat sie versprochen, bei dem Konzert dabei zu sein.«
»Verdammt!«, rief Alex.
»Das sagt man aber nicht«, meinte der Junge.
»Hast recht.« Alex schüttelte den Kopf. »Ich bin nur … traurig, weil ich meine Freundin nicht finden kann.«
»Ach, Eliza weiß bestimmt, wo Dawn hin ist«, sagte der Junge. »Hast du die schon gefragt?«
»Sie ist weggegangen, um ihren Freund zu suchen«, mehr hatte Eliza ihnen nicht sagen können. Aber das reichte Alex. Celie suchte nach ihm! Er beschwor Bernie, dass sie sich sofort auf den Rückweg nach Berlin machen mussten. Celie war erst vor wenigen Tagen aufgebrochen, vielleicht holten sie sie noch ein, bevor sie Irland verlassen konnte.
Bernie zögerte. Er wollte Alex nicht allein losziehen lassen – aber er wollte auch nicht zurück nach Deutschland. Er wollte nach Dublin, zu T. O. R., und dort irgendwie daran mitarbeiten, das Tornetz wiederherzustellen.
»Dann trennen sich hier unsere Wege«, sagte Alex schroff. Bernie hatte einen Kloß im Hals. Er räusperte sich. »Nimm du das Bike. Du hast den weiteren Weg.«
»Ich kann sie nicht aufgeben«, sagte Alex.
»Ich weiß.«
Alex stieg aufs Rad – und fiel im nächsten Augenblick wieder runter, weil Bernie den Gepäckträger umklammerte. »Warte!«
»Kommst du doch mit?«
»Celie musste doch wahrscheinlich Hals über Kopf hier aufbrechen, oder?«, sagte Bernie aufgeregt. »Sie konnte sicher nicht viel mitnehmen. Und bis nach Berlin ist es ganz schön weit. Was ich meine: Was würdest du tun, wenn du Celie wärst – und dein altes Zuhause voller Akkus, Essen und Bikes wäre ganz in der Nähe?«
Alex umarmte Bernie, gab ihm einen Kuss auf die Wange und hob ihn auf den Gepäckträger.
»Wenn sie da ist, kannst du von mir bekommen, was immer du willst.«
»Fürs Erste würde es mir reichen, wenn du versprichst, mich nie mehr zu küssen«, sagte Bernie. Dann klammerte er sich an Alex, um nicht vom Rad zu fallen.