Kapitel 8

Aus Jennas Tagebuch:
18. Juli 2024
Die Welt hat sich in den letzten Monaten auf unglaubliche Weise verändert. Nach den schrecklichen Ereignissen aus der Anfangszeit vor allem zum Besseren.
Aber nicht bei uns.
Wir wohnen in einer riesigen Villa mit einem Park drumherum, arbeiten in unseren fantastisch ausgestatteten Labors im Keller, haben keine finanziellen Sorgen mehr und bekommen jede Unterstützung, die man sich als Wissenschaftler nur wünschen kann – aber das alles würde ich, ohne zu zögern, hergeben, wenn ich dafür Felix wiederbekommen könnte.
Es wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre: Der Miterfinder der Tore hat seit ihrer Einführung kein einziges Mal das Haus verlassen. Er hockt Tag und Nacht in seinem Zimmer und starrt auf die Wand, die er in den letzten Monaten zu einem Altar des Grauens gemacht hat: voller Bilder, Zeitungsausschnitte, E-Mails und Briefe zu den Katastrophen, die die Tore herbeigeführt haben. Ich habe ihn gebeten, all das wegzuwerfen – schon wegen Celie. Aber er hat, wie so oft, überhaupt nicht reagiert. Heute habe ich ihn jedoch förmlich gezwungen, aus dem Haus zu gehen, indem ich Celie vorgeschickt habe. Wir sind zu dritt nach Köln gebeamt, in Felix’ Heimatstadt. Ich wollte, dass wir seine Schwester besuchen, aber er hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Er ist so laut geworden, dass ich schließlich nachgegeben habe. Celie hat dann ganz in der Nähe einen Spielplatz entdeckt und zu dem sind wir gegangen. Celie ist gleich zum Sandkasten gelaufen und hat dort versucht, einen stillen, dunkelhaarigen Jungen zum Spielen zu animieren.
Als Felix die beiden beobachtete, wirkte er zum ersten Mal seit Wochen fast entspannt. Ich habe dann einfach drauflos erzählt, von all dem Positiven, das die Tore mittlerweile bewirkt haben. Von der weltweiten Welle der Hilfsbereitschaft für hungernde und von Katastrophen betroffene Menschen, denen nun jeder in wenigen Sekunden direkt etwas zu essen oder Geld oder andere Hilfsgüter bringen kann. (Dass all die armen und hungernden Menschen, die in unsere reichen Städte beamen, unter Polizeischutz zurückgebeamt und für jedes Land außer ihrem eigenen gesperrt werden, habe ich natürlich außen vor gelassen.) Ich habe erzählt von den geheimen Enklaven politisch Verfolgter, in denen sie sicher sind. Von all den Menschen, die wegen eines Arbeitsplatzes ihre Heimat verlassen hatten und die nun in Scharen nach Hause zurückkehren. Von der medizinischen Versorgung, die inzwischen für fast jeden rechtzeitig erreichbar ist. Von der unbegrenzten kostenlosen Energie, die uns die Tore auf dem Merkur, in den Wüsten, an den Küsten und hoffentlich bald auch in direkter Nähe der Sonne bringen. Von der Industrie, die mit lebensgefährlichen Stoffen arbeitet und die inzwischen weitgehend auf den Mond verbannt wurde. Und von der UNO, die sich als eine Art Weltregierung bislang ganz gut macht. Auch die ermutigenden Prognosen habe ich aufgezählt: dass sich die Tierbestände in den Schutzzonen ohne Tore und vor allem durch die Aufgabe der meisten Straßen erholen werden, dass der Lebensstandard aller Menschen steigen wird, dass demnächst niemand mehr verhungern oder bei einer Überschwemmung umkommen muss.
Felix hat sich das alles stumm angehört und dann hat er dagegengehalten. Mit den diktatorischen Machthabern in Nordkorea und anderswo, die ihre Bevölkerung systematisch vom neuen Wohlstand und den Toren abschneiden. Mit den Mördern und Vergewaltigern, die sich auch von dem mittlerweile üblichen lebenslangen Ausschluss vom Tornetz nicht von ihren Verbrechen abhalten lassen. Und mit den unzähligen Selbstmorden derer, deren Existenz durch die Tore vernichtet wurde.
Auch wenn ich ihn nicht wirklich erreicht habe, war es doch gut, dass Felix wenigstens mit mir gesprochen hat. Ich habe wieder ein wenig Hoffnung.

Irland, Mobilen-Kommune

Celie wurde durch ein Klopfen an ihrer Wohnungstür geweckt.
Schlaftrunken nahm sie den Zettel entgegen, den ihr eine Frau mit müden Flüchtlingsaugen entgegenstreckte.
Persönliche Nachrichten wurden inzwischen häufig von Boten überbracht – das Funknetz der Kommune war vor allem den Mitteilungen des Rates und den Übertragungen des Mobilen-Senders vorbehalten. Jeder war gehalten, sein Handy nur noch im Notfall zu benutzen. Angeblich, weil man Energie sparen musste. Celie war nicht die Einzige, die das für eine Ausrede hielt.
»Eine Nachricht vom Rat«, sagte die Frau entschuldigend und deutete auf die Signatur.
Jason. Celies Herz schlug schneller.
Keine zwanzig Minuten später – nach einer Katzenwäsche und einem Brot vom Vortag, das sie im Bistro nebenan bekommen hatte – stand Celie vor der Musikschule. Sie hatte es nicht glauben wollen, aber es war genau so, wie es in Jasons Nachricht gestanden hatte: Die Musikschule hatte wieder geöffnet. Und Celie war ab sofort vom Solarzellenflicken befreit, um hier zu arbeiten.
Sie würde Karen nachher ein Stück Kuchen organisieren. Die Ärztin musste sich im Rat für die Musikschule eingesetzt haben, dafür hatte sie sich eine Leckerei verdient.
»Super, dass du da bist!«, rief Pietro, ein sechzigjähriger Pianist mit der Figur eines Wrestlers, und wuchtete einen Satz Bongos von einem Tisch. »Ist das nicht packy, dass wir wieder aufmachen? Hier, halt doch mal.«
Er drückte Celie einen Notenständer in die eine und einen Trompetenkoffer in die andere Hand.
»Ich hab Cassie zum Sender geschickt, damit sie die gute Nachricht über die Screens schicken.« Er strahlte. »Jetzt geht’s wieder aufwärts, was, Dawn?«
Celie packte mit an. Jede Menge Instrumente mussten aus den Schränken geholt und aus den Decken gewickelt werden, in denen man sie notdürftig verstaut hatte, als die Musikschule geschlossen worden war. Celie ertappte sich dabei, wie sie vor sich hin summte, während sie schwitzend räumte und putzte. Das war auch keine leichtere Arbeit als das Solarzellenflicken, aber es machte ihr nicht das Geringste aus. Voller Energie richteten sie und Pietro alles wieder so her, dass es aussah wie neu. Als die anderen Lehrer kamen, brachten sie Getränke und Obst für die Schüler mit. Und dann gab es plötzlich nichts mehr zu tun.
»Vielleicht schaffen wir es noch, einen Kaffee zu trinken, bevor die ersten kommen«, sagte Tamila, als alle im großen Saal versammelt waren.
»Das wäre herrlich«, sagte Pietro.
Sie streckten die Beine aus, wedelten sich Luft zu, tranken Kaffee und plauderten. Doch nach einigen Minuten wurde es stiller. Immer öfter schaute jemand zur Tür und schließlich sagte René: »Wo bleiben die denn?«
»Vielleicht haben sie es noch nicht mitgekriegt«, sagte Pietro, aber Cassie schüttelte den Kopf. »Ich hab schon auf dem Rückweg vom Sender gesehen, dass sie die Nachricht permanent auf den Screens eingeklinkt haben. Inzwischen müsste jeder Bescheid wissen.«
Eine halbe Stunde später war die Stimmung so gedrückt, dass es kaum noch auszuhalten war. Plötzlich sprang Pietro auf. »Ich will jetzt wissen, was da los ist«, sagte er. »Und wenn ich dafür zu jedem einzelnen Schüler nach Hause gehen muss.«
Celie nickte grimmig und stand ebenfalls auf, die anderen folgten. Tamila blieb zurück, um die Stellung zu halten.
Wie von selbst lenkten Celies Schritte sie durch die überfüllten Straßen in Richtung der Gewächshäuser am Ostrand der Kommune. Dorthin, wo Eliza wohnte. Es wimmelte von Leben: Boten eilten mit Nachrichten hin und her, eine nicht enden wollende Schlange von E-Transport-Bikes brachte Lebensmittel zu den Restaurants und Gemeinschaftsküchen und karrte Müll aus der Stadt, an jeder Ecke wurden wertvolle und weniger wertvolle Habseligkeiten gegen Essen und volle Akkus getauscht und ständig zerstreuten Gruppen von Polizisten kleinere und größere Ansammlungen von Menschen. Allerdings sah Celie kaum spielende Kinder auf den Straßen, nicht mal die kleinen, die noch nicht zur Schule gingen. Wo steckten die denn nur?
Celie schaute vor sich auf den Boden, um die endlose Folge von Bildern und Botschaften auszublenden, die über die Fassaden-Screens flimmerten. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass Nachrichten zu ihr durchdrangen:
»Die Ambulanz des Krankenhauses ist ab sofort nur noch für absolute Notfälle geöffnet. Für alle anderen Fälle ist ein Notlager vor dem Nordtor der Stadt eingerichtet worden.« – »Um den Zugang zur Stadt nachhaltig zu regeln, wird heute mit dem Bau eines Elektrozauns rund um die Stadt begonnen. Dafür werden noch Bauingenieure, Programmierer und Arbeiter gesucht. Melden Sie sich bitte in der West Lane 23.« – »Polizeilich gesucht werden diese vier Männer, die gestern in den Supermarkt in der Gallen Gate eingebrochen sind.« Dazu gab es Aufnahmen von einer Kameradrohne, die die Männer gut erkennbar zeigten.
Inzwischen sollte eigentlich jeder wissen, dass die gesamte Stadt mit Drohnen überwacht wird, dachte Celie. Erstaunlich, dass es trotzdem noch Einbrüche gab.
Oder auch nicht. Die Männer auf den Aufnahmen wirkten, als wäre ihnen alles egal. Als hätten sie sich damit abgefunden, dass nichts je wieder so sein würde wie früher. Und wahrscheinlich hatten sie damit ja auch recht.
Celie ging schneller und bald hatte sie die Straße erreicht, in der Eliza wohnte. Sie klingelte. Es dauerte eine Weile, dann wurde die Tür aufgerissen.
»Ja?!«, sagte eine unfreundliche Stimme.
»Hallo, Brigid.« Celie kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals, als sie Brigids mürrisches Gesicht sah. »Ich wollte fragen, ob Eliza wieder zum Unterricht kommt.«
Brigid starrte sie an, dann lachte sie laut. »Das ist ja wohl nicht dein Ernst!« Sie trat aus der Tür und baute sich vor Celie auf. »Oder bist du wirklich so naiv, Dawn?«
»Ich hab keine Ahnung, was du meinst. Die Musikschule ist wieder geöffnet und ich möchte lediglich wissen, wann Eliza wieder kommt.«
Einen Moment lang glaubte Celie, Brigid würde sie ohrfeigen. Doch die hagere Frau schnaubte nur.
»So, das Bürgermeisterflittchen will also, dass meine Tochter wieder zum Klarinettenunterricht kommt«, höhnte sie.
Celie starrte Brigid an. Wie hatte sie sie genannt?
»Mag ja sein, dass du mit dem Oberboss vögelst, aber das gibt dir lange noch nicht das Recht, hier aufzutauchen und mir meine Tochter wegzunehmen!«
»Was redest du für einen Shit? Du bist doch total loco! Wie krank …«
»Ach?«, gab Brigid süffisant zurück. Ihre blauen Augen leuchteten fiebrig in dem blassen Gesicht. »Das ist also krank, dass ich meine Tochter beschützen will? Vor einer, die erst siebzehn ist und sich schon hochschläft? Ein Supervorbild für eine Sechsjährige, muss ich schon sagen!«
Celie stieß Brigid so heftig vor die Brust, dass sie gegen die Tür taumelte. »Ich hab nichts mit Jason, ich …«
»Und warum hat er dann die Musikschule wieder geöffnet? Obwohl doch jeder für die Maintenance-Jobs gebraucht wird? Doch nur, damit sein Flittchen nicht mehr so hart arbeiten muss wie wir anderen!«
Brigids selbstgefälliges Grinsen sprach Bände. Sie glaubte das wirklich! Dieses total kranke, wirre Zeug, das sie sich da zusammengesponnen hatte … Aber da war nicht das Geringste dran. Nein, das war völlig unmöglich. Jason konnte nicht im Ernst glauben …
Celie blinzelte. Nur das nicht. Keine Tränen.
»Und jetzt verschwinde und lass uns in Ruhe«, sagte Brigid schroff. Sie ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um.
»Eliza hat keine Zeit für Musik. Niemand hat Zeit für so was, das wüsstest du, wenn du nicht ständig mit dem Kopf in den Wolken rumlaufen würdest. Eliza sucht nach der Schule die abgeernteten Felder nach Resten ab, damit wir überleben, wie alle anderen auch.«
Die Tür schloss sich, aber Celie konnte sich nicht bewegen. In ihrem Kopf rauschte es. Brigid war total loco. In ihrem kranken Hirn hatte sie sich eine widerliche Geschichte zusammengereimt, die nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
Abgesehen davon, dass die Musikschule wiedereröffnet worden war, obwohl sogar die Kinder jetzt arbeiten mussten. Und abgesehen davon, dass Jason etwas von ihr wollte, auch wenn sie nicht genau wusste, was das war.
Aber vielleicht wusste sie es doch.
Bürgermeisterflittchen.
Plötzlich wurde Celie klar, dass sie sich Gewissheit verschaffen musste.
»Dawn, wie schön!« Karen rückte ihre Brille zurecht und nahm Celie den Kirschkuchen ab. »Eine Pause kann ich jetzt gut brauchen, und etwas Süßes noch mehr. Apfellimonade?«
»Gern«, sagte Celie.
Die alte Frau holte zwei Gläser und sie setzten sich auf die Bank in der Krankenhauseinfahrt. Es sah fast so aus wie noch vor wenigen Wochen und doch war alles anders.
»Ganz schön ruhig hier«, sagte Celie, um nicht gleich mit ihrer Frage herauszuplatzen. In der Einfahrt waren tatsächlich kaum Kranke und Verletzte zu sehen.
»Wir bekommen hier nur noch die wirklichen Notfälle rein«, sagte Karen. »Die anderen werden alle zu dem Notlager vor der Stadt umgeleitet.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war gestern da und ich kam mir vor wie im Mittelalter!« Sie seufzte. »Wenn du keine Antibiotika mehr hast, nutzen dir auch die schönsten Nanobots nichts … Wir müssen eben einfach weitermachen mit dem, was wir haben. Und uns auf die alten Hausmittel besinnen: Zwiebeln bei Mittelohrentzündung, Umschläge mit warmem Kartoffelbrei bei Angina … Da fällt mir ein«, sie holte ein zerfleddertes Notizbuch aus Papier hervor, »wir sollten eine Datei mit Hausmitteln erstellen. Am besten wäre ein Aufruf über den Sender …« Sie notierte sich etwas, dann wandte sie sich an Celie. »Tut mir leid, ich vergess alles, wenn ich es mir nicht aufschreibe. – Wie geht es dir denn, Dawn? Die Musikschule ist wieder offen, habe ich gehört?«
»Dank dir«, sagte Celie.
Karen schaute sie verwirrt an. »Wieso dank mir?«
»Na ja, du hast dich doch im Rat dafür eingesetzt, dass wir wieder aufmachen können.«
Karen runzelte die Stirn. »Nein, das war ich nicht. Ich bin hier nicht rechtzeitig fertig geworden, darum hab ich die letzte Sitzung verpasst.«
In Celies Kopf machte sich Leere breit. Sie merkte kaum, dass Karen wieder zu sprechen begann.
»… hatten sie das wahrscheinlich sowieso auf der Agenda. Jedem sollte ja klar sein, dass ohne ein bisschen Abwechslung alles noch viel schneller zusammenbricht, als wenn der Müll mal nicht abgeholt wird. Wir brauchen viel mehr Musik und Vids und Spiele!«
Karen lächelte Celie an und Celie versuchte ihrerseits ein Lächeln. Es musste wohl ziemlich danebengegangen sein, denn die alte Frau nahm Celies Hand und sagte: »Kind, was ist denn mit dir?«
Kind. So hatte sie schon lange niemand mehr genannt. Aber jetzt, in diesem Augenblick fühlte es sich gut an. Celie lehnte sich an Karens Schulter und atmete geräuschvoll aus.
Karen streichelte ihren Arm. »Zurzeit sieht alles ziemlich schlimm aus. Aber glaub mir: Wir haben hier die besten Bedingungen, den Zusammenbruch zu überstehen. Besser als fast überall sonst auf der Welt.«
Celie regte sich nicht. Sie wollte einfach hier sitzen bleiben und Karens Stimme lauschen.
»Tatsächlich dürften wir sogar unter allen Mobilen-Kommunen diejenige sein, die am besten dasteht«, fuhr Karen fort. »Als die Tore ausfielen, hatten wir ja gerade diesen Kongress in der Stadt, weshalb jede Menge Spezialisten hier hängen geblieben sind: Experten für Nanotechnologie, Architekten, Ärzte, Computerfreaks …«
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen Gedanken verscheuchen, der einfach zu loco war. »Na ja, Jason hatte schon immer ein gutes Timing«, sagte sie dann. »Die Algentanks zum Beispiel, in denen wir Algen als nahrhaftes Gemüse und als Basis für Treibstoff züchten können, die wollte vor ein paar Monaten niemand außer ihm. Und was würden wir heute ohne sie tun?«
»Kundschaft!«, rief jemand von der Straße und dann bog auch schon ein Tragen-Bike in die Einfahrt.
Karen stand auf. »Ich muss dann mal wieder. – Alles klar mit dir?«
Celie schaffte es irgendwie, aufzustehen. »Alles klar.«
Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt und sich die Decke über den Kopf gezogen, bis alles vorbei war. Aber das ging nicht. Karen hatte sich nicht für die Musikschule eingesetzt, was bedeutete, dass Jason es getan hatte. Und Celie war sich sicher, dass er es für sie getan hatte. Verdammt, sie wollte das alles nicht! Aber sie konnte den Kopf nicht in den Sand stecken. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würden sich bald noch mehr Menschen außer Brigid Gedanken darüber machen, womit, zum Teufel, Celie die besondere Aufmerksamkeit des Bürgermeisters verdient hatte. Und irgendwann würde unweigerlich jemand auf einen Hinweis stoßen, wer sie wirklich war.
Celie schauderte. Früher war das Schlimmste an dem Gedanken, entlarvt zu werden, für sie gewesen, dass man sie dann aus der Kommune jagen würde. Aber in letzter Zeit gab es Gerüchte über geheime Verliese, zu denen nur Conor und seine Leute Zugang hatten und in denen furchtbare Dinge vorgehen sollten …
Warum können mich nicht einfach alle in Ruhe lassen, Mom?
Mit weichen Knien stand Celie auf. Nein, Jenna würde ihr jetzt ebenso wenig helfen wie früher, als sie noch am Leben war. Und Celie konnte nicht weglaufen. Sie musste Jason zur Rede stellen und ihm klarmachen, dass sie nichts von ihm wollte und dass er sie in Ruhe lassen sollte. Bevor ihr die ganze Sache über den Kopf wuchs.
* * *
Er drückte einen Schalter und die hintere Wand des Zimmers verwandelte sich in eine Screen. Konzentriert zappte er durch die Aufnahmen vom Tag, machte sich nur hin und wieder eine Notiz. Im Grunde lief alles wie geplant. Die Flüchtlinge waren dankbar und arbeiteten nahezu umsonst, bauten eifrig an seiner Welt der Zukunft, ohne zu ahnen, welcher Platz dort für sie vorgesehen war. Gleichzeitig wurden in der Stadt die Proteste gegen die Neuankömmlinge immer lauter und es war schon zu ersten Ausschreitungen gekommen. Bis zum großen Knall würde es aber noch eine Weile dauern. Genug Zeit, um alles in die Wege zu leiten. Vor allem musste er sich um dieses Mädchen kümmern. Sie war das Ass in seinem Ärmel, wenn es hart auf hart kam.
Er holte sich die Bilder der Drohnen auf den Schirm, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Ins Bistro. In die Musikschule. Zu Brigid … Er stellte den Ton lauter.
Brigid warf Celie allen Ernstes vor, den Oberboss zu vögeln, um an Vergünstigungen zu kommen? Na gut, Brigid wusste nicht, wen sie da vor sich hatte. Er grinste. Brigid war ein Biest, aber sie hatte einen guten Instinkt. Auch wenn Celie natürlich entsetzt auf Brigids Attacke reagierte.
»Und warum hat er dann die Musikschule wieder geöffnet? Obwohl doch jeder für die Maintenance-Jobs gebraucht wird? Doch nur, damit sein Flittchen nicht mehr so hart arbeiten muss wie wir anderen!«, sagte Brigid jetzt.
Seine Miene verdüsterte sich. Das ging zu weit. Er würde nicht zulassen, dass man dem Bürgermeister Vetternwirtschaft nachsagte. Es wurde Zeit, dass er Brigid klarmachte, wer hier das Sagen hatte.
Er wollte den Computer schon herunterfahren, als eine Aufnahme von Celie mit Karen vor dem Krankenhaus auf der Screen erschien. Das würde er sich noch ansehen müssen. Es gefiel ihm gar nicht, dass das Mädchen so viel Kontakt zu der alten Querulantin hatte. Karen war gefährlich: Sie hatte mehr Verstand als alle anderen im Rat zusammen. Es war jedenfalls ein guter Schachzug gewesen, anzuregen, dass ihr nach dem Zusammenbruch die Leitung des Krankenhauses übertragen wurde. Sie war jetzt so ausgelastet, dass sie kaum noch Zeit hatte, ihm in die Quere zu kommen.
Als er sich die Aufnahme weiter ansah, bereute er seinen voreiligen Schluss. Karen war offenbar nicht so beschäftigt, als dass ihr nicht aufgefallen wäre, wie ausgesprochen gut die Stadt für den Torausfall gerüstet gewesen war. Und zu allem Überfluss hatte sie Celie auch noch gesagt, dass nicht sie es gewesen war, die sich für die Wiedereröffnung der Musikschule eingesetzt hatte.
Er fuhr den Computer herunter und stand auf. Zuerst würde er sich Brigid vornehmen, dann würde er mit Celie sprechen. Und um Karen musste er sich ebenfalls kümmern, bald. Er verschloss seinen geheimen Raum und stieg die Treppe hinauf.
Er war noch nicht oben angelangt, als es an der Tür klingelte.
Im ersten Moment sah Jason etwas irritiert aus, als habe Celie ihn bei etwas Wichtigem gestört. Aber dann lächelte er, hielt ihr die Tür auf und bat sie herein.
Celies Herz klopfte, als sie sein Haus betrat. Die Höhle des Löwen. Und der Löwe würde vermutlich nicht mehr so freundlich lächeln, wenn sie ihn erst zur Rede stellte.
Sie spürte schon wieder seinen Blick im Nacken kribbeln und konnte nichts dagegen tun, dass sie nervös war. Aufgeregt. Shit, dieser Typ machte sie verrückt!
Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf die Einrichtung seines Wohnzimmers.
Ein Schreibtisch mit Papieren, ein kleines Regal voller Bücher, Screens, zwei Holzstühle, ein schwarzes Sofa, ein Couchtisch, eine Schale mit Schokolade, Erdnüssen und Gummibärchen – ein heutzutage geradezu obszöner Luxus … Kein einziges Bild an der gelben Wand, keine Fotos, nicht einmal irgendeine Nippesfigur. Wenn es die Süßigkeiten nicht gegeben hätte, hätte hier jeder beliebige Mensch wohnen können.
»Was möchtest du trinken, Dawn? Ich hab Tee da, Cola, Limo und irgendwo müsste auch noch ein Bier sein …«
»Eine Limo, danke.«
Jason verließ das Wohnzimmer. Celie ging zu dem kleinen Bücherregal. Welche Bücher jemand besaß, das sagte eine Menge über ihn aus. Mal sehen, was sie hier über Jason erfuhr.
»Die mobile Bewegung«, »Zeit des Umbruchs« – bis dahin keine Überraschung. Ein Aphorismenband von Jeannine Luczak, ein Exemplar von »1984«. Und daneben: »Grundlagen der Transtorq-Technologie« von Felix und Jenna Kranen. Celie erkannte die Erstausgabe von 2025 sofort.
»Na, was Spannendes gefunden?«
Celie schrak zusammen. »Sorry, ich hab nur …«
Jason reichte ihr ein Glas, sichtlich amüsiert. Heute trug er nur ein T-Shirt, kein langes Hemd wie sonst. Er hatte enorme Muskeln, fiel Celie auf. Und Narben. Eine schien sich bis zum Rücken zu ziehen. Woher die Narben wohl stammten?
»Sieh dich nur um, ich hab keine Geheimnisse«, sagte Jason.
Celie lächelte. Dann sind wir ja quitt.
»Also, ich freue mich, dass du mich mal besuchst.« Jason ließ sich auf sein Sofa fallen. »Was verschafft mir denn die Ehre?«
Celie setzte sich auf einen Stuhl, jetzt wieder teranervös. Am besten brachte sie es schnell hinter sich.
»Jason, tut mir leid, wenn ich …« Nein, noch mal von vorn. »Also, ich würde gern etwas wissen.«
Er lehnte sich vor. Wenn er sie doch nur nicht so ansehen würde!
»Warum hast du die Musikschule wieder aufgemacht?«
Jason sah aus, als erwarte er, dass da noch mehr kam. Dann lachte er. »Darüber machst du dir Gedanken?«
»Na ja.« Celie kam sich fast selbst albern vor. Aber sie musste es jetzt wissen.
»Ich bin nicht die Einzige. Bri … Jemand hat angedeutet, das hättest du für mich gemacht. Weil du … weil wir angeblich …«
Jason stellte sein Glas krachend auf den Couchtisch. »Das ist doch wohl ein Witz, oder?« Er stöhnte. »Das darf doch echt nicht wahr sein! Als hätten wir nicht schon genug Probleme …«
Celie starrte in ihr Glas. Jetzt kam ihr die Sache plötzlich auch total loco vor. Er war doch auch viel älter als sie, fast acht Jahre. Wie hatte sie sich von Brigid nur so verrückt machen lassen können?
»Okay«, sagte Jason, »dann mal zum Mitschreiben: Ich habe die Schule wiedereröffnet, weil wir sie brauchen. Die Menschen sind durcheinander, sie haben Angst, sie wissen nicht, was noch alles auf sie zukommen wird. Aber mit Angst baut man keine neue Welt auf. Darum erschien es mir und dem ganzen Rat vernünftig, so viel Normalität zurückzuholen wie möglich. Das Theater macht ja auch wieder auf und die Holo-Vid-Arena ebenso.« Er lächelte. »Aber du bringst mich da auf eine Idee: Wir sollten noch mehr tun. Den Leuten eine Abwechslung bieten, etwas, worauf sie sich freuen und worauf sie hinarbeiten können.«
»Wie wäre es mit einem Konzert? Für die Kinder und alle anderen auch«, sagte Celie. »Wir könnten das von der Musikschule aus organisieren.«
»Brillante Idee!«, rief Jason. »Damit tun wir dann auch etwas für die Kinder, die unter der neuen Situation am meisten zu leiden haben. Und wir zeigen ihren Eltern, dass wir uns um sie kümmern.« Er runzelte die Stirn. »Es gefällt mir gar nicht, dass viele ihre Kinder Vorräte beschaffen lassen, auf den Feldern und noch weiter draußen. Wir müssen allen klarmachen, dass wir unsere Leute auch weiterhin versorgen können.«
Celie hörte das kaum noch. Ein Konzert. Das würde sie auf andere Gedanken bringen. Zuerst müssten sie die Eltern überzeugen. Darum müsste der Rat öffentlich klarstellen, dass niemand für die Konzert-Vorbereitungen auf irgendetwas verzichten musste. Vielleicht konnte man auch …
»Ich nehme mal an, du würdest das Konzert gern vorbereiten?«, sagte Jason in Celies Gedanken hinein.
»Ja«, sagte sie und wunderte sich über sich selbst. Sie hatte wirklich Lust darauf. Und es wäre eine gute Ablenkung von all dem Chaos. Und von den düsteren Gedanken, die sie verfolgten …
Die Erinnerung an Jennas Tod traf sie plötzlich wieder mit solcher Wucht, dass ihr die Kehle eng wurde. War sie dabei, ihre Mom zu verraten? Indem sie sich hier engagierte – an einem Ort, wo Jenna Kranen als Urheberin allen Unheils galt und wo die Menschen sie hassten?
Sie stellte ihr Glas ab. Ihre Hände zitterten.
»Oder möchtest du das nicht?«, fragte Jason erstaunt.
Vermutlich wäre es dir ja auch teraegal, Mom. Wie alles, was mich betraf.
Celie räusperte sich. »Doch.«
Plötzlich heulte sie los. Und dann waren Jasons Arme da und hielten sie.
Als sie sich schniefend wieder von ihm löste, rückte er von ihr ab.
»Tut mir leid«, sagte Celie. »Kommt nicht wieder vor.« Sie lachte. »Wenn das jemand gesehen hätte …«
Jason wich ihrem Blick aus und fixierte einen Punkt an der Wand. Dann sah er sie so eindringlich an, dass ihr heiß und kalt wurde.
»Okay, Dawn, ich will, dass das ein für alle Mal klar zwischen uns ist.« Die nächsten Worte fielen ihm sichtlich schwer. »Also, das mit der Musikschule … Ja, es ist gut und es ist sinnvoll, aber ich gebe zu: Ich habe es nicht zuallererst getan, um die Moral zu heben. Sondern deinetwegen.«
Celie hielt die Luft an.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
»Wenn du mich dafür verachtest, kann ich es nicht ändern. Ich werde dir auch niemals zu nahe treten, wenn du mir kein Zeichen gibst …«
Er fuhr sich durchs Haar.
»Verdammt, ich wollte das nicht. Und wenn du nicht möchtest, reden wir nie wieder darüber. Aber als ich dich zum ersten Mal sah …«
Celie kam sich vor wie in einem Film. Eine Horror-Liebesgroteske. Das durfte doch nicht wahr sein!
»Der Job als Bürgermeister …«, Jason setzte noch mal an: »Ständig muss man sich mit Leuten rumschlagen, die einem offen ins Gesicht sagen, dass man zu jung, zu unerfahren oder einfach nicht der Richtige ist, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.« Er lachte. »Na ja, so was traut sich heute keiner mehr zu sagen. Aber manche denken es immer noch. Da will man manchmal nur noch weg, ausbrechen, fliehen. Und als du dann ankamst«, seine Stimme wurde leise, »da hatte ich das Gefühl, eine verwandte Seele zu treffen.« Er verschränkte die Hände ineinander. »Jedenfalls, lange Rede, kurzer Sinn: Ja, ich mag dich, und das mit der Musikschule … Da haben die Gerüchte recht gehabt. Aber ich würde dich niemals belästigen, das musst du mir glauben. Ab sofort werde ich mich tadellos betragen. – Und ich baue darauf, dass du niemandem erzählst, wie ich eben rumgejammert habe«, fügte er mit einem Lachen hinzu.
»Werde ich nicht«, sagte Celie verlegen. Sie stand auf. »Ich gehe jetzt besser.«
»Natürlich.« Jason sprang auf und brachte sie zur Tür. Sie hielten beide kurz inne, dann sagte Jason: »Ich würde mich freuen, wenn du mal wieder vorbeikommst. Und wenn du noch mehr so gute Ideen wie die mit dem Konzert hast, lass es mich wissen, ja? Diese Stadt braucht gute Ideen zurzeit dringender als irgendetwas sonst. – Oh, hallo, Conor.«
Celie schrak zusammen. Wie üblich war Conor wie aus dem Nichts aufgetaucht und wie üblich war sein Blick stechend. Er sah Celie misstrauisch an. »Was macht die denn hier?«
In diesem Moment packte Jason Conor am Kragen seiner schwarzen Uniform, zerrte ihn in den Flur und schlug die Tür zu. »Wieso glaubst du, dass dich das irgendetwas angeht?«
Conor sagte nichts, auch seine Miene veränderte sich nicht. Nur ein einzelner Schweißtropfen lief seine Wange hinunter und verschwand in seinem Kragen. Jason ließ ihn los und wischte sich die Hand an der Hose ab, als hätte er etwas Schleimiges angefasst.
»Du vergisst jetzt, dass du Dawn hier gesehen hast. Haben wir uns verstanden?«
»Natürlich«, sagte Conor steif, aber er machte keine Anstalten, zu gehen.
»Was ist denn noch?«, herrschte Jason ihn an. Conor sah zwischen Celie und Jason hin und her. Jason verdrehte die Augen, winkte Conor aber näher. Conor beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Jasons Miene verdüsterte sich. »Tu, was nötig ist«, sagte er nach kurzem Zögern.
Conor öffnete die Tür. Doch bevor er verschwand, warf er Celie noch einen Blick zu, voller Verachtung und Hass. Und urplötzlich schob sich das Bild eines anderen Mannes vor Conors. Seine Augen waren rot unterlaufen gewesen, weil er betrunken war, aber es war derselbe Blick. Genauso wie Conor jetzt hatte dieser Typ Celie damals angesehen, als er sie nach dem Konzert in Tanger backstage verprügelt hatte, weil sie nicht mit ihm rummachen wollte. Seine Miene hatte sich allerdings schlagartig verändert, nachdem sie ihm einen Tritt zwischen die Beine verpasst hatte. Trotzdem war Celie nur mit viel Glück entkommen und danach tagelang untergetaucht, bis Alex – wer sonst – sie gefunden und überredet hatte, nach Hause zu gehen.
»Dann gute Nacht, Dawn.«
Als sie Jason ansah, legte sich das Bild des Typen aus Tanger für einen Moment auch über sein Gesicht. Celie blinzelte und es war verschwunden. Jason sah nur ein wenig besorgt aus, sonst nichts.
»Gute Nacht«, sagte Celie, wandte sich um und rannte den ganzen Weg nach Hause.

Auf der A2

Auf der Autobahn beäugte jede Gruppe alle anderen misstrauisch. Aber es ließ sich nicht vermeiden, dass man Kontakt zueinander aufnahm. Manchmal hatte eine Gruppe etwas, was eine andere brauchte. Doch meistens ging es darum, Informationen auszutauschen. Viele davon waren überlebenswichtig, deshalb beteiligten sich alle an dem Austausch, auch wenn das bedeutete, dass andere Gruppen Einblick in die Besitztümer bekamen, die man lieber geheim gehalten hätte.
Der Roachy allerdings war so groß, dass man ihn sowieso nicht verstecken konnte. Er leistete der Gruppe unschätzbare Dienste, indem er ihr Gepäck trug, Hindernisse aus dem Weg räumte, ihnen einen Weg bahnte, wenn sie abseits der Autobahn unterwegs waren, und – nicht zu unterschätzen – die Kinder bei Laune hielt. Jede andere Gruppe wollte den Roachy haben, aber er wurde bewacht wie Fort Knox. Außerdem hatte Bernie ihn inzwischen so programmiert, dass er mit seinen »Händen« so gut kämpfen konnte wie ein Martial-Arts-Kämpfer.
Doch der Roachy kämpfte nur, wenn er angegriffen wurde – nicht von sich aus. Ruben machte es verrückt, bei seinen Raubzügen auf den Laufroboter verzichten zu müssen. Aber Bernie hatte ihm klargemacht, dass er eher sterben würde als eine Mordmaschine auf jemanden loszulassen. Und da Bernie der Einzige war, dem der Roachy folgte, hatte Ruben zähneknirschend nachgeben müssen.
Bei den Treffen mit anderen Gruppen hatte Alex’ Gruppe gute Karten, denn es hatte sich herumgesprochen, dass er Arzt war – oder zumindest so was Ähnliches. Deshalb bekam Alex von den offiziellen Absprachen während der Treffen in der Regel nichts mit, weil er die ganze Zeit über Mitglieder der anderen Gruppe behandelte. Aber seine Patienten erzählten ihm auch eine Menge, um ihre Angst vor der Behandlung oder vor Schmerzen zu überspielen.
Normalerweise hörte Alex gut zu, denn bei diesen Gesprächen fiel immer mal wieder eine wertvolle Information ab. Als sie Ende August jedoch von der A2 auf die A 3 wechselten, war Alex in Gedanken ganz woanders: Von hier aus war es nicht weit bis Moers, wo das Co-House lag, in dem er mit seiner Mutter gelebt hatte. Und obwohl er sicher war, dass seine Mutter nicht dort war, wollte ein Teil von ihm losrennen und sich vergewissern. Aber das war nicht das Einzige, was ihn beschäftigte. Er war todmüde und gereizt, wie alle anderen auch. Seit Tagen hatte er kaum etwas gegessen, denn das wenige, was sie hatten, gab Frau Kanowski den Kindern und denen, die Wache hielten. Bislang hatten sie immer wieder Glück gehabt: Immer wenn sie dachten, es ginge nicht mehr weiter, kamen sie an einem Stück Wald vorbei, in dem sie Bucheckern und ein paar Beeren finden konnten. Oder sie stießen in einem verlassenen Haus auf Konservendosen, die andere vor ihnen übersehen hatten. Oder sie fanden einen See, in dem sie nicht nur trinken, sondern auch baden konnten. Ein unglaublicher Luxus – auch wenn Alex wie alle anderen den durchdringenden Gestank kaum noch wahrnahm, den lebende und tote Menschen, ungewaschene Klamotten und vermodernder Abfall verströmten.
Wenn es mal regnete – was viel zu selten vorkam –, sammelten sie das Wasser in jedem Behälter, den sie hatten, vom Topf über die Plastiktüte bis zum Kinderspielzeug. Einige Male war auch ein Lkw des Roten Kreuzes oder der Bundeswehr mit Wasser, Essen und Wasseraufbereitungstabletten vorbeigekommen, aber das war schon lange her. Entweder hatten sie inzwischen nichts mehr zu verteilen, oder sie hatten es aufgegeben, weil viele Lkws gekapert worden waren. Jetzt flog nur noch ab und zu einer dieser altmodischen Hubschrauber über sie hinweg und warf Zettel mit Durchhalteparolen ab.
Wasser, Wasser, Wasser. Das war das wichtigste, das einzige Thema auf der Straße. Wasser war der Grund, warum Menschen bestohlen und umgebracht wurden. Dass Alex selbst noch niemanden getötet hatte, verdankte er den Mitgliedern der Gruppe, die vor Gewalt nicht zurückschreckten. Vor allem Ruben und die Klempner erledigten die Drecksarbeit für sie, und niemand fragte groß nach, wenn sie mit neuen Vorräten ankamen oder irgendwo ein Bike aufgetrieben hatten. Aber im Grunde wussten sie alle, dass die Vorbesitzer ihre Schätze nicht freiwillig herausgerückt hatten.
Alex versuchte, nicht darüber nachzudenken.
Bei diesem Treffen Ende August behandelte er nun schon den fünften Patienten. Er war abgelenkt, todmüde und wäre längst eingeschlafen, wenn sein Magen nicht so geknurrt hätte. Darum bekam er fast nicht mit, was sein Patient – ein bulliger Mann mit einem entzündeten Daumen – vor sich hin murmelte: »… Lager der Zivilen Notfallreserve gibt. Und die da oben halten das immer noch geheim, die Schweine.«
Alex versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er zuhörte. Er kramte weiter in seinem Rucksack mit den selbst gemachten Arzneien.
»Scheiße, tut das weh! – Aber wir sind nicht so blöd, wie die denken. Tja, ist schon erstaunlich, was so einer vom Technischen Hilfswerk alles ausplaudert, wenn man ihm ein Messer an die Kehle hält. – Wurde aber auch Zeit, dass es wieder was zu essen gibt. Das ewige Kindergeschrei in der Gruppe, von wegen sie hätten Hunger, das geht einem ja so was von auf die Eier! Na ja, noch ein Tag vielleicht, dann können wir uns den Bauch vollschlagen.«
Plötzlich schaute er von seinem Daumen hoch und sah Alex misstrauisch an.
»Entschuldigung, ich hab nicht zugehört. Was haben Sie gesagt?« Alex versuchte, uninteressiert zu klingen.
»Ach, nichts«, murmelte der Mann.
Sie folgten der Gruppe des Mannes mit dem entzündeten Daumen den ganzen Tag und ließen sie auch nicht aus den Augen, als die Gruppe im Dunkeln weiterging. Schließlich gaben die anderen es auf, sie abhängen zu wollen. Als sie das Lager der Zivilen Notfallreserve erreichten, waren sie sowieso nicht die Ersten: An die hundert Menschen hatten es schon vor ihnen entdeckt. Es gab Reis, trockene Erbsen, Linsen und Vollmilchpulver – aber die ausgehungerten Menschen hätten auch um Schokolade, Pizza und Cola nicht verbissener kämpfen können.
Diesmal konnte sich niemand heraushalten, es ging ums Überleben. In der Luengo-Gruppe bewachte nur einer der Klempner die Kinder, bewaffnet mit einem Jagdmesser und einem Eisenrohr aus einer alten Fabrik. Ihm stand der Roachy zur Seite, unter dem die Kinder sich versteckten und der sie mit seiner übermenschlichen Kraft beschützen würde. Alle anderen kämpften sich zu den Vorräten vor. Mit allem, was sich irgendwie als Waffe eignete.
Alex arbeitete sich an der Seite von Frau Kanowski vorwärts, als ihm eine junge Frau mit Zöpfen in den Weg sprang. Alex sah sie auf sich zustürmen, sie schwenkte in jeder Hand eine Eisenkette. Er hob das schartige Rohr, das er in der Hand hielt, aber er zögerte. Shit, das wäre so, als würde er einen Hundewelpen schlagen!
Da traf ihn die erste Eisenkette der Frau an der Brust. Alex versuchte, Luft zu holen, aber es ging nicht. Verzweifelt riss er den Mund auf, aber da war diese Klammer, die seine Lungen zusammendrückte. Er sah den grimmigen Blick der jungen Frau und die zweite Eisenkette, die auf sein Gesicht zuflog, aber er konnte nichts tun. Plötzlich schaute die Frau überrascht auf etwas neben Alex, und während Alex’ Knie nachgaben, sah er, wie etwas Schweres ihre Schulter traf und sie zu Boden riss. Dann war Frau Kanowski da, zerrte Alex hoch, schrie: »Atme, Junge!« und plötzlich bekam er tatsächlich wieder Luft. Frau Kanowski lud bereits ihre Schleuder nach, als Alex das Eisenrohr aufhob, das ihm runtergefallen war. Er atmete ein paarmal durch, während er sich schwor, sich zu den Säcken mit Essen durchzuschlagen, egal wie. Er biss die Zähne zusammen, rammte seine Ellenbogen in Bäuche und Rücken, schlug gegen Arme und Kniescheiben und vermied es, in die Gesichter zu sehen, wehrte Angriffe mit Messern, Rohren und Schraubenschlüsseln ab und hatte eine Stelle, wo mehrere Säcke Reis standen, schon erreicht, als ein höchstens siebenjähriger Junge mit einem Hammer auf ihn losging. Alex hechtete hinter die Reissäcke, aber der Junge folgte ihm schreiend und schwang seinen Hammer.
Alex konnte kein Kind angreifen, er konnte einfach nicht. Er ließ das Rohr fallen und streckte die Arme in die Luft, aber der Junge rannte weiter auf ihn zu. Alex wusste nicht, was er tun sollte, aber weglaufen konnte er nicht, hier war der Reis, den sie so dringend brauchten, den durfte er nicht einfach jemand anders überlassen … Da wurde der Junge von den Beinen gerissen und klatschte auf den Boden, direkt vor Alex, in seinem Kopf eine tiefe Wunde. Alex sah hoch, aber derjenige, der den Jungen geschlagen hatte, kämpfte wohl schon wieder gegen jemand anderen. Alex ging zu dem Jungen, wischte das viele Blut von seinem Gesicht, aber der Junge hatte die Augen geschlossen und er atmete nicht. Er war tot. Alex saß einen Moment wie erstarrt da, aber der Kampf war noch nicht zu Ende, und so zog er sein Hemd aus, deckte es über die blutige Leiche, warf sich einen Sack Reis über die Schulter und rannte los.
Sie hatten Essen für mindestens zwei Wochen erkämpft, aber niemandem in der Gruppe war nach Feiern zumute und nicht nur Alex legte sich mit leerem Magen schlafen. Aber er schlief nicht. Er starrte in den sternenübersäten Nachthimmel und versuchte, die Panik niederzukämpfen, die in ihm hochstieg.
Hatte er jemanden getötet bei dem Kampf heute? Er glaubte es nicht, aber sicher konnte er nicht sein. Klar, er hatte nur gekämpft, um nicht selbst verletzt zu werden. Und natürlich, um an das Essen zu kommen. Wie alle anderen auch. Aber dabei war ein kleiner Junge gestorben und wer weiß wie viele Menschen sonst noch. Lag da draußen vielleicht ein Toter, den Alex auf dem Gewissen hatte? Er wusste es nicht. Er wusste es einfach nicht. Und er würde es nie wissen. Aber eines wusste er genau: Für den Rest seines Lebens würde er den kleinen Jungen vor sich sehen, der ihn im einen Moment angriff und im nächsten tot vor ihm auf dem Boden lag.
Es wurde die längste, dunkelste Nacht seines Lebens, und Alex konnte es kaum glauben, dass am nächsten Morgen einfach die Sonne aufging wie immer. Und dass das Leben weiterging, Tag für Tag, mit Hunger, Durst, Krankheit und Tod. Alex hatte sich geschworen, keine Sekunde mehr ans Aufgeben zu denken. Denn wenn er nachts hin und wieder mal das Glück hatte, so fest zu schlafen, dass er träumte, dann sah er im Traum nicht nur den toten Jungen, sondern auch seine Eltern oder Celie. Er wollte sie wiedersehen und er würde sie wiedersehen – diese Gewissheit gab ihm jeden Tag aufs Neue die Kraft, weiterzugehen.
Bernie hatte in dem Kampf um die Zivile Notfallreserve einem Mann den Arm zerschmettert und selbst eine gebrochene Rippe davongetragen. Auch ihn hatte der grausame Kampf erschüttert. Aber genau wie Alex hatte er inzwischen ein Ziel, das ihn aufrecht hielt.
Nach Marias und Robbes Tod hatte das anders ausgesehen. Damals war er zusammengebrochen. Und er hatte Alex gefragt, wie er trotz der schrecklichen Dinge, die um sie herum passierten, so zuversichtlich bleiben konnte. Alex’ Antwort war gewesen, dass er, egal, was auch geschah, immer sein Ziel im Auge behielt: Celie zu finden. Dafür würde er alles tun.
Wofür würde ich alles tun?, hatte Bernie sich gefragt, und die Antwort war so schnell da gewesen, als hätte sie schon lange in einem Winkel seines Gehirns darauf gewartet, entdeckt zu werden: Er würde alles dafür tun, seine Eltern wiederzusehen. Natürlich konnte er Indien nicht zu Fuß erreichen – schon den Weg bis nach Irland würde er nur mit Glück überleben, da machte er sich nichts vor. Nein, wenn er nach Indien wollte, musste er dafür sorgen, dass die Tore wieder funktionierten. Als ihm das klar war, stand sein nächstes Ziel fest: Er würde in Irland zur T. O. R.-Zentrale gehen und dort mithelfen, das Tornetz zu reparieren.
Als er Alex in einer Nacht, in der sie beide vor Hunger nicht einschlafen konnten, davon erzählte, lachte der ihn nicht etwa aus. Stattdessen sagte er: »Ich wüsste nicht, wieso du das nicht schaffen solltest.«
Und egal, wie verrückt Bernies Plan auch sein mochte: Mit diesem Ziel vor Augen ließ sich alles leichter ertragen. Der Hunger, der Durst und sogar die vielen Toten.