Kapitel 8
Aus Jennas Tagebuch:
18. Juli 2024
Die Welt hat sich in den letzten Monaten auf
unglaubliche Weise verändert. Nach den schrecklichen Ereignissen
aus der Anfangszeit vor allem zum Besseren.
Aber nicht bei uns.
Wir wohnen in einer riesigen Villa mit einem
Park drumherum, arbeiten in unseren fantastisch ausgestatteten
Labors im Keller, haben keine finanziellen Sorgen mehr und bekommen
jede Unterstützung, die man sich als Wissenschaftler nur wünschen
kann – aber das alles würde ich, ohne zu zögern, hergeben,
wenn ich dafür Felix wiederbekommen könnte.
Es wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre:
Der Miterfinder der Tore hat seit ihrer Einführung kein einziges
Mal das Haus verlassen. Er hockt Tag und Nacht in seinem Zimmer und
starrt auf die Wand, die er in den letzten Monaten zu einem Altar
des Grauens gemacht hat: voller Bilder, Zeitungsausschnitte,
E-Mails und Briefe zu den Katastrophen, die die Tore herbeigeführt
haben. Ich habe ihn gebeten, all das wegzuwerfen – schon wegen
Celie. Aber er hat, wie so oft, überhaupt nicht reagiert. Heute
habe ich ihn jedoch förmlich gezwungen, aus dem Haus zu gehen,
indem ich Celie vorgeschickt habe. Wir sind zu dritt nach Köln
gebeamt, in Felix’ Heimatstadt. Ich wollte, dass wir seine
Schwester besuchen, aber er hat sich mit Händen und Füßen gewehrt.
Er ist so laut geworden, dass ich schließlich nachgegeben habe.
Celie hat dann ganz in der Nähe einen Spielplatz entdeckt und zu
dem sind wir gegangen. Celie ist gleich zum Sandkasten gelaufen und
hat dort versucht, einen stillen, dunkelhaarigen Jungen zum Spielen
zu animieren.
Als Felix die beiden beobachtete, wirkte er zum
ersten Mal seit Wochen fast entspannt. Ich habe dann einfach
drauflos erzählt, von all dem Positiven, das die Tore mittlerweile
bewirkt haben. Von der weltweiten Welle der Hilfsbereitschaft für
hungernde und von Katastrophen betroffene Menschen, denen nun jeder
in wenigen Sekunden direkt etwas zu essen oder Geld oder andere
Hilfsgüter bringen kann. (Dass all die armen und hungernden
Menschen, die in unsere reichen Städte beamen, unter Polizeischutz
zurückgebeamt und für jedes Land außer ihrem eigenen gesperrt
werden, habe ich natürlich außen vor gelassen.) Ich habe erzählt
von den geheimen Enklaven politisch Verfolgter, in denen sie sicher
sind. Von all den Menschen, die wegen eines Arbeitsplatzes ihre
Heimat verlassen hatten und die nun in Scharen nach Hause
zurückkehren. Von der medizinischen Versorgung, die inzwischen für
fast jeden rechtzeitig erreichbar ist. Von der unbegrenzten
kostenlosen Energie, die uns die Tore auf dem Merkur, in den
Wüsten, an den Küsten und hoffentlich bald auch in direkter Nähe
der Sonne bringen. Von der Industrie, die mit lebensgefährlichen
Stoffen arbeitet und die inzwischen weitgehend auf den Mond
verbannt wurde. Und von der UNO, die sich als eine Art
Weltregierung bislang ganz gut macht. Auch die ermutigenden
Prognosen habe ich aufgezählt: dass sich die Tierbestände in den
Schutzzonen ohne Tore und vor allem durch die Aufgabe der meisten
Straßen erholen werden, dass der Lebensstandard aller Menschen
steigen wird, dass demnächst niemand mehr verhungern oder bei einer
Überschwemmung umkommen muss.
Felix hat sich das alles stumm angehört und
dann hat er dagegengehalten. Mit den diktatorischen Machthabern in
Nordkorea und anderswo, die ihre Bevölkerung systematisch vom neuen
Wohlstand und den Toren abschneiden. Mit den Mördern und
Vergewaltigern, die sich auch von dem mittlerweile üblichen
lebenslangen Ausschluss vom Tornetz nicht von ihren Verbrechen
abhalten lassen. Und mit den unzähligen Selbstmorden derer, deren
Existenz durch die Tore vernichtet wurde.
Auch wenn ich ihn nicht wirklich erreicht habe,
war es doch gut, dass Felix wenigstens mit mir gesprochen hat. Ich
habe wieder ein wenig Hoffnung.
Irland, Mobilen-Kommune
Celie wurde durch ein Klopfen an ihrer
Wohnungstür geweckt.
Schlaftrunken nahm sie den
Zettel entgegen, den ihr eine Frau mit müden Flüchtlingsaugen
entgegenstreckte.
Persönliche Nachrichten wurden inzwischen
häufig von Boten überbracht – das Funknetz der Kommune war vor
allem den Mitteilungen des Rates und den Übertragungen des
Mobilen-Senders vorbehalten. Jeder war gehalten, sein Handy nur
noch im Notfall zu benutzen. Angeblich, weil man Energie sparen
musste. Celie war nicht die Einzige, die das für eine Ausrede
hielt.
»Eine Nachricht vom Rat«, sagte die Frau
entschuldigend und deutete auf die Signatur.
Jason. Celies Herz schlug schneller.
Keine zwanzig Minuten später – nach einer
Katzenwäsche und einem Brot vom Vortag, das sie im Bistro nebenan
bekommen hatte – stand Celie vor der Musikschule. Sie hatte es
nicht glauben wollen, aber es war genau so, wie es in Jasons
Nachricht gestanden hatte: Die Musikschule hatte wieder geöffnet.
Und Celie war ab sofort vom Solarzellenflicken befreit, um hier zu
arbeiten.
Sie würde Karen nachher ein Stück Kuchen
organisieren. Die Ärztin musste sich im Rat für die Musikschule
eingesetzt haben, dafür hatte sie sich eine Leckerei
verdient.
»Super, dass du da bist!«, rief Pietro, ein
sechzigjähriger Pianist mit der Figur eines Wrestlers, und wuchtete
einen Satz Bongos von einem Tisch. »Ist das nicht packy, dass wir
wieder aufmachen? Hier, halt doch mal.«
Er drückte Celie einen Notenständer in die eine
und einen Trompetenkoffer in die andere Hand.
»Ich hab Cassie zum Sender geschickt, damit sie
die gute Nachricht über die Screens schicken.« Er strahlte. »Jetzt
geht’s wieder aufwärts, was, Dawn?«
Celie packte mit an. Jede Menge Instrumente
mussten aus den Schränken geholt und aus den Decken gewickelt
werden, in denen man sie notdürftig verstaut hatte, als die
Musikschule geschlossen worden war. Celie ertappte sich dabei, wie
sie vor sich hin summte, während sie schwitzend räumte und putzte.
Das war auch keine leichtere Arbeit als das Solarzellenflicken,
aber es machte ihr nicht das Geringste aus. Voller Energie
richteten sie und Pietro alles wieder so her, dass es aussah wie
neu. Als die anderen Lehrer kamen, brachten sie Getränke und Obst
für die Schüler mit. Und dann gab es plötzlich nichts mehr zu
tun.
»Vielleicht schaffen wir es noch, einen Kaffee
zu trinken, bevor die ersten kommen«, sagte Tamila, als alle im
großen Saal versammelt waren.
»Das wäre herrlich«, sagte Pietro.
Sie streckten die Beine aus, wedelten sich Luft
zu, tranken Kaffee und plauderten. Doch nach einigen Minuten wurde
es stiller. Immer öfter schaute jemand zur Tür und schließlich
sagte René: »Wo bleiben die denn?«
»Vielleicht haben sie es noch nicht
mitgekriegt«, sagte Pietro, aber Cassie schüttelte den Kopf. »Ich
hab schon auf dem Rückweg vom Sender gesehen, dass sie die
Nachricht permanent auf den Screens eingeklinkt haben. Inzwischen
müsste jeder Bescheid wissen.«
Eine halbe Stunde später war die Stimmung so
gedrückt, dass es kaum noch auszuhalten war. Plötzlich sprang
Pietro auf. »Ich will jetzt wissen, was da los ist«, sagte er. »Und
wenn ich dafür zu jedem einzelnen Schüler nach Hause gehen
muss.«
Celie nickte grimmig und stand ebenfalls auf,
die anderen folgten. Tamila blieb zurück, um die Stellung zu
halten.
Wie von selbst lenkten Celies Schritte
sie durch die überfüllten Straßen in Richtung der Gewächshäuser am
Ostrand der Kommune. Dorthin, wo Eliza wohnte. Es wimmelte von
Leben: Boten eilten mit Nachrichten hin und her, eine nicht enden
wollende Schlange von E-Transport-Bikes brachte Lebensmittel zu den
Restaurants und Gemeinschaftsküchen und karrte Müll aus der Stadt,
an jeder Ecke wurden wertvolle und weniger wertvolle Habseligkeiten
gegen Essen und volle Akkus getauscht und ständig zerstreuten
Gruppen von Polizisten kleinere und größere Ansammlungen von
Menschen. Allerdings sah Celie kaum spielende Kinder auf den
Straßen, nicht mal die kleinen, die noch nicht zur Schule gingen.
Wo steckten die denn nur?
Celie schaute vor sich auf den Boden, um die
endlose Folge von Bildern und Botschaften auszublenden, die über
die Fassaden-Screens flimmerten. Trotzdem konnte sie nicht
verhindern, dass Nachrichten zu ihr durchdrangen:
»Die Ambulanz des Krankenhauses ist ab sofort
nur noch für absolute Notfälle geöffnet. Für alle anderen Fälle ist
ein Notlager vor dem Nordtor der Stadt eingerichtet worden.« –
»Um den Zugang zur Stadt nachhaltig zu regeln, wird heute mit dem
Bau eines Elektrozauns rund um die Stadt begonnen. Dafür werden
noch Bauingenieure, Programmierer und Arbeiter gesucht. Melden Sie
sich bitte in der West Lane 23.« – »Polizeilich gesucht werden
diese vier Männer, die gestern in den Supermarkt in der Gallen Gate
eingebrochen sind.« Dazu gab es Aufnahmen von einer Kameradrohne,
die die Männer gut erkennbar zeigten.
Inzwischen sollte
eigentlich jeder wissen, dass die gesamte Stadt mit Drohnen
überwacht wird, dachte Celie. Erstaunlich, dass es trotzdem
noch Einbrüche gab.
Oder auch nicht. Die Männer auf den Aufnahmen
wirkten, als wäre ihnen alles egal. Als hätten sie sich damit
abgefunden, dass nichts je wieder so sein würde wie früher. Und
wahrscheinlich hatten sie damit ja auch recht.
Celie ging schneller und bald hatte sie die
Straße erreicht, in der Eliza wohnte. Sie klingelte. Es dauerte
eine Weile, dann wurde die Tür aufgerissen.
»Ja?!«, sagte eine unfreundliche Stimme.
»Hallo, Brigid.« Celie kämpfte gegen den Kloß
in ihrem Hals, als sie Brigids mürrisches Gesicht sah. »Ich wollte
fragen, ob Eliza wieder zum Unterricht kommt.«
Brigid starrte sie an, dann lachte sie laut.
»Das ist ja wohl nicht dein Ernst!« Sie trat aus der Tür und baute
sich vor Celie auf. »Oder bist du wirklich so naiv, Dawn?«
»Ich hab keine Ahnung, was du meinst. Die
Musikschule ist wieder geöffnet und ich möchte lediglich wissen,
wann Eliza wieder kommt.«
Einen Moment lang glaubte Celie, Brigid würde
sie ohrfeigen. Doch die hagere Frau schnaubte nur.
»So, das Bürgermeisterflittchen will also, dass
meine Tochter wieder zum Klarinettenunterricht kommt«, höhnte
sie.
Celie starrte Brigid an. Wie hatte sie sie
genannt?
»Mag ja sein, dass du mit dem Oberboss vögelst,
aber das gibt dir lange noch nicht das Recht, hier aufzutauchen und
mir meine Tochter wegzunehmen!«
»Was redest du für einen Shit? Du bist doch
total loco! Wie krank …«
»Ach?«, gab Brigid süffisant zurück. Ihre
blauen Augen leuchteten fiebrig in dem blassen Gesicht. »Das ist
also krank, dass ich meine Tochter beschützen will? Vor einer, die
erst siebzehn ist und sich schon hochschläft? Ein Supervorbild für
eine Sechsjährige, muss ich schon sagen!«
Celie stieß Brigid so heftig vor die Brust,
dass sie gegen die Tür taumelte. »Ich hab nichts mit Jason,
ich …«
»Und warum hat er dann die Musikschule wieder
geöffnet? Obwohl doch jeder für die Maintenance-Jobs gebraucht
wird? Doch nur, damit sein Flittchen nicht mehr so hart arbeiten
muss wie wir anderen!«
Brigids selbstgefälliges Grinsen sprach Bände.
Sie glaubte das wirklich! Dieses total kranke, wirre Zeug, das sie
sich da zusammengesponnen hatte … Aber da war nicht das
Geringste dran. Nein, das war völlig unmöglich. Jason konnte nicht
im Ernst glauben …
Celie blinzelte. Nur das nicht. Keine
Tränen.
»Und jetzt verschwinde und lass uns in Ruhe«,
sagte Brigid schroff. Sie ging zur Tür, drehte sich aber noch
einmal um.
»Eliza hat keine Zeit für Musik. Niemand hat
Zeit für so was, das wüsstest du, wenn du nicht ständig mit dem
Kopf in den Wolken rumlaufen würdest. Eliza sucht nach der Schule
die abgeernteten Felder nach Resten ab, damit wir überleben, wie
alle anderen auch.«
Die Tür schloss sich, aber Celie konnte sich
nicht bewegen. In ihrem Kopf rauschte es. Brigid war total loco. In
ihrem kranken Hirn hatte sie sich eine widerliche Geschichte
zusammengereimt, die nichts, aber auch gar nichts mit der
Wirklichkeit zu tun hatte.
Abgesehen davon, dass die Musikschule
wiedereröffnet worden war, obwohl sogar die Kinder jetzt arbeiten
mussten. Und abgesehen davon, dass Jason etwas von ihr wollte, auch
wenn sie nicht genau wusste, was das war.
Aber vielleicht wusste sie es doch.
Bürgermeisterflittchen.
Plötzlich wurde Celie klar, dass sie sich
Gewissheit verschaffen musste.
»Dawn, wie schön!« Karen rückte ihre
Brille zurecht und nahm Celie den Kirschkuchen ab. »Eine Pause kann
ich jetzt gut brauchen, und etwas Süßes noch mehr.
Apfellimonade?«
»Gern«, sagte Celie.
Die alte Frau holte zwei Gläser und sie setzten
sich auf die Bank in der Krankenhauseinfahrt. Es sah fast so aus
wie noch vor wenigen Wochen und doch war alles anders.
»Ganz schön ruhig hier«, sagte Celie, um nicht
gleich mit ihrer Frage herauszuplatzen. In der Einfahrt waren
tatsächlich kaum Kranke und Verletzte zu sehen.
»Wir bekommen hier nur noch die wirklichen
Notfälle rein«, sagte Karen. »Die anderen werden alle zu dem
Notlager vor der Stadt umgeleitet.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich
war gestern da und ich kam mir vor wie im Mittelalter!« Sie
seufzte. »Wenn du keine Antibiotika mehr hast, nutzen dir auch die
schönsten Nanobots nichts … Wir müssen eben einfach
weitermachen mit dem, was wir haben. Und uns auf die alten
Hausmittel besinnen: Zwiebeln bei Mittelohrentzündung, Umschläge
mit warmem Kartoffelbrei bei Angina … Da fällt mir ein«, sie
holte ein zerfleddertes Notizbuch aus Papier hervor, »wir sollten
eine Datei mit Hausmitteln erstellen. Am besten wäre ein Aufruf
über den Sender …« Sie notierte sich etwas, dann wandte sie
sich an Celie. »Tut mir leid, ich vergess alles, wenn ich es mir
nicht aufschreibe. – Wie geht es dir denn, Dawn? Die
Musikschule ist wieder offen, habe ich gehört?«
»Dank dir«, sagte Celie.
Karen schaute sie verwirrt an. »Wieso dank
mir?«
»Na ja, du hast dich doch im Rat dafür
eingesetzt, dass wir wieder aufmachen können.«
Karen runzelte die Stirn. »Nein, das war ich
nicht. Ich bin hier nicht rechtzeitig fertig geworden, darum hab
ich die letzte Sitzung verpasst.«
In Celies Kopf machte sich Leere breit. Sie
merkte kaum, dass Karen wieder zu sprechen begann.
»… hatten sie das wahrscheinlich sowieso
auf der Agenda. Jedem sollte ja klar sein, dass ohne ein bisschen
Abwechslung alles noch viel schneller zusammenbricht, als wenn der
Müll mal nicht abgeholt wird. Wir brauchen viel mehr Musik und Vids
und Spiele!«
Karen lächelte Celie an und Celie versuchte
ihrerseits ein Lächeln. Es musste wohl ziemlich danebengegangen
sein, denn die alte Frau nahm Celies Hand und sagte: »Kind, was ist
denn mit dir?«
Kind. So hatte sie schon lange niemand mehr
genannt. Aber jetzt, in diesem Augenblick fühlte es sich gut an.
Celie lehnte sich an Karens Schulter und atmete geräuschvoll
aus.
Karen streichelte ihren Arm. »Zurzeit sieht
alles ziemlich schlimm aus. Aber glaub mir: Wir haben hier die
besten Bedingungen, den Zusammenbruch zu überstehen. Besser als
fast überall sonst auf der Welt.«
Celie regte sich nicht. Sie wollte einfach hier
sitzen bleiben und Karens Stimme lauschen.
»Tatsächlich dürften wir sogar unter allen
Mobilen-Kommunen diejenige sein, die am besten dasteht«, fuhr Karen
fort. »Als die Tore ausfielen, hatten wir ja gerade diesen Kongress
in der Stadt, weshalb jede Menge Spezialisten hier hängen geblieben
sind: Experten für Nanotechnologie, Architekten, Ärzte,
Computerfreaks …«
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen
Gedanken verscheuchen, der einfach zu loco war. »Na ja, Jason hatte
schon immer ein gutes Timing«, sagte sie dann. »Die Algentanks zum
Beispiel, in denen wir Algen als nahrhaftes Gemüse und als Basis
für Treibstoff züchten können, die wollte vor ein paar Monaten
niemand außer ihm. Und was würden wir heute ohne sie tun?«
»Kundschaft!«, rief jemand von der Straße und
dann bog auch schon ein Tragen-Bike in die Einfahrt.
Karen stand auf. »Ich muss dann mal
wieder. – Alles klar mit dir?«
Celie schaffte es irgendwie, aufzustehen.
»Alles klar.«
Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt und
sich die Decke über den Kopf gezogen, bis alles vorbei war. Aber
das ging nicht. Karen hatte sich nicht für die Musikschule
eingesetzt, was bedeutete, dass Jason es getan hatte. Und Celie war
sich sicher, dass er es für sie getan hatte. Verdammt, sie wollte
das alles nicht! Aber sie konnte den Kopf nicht in den Sand
stecken. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würden sich bald noch
mehr Menschen außer Brigid Gedanken darüber machen, womit, zum
Teufel, Celie die besondere Aufmerksamkeit des Bürgermeisters
verdient hatte. Und irgendwann würde unweigerlich jemand auf einen
Hinweis stoßen, wer sie wirklich war.
Celie schauderte. Früher war das Schlimmste an
dem Gedanken, entlarvt zu werden, für sie gewesen, dass man sie
dann aus der Kommune jagen würde. Aber in letzter Zeit gab es
Gerüchte über geheime Verliese, zu denen nur Conor und seine Leute
Zugang hatten und in denen furchtbare Dinge vorgehen
sollten …
Warum können mich nicht
einfach alle in Ruhe lassen, Mom?
Mit weichen Knien stand Celie auf. Nein, Jenna
würde ihr jetzt ebenso wenig helfen wie früher, als sie noch am
Leben war. Und Celie konnte nicht weglaufen. Sie musste Jason zur
Rede stellen und ihm klarmachen, dass sie nichts von ihm wollte und
dass er sie in Ruhe lassen sollte. Bevor ihr die ganze Sache über
den Kopf wuchs.
* * *
Er drückte einen Schalter und die hintere
Wand des Zimmers verwandelte sich in eine Screen. Konzentriert
zappte er durch die Aufnahmen vom Tag, machte sich nur hin und
wieder eine Notiz. Im Grunde lief alles wie geplant. Die
Flüchtlinge waren dankbar und arbeiteten nahezu umsonst, bauten
eifrig an seiner Welt der Zukunft, ohne zu ahnen, welcher Platz
dort für sie vorgesehen war. Gleichzeitig wurden in der Stadt die
Proteste gegen die Neuankömmlinge immer lauter und es war schon zu
ersten Ausschreitungen gekommen. Bis zum großen Knall würde es aber
noch eine Weile dauern. Genug Zeit, um alles in die Wege zu leiten.
Vor allem musste er sich um dieses Mädchen kümmern. Sie war das Ass
in seinem Ärmel, wenn es hart auf hart kam.
Er holte sich die Bilder der Drohnen auf den
Schirm, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Ins Bistro. In die
Musikschule. Zu Brigid … Er stellte den Ton lauter.
Brigid warf Celie allen Ernstes vor, den
Oberboss zu vögeln, um an Vergünstigungen zu kommen? Na gut, Brigid
wusste nicht, wen sie da vor sich hatte. Er grinste. Brigid war ein
Biest, aber sie hatte einen guten Instinkt. Auch wenn Celie
natürlich entsetzt auf Brigids Attacke reagierte.
»Und warum hat er dann die Musikschule wieder
geöffnet? Obwohl doch jeder für die Maintenance-Jobs gebraucht
wird? Doch nur, damit sein Flittchen nicht mehr so hart arbeiten
muss wie wir anderen!«, sagte Brigid jetzt.
Seine Miene verdüsterte sich. Das ging zu weit.
Er würde nicht zulassen, dass man dem Bürgermeister
Vetternwirtschaft nachsagte. Es wurde Zeit, dass er Brigid
klarmachte, wer hier das Sagen hatte.
Er wollte den Computer schon herunterfahren,
als eine Aufnahme von Celie mit Karen vor dem Krankenhaus auf der
Screen erschien. Das würde er sich noch ansehen müssen. Es gefiel
ihm gar nicht, dass das Mädchen so viel Kontakt zu der alten
Querulantin hatte. Karen war gefährlich: Sie hatte mehr Verstand
als alle anderen im Rat zusammen. Es war jedenfalls ein guter
Schachzug gewesen, anzuregen, dass ihr nach dem Zusammenbruch die
Leitung des Krankenhauses übertragen wurde. Sie war jetzt so
ausgelastet, dass sie kaum noch Zeit hatte, ihm in die Quere zu
kommen.
Als er sich die Aufnahme weiter ansah, bereute
er seinen voreiligen Schluss. Karen war offenbar nicht so
beschäftigt, als dass ihr nicht aufgefallen wäre, wie ausgesprochen
gut die Stadt für den Torausfall gerüstet gewesen war. Und zu allem
Überfluss hatte sie Celie auch noch gesagt, dass nicht sie es
gewesen war, die sich für die Wiedereröffnung der Musikschule
eingesetzt hatte.
Er fuhr den Computer herunter und stand auf.
Zuerst würde er sich Brigid vornehmen, dann würde er mit Celie
sprechen. Und um Karen musste er sich ebenfalls kümmern, bald. Er
verschloss seinen geheimen Raum und stieg die Treppe hinauf.
Er war noch nicht oben angelangt, als es an der
Tür klingelte.
Im ersten Moment sah Jason etwas
irritiert aus, als habe Celie ihn bei etwas Wichtigem gestört. Aber
dann lächelte er, hielt ihr die Tür auf und bat sie herein.
Celies Herz klopfte, als sie sein Haus betrat.
Die Höhle des Löwen. Und der Löwe würde vermutlich nicht mehr so
freundlich lächeln, wenn sie ihn erst zur Rede stellte.
Sie spürte schon wieder seinen Blick im Nacken
kribbeln und konnte nichts dagegen tun, dass sie nervös war.
Aufgeregt. Shit, dieser Typ machte sie verrückt!
Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf
die Einrichtung seines Wohnzimmers.
Ein Schreibtisch mit Papieren, ein kleines
Regal voller Bücher, Screens, zwei Holzstühle, ein schwarzes Sofa,
ein Couchtisch, eine Schale mit Schokolade, Erdnüssen und
Gummibärchen – ein heutzutage geradezu obszöner Luxus …
Kein einziges Bild an der gelben Wand, keine Fotos, nicht einmal
irgendeine Nippesfigur. Wenn es die Süßigkeiten nicht gegeben
hätte, hätte hier jeder beliebige Mensch wohnen können.
»Was möchtest du trinken, Dawn? Ich hab Tee da,
Cola, Limo und irgendwo müsste auch noch ein Bier
sein …«
»Eine Limo, danke.«
Jason verließ das Wohnzimmer. Celie ging zu dem
kleinen Bücherregal. Welche Bücher jemand besaß, das sagte eine
Menge über ihn aus. Mal sehen, was sie hier über Jason
erfuhr.
»Die mobile Bewegung«, »Zeit des
Umbruchs« – bis dahin keine Überraschung. Ein Aphorismenband
von Jeannine Luczak, ein Exemplar von »1984«. Und daneben:
»Grundlagen der Transtorq-Technologie« von Felix und Jenna Kranen.
Celie erkannte die Erstausgabe von 2025 sofort.
»Na, was Spannendes gefunden?«
Celie schrak zusammen. »Sorry, ich hab
nur …«
Jason reichte ihr ein Glas, sichtlich amüsiert.
Heute trug er nur ein T-Shirt, kein langes Hemd wie sonst. Er hatte
enorme Muskeln, fiel Celie auf. Und Narben. Eine schien sich bis
zum Rücken zu ziehen. Woher die Narben wohl stammten?
»Sieh dich nur um, ich hab keine Geheimnisse«,
sagte Jason.
Celie lächelte. Dann sind
wir ja quitt.
»Also, ich freue mich, dass du mich mal
besuchst.« Jason ließ sich auf sein Sofa fallen. »Was verschafft
mir denn die Ehre?«
Celie setzte sich auf einen Stuhl, jetzt wieder
teranervös. Am besten brachte sie es schnell hinter sich.
»Jason, tut mir leid, wenn ich …« Nein,
noch mal von vorn. »Also, ich würde gern etwas wissen.«
Er lehnte sich vor. Wenn er sie doch nur nicht
so ansehen würde!
»Warum hast du die Musikschule wieder
aufgemacht?«
Jason sah aus, als erwarte er, dass da noch
mehr kam. Dann lachte er. »Darüber machst du dir Gedanken?«
»Na ja.« Celie kam sich fast selbst albern vor.
Aber sie musste es jetzt wissen.
»Ich bin nicht die Einzige. Bri … Jemand
hat angedeutet, das hättest du für mich gemacht. Weil du …
weil wir angeblich …«
Jason stellte sein Glas krachend auf den
Couchtisch. »Das ist doch wohl ein Witz, oder?« Er stöhnte. »Das
darf doch echt nicht wahr sein! Als hätten wir nicht schon genug
Probleme …«
Celie starrte in ihr Glas. Jetzt kam ihr die
Sache plötzlich auch total loco vor. Er war doch auch viel älter
als sie, fast acht Jahre. Wie hatte sie sich von Brigid nur so
verrückt machen lassen können?
»Okay«, sagte Jason, »dann mal zum
Mitschreiben: Ich habe die Schule wiedereröffnet, weil wir sie
brauchen. Die Menschen sind durcheinander, sie haben Angst, sie
wissen nicht, was noch alles auf sie zukommen wird. Aber mit Angst
baut man keine neue Welt auf. Darum erschien es mir und dem ganzen
Rat vernünftig, so viel Normalität zurückzuholen wie möglich. Das
Theater macht ja auch wieder auf und die Holo-Vid-Arena ebenso.« Er
lächelte. »Aber du bringst mich da auf eine Idee: Wir sollten noch
mehr tun. Den Leuten eine Abwechslung bieten, etwas, worauf sie
sich freuen und worauf sie hinarbeiten können.«
»Wie wäre es mit einem Konzert? Für die Kinder
und alle anderen auch«, sagte Celie. »Wir könnten das von der
Musikschule aus organisieren.«
»Brillante Idee!«, rief Jason. »Damit tun wir
dann auch etwas für die Kinder, die unter der neuen Situation am
meisten zu leiden haben. Und wir zeigen ihren Eltern, dass wir uns
um sie kümmern.« Er runzelte die Stirn. »Es gefällt mir gar nicht,
dass viele ihre Kinder Vorräte beschaffen lassen, auf den Feldern
und noch weiter draußen. Wir müssen allen klarmachen, dass wir
unsere Leute auch weiterhin versorgen können.«
Celie hörte das kaum noch. Ein Konzert. Das
würde sie auf andere Gedanken bringen. Zuerst müssten sie die
Eltern überzeugen. Darum müsste der Rat öffentlich klarstellen,
dass niemand für die Konzert-Vorbereitungen auf irgendetwas
verzichten musste. Vielleicht konnte man auch …
»Ich nehme mal an, du würdest das Konzert gern
vorbereiten?«, sagte Jason in Celies Gedanken hinein.
»Ja«, sagte sie und wunderte sich über sich
selbst. Sie hatte wirklich Lust darauf. Und es wäre eine gute
Ablenkung von all dem Chaos. Und von den düsteren Gedanken, die sie
verfolgten …
Die Erinnerung an Jennas Tod traf sie plötzlich
wieder mit solcher Wucht, dass ihr die Kehle eng wurde. War sie
dabei, ihre Mom zu verraten? Indem sie sich hier engagierte –
an einem Ort, wo Jenna Kranen als Urheberin allen Unheils galt und
wo die Menschen sie hassten?
Sie stellte ihr Glas ab. Ihre Hände
zitterten.
»Oder möchtest du das nicht?«, fragte Jason
erstaunt.
Vermutlich wäre es dir ja
auch teraegal, Mom. Wie alles, was mich betraf.
Celie räusperte sich. »Doch.«
Plötzlich heulte sie los. Und dann waren Jasons
Arme da und hielten sie.
Als sie sich schniefend wieder von ihm löste,
rückte er von ihr ab.
»Tut mir leid«, sagte Celie. »Kommt nicht
wieder vor.« Sie lachte. »Wenn das jemand gesehen
hätte …«
Jason wich ihrem Blick aus und fixierte einen
Punkt an der Wand. Dann sah er sie so eindringlich an, dass ihr
heiß und kalt wurde.
»Okay, Dawn, ich will, dass das ein für alle
Mal klar zwischen uns ist.« Die nächsten Worte fielen ihm sichtlich
schwer. »Also, das mit der Musikschule … Ja, es ist gut und es
ist sinnvoll, aber ich gebe zu: Ich habe es nicht zuallererst
getan, um die Moral zu heben. Sondern deinetwegen.«
Celie hielt die Luft an.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
»Wenn du mich dafür verachtest, kann ich es
nicht ändern. Ich werde dir auch niemals zu nahe treten, wenn du
mir kein Zeichen gibst …«
Er fuhr sich durchs Haar.
»Verdammt, ich wollte das nicht. Und wenn du
nicht möchtest, reden wir nie wieder darüber. Aber als ich dich zum
ersten Mal sah …«
Celie kam sich vor wie in einem Film. Eine
Horror-Liebesgroteske. Das durfte doch nicht wahr sein!
»Der Job als Bürgermeister …«, Jason
setzte noch mal an: »Ständig muss man sich mit Leuten rumschlagen,
die einem offen ins Gesicht sagen, dass man zu jung, zu unerfahren
oder einfach nicht der Richtige ist, um die richtigen
Entscheidungen zu treffen.« Er lachte. »Na ja, so was traut sich
heute keiner mehr zu sagen. Aber manche denken es immer noch. Da
will man manchmal nur noch weg, ausbrechen, fliehen. Und als du
dann ankamst«, seine Stimme wurde leise, »da hatte ich das Gefühl,
eine verwandte Seele zu treffen.« Er verschränkte die Hände
ineinander. »Jedenfalls, lange Rede, kurzer Sinn: Ja, ich mag dich,
und das mit der Musikschule … Da haben die Gerüchte recht
gehabt. Aber ich würde dich niemals belästigen, das musst du mir
glauben. Ab sofort werde ich mich tadellos betragen. – Und ich
baue darauf, dass du niemandem erzählst, wie ich eben rumgejammert
habe«, fügte er mit einem Lachen hinzu.
»Werde ich nicht«, sagte Celie verlegen. Sie
stand auf. »Ich gehe jetzt besser.«
»Natürlich.« Jason sprang auf und brachte sie
zur Tür. Sie hielten beide kurz inne, dann sagte Jason: »Ich würde
mich freuen, wenn du mal wieder vorbeikommst. Und wenn du noch mehr
so gute Ideen wie die mit dem Konzert hast, lass es mich wissen,
ja? Diese Stadt braucht gute Ideen zurzeit dringender als
irgendetwas sonst. – Oh, hallo, Conor.«
Celie schrak zusammen. Wie üblich war Conor wie
aus dem Nichts aufgetaucht und wie üblich war sein Blick stechend.
Er sah Celie misstrauisch an. »Was macht die denn hier?«
In diesem Moment packte Jason Conor am Kragen
seiner schwarzen Uniform, zerrte ihn in den Flur und schlug die Tür
zu. »Wieso glaubst du, dass dich das irgendetwas angeht?«
Conor sagte nichts, auch seine Miene veränderte
sich nicht. Nur ein einzelner Schweißtropfen lief seine Wange
hinunter und verschwand in seinem Kragen. Jason ließ ihn los und
wischte sich die Hand an der Hose ab, als hätte er etwas
Schleimiges angefasst.
»Du vergisst jetzt, dass du Dawn hier gesehen
hast. Haben wir uns verstanden?«
»Natürlich«, sagte Conor steif, aber er machte
keine Anstalten, zu gehen.
»Was ist denn noch?«, herrschte Jason ihn an.
Conor sah zwischen Celie und Jason hin und her. Jason verdrehte die
Augen, winkte Conor aber näher. Conor beugte sich zu ihm und
flüsterte ihm etwas ins Ohr. Jasons Miene verdüsterte sich. »Tu,
was nötig ist«, sagte er nach kurzem Zögern.
Conor öffnete die Tür. Doch bevor er
verschwand, warf er Celie noch einen Blick zu, voller Verachtung
und Hass. Und urplötzlich schob sich das Bild eines anderen Mannes
vor Conors. Seine Augen waren rot unterlaufen gewesen, weil er
betrunken war, aber es war derselbe Blick. Genauso wie Conor jetzt
hatte dieser Typ Celie damals angesehen, als er sie nach dem
Konzert in Tanger backstage verprügelt hatte, weil sie nicht mit
ihm rummachen wollte. Seine Miene hatte sich allerdings schlagartig
verändert, nachdem sie ihm einen Tritt zwischen die Beine verpasst
hatte. Trotzdem war Celie nur mit viel Glück entkommen und danach
tagelang untergetaucht, bis Alex – wer sonst – sie
gefunden und überredet hatte, nach Hause zu gehen.
»Dann gute Nacht, Dawn.«
Als sie Jason ansah, legte sich das Bild des
Typen aus Tanger für einen Moment auch über sein Gesicht. Celie
blinzelte und es war verschwunden. Jason sah nur ein wenig besorgt
aus, sonst nichts.
»Gute Nacht«, sagte Celie, wandte sich um und
rannte den ganzen Weg nach Hause.
Auf der A2
Auf der Autobahn beäugte jede Gruppe alle
anderen misstrauisch. Aber es ließ sich nicht vermeiden, dass man
Kontakt zueinander aufnahm. Manchmal hatte eine Gruppe etwas, was
eine andere brauchte. Doch meistens ging es darum, Informationen
auszutauschen. Viele davon waren überlebenswichtig, deshalb
beteiligten sich alle an dem Austausch, auch wenn das bedeutete,
dass andere Gruppen Einblick in die Besitztümer bekamen, die man
lieber geheim gehalten hätte.
Der Roachy allerdings war so groß, dass man ihn
sowieso nicht verstecken konnte. Er leistete der Gruppe
unschätzbare Dienste, indem er ihr Gepäck trug, Hindernisse aus dem
Weg räumte, ihnen einen Weg bahnte, wenn sie abseits der Autobahn
unterwegs waren, und – nicht zu unterschätzen – die
Kinder bei Laune hielt. Jede andere Gruppe wollte den Roachy haben,
aber er wurde bewacht wie Fort Knox. Außerdem hatte Bernie ihn
inzwischen so programmiert, dass er mit seinen »Händen« so gut
kämpfen konnte wie ein Martial-Arts-Kämpfer.
Doch der Roachy kämpfte nur, wenn er
angegriffen wurde – nicht von sich aus. Ruben machte es
verrückt, bei seinen Raubzügen auf den Laufroboter verzichten zu
müssen. Aber Bernie hatte ihm klargemacht, dass er eher sterben
würde als eine Mordmaschine auf jemanden loszulassen. Und da Bernie
der Einzige war, dem der Roachy folgte, hatte Ruben zähneknirschend
nachgeben müssen.
Bei den Treffen mit anderen Gruppen hatte
Alex’ Gruppe gute Karten, denn es hatte sich herumgesprochen, dass
er Arzt war – oder zumindest so was Ähnliches. Deshalb bekam
Alex von den offiziellen Absprachen während der Treffen in der
Regel nichts mit, weil er die ganze Zeit über Mitglieder der
anderen Gruppe behandelte. Aber seine Patienten erzählten ihm auch
eine Menge, um ihre Angst vor der Behandlung oder vor Schmerzen zu
überspielen.
Normalerweise hörte Alex gut zu, denn bei
diesen Gesprächen fiel immer mal wieder eine wertvolle Information
ab. Als sie Ende August jedoch von der A2 auf die A 3 wechselten,
war Alex in Gedanken ganz woanders: Von hier aus war es nicht weit
bis Moers, wo das Co-House lag, in dem er mit seiner Mutter gelebt
hatte. Und obwohl er sicher war, dass seine Mutter nicht dort war,
wollte ein Teil von ihm losrennen und sich vergewissern. Aber das
war nicht das Einzige, was ihn beschäftigte. Er war todmüde und
gereizt, wie alle anderen auch. Seit Tagen hatte er kaum etwas
gegessen, denn das wenige, was sie hatten, gab Frau Kanowski den
Kindern und denen, die Wache hielten. Bislang hatten sie immer
wieder Glück gehabt: Immer wenn sie dachten, es ginge nicht mehr
weiter, kamen sie an einem Stück Wald vorbei, in dem sie Bucheckern
und ein paar Beeren finden konnten. Oder sie stießen in einem
verlassenen Haus auf Konservendosen, die andere vor ihnen übersehen
hatten. Oder sie fanden einen See, in dem sie nicht nur trinken,
sondern auch baden konnten. Ein unglaublicher Luxus – auch
wenn Alex wie alle anderen den durchdringenden Gestank kaum noch
wahrnahm, den lebende und tote Menschen, ungewaschene Klamotten und
vermodernder Abfall verströmten.
Wenn es mal regnete – was viel zu selten
vorkam –, sammelten sie das Wasser in jedem Behälter, den sie
hatten, vom Topf über die Plastiktüte bis zum Kinderspielzeug.
Einige Male war auch ein Lkw des Roten Kreuzes oder der Bundeswehr
mit Wasser, Essen und Wasseraufbereitungstabletten vorbeigekommen,
aber das war schon lange her. Entweder hatten sie inzwischen nichts
mehr zu verteilen, oder sie hatten es aufgegeben, weil viele Lkws
gekapert worden waren. Jetzt flog nur noch ab und zu einer dieser
altmodischen Hubschrauber über sie hinweg und warf Zettel mit
Durchhalteparolen ab.
Wasser, Wasser, Wasser. Das war das wichtigste,
das einzige Thema auf der Straße. Wasser war der Grund, warum
Menschen bestohlen und umgebracht wurden. Dass Alex selbst noch
niemanden getötet hatte, verdankte er den Mitgliedern der Gruppe,
die vor Gewalt nicht zurückschreckten. Vor allem Ruben und die
Klempner erledigten die Drecksarbeit für sie, und niemand fragte
groß nach, wenn sie mit neuen Vorräten ankamen oder irgendwo ein
Bike aufgetrieben hatten. Aber im Grunde wussten sie alle, dass die
Vorbesitzer ihre Schätze nicht freiwillig herausgerückt
hatten.
Alex versuchte, nicht darüber
nachzudenken.
Bei diesem Treffen Ende August behandelte
er nun schon den fünften Patienten. Er war abgelenkt, todmüde und
wäre längst eingeschlafen, wenn sein Magen nicht so geknurrt hätte.
Darum bekam er fast nicht mit, was sein Patient – ein bulliger
Mann mit einem entzündeten Daumen – vor sich hin murmelte:
»… Lager der Zivilen Notfallreserve gibt. Und die da oben
halten das immer noch geheim, die Schweine.«
Alex versuchte, sich nicht anmerken zu lassen,
dass er zuhörte. Er kramte weiter in seinem Rucksack mit den selbst
gemachten Arzneien.
»Scheiße, tut das weh! – Aber wir sind
nicht so blöd, wie die denken. Tja, ist schon erstaunlich, was so
einer vom Technischen Hilfswerk alles ausplaudert, wenn man ihm ein
Messer an die Kehle hält. – Wurde aber auch Zeit, dass es
wieder was zu essen gibt. Das ewige Kindergeschrei in der Gruppe,
von wegen sie hätten Hunger, das geht einem ja so was von auf die
Eier! Na ja, noch ein Tag vielleicht, dann können wir uns den Bauch
vollschlagen.«
Plötzlich schaute er von seinem Daumen hoch und
sah Alex misstrauisch an.
»Entschuldigung, ich hab nicht zugehört. Was
haben Sie gesagt?« Alex versuchte, uninteressiert zu klingen.
»Ach, nichts«, murmelte der Mann.
Sie folgten der Gruppe des Mannes mit dem
entzündeten Daumen den ganzen Tag und ließen sie auch nicht aus den
Augen, als die Gruppe im Dunkeln weiterging. Schließlich gaben die
anderen es auf, sie abhängen zu wollen. Als sie das Lager der
Zivilen Notfallreserve erreichten, waren sie sowieso nicht die
Ersten: An die hundert Menschen hatten es schon vor ihnen entdeckt.
Es gab Reis, trockene Erbsen, Linsen und Vollmilchpulver –
aber die ausgehungerten Menschen hätten auch um Schokolade, Pizza
und Cola nicht verbissener kämpfen können.
Diesmal konnte sich niemand heraushalten, es
ging ums Überleben. In der Luengo-Gruppe bewachte nur einer der
Klempner die Kinder, bewaffnet mit einem Jagdmesser und einem
Eisenrohr aus einer alten Fabrik. Ihm stand der Roachy zur Seite,
unter dem die Kinder sich versteckten und der sie mit seiner
übermenschlichen Kraft beschützen würde. Alle anderen kämpften sich
zu den Vorräten vor. Mit allem, was sich irgendwie als Waffe
eignete.
Alex arbeitete sich an der Seite von Frau
Kanowski vorwärts, als ihm eine junge Frau mit Zöpfen in den Weg
sprang. Alex sah sie auf sich zustürmen, sie schwenkte in jeder
Hand eine Eisenkette. Er hob das schartige Rohr, das er in der Hand
hielt, aber er zögerte. Shit, das wäre so, als würde er einen
Hundewelpen schlagen!
Da traf ihn die erste Eisenkette der Frau an
der Brust. Alex versuchte, Luft zu holen, aber es ging nicht.
Verzweifelt riss er den Mund auf, aber da war diese Klammer, die
seine Lungen zusammendrückte. Er sah den grimmigen Blick der jungen
Frau und die zweite Eisenkette, die auf sein Gesicht zuflog, aber
er konnte nichts tun. Plötzlich schaute die Frau überrascht auf
etwas neben Alex, und während Alex’ Knie nachgaben, sah er, wie
etwas Schweres ihre Schulter traf und sie zu Boden riss. Dann war
Frau Kanowski da, zerrte Alex hoch, schrie: »Atme, Junge!« und
plötzlich bekam er tatsächlich wieder Luft. Frau Kanowski lud
bereits ihre Schleuder nach, als Alex das Eisenrohr aufhob, das ihm
runtergefallen war. Er atmete ein paarmal durch, während er sich
schwor, sich zu den Säcken mit Essen durchzuschlagen, egal wie. Er
biss die Zähne zusammen, rammte seine Ellenbogen in Bäuche und
Rücken, schlug gegen Arme und Kniescheiben und vermied es, in die
Gesichter zu sehen, wehrte Angriffe mit Messern, Rohren und
Schraubenschlüsseln ab und hatte eine Stelle, wo mehrere Säcke Reis
standen, schon erreicht, als ein höchstens siebenjähriger Junge mit
einem Hammer auf ihn losging. Alex hechtete hinter die Reissäcke,
aber der Junge folgte ihm schreiend und schwang seinen
Hammer.
Alex konnte kein Kind angreifen, er konnte
einfach nicht. Er ließ das Rohr fallen und streckte die Arme in die
Luft, aber der Junge rannte weiter auf ihn zu. Alex wusste nicht,
was er tun sollte, aber weglaufen konnte er nicht, hier war der
Reis, den sie so dringend brauchten, den durfte er nicht einfach
jemand anders überlassen … Da wurde der Junge von den Beinen
gerissen und klatschte auf den Boden, direkt vor Alex, in seinem
Kopf eine tiefe Wunde. Alex sah hoch, aber derjenige, der den
Jungen geschlagen hatte, kämpfte wohl schon wieder gegen jemand
anderen. Alex ging zu dem Jungen, wischte das viele Blut von seinem
Gesicht, aber der Junge hatte die Augen geschlossen und er atmete
nicht. Er war tot. Alex saß einen Moment wie erstarrt da, aber der
Kampf war noch nicht zu Ende, und so zog er sein Hemd aus, deckte
es über die blutige Leiche, warf sich einen Sack Reis über die
Schulter und rannte los.
Sie hatten Essen für mindestens zwei
Wochen erkämpft, aber niemandem in der Gruppe war nach Feiern
zumute und nicht nur Alex legte sich mit leerem Magen schlafen.
Aber er schlief nicht. Er starrte in den sternenübersäten
Nachthimmel und versuchte, die Panik niederzukämpfen, die in ihm
hochstieg.
Hatte er jemanden getötet bei dem Kampf heute?
Er glaubte es nicht, aber sicher konnte er nicht sein. Klar, er
hatte nur gekämpft, um nicht selbst verletzt zu werden. Und
natürlich, um an das Essen zu kommen. Wie alle anderen auch. Aber
dabei war ein kleiner Junge gestorben und wer weiß wie viele
Menschen sonst noch. Lag da draußen vielleicht ein Toter, den Alex
auf dem Gewissen hatte? Er wusste es nicht. Er wusste es einfach
nicht. Und er würde es nie wissen. Aber eines wusste er genau: Für
den Rest seines Lebens würde er den kleinen Jungen vor sich sehen,
der ihn im einen Moment angriff und im nächsten tot vor ihm auf dem
Boden lag.
Es wurde die längste, dunkelste Nacht
seines Lebens, und Alex konnte es kaum glauben, dass am nächsten
Morgen einfach die Sonne aufging wie immer. Und dass das Leben
weiterging, Tag für Tag, mit Hunger, Durst, Krankheit und Tod. Alex
hatte sich geschworen, keine Sekunde mehr ans Aufgeben zu denken.
Denn wenn er nachts hin und wieder mal das Glück hatte, so fest zu
schlafen, dass er träumte, dann sah er im Traum nicht nur den toten
Jungen, sondern auch seine Eltern oder Celie. Er wollte sie
wiedersehen und er würde sie wiedersehen – diese Gewissheit
gab ihm jeden Tag aufs Neue die Kraft, weiterzugehen.
Bernie hatte in dem Kampf um die Zivile
Notfallreserve einem Mann den Arm zerschmettert und selbst eine
gebrochene Rippe davongetragen. Auch ihn hatte der grausame Kampf
erschüttert. Aber genau wie Alex hatte er inzwischen ein Ziel, das
ihn aufrecht hielt.
Nach Marias und Robbes Tod hatte das anders
ausgesehen. Damals war er zusammengebrochen. Und er hatte Alex
gefragt, wie er trotz der schrecklichen Dinge, die um sie herum
passierten, so zuversichtlich bleiben konnte. Alex’ Antwort war
gewesen, dass er, egal, was auch geschah, immer sein Ziel im Auge
behielt: Celie zu finden. Dafür würde er alles tun.
Wofür würde ich alles
tun?, hatte Bernie sich gefragt, und die Antwort war so schnell
da gewesen, als hätte sie schon lange in einem Winkel seines
Gehirns darauf gewartet, entdeckt zu werden: Er würde alles dafür
tun, seine Eltern wiederzusehen. Natürlich konnte er Indien nicht
zu Fuß erreichen – schon den Weg bis nach Irland würde er nur
mit Glück überleben, da machte er sich nichts vor. Nein, wenn er
nach Indien wollte, musste er dafür sorgen, dass die Tore wieder
funktionierten. Als ihm das klar war, stand sein nächstes Ziel
fest: Er würde in Irland zur T. O. R.-Zentrale gehen und dort
mithelfen, das Tornetz zu reparieren.
Als er Alex in einer Nacht, in der sie beide
vor Hunger nicht einschlafen konnten, davon erzählte, lachte der
ihn nicht etwa aus. Stattdessen sagte er: »Ich wüsste nicht, wieso
du das nicht schaffen solltest.«
Und egal, wie verrückt Bernies Plan auch sein
mochte: Mit diesem Ziel vor Augen ließ sich alles leichter
ertragen. Der Hunger, der Durst und sogar die vielen Toten.