Kapitel 9

Aus Jennas Tagebuch:
19. Juli 2024
Celie ist ganz aufgedreht seit unserem Spielplatzbesuch in Köln. Sie redet die ganze Zeit von ihrem neuen Freund Alex. Offenbar hat sie ihn ebenso beeindruckt wie er sie, denn eben kam seine Mutter mit ihm vorbei. Sie wollte wissen, in welchen Kindergarten Celie geht, weil Alex unbedingt auch dorthin will.
Die beiden haben im Garten gespielt, während Alex’ Mutter und ich Tee getrunken haben. Sie war mir so dankbar, dass es mir schon fast peinlich war! Nicht wegen des Kindergartens, sondern weil Alex durch die Tore seinen Vater zurückbekommen hat. Offenbar haben die Eltern sich vor einem Jahr getrennt. Alex’ Vater musste aus beruflichen Gründen nach Frankreich ziehen und hat seinen Sohn deshalb kaum noch gesehen. Alex hat wohl sehr darunter gelitten. Aber jetzt hat er seinen Vater wieder: Jeden Abend beamt er nach Köln, bringt seinen Sohn zu Bett und liest ihm wie früher etwas vor.
Zum ersten Mal begreife ich wirklich, wie unsere Erfindung das Leben der Menschen verändert. Ich wünschte, Felix würde mir zuhören. Aber er hat überhaupt nicht reagiert, als ich ihm von Alex und seinem Vater erzählt habe. Und das macht mir wirklich Sorgen, denn für Celie und alles, was mit ihr zu tun hat, hat er bislang immer Interesse aufgebracht, auch in seinen schlimmsten Phasen.
Celie liebt Felix über alles. So sehr, dass sie sich immer mehr von mir abwendet. Zumindest habe ich den Eindruck – oder ist das nur ein Gedanke, den mir meine Schuldgefühle einflüstern? Sicher ist aber, dass ich mich mehr um Celie kümmern und weniger Zeit im Labor verbringen sollte. Doch wie soll ich das machen?
Damit ich dort zumindest irgendetwas von ihr um mich habe, habe ich vor einer Woche den unförmigen, schreiend bunten Tonaschenbecher auf dem Akkuschrank aufgestellt, den Celie im Kindergarten gebastelt hat. Ich muss immer lachen, wenn ich ihn ansehe. Oder weinen.

Irland, Mobilen-Kommune

»Wenn du das am Sonntag so hinbekommst«, sagte Pietro zu seinem Klavierschüler, »dann werden die Mädchen wohl gar nicht anders können, als dir ihre Kuscheltiere zuzuwerfen und die Bühne zu stürmen.« Der Siebenjährige kicherte.
Seit Jason das geplante Konzert öffentlich angekündigt und der Rat offiziell verboten hatte, dass Kinder auf den Feldern arbeiteten, war in der Musikschule die Hölle los. In jedem Raum, in jeder freien Ecke wurde geprobt. Sogar im Pausenraum, in dem jeden Morgen die Sonderrationen für die Kinder angeliefert wurden, war es voll: Heute spielte eine Band und vor einem Fenster stand ein Mädchen mit Kopfhörern, das verbissen in seine Querflöte blies.
Celie sah Eliza ratlos an. »Ich habe keine Ahnung, wo wir hier in Ruhe Klarinette spielen sollen«, sagte sie.
»Wir könnten doch woandershin gehen«, sagte Eliza. »Ich weiß was.« Sie packte Celies Hand und zog sie aus dem Gebäude auf die Straße.
»Wo willst du denn hin?«, rief Celie, um den Lärm zu übertönen, den die Baustelle des neuen Algentanks in der Hanson Road verursachte. Aber Eliza hatte sie entweder nicht gehört, oder sie wollte nicht antworten.
In den Straßen wimmelte es von Menschen. Aber anders als noch vor wenigen Tagen wirkten sie nun nicht mehr ängstlich und bedrückt – sie schienen ein Ziel zu haben.
Das lag natürlich vor allem daran, dass in der Stadt neben den ursprünglichen Bewohnern nur noch Flüchtlinge geduldet wurden, die entweder Bauarbeiten an den neuen Algentanks und Energiezentren durchführten oder für die Stadt wertvolle Qualifikationen mitbrachten. Welche das waren, konnte man draußen an den Screens der Stadttore jeden Tag nachlesen: Ärzte, Experten für Energiespeicherung, Energieingenieure, Agrarwissenschaftler, Architekten und Krankenschwestern waren zurzeit besonders gefragt.
Wer durch dieses Raster fiel, arbeitete entweder draußen am Aufbau der Neustadt mit oder wurde für einen der Erntetrupps eingeteilt. Die Wanderarbeiter zogen durch das gesamte Gebiet von hier bis Dublin, um die Ernte einzubringen. Denn die meisten landwirtschaftlichen Betriebe waren inzwischen verwaist: Kaum ein Bauer hatte beim Zusammenbruch genügend Solarzellen oder gar eine Notstromversorgung gehabt, um danach seine Traktoren noch einsetzen zu können. Von den Roachys ganz zu schweigen, die ohne Wartung schnell ihren Geist aufgaben.
Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, in der Stadt zu arbeiten. Eine, bei der man besondere Vergünstigungen bekam und jeden Tag etwas mehr Macht. Eine, die darum bei den Flüchtlingen begehrter war als jeder andere Job: die Security. Die in einem Crashkurs ausgebildeten neuen Polizisten waren überall und kontrollierten jeden, der die Stadt verließ oder betreten wollte. Sobald es das geringste Anzeichen von Ärger oder Streit gab, waren sofort mehrere von ihnen da, um einzugreifen.
Am Tag zuvor hatte Olle Celie erzählt, dass es in letzter Zeit mehrere Übergriffe und unberechtigte Festnahmen durch Polizisten gegeben hatte. Dass die Nachrichten nichts davon brachten, war für ihn nur ein Beweis mehr dafür, dass die Kommune sich allmählich zu einem Polizeistaat entwickelte.
»Wenn die Medien erst kontrolliert werden, sind wir alle am Arsch«, hatte er düster gesagt und seine blonden Dreadlocks geschüttelt. »Nicht nur die Flüchtlinge da draußen.«
Celie und er waren allein in der Stadthalle, wo Olle die Screen-Show für das Konzert programmierte. Celie hatte es inzwischen aufgegeben, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie musste zugeben, sie mochte ihn, und abgesehen davon ließ er sich einfach nicht abschütteln. Sobald er von dem Konzert gehört hatte, hatte er auch schon seine Hilfe bei der Programmierung der Lightshow angeboten.
»So weit ist es noch nicht«, sagte Celie. Seit sie das Konzert vorbereitete, sah sie alles anders, leichter. Wahrscheinlich war das unvernünftig, aber sie konnte nichts dagegen tun. Zumindest tagsüber. Die Abende waren eine andere Geschichte.
Olle runzelte die Stirn. »Aber bald, wenn wir nichts unternehmen. Und dieser Bürgermeister wird mir auch immer unheimlicher. Der Rat wird mit jeder neuen Zwangsmaßnahme, die er beschließt, unbeliebter. Und Conor und sein Sonderkommando sind schon fast so gefürchtet wie die Gestapo früher bei den Nazis. Aber Jasons Image leidet unter alldem überhaupt nicht. Im Gegenteil: Ständig sieht man ihn irgendwo mit hochgekrempelten Ärmeln rumstehen, wo er sich die Sorgen der Menschen anhört und selbst anpackt. Für die unangenehmen Aufgaben hat er ja Conor.«
»Ein teragruseliger Typ …«, murmelte Celie in Gedanken an ihr Treffen bei Jason.
»Jason finde ich viel gruseliger. Der steckt doch hinter allem, was Conor tut. Würde mich nicht wundern, wenn die Gerüchte stimmen, dass es schon geheime Folterkeller gibt.« Olle schüttelte sich. »Aber Jason steht da wie ein strahlender Retter in der Not. Sogar die da draußen lieben ihn.«
»Die da draußen?«, sagte Celie.
»Sorry«, sagte Olle. »Wir sind natürlich alle eins, gehören zusammen und so weiter.« Er drückte eine Taste und die Wände der Halle verwandelten sich in einen belebten Dschungel mit Vogelschreien und fallenden Regentropfen.
»Das meine ich ernst«, betonte er.
»Weiß ich doch«, sagte Celie.
»Nur falls du dich bei Jason mal über mich beschweren willst«, fügte Olle hinzu.
»Wie bitte?«
Er zuckte die Achseln. »Nicht böse gemeint. Ich hab nur gehört, dass du neulich abends bei ihm gewesen sein sollst. Ist sicher auch nur so ein Gerücht.«
»Nein, es stimmt schon«, sagte Celie verlegen.
Olle musterte sie. »Und was ist das jetzt mit euch?«
»Ich war bei ihm, um ihm dieses Konzert vorzuschlagen.« Das war eine Lüge. Aber irgendwie auch nicht. Warum sie ursprünglich zu Jason gegangen war, das würde sie Olle jedenfalls nicht auf die Nase binden. Er würde das nur falsch verstehen.
»Damit die Kinder mal wieder was haben, worauf sie sich freuen können. Und die Erwachsenen auch. Ich dachte einfach, bevor ich einen Termin im Rat bekomme, versuch ich’s lieber direkt beim Oberboss.«
Olle grinste. »Gut gemacht, Prinzessin! Pass nur ein bisschen auf, dass das niemand in den falschen Hals bekommt. Und wenn der Kerl frech wird, sag mir Bescheid!«
»Mach ich«, sagte Celie lachend.
Eliza hatte sie bis zum Westtor der Stadt geführt und sah Celie jetzt herausfordernd an.
»Du willst, dass wir da draußen üben?«, fragte Celie ungläubig.
»Genau.«
»Aber …« Die da draußen sind zu gefährlich, dachte sie und im selben Moment schämte sie sich dafür. »Die da draußen« waren ganz normale Menschen. Es ging ihnen schlechter als denen in der Stadt, und manche stahlen und beteiligten sich an Überfällen. Aber die meisten von ihnen arbeiteten wahrscheinlich hart für eine bessere Zukunft, nachdem sie fast alles verloren hatten.
Celie fasste Elizas Hand und trat auf die Polizisten zu, die das Tor sicherten.
»Okay, gehen wir.«
Eliza überraschte Celie noch einmal, als sie auch vor den Toren der Stadt zielsicher weiterging. Sie verriet Celie nicht, wohin sie wollte, also folgte Celie ihr einfach.
Sie gingen an Baustellen, neuen Strommasten und Wasserleitungen vorbei, ließen zwei Kartoffelfelder links liegen, passierten eine Ansammlung von etwa fünfzehn alten Armee-Cubes, in denen viel zu viele Menschen untergebracht waren, überschritten die Linie, wo der neue Elektrozaun gebaut wurde, und gelangten nach einer halben Stunde schließlich über einen Hügel zur Küste.
Als Celie das Meer sah, aus dem unzählige Windräder ragten, wurde ihr plötzlich bewusst, wie lange sie schon nicht mehr schwimmen gewesen war. Oder tauchen. Oder reiten. Oder grassboarden. Sie atmete die Seeluft tief ein und ließ sich von Eliza weiterziehen. Schließlich erreichten sie den Strand. Zwei Zelte standen dort. Vor dem einen saß ein alter Mann und bastelte an einer Angel.
»Sean, ich bin’s!«, rief Eliza und lief auf das andere Zelt zu. Ein schlaksiger Junge kam heraus. Staunend sah Celie, wie Eliza ein riesiges belegtes Baguette aus ihrem kleinen Rucksack zog und es dem Jungen in die Hand drückte. Er biss schon hinein, während Eliza noch einen Apfel und eine Flasche Limo auspackte. Dann winkte sie Celie.
»Das ist Dawn und das ist Sean«, stellte Eliza die beiden vor. Sean nickte mit vollem Mund.
»Sean kann teragut Mundharmonika spielen, richtig professorell«, sagte Eliza.
Es dauerte einen Augenblick, bis Celie verstand.
»Wenn ich dich nicht hätte«, sagte sie dann.
»Dann hättest du weniger Probleme, stimmt’s?« Eliza kicherte. »Das sagt zumindest meine Mom immer.«
Die beiden hockten sich zu Sean in den Sand.
»Hättest du Lust, bei einem Konzert in der Stadt mitzumachen?«, fragte Celie.
Sean verschluckte sich und prustete Brotkrümel in alle Richtungen.
»Ich nehme das mal als ein Ja«, sagte Celie. Und fragte sich im selben Augenblick, ob sie da nicht zu viel versprach. Schließlich musste sie dem Jungen für das Konzert eine Ausnahmegenehmigung zum Betreten der Stadt besorgen. Flüchtlingskindern war der Zutritt generell verboten, weil sie natürlich keine »wertvollen Qualifikationen« mitbrachten.
Stimmen wehten über den Strand herüber und kurz darauf standen vier weitere Kinder um sie herum.
»Das ist Nina, sie hat schon drei Jahre lang Klavierunterricht gehabt bei einem Konzern…piano…nisten«, stellte Eliza ein dünnes Mädchen von vielleicht neun Jahren vor. »Jetzt kann sie natürlich nicht üben, hier gibt’s ja kein Klavier. Und das ist Seans Bruder Timothy …«
Den Rückweg zur Stadt legten sie schweigend zurück.
Celie grübelte. Sollte sie versuchen, den Flüchtlingskindern freien Zugang zur Stadt und zur Musikschule zu verschaffen? Oder war es besser, sie direkt hier draußen zu unterrichten, wo sie lebten? Was würde der Rat wohl eher genehmigen?
Und was sollte sie tun, wenn sie es gar nicht erlaubten? Sie hatte den Kindern ja schon versprochen, dass sie Musikunterricht bekommen würden und vielleicht sogar beim Konzert mitmachen durften! Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Wenn es nicht klappte …
Notfalls musste sie zu Jason gehen. Auch wenn sie sich nach dem Besuch bei ihm geschworen hatte, nie wieder etwas zu tun, was ihm Hoffnungen machen könnte.
Sie überlegte, wann das erotische Kribbeln, das Jason in ihr ausgelöst hatte, verschwunden war. Wahrscheinlich an dem Abend neulich. Nach Conors Erscheinen war bei ihr nur ein Gefühl drohender Gefahr geblieben. Celie war nicht sicher, warum das so war. Doch auf ihren »Gefahren-Sensor« konnte sie sich hundertprozentig verlassen. Er hatte ihr in den letzten Jahren mindestens einmal das Leben gerettet. Als sie nach dem Tod ihres Dads mit Typen rumgezogen war, die sie ziemlich übel behandelt hatten. Als sie an Orte gebeamt hatte, die für junge Mädchen tödlich sein konnten. Klar, sie hatte damals natürlich nicht nur ihren Instinkt gehabt, sondern auch viel Glück – und Alex. Jetzt musste sie ganz allein auf sich selbst aufpassen.
Nein, sie würde auf keinen Fall zu Jason gehen. Stattdessen würde sie Karen um Hilfe bitten. Die Ärztin mochte Celie, sie würde sich ganz bestimmt für sie und die Flüchtlingskinder einsetzen. Und wenn das nicht funktionierte, konnte sie sich immer noch etwas anderes überlegen.
»Bist du böse auf mich?«, fragte Eliza zaghaft.
Celie wuschelte ihr durchs Haar. »Aber nein! Ich bin froh, dass du mich hierhergebracht hast. Du bist ein echter kleiner Engel, weißt du das?«
»Sag das mal Mom.« Eliza verdrehte theatralisch die Augen. »Wenn sie rausfindet, dass ich draußen war …«
»Von mir erfährt sie nichts«, versprach Celie und legte einen Finger an die Lippen.
Wegen ihres Ausflugs war Eliza spät dran. Brigid hatte schon Feierabend und die Ausgangssperre stand kurz bevor. Darum brachte Celie Eliza schnell nach Hause. Doch als sie dort ankamen, war Brigid nicht da.
»Sie kommt sonst immer um sechs.« Eliza runzelte die Stirn.
»Irgendwas wird sie aufgehalten haben. Mach dir keine Sorgen«, sagte Celie.
Unschlüssig standen sie in dem kleinen Flur herum. Celie beschloss, schnell zur Gemeinschaftsküche zu laufen, in der Brigid arbeitete. In der Zwischenzeit blieb Eliza bei den Nachbarn.
Es war noch hell, aber wegen der baldigen Ausgangssperre war es jetzt besonders voll und hektisch auf den Straßen. Mit den Bikes kam man kaum noch durch, die meisten Menschen gingen zu Fuß nach Hause und vor den Toren warteten endlose Schlangen.
Als Celie die Gemeinschaftsküche erreichte, war die Tür bereits geschlossen. Sie klopfte vergeblich, dann ging sie um das Gebäude herum. Dahinter war ein kleiner Garten, in dem inzwischen – wie auf jeder freien Fläche – Kartoffeln, Salat und Tomaten angebaut wurden. Celie schlängelte sich durch die Beete zu einer der großen Fenstertüren, die einen Spalt offen stand.
Dahinter sah sie zwei Schemen. Der eine war vermutlich Brigid und vor ihr stand … War das Conor?
Instinktiv duckte sich Celie, schlich zur Seite des Hauses und drückte sich dort an die Wand. Erst als sie um die Ecke lugte, wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte, und ihr Herzschlag setzte aus. Es war nicht Conor, der da drohend vorgebeugt vor der geduckten Brigid stand und auf sie einredete. Es war Jason. Und Brigid hatte offensichtlich Angst vor ihm. Celie streckte den Kopf noch etwas weiter vor, bis sie durch den Fensterspalt etwas hören konnte.
»… habe viel Geduld mit dir gehabt, aber jetzt bist du zu weit gegangen«, sagte Jason hitzig. »Du wirst sie in Zukunft in Ruhe lassen! Und wenn mir jemals wieder so ein widerliches Gerücht zu Ohren kommt, werde ich dich persönlich zur Verantwortung ziehen. Haben wir uns verstanden?«
Brigid warf trotzig den Kopf zurück. Celie konnte nicht anders, als ihren Mut zu bewundern.
»Ich lass sie in Ruhe. Aber du kannst mich nicht für jedes Gerücht verantwortlich machen, das aufkommt. Dafür müsstest du dich von dem Mädchen erst mal fernhalten.«
Celie begriff erst, dass Jason Brigid tatsächlich ins Gesicht geschlagen hatte, als Brigid sich zusammenkrümmte.
»Bist du jetzt total loco?«, schrie sie und hielt sich die Wange.
Jason packte ihre Arme und riss sie hoch. Dann, ganz plötzlich, beruhigte er sich. Er holte zwei Stühle, ließ Brigid auf einem Platz nehmen und setzte sich ihr gegenüber. Brigid verschränkte die Arme und lehnte sich so weit zurück, wie es ging.
»Reden wir mal wie zwei vernünftige Menschen«, sagte Jason. »Du weißt etwas über mich, und du glaubst, das gibt dir Macht über mich. Aber du solltest bedenken, was ich über dich weiß.«
»Ist kein Geheimnis, dass ich eine Outlaw bin«, presste Brigid hervor.
Jason lächelte sein jungenhaftes Lächeln, doch diesmal lief es Celie dabei kalt den Rücken hinunter. »Aber wissen sie auch, warum du gesperrt worden bist?«, fragte er.
Brigid starrte ihn mit offenem Mund an. Celie konnte die Qual in ihren Augen sehen.
Jason seufzte. »Eine schlimme Geschichte, das mit deinem Mann. Sicher, er war ein Schwein, er hat dich betrogen und geschlagen. Du konntest gar nicht anders, werden die meisten wohl sagen, wenn sie es erfahren. Allerdings …«
Er stand auf und begann um Brigids Stuhl herumzugehen.
»… allerdings bin ich nicht sicher, wie Eliza die Sache aufnehmen wird.«
»Das würdest du nicht …« Brigids Stimme zitterte.
»Nur wenn du mich zwingst, Brigid«, sagte Jason. »Was würde deine Tochter wohl dazu sagen, dass ihre Mom ihren Dad umgebracht hat? Mit einem Küchenmesser erstochen, als er friedlich mit einer Flasche Bier vor dem Holo-Vid saß?«
Brigid sprang auf. »Das Schwein hat mich …«, sie schluchzte, »… er hat gedroht, er würde Eliza …, da musste ich doch …« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Jason legte ihr eine Hand auf die Schulter. Jeder Außenstehende, der nicht gehört hatte, was er eben gesagt hatte, hätte es für eine Geste des Mitgefühls gehalten.
»Natürlich musstest du«, sagte er sanft. »Aber deine Tochter wird das nicht verstehen, weißt du? Sie wird nur sehen, dass du ihren Dad ermordet hast. – Aber so weit muss es ja nicht kommen«, fuhr er nach einer Pause fort. »Wir verstehen uns?«
Brigid sah zu Boden und nickte.
»Du wirst Dawn mit Respekt behandeln und nie wieder irgendetwas Dummes über sie und mich sagen?«
Brigid nickte wieder.
»Gut«, sagte Jason. »Dann geh jetzt nach Hause zu deiner Tochter. Sie wartet sicher schon auf ihre liebe Mom.«
Brigid stürmte zur Vordertür.
Celie blieb wie vom Donner gerührt stehen. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen: Es gab einen gefährlichen Mann hier. Brandgefährlich. Aber wie Olle gesagt hatte: Es war nicht Conor. Es war der junge, engagierte, charismatische Politiker, zu dem die Menschen aufsahen. Dem sie vertrauten. Der Mann, der zu Conor gesagt hatte: »Tu, was nötig ist.«
Warum hatte Jason nicht Conor geschickt, um diese ängstliche Frau zu erpressen und ihr mit dem Schlimmsten zu drohen, was man sich vorstellen konnte?
Wegen Celie. Er hatte es wegen ihr getan.
Celie wusste nicht, was ihr mehr Angst machte: dass Jason sie wollte – oder dass er vielleicht noch andere Gründe haben könnte, sich selbst die Finger schmutzig zu machen, um Celie auf diese drastische Weise zu schützen.
Und noch etwas ging ihr nicht mehr aus dem Kopf: Woher wusste Jason das alles über Brigid? Und was war es, was Brigid über ihn wusste?
Mitte September zeigte sich der irische Herbst von seiner freundlichen Seite. Aber Celie konnte die warmen Tage nicht genießen. Die Sache mit Brigid ließ sie nicht los.
Was verbarg sich noch alles hinter Jasons Maske des vertrauenswürdigen Retters in der Not? Und wie konnte sie mehr über ihn herausfinden, ohne Jason selbst oder Conor sofort aufzufallen? Da war es wieder, ihr altes Problem: Sie musste ihre wahre Identität geheim halten und zugleich hatte der Bürgermeister der Kommune ein ungesundes Interesse an ihr entwickelt. Wenn sie nicht teravorsichtig war, bekam er es mit, wenn sie nachforschte. Vielleicht hatte er Conor ja auch schon darauf angesetzt, sie im Auge zu behalten? Aber sie konnte auch nicht so tun, als wäre nichts passiert. Sie hatte Jason mit Brigid erlebt, und dort hatte er ein ganz anderes Gesicht gezeigt als das, das alle von ihm kannten. Er war gefährlich, das wusste sie jetzt und alle anderen mussten das auch erfahren.
Auf diese Weise hatte Celie sich tagelang im Kreis gedreht, bis ihr eine Lösung einfiel. Doch die hatte einen großen Haken und deshalb hatte sie sie bis zu diesem Tag vor sich hergeschoben. Aber sosehr sie auch nachdachte, sie kam immer wieder zu demselben Ergebnis: Sie musste Olle um Hilfe bitten. Auch wenn sie wusste, dass sie ihn dadurch in Schwierigkeiten bringen konnte. Olle hatte Zugang zu den Computern der Stadt und er wollte ebenfalls etwas gegen Jason unternehmen. Sie würde ihn einfach fragen und dann konnte er immer noch Nein sagen.
Als Celie vor die Tür trat, blieb sie verwundert stehen. Die Straße war voller Leute, bestimmt die Hälfte von ihnen von der Security. Und alle standen wie angewurzelt vor den Fassaden-Screens, auf denen überall derselbe Film lief.
Das heißt: Es war eigentlich nur ein einziges Bild, das neben dem Kopf des Nachrichtensprechers zu sehen war, der sichtlich um Fassung rang. Vier Jungen, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Aber das erkannte man erst auf den zweiten Blick, weil sie so verschlungen übereinanderlagen. Und wegen des vielen Blutes, das aus Hunderten Wunden in ihren Körpern floss.
»Die Identität der Toten konnte bislang nicht geklärt werden«, sagte der Nachrichtensprecher mit rauer Stimme. »Und auch die Todesursache steht noch nicht endgültig fest.«
Er wandte sich an die Frau neben ihm. Celie erkannte die Polizeichefin.
»Ms Carter, was wissen Sie bislang über diesen grauenhaften Mord an den vier Jugendlichen?«
Die Polizeichefin blickte grimmig. »Die Mordwaffen scheinen unzählige nadelartige Geschosse gewesen zu sein, die die Jungen förmlich … perforiert haben. Wir haben sie allerdings nicht in den Opfern gefunden. Die Spurensuche ist noch vor Ort.«
»Gibt es Hinweise auf den oder die Täter? Oder auf ein Motiv?«, fragte der Nachrichtensprecher nach.
Die Polizeichefin sah ihn unschlüssig und wütend zugleich an. »Nein. Wir verfolgen einige Spuren, haben bislang aber noch keine konkreten Erkenntnisse. Fest steht nur, dass die Jungen außerhalb der Neustadt gefunden wurden, mitten im Nirgendwo. Was sie dort gesucht haben …«, sie hob hilflos die Arme, nahm sie dann aber schnell wieder herunter, »… das wissen wir zurzeit noch nicht.«
Sie drehte sich zur Kamera.
»Wir bitten alle, uns bei der Aufklärung zu helfen. Wer einen der Jungen erkennt, meldet sich bitte sofort bei der nächsten Polizeikraft. Und wer irgendetwas weiß oder beobachtet hat, das zur Aufklärung beitragen könnte, meldet sich bitte ebenfalls.« Sie machte eine Pause. Was sie nun zu sagen hatte, fiel ihr sichtlich schwer. »Darüber hinaus hat Bürgermeister Chambers persönlich eine Belohnung in Form einer fünftägigen Lebensmittelsonderration ausgesetzt für den, der uns den entscheidenden Hinweis auf den oder die Täter oder die Hintergründe der Tat liefern kann.«
»Danke, Ms Carter«, sagte der Nachrichtensprecher. »Und nun zu den neuesten Anordnungen des Rates: Ab sofort gilt die Ausgangssperre bereits ab 17 Uhr. Alle Neustädter haben die Kommune bis 17 Uhr zu verlassen, sofern sie keine Sondergenehmigung haben. Die Stadtbeleuchtung, die Fassaden-Screens und jede andere nicht notwendige Einrichtung, die Energie verbraucht, werden von 22 bis 6 Uhr abgestellt. Bewohner, die nicht in Plus-Energie-Häusern wohnen, melden sich wegen der Energiezuteilung bitte bei der zuständigen Ratsstelle.«
Jemand reichte ihm ein Blatt Papier. Er riss die Augen auf und las vor: »Außerdem, erfahren wir soeben, werden heute und morgen sämtliche privaten Handys eingezogen. Das Mobilnetz der Stadt steht ab sofort nur noch für behördliche, überlebenswichtige und sicherheitsrelevante Aufgaben zur Verfügung.«
Die Menschen auf der Straße waren die ganze Zeit mucksmäuschenstill gewesen, aber jetzt ging ein Aufschrei durch die Menge. »Das ist doch reine Schikane!« – »Wie soll ich denn alles organisieren ohne Handy?!«
Celie musste lächeln, als ein rothaariger Hüne neben der Frau, die das gesagt hatte, lakonisch meinte: »Zu Fuß, wie wir anderen auch.«
Die Frau warf ihm einen giftigen Blick zu. »Dass Sie keine Handys haben, haben Sie ja wohl ganz allein sich selbst zuzuschreiben. Ich bin eine Mobile, und ich sehe überhaupt nicht ein, dass ich meine Privilegien aufgeben soll, nur weil plötzlich jeder meint, sich bei uns einnisten zu können!«
Während sie sprach, versammelten sich immer mehr finster blickende Menschen um den Hünen, der beschwichtigend die Hände hob.
»Genau!« – »Wir füttern euch durch, da solltet ihr nicht auch noch frech werden!« – »Geh besser dahin zurück, wo du hergekommen bist!«
»Hey!«, rief der Hüne, aber seine Stimme ging in der Menge unter, die sich um ihn schloss.
Celie rannte zu einem Polizisten. »Wollen Sie dem Mann nicht helfen?«
»Ist doch nur einer von denen«, antwortete der Polizist gelangweilt.
»Was hab ich dir gesagt«, meinte Olle, als Celie ihm eine Stunde später in der Computerzentrale der Stadt davon erzählte. »Wenn es hart auf hart kommt, heißt es irgendwann: Wir gegen die.«
»Aber das ist doch totaler Bullshit!«, rief Celie. »Die arbeiten doch jetzt schon viel härter als wir hier drinnen für ihr Essen und ihren Strom! Sie bauen all das, was wir für unsere Versorgung brauchen. Und ohne sie würden wir die ganzen landwirtschaftlichen Betriebe zwischen hier und Dublin gar nicht bestellen können.«
Olle grinste. »Weiß ich doch, Dawn. Aber glaub mir: Es wird noch schlimmer. Wenn ich nur an den Elektrozaun denke, für den wir jetzt schon anfangen zu programmieren … Erinnert mich an diese Mauer, die sie damals in Deutschland hatten. Und wenn das Essen und der Strom erst wirklich knapp werden, dann braucht das Volk einen Sündenbock. So wie den Typen, den du vorhin gerettet hast.«
»Ich hab ihn nicht gerettet«, sagte Celie.
Olle lachte. »Nee, du hast den Bullen nur so lange genervt, bis er was unternommen hat. Ich kann’s mir lebhaft vorstellen.«
Celie grummelte vor sich hin und fasste sich an die Wangen. Ihre Sommersprossen leuchteten garantiert knallrot. »Olle, ich brauche deine Hilfe.«
»Was Illegales?«, fragte er grinsend.
»Was anderes würde ich von dir doch nicht verlangen«, flachste Celie. Dann wurde sie ernst. »Es ist aber nicht nur illegal, es ist auch gefährlich.«
Olle legte den Rechner beiseite, an dem er gearbeitet hatte. »Jetzt bin ich aber wirklich gespannt.«
Als Celie ihm jedoch sagte, dass sie Informationen über Jasons Vergangenheit suchte, sah er sie fassungslos an.
»Hör mal, ich kenne keinen einzigen Mobilen, der seine Vergangenheit nicht geheim halten will. Aus gutem Grund. Und dann auch noch Jason?«
»Ja, ich weiß.« Celie konnte ihn nicht ansehen. »Aber du hattest recht mit Jason. Er ist die wirkliche Gefahr hier, nicht Conor.« Natürlich löcherte Olle sie, woher sie das wusste, und nachdem sie sich eine Weile gesträubt hatte, erzählte sie ihm von der Sache mit Brigid. Danach war Olle zum ersten Mal, seit Celie ihn kannte, sprachlos. Schließlich sagte er: »Das ist schlimm. Für Brigid sowieso, aber wenn Jason schon über sie so viel weiß …« Er sah Celie an. »Du musst echt aufpassen, Dawn.« Er sagte nichts weiter, aber Celie wurde heiß und kalt. Ja, was wusste Jason über sie?
»Okay, ich mach’s«, sagte Olle. »Ich fang bei den öffentlichen Rechnern an und wenn ich da nichts finde …«
Als Celie sich verabschiedete, sagte sie: »Bitte pass auf. Wenn dir was passiert, verzeihe ich mir das nie.«
Olle blickte verlegen durch seine Dreadlocks. »Alles klar, Prinzessin.«
Celie ging an den Fischteichen vorbei Richtung Krankenhaus. Es war warm heute, die Sonne schien von einem stahlblauen Himmel auf das Chaos unter ihr.
Olle hatte einfach Ja gesagt. Zu einer Recherche, die ihn in große Gefahr bringen konnte. Wie es nur ein Freund tun würde. Und nun war Celie auf dem Weg zu einer weiteren Frau, die sie ebenfalls als Freundin um etwas bitten wollte. Aber zumindest brachte sie sie dadurch nicht in Gefahr wie Olle.
»Dawn, wie schön, dass du mal wieder vorbeischaust!«
Celie erschrak, als sie die Ärztin auf dem Flur des Krankenhauses antraf. Sie wirkte zwanzig Jahre älter als noch vor wenigen Tagen. Ihr Gesicht hinter dem Mundschutz war blass, sie hielt sich gebeugt. Aber ihre Augen strahlten wach wie eh und je.
»Lass uns rausgehen.«
Karen drängte Celie zur Tür, an hustenden Kranken, müden Schwestern und stoisch daliegenden Verletzten vorbei. »Hier drin ist es für Gesunde zu gefährlich, seit wir kaum noch Medikamente haben.«
Dann saßen sie auf der Bank in der Einfahrt, jede eine Flasche Apfellimo in der Hand. Wie in alten Zeiten, dachte Celie wehmütig. Dabei waren die erst ein paar Tage vorbei.
»Wie geht es dir, Karen?«, fragte sie zögernd.
Karen sah sie von der Seite an. Dann lachte sie. »Ich sehe furchtbar aus, ich weiß. Wir haben schon mehrere Fälle von bakterieller Lungenentzündung, die wir nicht behandeln, sondern nur isolieren und ruhigstellen können, und draußen auf der Geflügelfarm wütet eine Salmonellen-Infektion, gegen die wir ohne Antibiotika auch nichts tun können. Nur hoffen, dass sie nicht auf Menschen übergreift …«
Sie fuhr sich durch die weißen Haare und steckte mehrere Strähnen fest. »Aber mir fehlt nichts. Außer Schlaf. Und Ruhe. Und vielleicht einem Fünf-Gänge-Menü.« Sie lachte wieder. »Und wie geht es dir, Dawn?«
»Ganz gut«, sagte Celie. »Wir bereiten da gerade dieses Konzert vor.«
»Ich hab davon gehört«, sagte Karen. »Gute Idee, das wird uns auf andere Gedanken bringen.« Sie seufzte. »Allerdings waren sie im Rat strikt dagegen, auch Besucher von draußen zuzulassen, die nicht sowieso einen Passierschein haben. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber da war nichts zu machen. ›Unkalkulierbares Risiko‹, wenn ich so was schön höre! Und was ist mit unseren hehren Idealen? Die gelten offenbar nur für gute Zeiten.«
Sie schwiegen eine Weile. Vor Kurzem hatten sie hier noch vor allem Grillen und Vögel hören können. Jetzt war da ein ständiges Rauschen von den Baustellen überall und den vielen Menschen, die in den Straßen unterwegs waren.
»Karen, ich brauche deine Hilfe«, sagte Celie plötzlich. »Ich möchte Instrumente nach draußen schaffen, um die Kinder dort zu unterrichten.« Celie beugte sich vor. »Diese Kinder … sie brauchen etwas, das ihnen Spaß macht – trotz allem. Oder gerade deshalb. Ich möchte Musik mit ihnen machen. Nicht hier, wo keiner sie will, sondern da, wo sie jetzt leben.«
»Das ist eine wunderbare Idee. Und natürlich helfe ich dir. Ich weiß nur nicht …«
Karen runzelte nachdenklich die Stirn, aber dann schüttelte sie ihre Bedenken offenbar ab. »Wir machen es so: Ich stelle dir Passierscheine für die Stadt für jedes Kind aus, das du mir namentlich nennen kannst. Außerdem machst du mir eine Liste mit den Instrumenten, die du mit rausnehmen willst, und ich unterschreibe, dass du sie täglich von, sagen wir, 9 bis 17 Uhr aus der Stadt bringen darfst.«
»Und das geht einfach so?«, fragte Celie erstaunt.
Karen lächelte vor sich hin, sah aber nicht fröhlich dabei aus. »Zurzeit haben die Ratsmitglieder weitgehende Befugnisse. Ich bezweifle allerdings, dass er uns noch lange …« Sie setzte neu an: »Was ich sagen will: Nutze die Passierscheine möglichst ausgiebig, bevor sie widerrufen werden.«
»Aber …«
Karen nahm Celies Hand und hielt sie ganz fest. »Wenn es schlimmer wird – und das ist nur eine Frage der Zeit –, dann wird die Demokratie als Erstes auf der Strecke bleiben. Die alten Regeln werden nicht mehr lange gelten, und wer weiß, was dann passiert.«
Celie war entsetzt darüber, wie verzweifelt die alte Ärztin klang.
»Pass auf dich auf, Dawn. Bitte pass gut auf dich auf. Und benutze die Passierscheine nur so lange, wie … Achte auf die Durchsagen. Du wirst wissen, wann es so weit ist.«
Celie wollte noch so viel fragen, aber Karen schüttelte den Kopf.
Zusammen gingen sie ins Rathaus, wo Karen die Scheine ausstellte.
»Pass auf dich auf, Dawn«, sagte sie zum Schluss noch mal. Sie schien mit sich zu kämpfen, aber dann fügte sie hinzu: »Und halt dich von Jason fern. Ich weiß, er ist charmant und er interessiert sich für dich, und für ein Mädchen von siebzehn muss das sehr schmeichelhaft sein. Aber«, sie sah sich um, ob jemand in ihrer Nähe war, »er ist gefährlich. Trau ihm nicht.«
»Ich weiß«, sagte Celie.
Karen wirkte überrascht, doch dann nickte sie und umarmte Celie. Sie duftete nach Seife und Krankenhaus und Celie kamen die Tränen.
»Mach’s gut, Dawn«, sagte Karen.
»Ich heiße Celie«, sagte Celie.
Und als Karen zurück zum Krankenhaus eilte, klein und gebeugt, wusste Celie mit einem Mal, dass sie sie nicht wiedersehen würde.

Calais

Es war Ende September, als sie Calais erreichten. Die Luengo-Familie war noch vollzählig, bis auf die dreijährige Carlita. Sie war bei einem Überfall niedergetrampelt worden und zwei Tage später an ihren inneren Verletzungen gestorben. Sie hatten sie kurz vor Venlo am Straßenrand begraben und Feather hatte ein letztes Lied für sie gesungen. Danach hatte er die Gruppe bei Nacht und Nebel in Richtung Nijmegen verlassen.
Kurz zuvor schon hatte Frau Kanowski sich einer anderen Gruppe angeschlossen, die ins Ruhrgebiet unterwegs war. Und vor knapp zwei Wochen hatten sich die belgischen Klempner verabschiedet. Ruben hatte versucht, sie davon abzuhalten, und es war beinahe zu einem Kampf gekommen. Aber am Ende hatte er sie ziehen lassen. Doch damit war die Gruppe gefährlich klein geworden und so nahmen sie etwas später ein Ehepaar aus dem Norden auf. Sie waren Mitte dreißig und die Frau hatte früher mal geboxt – aber ein vollwertiger Ersatz für die Belgier waren sie nicht. Trotzdem hatte Ruben ihnen erlaubt, sich ihnen anzuschließen, was zeigte, wie verzweifelt ihre Lage war. Seitdem bestand die Gruppe aus dem Ehepaar, vier Kindern, Ruben, Alex, Bernie, der Maklerin Lila und zwei Onkeln von Ruben.
Von dem Zeitpunkt an, als die Belgier weg waren, hatten sie mehr Glück als Verstand gehabt. Einmal hatte die Tarnplane ihnen das Leben gerettet, als sie bei einem Abstecher in einen Wald von einer Horde Jugendlicher mit Armeegewehren eingekreist worden waren. Im dämmrigen Licht hatte die Plane ausgereicht, um sie vor den Verfolgern zu verstecken. Ansonsten bauten sie auf die abschreckende Wirkung von Ruben, der mit seiner wilden Mähne, seinen Tätowierungen und einer Lederjacke voller Nieten, die er irgendwo gestohlen hatte, inzwischen aussah wie ein Rocker aus der Hölle. Die Messer, die er ebenso wie die anderen Erwachsenen offen zur Schau trug, taten ein Übriges. Trotzdem waren sie zweimal angegriffen worden, hatten die Angreifer aber zurückschlagen können. Alex hatte bei den Kämpfen Blut und Wasser geschwitzt. Das Leben auf der Autobahn mit all den Toten und all dem Leid hatte ihn zwar abgestumpft, aber mit dem Wissen, dass er jemanden umgebracht hatte, konnte er nicht leben, das wusste er. So gut es ging, verdrängte er, dass er gar nicht sicher wusste, ob er nicht doch vielleicht jemanden getötet hatte, beim Kampf um die Zivile Notfallreserve.
Die vielen Verluste der letzten Zeit schienen Ruben müde gemacht zu haben. Obwohl er mit Alex und Bernie den Arzt und den Techniker verlor, war er bereit, sie gehen zu lassen. Allerdings musste Alex Lila vorher einen Großteil seiner Arzneien mit genauen Anweisungen übergeben und an Bernies Werkzeug bediente Ruben sich ebenfalls. Den Roachy ließ er Bernie nur deshalb, weil der keinem anderen folgte und auch niemand außer Bernie wusste, wie man ihn reparierte.
Wie immer, wenn jemand die Gruppe offiziell verließ und nicht heimlich abhaute, tauschte man Heimatadressen aus. Es war ein Ritual der Hoffnung, dass alle überlebten und dass die Welt irgendwann wieder ins Lot kam. Dasselbe galt für den Abschiedssatz: »Man sieht sich.«
Bernie schenkte Carmen einen kaputten akustischen Sensor des Roachys als Erinnerung und bekam dafür eine dicke Umarmung. Zu Alex’ Verblüffung nahm Ruben ihn kurz vor ihrem Aufbruch beiseite und steckte ihm eines seiner Messer in die Tasche. »Und benutz es gefälligst, wenn es nötig ist«, knurrte er. Er drehte sich um und gab seiner Gruppe ein Zeichen. »Man sieht sich!«, sagten alle, dann ging die Luengo-Gruppe weiter.
Eine Weile sahen Alex und Bernie den Menschen noch nach, mit denen sie fast zwei Monate lang alles geteilt hatten. Schließlich holte Bernie tief Luft und sagte: »Na, dann los. Celie wartet.«
»Hoffentlich«, sagte Alex.
Die Gerüchte, die sie über Calais gehört hatten, waren noch untertrieben gewesen. Hunderte Menschen warteten hier, um einen Platz auf einem der wenigen Schiffe und Boote zu ergattern, die zwischen Calais, England und Irland noch verkehrten. Wie Alex und Bernie erfuhren, waren manche schon seit Wochen hier und lebten in Zelten oder provisorischen Hütten, inmitten von Abfall und Dreck. Der Gestank war so entsetzlich, dass er den beiden die Tränen in die Augen trieb, obwohl sie von der Autobahn einiges gewohnt waren. Aber die Toiletten, die hier vor Wochen aufgestellt worden waren, waren längst übergelaufen und die meisten machten seither einfach ins Meer.
Alex und Bernie redeten mit einigen Leuten und erfuhren, dass die Preise für eine Überfahrt inzwischen unglaublich gestiegen waren. Nur wer hochwertige Elektronik oder Akkus zu bieten hatte, hatte eine Chance, mitgenommen zu werden.
Bernie beschloss schweren Herzens, den Roachy gegen eine Überfahrt nach Dublin einzutauschen. Aber keiner der Kapitäne hatte Interesse.
»Was soll isch denn auf meine Boot mit eine Robot, eh?«, brachte einer es auf den Punkt. »Vielleischt Algen ernten? Und wer macht die Robot ganz? Solsche Robot gehen doch immersu kaputt, n’est-ce pas?«
»Ich glaube, das war’s«, sagte Bernie, als sie es bei jedem einzelnen Schiff und jedem Boot versucht hatten. »Wenn wir nicht schwimmen, kommen wir wohl nicht rüber.«
Alex antwortete nicht, sondern fingerte gedankenverloren an seinem Shirt herum. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Ich hab da noch was.« Er hielt Bernie Celies Kette vor die Nase.
»Ist das die, die du in Barcelona gekauft hast?«, fragte Bernie.
Alex nickte.
»Dann wirst du sie nicht eintauschen.«
»Aber wenn wir doch nichts anderes haben …«
»Wir finden was«, sagte Bernie. »Zwei so cleveren Jungs wie uns wird doch wohl noch was einfallen, wie wir übers Meer kommen können!«
»Lass uns erst mal hier verschwinden«, sagte Alex. Er packte Bernie am Ärmel und zog ihn mit sich.
»Was ist denn los?«
»Wir müssen hier weg!«
Alex zerrte Bernie in Richtung Stadt, fort vom Hafen und vom Strand.
»Na, hier werden wir wohl nirgendwo ein Boot finden«, sagte Bernie.
»Dafür bleiben wir aber vielleicht am Leben«, erwiderte Alex.
»Wie meinst du das?«
»Hast du den Mann gesehen, der am Hafen vor dem Fass saß und sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat?«
Bernie nickte.
»Er war nicht der Einzige«, sagte Alex. »Und ich wette, da gibt’s auch jede Menge Leute mit Durchfall.«
»Das ist zwar übel«, sagte Bernie, »aber doch kein Grund zur Panik, oder?«
»Doch«, sagte Alex. »Schwester Susmita hat uns davor gewarnt. Das ist die Cholera. Extrem ansteckend.«
»Tamade!«, sagte Bernie.
»Du sagst es.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Dann sagte Alex: »Wir gehen einfach so lange am Meer entlang, bis wir jemanden mit einem Boot finden. Vielleicht braucht jemand aus seiner Familie ärztliche Hilfe und er leiht es uns dafür.«
»Oder vielleicht kann ich irgendwas Elektrisches reparieren«, meinte Bernie.
Sie sahen sich zweifelnd an. Dann grinste Alex plötzlich. »Oder eine Meerjungfrau steigt plötzlich aus dem Wasser und offenbart uns, dass wir drei Wünsche frei haben«, sagte er. »Ist vermutlich genauso wahrscheinlich.«
Bernie begann zu kichern und konnte nicht mehr aufhören, bis er Alex ebenfalls angesteckt hatte. Sie steigerten sich in einen hysterischen Lachanfall hinein, während sie durch die Straßen von Calais gingen und alle paar Meter sagte einer von ihnen: »Meerjungfrau!« oder »Ich wünsch mir als Erstes … eine Dusche!« oder »Hoffentlich spricht die nicht nur Ozeanisch!«, und dann schütteten sie sich aus vor Lachen.
Auf ihrem Weg trafen sie fast niemanden, weil Calais sich – wie jede Stadt ohne Wasser – in eine stinkende, nur noch von Ratten bevölkerte Geisterstadt voller verbrannter Ruinen verwandelt hatte. Menschen konnten hier nicht mehr leben, aber die Ratten fanden trotzdem etwas zu fressen. Alex wollte lieber nicht wissen, was.
Am gespenstischsten aber war, dass die Menschen die Stadt zwar verlassen hatten, die meisten ihrer Besitztümer aber immer noch da waren. Außer Wasser, Essensvorräten, Schmuck und Akkus konnte man hier nahezu alles finden: Die Häuser, die nicht verbrannt waren, waren voller Möbel, Kleidung, elektronischer Geräte, Bilder, Spielzeug … Viele Zimmer sahen aus, als wären ihre Bewohner nur kurz weggegangen. Aber es war unwahrscheinlich, dass irgendjemand so bald zurückkehrte.
Alex und Bernie schauten sich nur in Häusern um, aus denen ihnen kein allzu schlimmer Gestank entgegenkam. Es wurde abends inzwischen schon empfindlich kalt, darum suchten sie so lange, bis jeder von ihnen passende warme Kleidung und einen leichten Schlafsack mit Nanobeschichtung hatte.
Danach beeilten sie sich, so schnell wie möglich aus der Geisterstadt herauszukommen. Aber es dauerte Stunden, weil sie zwischen den Ruinen und Trümmern nur langsam vorankamen. Als sie endlich freies Gelände erreichten, kam es Alex vor, als hätte er die ganze Zeit über die Schultern hochgezogen und die Augen auf den Boden gerichtet gehabt.
»Lass uns noch ein Stück weitergehen, bis ans Meer«, schlug Bernie müde vor. »Wenn ich schon mit leerem Magen schlafen muss, dann möchte ich wenigstens vorher mal wieder baden.«
Als sie den Strand erreichten, war es dunkel und schon zu kalt zum Baden. Sie kamen sich vor, als wären sie auf einem menschenleeren, aber ziemlich windigen fremden Planeten gelandet. Soweit sie das im Licht des Mondes erkennen konnten, gab es hier nichts: keine Häuser, keine Boote und keine Menschen. Ein paar verfallene Hütten waren da, die eine kräftige Brise jederzeit umwerfen konnte. Ansonsten deuteten nur der angeschwemmte Abfall und die Kothaufen im Sand darauf hin, dass auf diesem Planeten irgendwo Menschen lebten.
Bernie und Alex legten sich hinter einer Mauer, wo es windstill war, unter dem Roachy zum Schlafen hin. Sie krochen in ihre neuen Schlafsäcke und deckten den Roachy mit der Tarnplane ab.
»Morgen finden wir ein Boot«, sagte Bernie schläfrig. »Wirst schon sehen.«
»Klar, Mann«, sagte Alex und umklammerte Celies Kette.
Heute Nacht gehörte sie noch ihm.