Kapitel 9
Aus Jennas Tagebuch:
19. Juli 2024
Celie ist ganz aufgedreht seit unserem
Spielplatzbesuch in Köln. Sie redet die ganze Zeit von ihrem neuen
Freund Alex. Offenbar hat sie ihn ebenso beeindruckt wie er sie,
denn eben kam seine Mutter mit ihm vorbei. Sie wollte wissen, in
welchen Kindergarten Celie geht, weil Alex unbedingt auch dorthin
will.
Die beiden haben im Garten gespielt, während
Alex’ Mutter und ich Tee getrunken haben. Sie war mir so dankbar,
dass es mir schon fast peinlich war! Nicht wegen des Kindergartens,
sondern weil Alex durch die Tore seinen Vater zurückbekommen hat.
Offenbar haben die Eltern sich vor einem Jahr getrennt. Alex’ Vater
musste aus beruflichen Gründen nach Frankreich ziehen und hat
seinen Sohn deshalb kaum noch gesehen. Alex hat wohl sehr darunter
gelitten. Aber jetzt hat er seinen Vater wieder: Jeden Abend beamt
er nach Köln, bringt seinen Sohn zu Bett und liest ihm wie früher
etwas vor.
Zum ersten Mal begreife ich wirklich, wie
unsere Erfindung das Leben der Menschen verändert. Ich wünschte,
Felix würde mir zuhören. Aber er hat überhaupt nicht reagiert, als
ich ihm von Alex und seinem Vater erzählt habe. Und das macht mir
wirklich Sorgen, denn für Celie und alles, was mit ihr zu tun hat,
hat er bislang immer Interesse aufgebracht, auch in seinen
schlimmsten Phasen.
Celie liebt Felix über alles. So sehr, dass sie
sich immer mehr von mir abwendet. Zumindest habe ich den
Eindruck – oder ist das nur ein Gedanke, den mir meine
Schuldgefühle einflüstern? Sicher ist aber, dass ich mich mehr um
Celie kümmern und weniger Zeit im Labor verbringen sollte. Doch wie
soll ich das machen?
Damit ich dort zumindest irgendetwas von ihr um
mich habe, habe ich vor einer Woche den unförmigen, schreiend
bunten Tonaschenbecher auf dem Akkuschrank aufgestellt, den Celie
im Kindergarten gebastelt hat. Ich muss immer lachen, wenn ich ihn
ansehe. Oder weinen.
Irland, Mobilen-Kommune
»Wenn du das am Sonntag so hinbekommst«,
sagte Pietro zu seinem Klavierschüler, »dann werden die Mädchen
wohl gar nicht anders können, als dir ihre Kuscheltiere zuzuwerfen
und die Bühne zu stürmen.« Der Siebenjährige kicherte.
Seit Jason das geplante Konzert öffentlich
angekündigt und der Rat offiziell verboten hatte, dass Kinder auf
den Feldern arbeiteten, war in der Musikschule die Hölle los. In
jedem Raum, in jeder freien Ecke wurde geprobt. Sogar im
Pausenraum, in dem jeden Morgen die Sonderrationen für die Kinder
angeliefert wurden, war es voll: Heute spielte eine Band und vor
einem Fenster stand ein Mädchen mit Kopfhörern, das verbissen in
seine Querflöte blies.
Celie sah Eliza ratlos an. »Ich habe keine
Ahnung, wo wir hier in Ruhe Klarinette spielen sollen«, sagte
sie.
»Wir könnten doch woandershin gehen«, sagte
Eliza. »Ich weiß was.« Sie packte Celies Hand und zog sie aus dem
Gebäude auf die Straße.
»Wo willst du denn hin?«, rief Celie, um den
Lärm zu übertönen, den die Baustelle des neuen Algentanks in der
Hanson Road verursachte. Aber Eliza hatte
sie entweder nicht gehört, oder sie wollte nicht antworten.
In den Straßen wimmelte es von Menschen. Aber
anders als noch vor wenigen Tagen wirkten sie nun nicht mehr
ängstlich und bedrückt – sie schienen ein Ziel zu haben.
Das lag natürlich vor allem daran, dass in der
Stadt neben den ursprünglichen Bewohnern nur noch Flüchtlinge
geduldet wurden, die entweder Bauarbeiten an den neuen Algentanks
und Energiezentren durchführten oder für die Stadt wertvolle
Qualifikationen mitbrachten. Welche das waren, konnte man draußen
an den Screens der Stadttore jeden Tag nachlesen: Ärzte, Experten
für Energiespeicherung, Energieingenieure, Agrarwissenschaftler,
Architekten und Krankenschwestern waren zurzeit besonders
gefragt.
Wer durch dieses Raster fiel, arbeitete
entweder draußen am Aufbau der Neustadt mit oder wurde für einen
der Erntetrupps eingeteilt. Die Wanderarbeiter zogen durch das
gesamte Gebiet von hier bis Dublin, um die Ernte einzubringen. Denn
die meisten landwirtschaftlichen Betriebe waren inzwischen
verwaist: Kaum ein Bauer hatte beim Zusammenbruch genügend
Solarzellen oder gar eine Notstromversorgung gehabt, um danach
seine Traktoren noch einsetzen zu können. Von den Roachys ganz zu
schweigen, die ohne Wartung schnell ihren Geist aufgaben.
Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, in
der Stadt zu arbeiten. Eine, bei der man besondere Vergünstigungen
bekam und jeden Tag etwas mehr Macht. Eine, die darum bei den
Flüchtlingen begehrter war als jeder andere Job: die Security. Die
in einem Crashkurs ausgebildeten neuen Polizisten waren überall und
kontrollierten jeden, der die Stadt verließ oder betreten wollte.
Sobald es das geringste Anzeichen von Ärger oder Streit gab, waren
sofort mehrere von ihnen da, um einzugreifen.
Am Tag zuvor hatte Olle Celie erzählt,
dass es in letzter Zeit mehrere Übergriffe und unberechtigte
Festnahmen durch Polizisten gegeben hatte. Dass die Nachrichten
nichts davon brachten, war für ihn nur ein Beweis mehr dafür, dass
die Kommune sich allmählich zu einem Polizeistaat
entwickelte.
»Wenn die Medien erst kontrolliert werden, sind
wir alle am Arsch«, hatte er düster gesagt und seine blonden
Dreadlocks geschüttelt. »Nicht nur die Flüchtlinge da
draußen.«
Celie und er waren allein in der Stadthalle, wo
Olle die Screen-Show für das Konzert programmierte. Celie hatte es
inzwischen aufgegeben, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie musste
zugeben, sie mochte ihn, und abgesehen davon ließ er sich einfach
nicht abschütteln. Sobald er von dem Konzert gehört hatte, hatte er
auch schon seine Hilfe bei der Programmierung der Lightshow
angeboten.
»So weit ist es noch nicht«, sagte Celie. Seit
sie das Konzert vorbereitete, sah sie alles anders, leichter.
Wahrscheinlich war das unvernünftig, aber sie konnte nichts dagegen
tun. Zumindest tagsüber. Die Abende waren eine andere
Geschichte.
Olle runzelte die Stirn. »Aber bald, wenn wir
nichts unternehmen. Und dieser Bürgermeister wird mir auch immer
unheimlicher. Der Rat wird mit jeder neuen Zwangsmaßnahme, die er
beschließt, unbeliebter. Und Conor und sein Sonderkommando sind
schon fast so gefürchtet wie die Gestapo früher bei den Nazis. Aber
Jasons Image leidet unter alldem überhaupt nicht. Im Gegenteil:
Ständig sieht man ihn irgendwo mit hochgekrempelten Ärmeln
rumstehen, wo er sich die Sorgen der Menschen anhört und selbst
anpackt. Für die unangenehmen Aufgaben hat er ja Conor.«
»Ein teragruseliger Typ …«, murmelte Celie
in Gedanken an ihr Treffen bei Jason.
»Jason finde ich viel gruseliger. Der steckt
doch hinter allem, was Conor tut. Würde mich nicht wundern, wenn
die Gerüchte stimmen, dass es schon geheime Folterkeller gibt.«
Olle schüttelte sich. »Aber Jason steht da wie ein strahlender
Retter in der Not. Sogar die da draußen lieben ihn.«
»Die da draußen?«, sagte Celie.
»Sorry«, sagte Olle. »Wir sind natürlich alle
eins, gehören zusammen und so weiter.« Er drückte eine Taste und
die Wände der Halle verwandelten sich in einen belebten Dschungel
mit Vogelschreien und fallenden Regentropfen.
»Das meine ich ernst«, betonte er.
»Weiß ich doch«, sagte Celie.
»Nur falls du dich bei Jason mal über mich
beschweren willst«, fügte Olle hinzu.
»Wie bitte?«
Er zuckte die Achseln. »Nicht böse gemeint. Ich
hab nur gehört, dass du neulich abends bei ihm gewesen sein sollst.
Ist sicher auch nur so ein Gerücht.«
»Nein, es stimmt schon«, sagte Celie
verlegen.
Olle musterte sie. »Und was ist das jetzt mit
euch?«
»Ich war bei ihm, um ihm dieses Konzert
vorzuschlagen.« Das war eine Lüge. Aber irgendwie auch nicht. Warum
sie ursprünglich zu Jason gegangen war, das würde sie Olle
jedenfalls nicht auf die Nase binden. Er würde das nur falsch
verstehen.
»Damit die Kinder mal wieder was haben, worauf
sie sich freuen können. Und die Erwachsenen auch. Ich dachte
einfach, bevor ich einen Termin im Rat bekomme, versuch ich’s
lieber direkt beim Oberboss.«
Olle grinste. »Gut gemacht, Prinzessin! Pass
nur ein bisschen auf, dass das niemand in den falschen Hals
bekommt. Und wenn der Kerl frech wird, sag mir Bescheid!«
»Mach ich«, sagte Celie lachend.
Eliza hatte sie bis zum Westtor der Stadt
geführt und sah Celie jetzt herausfordernd an.
»Du willst, dass wir da draußen üben?«, fragte
Celie ungläubig.
»Genau.«
»Aber …« Die da
draußen sind zu gefährlich, dachte sie und im selben Moment
schämte sie sich dafür. »Die da draußen« waren ganz normale
Menschen. Es ging ihnen schlechter als denen in der Stadt, und
manche stahlen und beteiligten sich an Überfällen. Aber die meisten
von ihnen arbeiteten wahrscheinlich hart für eine bessere Zukunft,
nachdem sie fast alles verloren hatten.
Celie fasste Elizas Hand und trat auf die
Polizisten zu, die das Tor sicherten.
»Okay, gehen wir.«
Eliza überraschte Celie noch einmal, als sie
auch vor den Toren der Stadt zielsicher weiterging. Sie verriet
Celie nicht, wohin sie wollte, also folgte Celie ihr einfach.
Sie gingen an Baustellen, neuen Strommasten und
Wasserleitungen vorbei, ließen zwei Kartoffelfelder links liegen,
passierten eine Ansammlung von etwa fünfzehn alten Armee-Cubes, in
denen viel zu viele Menschen untergebracht waren, überschritten die
Linie, wo der neue Elektrozaun gebaut wurde, und gelangten nach
einer halben Stunde schließlich über einen Hügel zur Küste.
Als Celie das Meer sah, aus dem unzählige
Windräder ragten, wurde ihr plötzlich bewusst, wie lange sie schon
nicht mehr schwimmen gewesen war. Oder tauchen. Oder reiten. Oder
grassboarden. Sie atmete die Seeluft tief ein und ließ sich von
Eliza weiterziehen. Schließlich erreichten sie den Strand. Zwei
Zelte standen dort. Vor dem einen saß ein alter Mann und bastelte
an einer Angel.
»Sean, ich bin’s!«, rief Eliza und lief auf das
andere Zelt zu. Ein schlaksiger Junge kam heraus. Staunend sah
Celie, wie Eliza ein riesiges belegtes Baguette aus ihrem kleinen
Rucksack zog und es dem Jungen in die Hand drückte. Er biss schon
hinein, während Eliza noch einen Apfel und eine Flasche Limo
auspackte. Dann winkte sie Celie.
»Das ist Dawn und das ist Sean«, stellte Eliza
die beiden vor. Sean nickte mit vollem Mund.
»Sean kann teragut Mundharmonika spielen,
richtig professorell«, sagte Eliza.
Es dauerte einen Augenblick, bis Celie
verstand.
»Wenn ich dich nicht hätte«, sagte sie
dann.
»Dann hättest du weniger Probleme, stimmt’s?«
Eliza kicherte. »Das sagt zumindest meine Mom immer.«
Die beiden hockten sich zu Sean in den
Sand.
»Hättest du Lust, bei einem Konzert in der
Stadt mitzumachen?«, fragte Celie.
Sean verschluckte sich und prustete Brotkrümel
in alle Richtungen.
»Ich nehme das mal als ein Ja«, sagte Celie.
Und fragte sich im selben Augenblick, ob sie da nicht zu viel
versprach. Schließlich musste sie dem Jungen für das Konzert eine
Ausnahmegenehmigung zum Betreten der Stadt besorgen.
Flüchtlingskindern war der Zutritt generell verboten, weil sie
natürlich keine »wertvollen Qualifikationen« mitbrachten.
Stimmen wehten über den Strand herüber und kurz
darauf standen vier weitere Kinder um sie herum.
»Das ist Nina, sie hat schon drei Jahre lang
Klavierunterricht gehabt bei einem Konzern…piano…nisten«, stellte
Eliza ein dünnes Mädchen von vielleicht neun Jahren vor. »Jetzt
kann sie natürlich nicht üben, hier gibt’s ja kein Klavier. Und das
ist Seans Bruder Timothy …«
Den Rückweg zur Stadt legten sie
schweigend zurück.
Celie grübelte. Sollte sie versuchen, den
Flüchtlingskindern freien Zugang zur Stadt und zur Musikschule zu
verschaffen? Oder war es besser, sie direkt hier draußen zu
unterrichten, wo sie lebten? Was würde der Rat wohl eher
genehmigen?
Und was sollte sie tun, wenn sie es gar nicht
erlaubten? Sie hatte den Kindern ja schon versprochen, dass sie
Musikunterricht bekommen würden und vielleicht sogar beim Konzert
mitmachen durften! Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Wenn es
nicht klappte …
Notfalls musste sie zu Jason gehen. Auch wenn
sie sich nach dem Besuch bei ihm geschworen hatte, nie wieder etwas
zu tun, was ihm Hoffnungen machen könnte.
Sie überlegte, wann das erotische Kribbeln, das
Jason in ihr ausgelöst hatte, verschwunden war. Wahrscheinlich an
dem Abend neulich. Nach Conors Erscheinen war bei ihr nur ein
Gefühl drohender Gefahr geblieben. Celie war nicht sicher, warum
das so war. Doch auf ihren »Gefahren-Sensor« konnte sie sich
hundertprozentig verlassen. Er hatte ihr in den letzten Jahren
mindestens einmal das Leben gerettet. Als sie nach dem Tod ihres
Dads mit Typen rumgezogen war, die sie ziemlich übel behandelt
hatten. Als sie an Orte gebeamt hatte, die für junge Mädchen
tödlich sein konnten. Klar, sie hatte damals natürlich nicht nur
ihren Instinkt gehabt, sondern auch viel Glück – und Alex.
Jetzt musste sie ganz allein auf sich selbst aufpassen.
Nein, sie würde auf keinen Fall zu Jason gehen.
Stattdessen würde sie Karen um Hilfe bitten. Die Ärztin mochte
Celie, sie würde sich ganz bestimmt für sie und die
Flüchtlingskinder einsetzen. Und wenn das nicht funktionierte,
konnte sie sich immer noch etwas anderes überlegen.
»Bist du böse auf mich?«, fragte Eliza
zaghaft.
Celie wuschelte ihr durchs Haar. »Aber nein!
Ich bin froh, dass du mich hierhergebracht hast. Du bist ein echter
kleiner Engel, weißt du das?«
»Sag das mal Mom.« Eliza verdrehte theatralisch
die Augen. »Wenn sie rausfindet, dass ich draußen war …«
»Von mir erfährt sie nichts«, versprach Celie
und legte einen Finger an die Lippen.
Wegen ihres Ausflugs war Eliza spät dran.
Brigid hatte schon Feierabend und die Ausgangssperre stand kurz
bevor. Darum brachte Celie Eliza schnell nach Hause. Doch als sie
dort ankamen, war Brigid nicht da.
»Sie kommt sonst immer um sechs.« Eliza
runzelte die Stirn.
»Irgendwas wird sie aufgehalten haben. Mach dir
keine Sorgen«, sagte Celie.
Unschlüssig standen sie in dem kleinen Flur
herum. Celie beschloss, schnell zur Gemeinschaftsküche zu laufen,
in der Brigid arbeitete. In der Zwischenzeit blieb Eliza bei den
Nachbarn.
Es war noch hell, aber wegen der baldigen
Ausgangssperre war es jetzt besonders voll und hektisch auf den
Straßen. Mit den Bikes kam man kaum noch durch, die meisten
Menschen gingen zu Fuß nach Hause und vor den Toren warteten
endlose Schlangen.
Als Celie die Gemeinschaftsküche erreichte, war
die Tür bereits geschlossen. Sie klopfte vergeblich, dann ging sie
um das Gebäude herum. Dahinter war ein kleiner Garten, in dem
inzwischen – wie auf jeder freien Fläche – Kartoffeln,
Salat und Tomaten angebaut wurden. Celie schlängelte sich durch die
Beete zu einer der großen Fenstertüren, die einen Spalt offen
stand.
Dahinter sah sie zwei Schemen. Der eine war
vermutlich Brigid und vor ihr stand … War das Conor?
Instinktiv duckte sich Celie, schlich zur Seite
des Hauses und drückte sich dort an die Wand. Erst als sie um die
Ecke lugte, wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte, und ihr
Herzschlag setzte aus. Es war nicht Conor, der da drohend
vorgebeugt vor der geduckten Brigid stand und auf sie einredete. Es
war Jason. Und Brigid hatte offensichtlich Angst vor ihm. Celie
streckte den Kopf noch etwas weiter vor, bis sie durch den
Fensterspalt etwas hören konnte.
»… habe viel Geduld mit dir gehabt, aber
jetzt bist du zu weit gegangen«, sagte Jason hitzig. »Du wirst sie
in Zukunft in Ruhe lassen! Und wenn mir jemals wieder so ein
widerliches Gerücht zu Ohren kommt, werde ich dich persönlich zur
Verantwortung ziehen. Haben wir uns verstanden?«
Brigid warf trotzig den Kopf zurück. Celie
konnte nicht anders, als ihren Mut zu bewundern.
»Ich lass sie in Ruhe. Aber du kannst mich
nicht für jedes Gerücht verantwortlich machen, das aufkommt. Dafür
müsstest du dich von dem Mädchen erst mal fernhalten.«
Celie begriff erst, dass Jason Brigid
tatsächlich ins Gesicht geschlagen hatte, als Brigid sich
zusammenkrümmte.
»Bist du jetzt total loco?«, schrie sie und
hielt sich die Wange.
Jason packte ihre Arme und riss sie hoch. Dann,
ganz plötzlich, beruhigte er sich. Er holte zwei Stühle, ließ
Brigid auf einem Platz nehmen und setzte sich ihr gegenüber. Brigid
verschränkte die Arme und lehnte sich so weit zurück, wie es
ging.
»Reden wir mal wie zwei vernünftige Menschen«,
sagte Jason. »Du weißt etwas über mich, und du glaubst, das gibt
dir Macht über mich. Aber du solltest bedenken, was ich über dich weiß.«
»Ist kein Geheimnis, dass ich eine Outlaw bin«,
presste Brigid hervor.
Jason lächelte sein jungenhaftes Lächeln, doch
diesmal lief es Celie dabei kalt den Rücken hinunter. »Aber wissen
sie auch, warum du gesperrt worden bist?«, fragte er.
Brigid starrte ihn mit offenem Mund an. Celie
konnte die Qual in ihren Augen sehen.
Jason seufzte. »Eine schlimme Geschichte, das
mit deinem Mann. Sicher, er war ein Schwein, er hat dich betrogen
und geschlagen. Du konntest gar nicht anders, werden die meisten
wohl sagen, wenn sie es erfahren. Allerdings …«
Er stand auf und begann um Brigids Stuhl
herumzugehen.
»… allerdings bin ich nicht sicher, wie
Eliza die Sache aufnehmen wird.«
»Das würdest du nicht …« Brigids Stimme
zitterte.
»Nur wenn du mich zwingst, Brigid«, sagte
Jason. »Was würde deine Tochter wohl dazu sagen, dass ihre Mom
ihren Dad umgebracht hat? Mit einem Küchenmesser erstochen, als er
friedlich mit einer Flasche Bier vor dem Holo-Vid saß?«
Brigid sprang auf. »Das Schwein hat
mich …«, sie schluchzte, »… er hat gedroht, er würde
Eliza …, da musste ich doch …« Sie schlug die Hände vors
Gesicht.
Jason legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Jeder Außenstehende, der nicht gehört hatte, was er eben gesagt
hatte, hätte es für eine Geste des Mitgefühls gehalten.
»Natürlich musstest du«, sagte er sanft. »Aber
deine Tochter wird das nicht verstehen, weißt du? Sie wird nur
sehen, dass du ihren Dad ermordet hast. – Aber so weit muss es
ja nicht kommen«, fuhr er nach einer Pause fort. »Wir verstehen
uns?«
Brigid sah zu Boden und nickte.
»Du wirst Dawn mit Respekt behandeln und nie
wieder irgendetwas Dummes über sie und mich sagen?«
Brigid nickte wieder.
»Gut«, sagte Jason. »Dann geh jetzt nach Hause
zu deiner Tochter. Sie wartet sicher schon auf ihre liebe
Mom.«
Brigid stürmte zur Vordertür.
Celie blieb wie vom Donner gerührt stehen. Ihr
Instinkt hatte sie nicht getrogen: Es gab einen gefährlichen Mann
hier. Brandgefährlich. Aber wie Olle gesagt hatte: Es war nicht
Conor. Es war der junge, engagierte, charismatische Politiker, zu
dem die Menschen aufsahen. Dem sie vertrauten. Der Mann, der zu
Conor gesagt hatte: »Tu, was nötig ist.«
Warum hatte Jason nicht Conor geschickt, um
diese ängstliche Frau zu erpressen und ihr mit dem Schlimmsten zu
drohen, was man sich vorstellen konnte?
Wegen Celie. Er hatte es wegen ihr getan.
Celie wusste nicht, was ihr mehr Angst machte:
dass Jason sie wollte – oder dass er vielleicht noch andere
Gründe haben könnte, sich selbst die Finger schmutzig zu machen, um
Celie auf diese drastische Weise zu schützen.
Und noch etwas ging ihr nicht mehr aus dem
Kopf: Woher wusste Jason das alles über Brigid? Und was war es, was
Brigid über ihn wusste?
Mitte September zeigte sich der irische
Herbst von seiner freundlichen Seite. Aber Celie konnte die warmen
Tage nicht genießen. Die Sache mit Brigid ließ sie nicht los.
Was verbarg sich noch alles hinter Jasons Maske
des vertrauenswürdigen Retters in der Not? Und wie konnte sie mehr
über ihn herausfinden, ohne Jason selbst oder Conor sofort
aufzufallen? Da war es wieder, ihr altes Problem: Sie musste ihre
wahre Identität geheim halten und zugleich hatte der Bürgermeister
der Kommune ein ungesundes Interesse an ihr entwickelt. Wenn sie
nicht teravorsichtig war, bekam er es mit, wenn sie nachforschte.
Vielleicht hatte er Conor ja auch schon darauf angesetzt, sie im
Auge zu behalten? Aber sie konnte auch nicht so tun, als wäre
nichts passiert. Sie hatte Jason mit Brigid erlebt, und dort hatte
er ein ganz anderes Gesicht gezeigt als das, das alle von ihm
kannten. Er war gefährlich, das wusste sie jetzt und alle anderen
mussten das auch erfahren.
Auf diese Weise hatte Celie sich tagelang im
Kreis gedreht, bis ihr eine Lösung einfiel. Doch die hatte einen
großen Haken und deshalb hatte sie sie bis zu diesem Tag vor sich
hergeschoben. Aber sosehr sie auch nachdachte, sie kam immer wieder
zu demselben Ergebnis: Sie musste Olle um Hilfe bitten. Auch wenn
sie wusste, dass sie ihn dadurch in Schwierigkeiten bringen konnte.
Olle hatte Zugang zu den Computern der Stadt und er wollte
ebenfalls etwas gegen Jason unternehmen. Sie würde ihn einfach
fragen und dann konnte er immer noch Nein sagen.
Als Celie vor die Tür trat, blieb sie
verwundert stehen. Die Straße war voller Leute, bestimmt die Hälfte
von ihnen von der Security. Und alle standen wie angewurzelt vor
den Fassaden-Screens, auf denen überall derselbe Film lief.
Das heißt: Es war eigentlich nur ein einziges
Bild, das neben dem Kopf des Nachrichtensprechers zu sehen war, der
sichtlich um Fassung rang. Vier Jungen, fünfzehn oder sechzehn
Jahre alt. Aber das erkannte man erst auf den zweiten Blick, weil
sie so verschlungen übereinanderlagen. Und wegen des vielen Blutes,
das aus Hunderten Wunden in ihren Körpern floss.
»Die Identität der Toten konnte bislang nicht
geklärt werden«, sagte der Nachrichtensprecher mit rauer Stimme.
»Und auch die Todesursache steht noch nicht endgültig fest.«
Er wandte sich an die Frau neben ihm. Celie
erkannte die Polizeichefin.
»Ms Carter, was wissen Sie bislang über diesen
grauenhaften Mord an den vier Jugendlichen?«
Die Polizeichefin blickte grimmig. »Die
Mordwaffen scheinen unzählige nadelartige Geschosse gewesen zu
sein, die die Jungen förmlich … perforiert haben. Wir haben
sie allerdings nicht in den Opfern gefunden. Die Spurensuche ist
noch vor Ort.«
»Gibt es Hinweise auf den oder die Täter? Oder
auf ein Motiv?«, fragte der Nachrichtensprecher nach.
Die Polizeichefin sah ihn unschlüssig und
wütend zugleich an. »Nein. Wir verfolgen einige Spuren, haben
bislang aber noch keine konkreten Erkenntnisse. Fest steht nur,
dass die Jungen außerhalb der Neustadt gefunden wurden, mitten im
Nirgendwo. Was sie dort gesucht haben …«, sie hob hilflos die
Arme, nahm sie dann aber schnell wieder herunter, »… das wissen wir
zurzeit noch nicht.«
Sie drehte sich zur Kamera.
»Wir bitten alle, uns bei der Aufklärung zu
helfen. Wer einen der Jungen erkennt, meldet sich bitte sofort bei
der nächsten Polizeikraft. Und wer irgendetwas weiß oder beobachtet
hat, das zur Aufklärung beitragen könnte, meldet sich bitte
ebenfalls.« Sie machte eine Pause. Was sie nun zu sagen hatte, fiel
ihr sichtlich schwer. »Darüber hinaus hat Bürgermeister Chambers
persönlich eine Belohnung in Form einer fünftägigen
Lebensmittelsonderration ausgesetzt für den, der uns den
entscheidenden Hinweis auf den oder die Täter oder die Hintergründe
der Tat liefern kann.«
»Danke, Ms Carter«, sagte der
Nachrichtensprecher. »Und nun zu den neuesten Anordnungen des
Rates: Ab sofort gilt die Ausgangssperre bereits ab 17 Uhr.
Alle Neustädter haben die Kommune bis 17 Uhr zu verlassen,
sofern sie keine Sondergenehmigung haben. Die Stadtbeleuchtung, die
Fassaden-Screens und jede andere nicht notwendige Einrichtung, die
Energie verbraucht, werden von 22 bis 6 Uhr abgestellt.
Bewohner, die nicht in Plus-Energie-Häusern wohnen, melden sich
wegen der Energiezuteilung bitte bei der zuständigen
Ratsstelle.«
Jemand reichte ihm ein Blatt Papier. Er riss
die Augen auf und las vor: »Außerdem, erfahren wir soeben, werden
heute und morgen sämtliche privaten Handys eingezogen. Das
Mobilnetz der Stadt steht ab sofort nur noch für behördliche,
überlebenswichtige und sicherheitsrelevante Aufgaben zur
Verfügung.«
Die Menschen auf der Straße waren die ganze
Zeit mucksmäuschenstill gewesen, aber jetzt ging ein Aufschrei
durch die Menge. »Das ist doch reine Schikane!« – »Wie soll
ich denn alles organisieren ohne Handy?!«
Celie musste lächeln, als ein rothaariger Hüne
neben der Frau, die das gesagt hatte, lakonisch meinte: »Zu Fuß,
wie wir anderen auch.«
Die Frau warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Dass Sie keine Handys haben, haben Sie ja wohl ganz allein sich
selbst zuzuschreiben. Ich bin eine Mobile, und ich sehe überhaupt
nicht ein, dass ich meine Privilegien aufgeben soll, nur weil
plötzlich jeder meint, sich bei uns einnisten zu können!«
Während sie sprach, versammelten sich immer
mehr finster blickende Menschen um den Hünen, der beschwichtigend
die Hände hob.
»Genau!« – »Wir füttern euch durch, da
solltet ihr nicht auch noch frech werden!« – »Geh besser dahin
zurück, wo du hergekommen bist!«
»Hey!«, rief der Hüne, aber seine Stimme ging
in der Menge unter, die sich um ihn schloss.
Celie rannte zu einem Polizisten. »Wollen Sie
dem Mann nicht helfen?«
»Ist doch nur einer von denen«, antwortete der
Polizist gelangweilt.
»Was hab ich dir gesagt«, meinte Olle,
als Celie ihm eine Stunde später in der Computerzentrale der Stadt
davon erzählte. »Wenn es hart auf hart kommt, heißt es irgendwann:
Wir gegen die.«
»Aber das ist doch totaler Bullshit!«, rief
Celie. »Die arbeiten doch jetzt schon viel härter als wir hier
drinnen für ihr Essen und ihren Strom! Sie bauen all das, was wir
für unsere Versorgung brauchen. Und ohne sie würden wir die ganzen
landwirtschaftlichen Betriebe zwischen hier und Dublin gar nicht
bestellen können.«
Olle grinste. »Weiß ich doch, Dawn. Aber glaub
mir: Es wird noch schlimmer. Wenn ich nur an den Elektrozaun denke,
für den wir jetzt schon anfangen zu programmieren … Erinnert
mich an diese Mauer, die sie damals in Deutschland hatten. Und wenn
das Essen und der Strom erst wirklich knapp werden, dann braucht
das Volk einen Sündenbock. So wie den Typen, den du vorhin gerettet
hast.«
»Ich hab ihn nicht gerettet«, sagte
Celie.
Olle lachte. »Nee, du hast den Bullen nur so
lange genervt, bis er was unternommen hat. Ich kann’s mir lebhaft
vorstellen.«
Celie grummelte vor sich hin und fasste sich an
die Wangen. Ihre Sommersprossen leuchteten garantiert knallrot.
»Olle, ich brauche deine Hilfe.«
»Was Illegales?«, fragte er grinsend.
»Was anderes würde ich von dir doch nicht
verlangen«, flachste Celie. Dann wurde sie ernst. »Es ist aber
nicht nur illegal, es ist auch gefährlich.«
Olle legte den Rechner beiseite, an dem er
gearbeitet hatte. »Jetzt bin ich aber wirklich gespannt.«
Als Celie ihm jedoch sagte, dass sie
Informationen über Jasons Vergangenheit suchte, sah er sie
fassungslos an.
»Hör mal, ich kenne keinen einzigen Mobilen,
der seine Vergangenheit nicht geheim halten will. Aus gutem Grund.
Und dann auch noch Jason?«
»Ja, ich weiß.« Celie konnte ihn nicht ansehen.
»Aber du hattest recht mit Jason. Er ist die wirkliche Gefahr hier,
nicht Conor.« Natürlich löcherte Olle sie, woher sie das wusste,
und nachdem sie sich eine Weile gesträubt hatte, erzählte sie ihm
von der Sache mit Brigid. Danach war Olle zum ersten Mal, seit
Celie ihn kannte, sprachlos. Schließlich sagte er: »Das ist
schlimm. Für Brigid sowieso, aber wenn Jason schon über sie so viel
weiß …« Er sah Celie an. »Du musst echt aufpassen, Dawn.« Er
sagte nichts weiter, aber Celie wurde heiß und kalt. Ja, was wusste
Jason über sie?
»Okay, ich mach’s«, sagte Olle. »Ich fang bei
den öffentlichen Rechnern an und wenn ich da nichts
finde …«
Als Celie sich verabschiedete, sagte sie:
»Bitte pass auf. Wenn dir was passiert, verzeihe ich mir das
nie.«
Olle blickte verlegen durch seine Dreadlocks.
»Alles klar, Prinzessin.«
Celie ging an den Fischteichen vorbei
Richtung Krankenhaus. Es war warm heute, die Sonne schien von einem
stahlblauen Himmel auf das Chaos unter ihr.
Olle hatte einfach Ja gesagt. Zu einer
Recherche, die ihn in große Gefahr bringen konnte. Wie es nur ein
Freund tun würde. Und nun war Celie auf dem Weg zu einer weiteren
Frau, die sie ebenfalls als Freundin um etwas bitten wollte. Aber
zumindest brachte sie sie dadurch nicht in Gefahr wie Olle.
»Dawn, wie schön, dass du mal wieder
vorbeischaust!«
Celie erschrak, als sie die Ärztin auf dem Flur
des Krankenhauses antraf. Sie wirkte zwanzig Jahre älter als noch
vor wenigen Tagen. Ihr Gesicht hinter dem Mundschutz war blass, sie
hielt sich gebeugt. Aber ihre Augen strahlten wach wie eh und
je.
»Lass uns rausgehen.«
Karen drängte Celie zur Tür, an hustenden
Kranken, müden Schwestern und stoisch daliegenden Verletzten
vorbei. »Hier drin ist es für Gesunde zu gefährlich, seit wir kaum
noch Medikamente haben.«
Dann saßen sie auf der Bank in der Einfahrt,
jede eine Flasche Apfellimo in der Hand. Wie in
alten Zeiten, dachte Celie wehmütig. Dabei waren die erst ein
paar Tage vorbei.
»Wie geht es dir, Karen?«, fragte sie
zögernd.
Karen sah sie von der Seite an. Dann lachte
sie. »Ich sehe furchtbar aus, ich weiß. Wir haben schon mehrere
Fälle von bakterieller Lungenentzündung, die wir nicht behandeln,
sondern nur isolieren und ruhigstellen können, und draußen auf der
Geflügelfarm wütet eine Salmonellen-Infektion, gegen die wir ohne
Antibiotika auch nichts tun können. Nur hoffen, dass sie nicht auf
Menschen übergreift …«
Sie fuhr sich durch die weißen Haare und
steckte mehrere Strähnen fest. »Aber mir fehlt nichts. Außer
Schlaf. Und Ruhe. Und vielleicht einem Fünf-Gänge-Menü.« Sie lachte
wieder. »Und wie geht es dir, Dawn?«
»Ganz gut«, sagte Celie. »Wir bereiten da
gerade dieses Konzert vor.«
»Ich hab davon gehört«, sagte Karen. »Gute
Idee, das wird uns auf andere Gedanken bringen.« Sie seufzte.
»Allerdings waren sie im Rat strikt dagegen, auch Besucher von
draußen zuzulassen, die nicht sowieso einen Passierschein haben.
Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber da war nichts zu
machen. ›Unkalkulierbares Risiko‹, wenn ich so was schön höre! Und
was ist mit unseren hehren Idealen? Die gelten offenbar nur für
gute Zeiten.«
Sie schwiegen eine Weile. Vor Kurzem hatten sie
hier noch vor allem Grillen und Vögel hören können. Jetzt war da
ein ständiges Rauschen von den Baustellen überall und den vielen
Menschen, die in den Straßen unterwegs waren.
»Karen, ich brauche deine Hilfe«, sagte Celie
plötzlich. »Ich möchte Instrumente nach draußen schaffen, um die
Kinder dort zu unterrichten.« Celie beugte sich vor. »Diese
Kinder … sie brauchen etwas, das ihnen Spaß macht – trotz
allem. Oder gerade deshalb. Ich möchte Musik mit ihnen machen.
Nicht hier, wo keiner sie will, sondern da, wo sie jetzt
leben.«
»Das ist eine wunderbare Idee. Und natürlich
helfe ich dir. Ich weiß nur nicht …«
Karen runzelte nachdenklich die Stirn, aber
dann schüttelte sie ihre Bedenken offenbar ab. »Wir machen es so:
Ich stelle dir Passierscheine für die Stadt für jedes Kind aus, das
du mir namentlich nennen kannst. Außerdem machst du mir eine Liste
mit den Instrumenten, die du mit rausnehmen willst, und ich
unterschreibe, dass du sie täglich von, sagen wir, 9 bis 17 Uhr aus
der Stadt bringen darfst.«
»Und das geht einfach so?«, fragte Celie
erstaunt.
Karen lächelte vor sich hin, sah aber nicht
fröhlich dabei aus. »Zurzeit haben die Ratsmitglieder weitgehende
Befugnisse. Ich bezweifle allerdings, dass er uns noch
lange …« Sie setzte neu an: »Was ich sagen will: Nutze die
Passierscheine möglichst ausgiebig, bevor sie widerrufen
werden.«
»Aber …«
Karen nahm Celies Hand und hielt sie ganz fest.
»Wenn es schlimmer wird – und das ist nur eine Frage der
Zeit –, dann wird die Demokratie als Erstes auf der Strecke
bleiben. Die alten Regeln werden nicht mehr lange gelten, und wer
weiß, was dann passiert.«
Celie war entsetzt darüber, wie verzweifelt die
alte Ärztin klang.
»Pass auf dich auf, Dawn. Bitte pass gut auf
dich auf. Und benutze die Passierscheine nur so lange, wie …
Achte auf die Durchsagen. Du wirst wissen, wann es so weit
ist.«
Celie wollte noch so viel fragen, aber Karen
schüttelte den Kopf.
Zusammen gingen sie ins Rathaus, wo Karen die
Scheine ausstellte.
»Pass auf dich auf, Dawn«, sagte sie zum
Schluss noch mal. Sie schien mit sich zu kämpfen, aber dann fügte
sie hinzu: »Und halt dich von Jason fern. Ich weiß, er ist charmant
und er interessiert sich für dich, und für ein Mädchen von siebzehn
muss das sehr schmeichelhaft sein. Aber«, sie sah sich um, ob
jemand in ihrer Nähe war, »er ist gefährlich. Trau ihm
nicht.«
»Ich weiß«, sagte Celie.
Karen wirkte überrascht, doch dann nickte sie
und umarmte Celie. Sie duftete nach Seife und Krankenhaus und Celie
kamen die Tränen.
»Mach’s gut, Dawn«, sagte Karen.
»Ich heiße Celie«, sagte Celie.
Und als Karen zurück zum Krankenhaus eilte,
klein und gebeugt, wusste Celie mit einem Mal, dass sie sie nicht
wiedersehen würde.
Calais
Es war Ende September, als sie Calais
erreichten. Die Luengo-Familie war noch vollzählig, bis auf die
dreijährige Carlita. Sie war bei einem Überfall niedergetrampelt
worden und zwei Tage später an ihren inneren Verletzungen
gestorben. Sie hatten sie kurz vor Venlo am Straßenrand begraben
und Feather hatte ein letztes Lied für sie gesungen. Danach hatte
er die Gruppe bei Nacht und Nebel in Richtung Nijmegen
verlassen.
Kurz zuvor schon hatte Frau Kanowski sich einer
anderen Gruppe angeschlossen, die ins Ruhrgebiet unterwegs war. Und
vor knapp zwei Wochen hatten sich die belgischen Klempner
verabschiedet. Ruben hatte versucht, sie davon abzuhalten, und es
war beinahe zu einem Kampf gekommen. Aber am Ende hatte er sie
ziehen lassen. Doch damit war die Gruppe gefährlich klein geworden
und so nahmen sie etwas später ein Ehepaar aus dem Norden auf. Sie
waren Mitte dreißig und die Frau hatte früher mal geboxt –
aber ein vollwertiger Ersatz für die Belgier waren sie nicht.
Trotzdem hatte Ruben ihnen erlaubt, sich ihnen anzuschließen, was
zeigte, wie verzweifelt ihre Lage war. Seitdem bestand die Gruppe
aus dem Ehepaar, vier Kindern, Ruben, Alex, Bernie, der Maklerin
Lila und zwei Onkeln von Ruben.
Von dem Zeitpunkt an, als die Belgier weg
waren, hatten sie mehr Glück als Verstand gehabt. Einmal hatte die
Tarnplane ihnen das Leben gerettet, als sie bei einem Abstecher in
einen Wald von einer Horde Jugendlicher mit Armeegewehren
eingekreist worden waren. Im dämmrigen Licht hatte die Plane
ausgereicht, um sie vor den Verfolgern zu verstecken. Ansonsten
bauten sie auf die abschreckende Wirkung von Ruben, der mit seiner
wilden Mähne, seinen Tätowierungen und einer Lederjacke voller
Nieten, die er irgendwo gestohlen hatte, inzwischen aussah wie ein
Rocker aus der Hölle. Die Messer, die er ebenso wie die anderen
Erwachsenen offen zur Schau trug, taten ein Übriges. Trotzdem waren
sie zweimal angegriffen worden, hatten die Angreifer aber
zurückschlagen können. Alex hatte bei den Kämpfen Blut und Wasser
geschwitzt. Das Leben auf der Autobahn mit all den Toten und all
dem Leid hatte ihn zwar abgestumpft, aber mit dem Wissen, dass er
jemanden umgebracht hatte, konnte er nicht leben, das wusste er. So
gut es ging, verdrängte er, dass er gar nicht sicher wusste, ob er
nicht doch vielleicht jemanden getötet hatte, beim Kampf um die
Zivile Notfallreserve.
Die vielen Verluste der letzten Zeit schienen
Ruben müde gemacht zu haben. Obwohl er mit Alex und Bernie den Arzt
und den Techniker verlor, war er bereit, sie gehen zu lassen.
Allerdings musste Alex Lila vorher einen Großteil seiner Arzneien
mit genauen Anweisungen übergeben und an Bernies Werkzeug bediente
Ruben sich ebenfalls. Den Roachy ließ er Bernie nur deshalb, weil
der keinem anderen folgte und auch niemand außer Bernie wusste, wie
man ihn reparierte.
Wie immer, wenn jemand die Gruppe offiziell
verließ und nicht heimlich abhaute, tauschte man Heimatadressen
aus. Es war ein Ritual der Hoffnung, dass alle überlebten und dass
die Welt irgendwann wieder ins Lot kam. Dasselbe galt für den
Abschiedssatz: »Man sieht sich.«
Bernie schenkte Carmen einen kaputten
akustischen Sensor des Roachys als Erinnerung und bekam dafür eine
dicke Umarmung. Zu Alex’ Verblüffung nahm Ruben ihn kurz vor ihrem
Aufbruch beiseite und steckte ihm eines seiner Messer in die
Tasche. »Und benutz es gefälligst, wenn es nötig ist«, knurrte er.
Er drehte sich um und gab seiner Gruppe ein Zeichen. »Man sieht
sich!«, sagten alle, dann ging die Luengo-Gruppe weiter.
Eine Weile sahen Alex und Bernie den Menschen
noch nach, mit denen sie fast zwei Monate lang alles geteilt
hatten. Schließlich holte Bernie tief Luft und sagte: »Na, dann
los. Celie wartet.«
»Hoffentlich«, sagte Alex.
Die Gerüchte, die sie über Calais gehört
hatten, waren noch untertrieben gewesen. Hunderte Menschen warteten
hier, um einen Platz auf einem der wenigen Schiffe und Boote zu
ergattern, die zwischen Calais, England und Irland noch verkehrten.
Wie Alex und Bernie erfuhren, waren manche schon seit Wochen hier
und lebten in Zelten oder provisorischen Hütten, inmitten von
Abfall und Dreck. Der Gestank war so entsetzlich, dass er den
beiden die Tränen in die Augen trieb, obwohl sie von der Autobahn
einiges gewohnt waren. Aber die Toiletten, die hier vor Wochen
aufgestellt worden waren, waren längst übergelaufen und die meisten
machten seither einfach ins Meer.
Alex und Bernie redeten mit einigen Leuten und
erfuhren, dass die Preise für eine Überfahrt inzwischen unglaublich
gestiegen waren. Nur wer hochwertige Elektronik oder Akkus zu
bieten hatte, hatte eine Chance, mitgenommen zu werden.
Bernie beschloss schweren Herzens, den Roachy
gegen eine Überfahrt nach Dublin einzutauschen. Aber keiner der
Kapitäne hatte Interesse.
»Was soll isch denn auf meine Boot mit eine
Robot, eh?«, brachte einer es auf den Punkt. »Vielleischt Algen
ernten? Und wer macht die Robot ganz? Solsche Robot gehen doch
immersu kaputt, n’est-ce pas?«
»Ich glaube, das war’s«, sagte Bernie, als sie
es bei jedem einzelnen Schiff und jedem Boot versucht hatten. »Wenn
wir nicht schwimmen, kommen wir wohl nicht rüber.«
Alex antwortete nicht, sondern fingerte
gedankenverloren an seinem Shirt herum. Schließlich gab er sich
einen Ruck. »Ich hab da noch was.« Er hielt Bernie Celies Kette vor
die Nase.
»Ist das die, die du in Barcelona gekauft
hast?«, fragte Bernie.
Alex nickte.
»Dann wirst du sie nicht eintauschen.«
»Aber wenn wir doch nichts anderes
haben …«
»Wir finden was«, sagte Bernie. »Zwei so
cleveren Jungs wie uns wird doch wohl noch was einfallen, wie wir
übers Meer kommen können!«
»Lass uns erst mal hier verschwinden«, sagte
Alex. Er packte Bernie am Ärmel und zog ihn mit sich.
»Was ist denn los?«
»Wir müssen hier weg!«
Alex zerrte Bernie in Richtung Stadt, fort vom
Hafen und vom Strand.
»Na, hier werden wir wohl nirgendwo ein Boot
finden«, sagte Bernie.
»Dafür bleiben wir aber vielleicht am Leben«,
erwiderte Alex.
»Wie meinst du das?«
»Hast du den Mann gesehen, der am Hafen vor dem
Fass saß und sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat?«
Bernie nickte.
»Er war nicht der Einzige«, sagte Alex. »Und
ich wette, da gibt’s auch jede Menge Leute mit Durchfall.«
»Das ist zwar übel«, sagte Bernie, »aber doch
kein Grund zur Panik, oder?«
»Doch«, sagte Alex. »Schwester Susmita hat uns
davor gewarnt. Das ist die Cholera. Extrem ansteckend.«
»Tamade!«, sagte Bernie.
»Du sagst es.«
Eine Weile gingen sie schweigend
nebeneinanderher. Dann sagte Alex: »Wir gehen einfach so lange am
Meer entlang, bis wir jemanden mit einem Boot finden. Vielleicht
braucht jemand aus seiner Familie ärztliche Hilfe und er leiht es
uns dafür.«
»Oder vielleicht kann ich irgendwas
Elektrisches reparieren«, meinte Bernie.
Sie sahen sich zweifelnd an. Dann grinste Alex
plötzlich. »Oder eine Meerjungfrau steigt plötzlich aus dem Wasser
und offenbart uns, dass wir drei Wünsche frei haben«, sagte er.
»Ist vermutlich genauso wahrscheinlich.«
Bernie begann zu kichern und konnte nicht mehr
aufhören, bis er Alex ebenfalls angesteckt hatte. Sie steigerten
sich in einen hysterischen Lachanfall hinein, während sie durch die
Straßen von Calais gingen und alle paar Meter sagte einer von
ihnen: »Meerjungfrau!« oder »Ich wünsch mir als Erstes … eine
Dusche!« oder »Hoffentlich spricht die nicht nur Ozeanisch!«, und
dann schütteten sie sich aus vor Lachen.
Auf ihrem Weg trafen sie fast niemanden, weil
Calais sich – wie jede Stadt ohne Wasser – in eine
stinkende, nur noch von Ratten bevölkerte Geisterstadt voller
verbrannter Ruinen verwandelt hatte. Menschen konnten hier nicht
mehr leben, aber die Ratten fanden trotzdem etwas zu fressen. Alex
wollte lieber nicht wissen, was.
Am gespenstischsten aber war, dass die Menschen
die Stadt zwar verlassen hatten, die meisten ihrer Besitztümer aber
immer noch da waren. Außer Wasser, Essensvorräten, Schmuck und
Akkus konnte man hier nahezu alles finden: Die Häuser, die nicht
verbrannt waren, waren voller Möbel, Kleidung, elektronischer
Geräte, Bilder, Spielzeug … Viele Zimmer sahen aus, als wären
ihre Bewohner nur kurz weggegangen. Aber es war unwahrscheinlich,
dass irgendjemand so bald zurückkehrte.
Alex und Bernie schauten sich nur in Häusern
um, aus denen ihnen kein allzu schlimmer Gestank entgegenkam. Es
wurde abends inzwischen schon empfindlich kalt, darum suchten sie
so lange, bis jeder von ihnen passende warme Kleidung und einen
leichten Schlafsack mit Nanobeschichtung hatte.
Danach beeilten sie sich, so schnell wie
möglich aus der Geisterstadt herauszukommen. Aber es dauerte
Stunden, weil sie zwischen den Ruinen und Trümmern nur langsam
vorankamen. Als sie endlich freies Gelände erreichten, kam es Alex
vor, als hätte er die ganze Zeit über die Schultern hochgezogen und
die Augen auf den Boden gerichtet gehabt.
»Lass uns noch ein Stück weitergehen, bis ans
Meer«, schlug Bernie müde vor. »Wenn ich schon mit leerem Magen
schlafen muss, dann möchte ich wenigstens vorher mal wieder
baden.«
Als sie den Strand erreichten, war es
dunkel und schon zu kalt zum Baden. Sie kamen sich vor, als wären
sie auf einem menschenleeren, aber ziemlich windigen fremden
Planeten gelandet. Soweit sie das im Licht des Mondes erkennen
konnten, gab es hier nichts: keine Häuser, keine Boote und keine
Menschen. Ein paar verfallene Hütten waren da, die eine kräftige
Brise jederzeit umwerfen konnte. Ansonsten deuteten nur der
angeschwemmte Abfall und die Kothaufen im Sand darauf hin, dass auf
diesem Planeten irgendwo Menschen lebten.
Bernie und Alex legten sich hinter einer Mauer,
wo es windstill war, unter dem Roachy zum Schlafen hin. Sie krochen
in ihre neuen Schlafsäcke und deckten den Roachy mit der Tarnplane
ab.
»Morgen finden wir ein Boot«, sagte Bernie
schläfrig. »Wirst schon sehen.«
»Klar, Mann«, sagte Alex und umklammerte Celies
Kette.
Heute Nacht gehörte sie noch ihm.