KAPITEL 16

 

Auf dem Rückweg gab sich Diane den wildesten Spekulationen hin. Auf dem Boulevard Port-Royal war sie überzeugt von Luciens vietnamesischer Herkunft. In der Rue Barbusse war sie sicher, dass er kein namenloses Kind war: Rolf van Kaen hatte seine Familie gekannt; auf mysteriöse Weise war der kleine Junge ausgesetzt worden, und auf noch geheimnisvollerem Weg hatte der deutsche Arzt von seinem Aufenthalt in Frankreich erfahren. In der Rue Saint-Jacques stellte sie sich vor, das Kind sei der geheim gehaltene Sprössling einer prominenten Persönlichkeit, die den Akupunkteur benachrichtigt und dringend nach Paris beordert hatte. Erst als sie vor ihrem Haustor stand und den Schlüsselkode eingeben musste, fanden ihre Hirngespinste ein jähes Ende.

In ihrer Wohnung kam sie wieder zur Ruhe. Die vertrauten Empfindungen, die ihre drei Zimmer verbreiteten, besänftigten sie. Sie nahm sich Zeit, den Blick über die weißen Wände schweifen zu lassen, das Mahagoniparkett, die bodenlangen, makellosen Vorhänge, in denen sich die Erinnerung an Sonnen- und Regentage zu halten schien. Lange atmete sie den Geruch von Bodenwachs und den kaum noch wahrnehmbaren Duft von Eau de Javel ein, die hier schwebten, seitdem sie am Tag nach dem Wunder ihre Wohnung von Grund auf gereinigt und aufgeräumt und desinfiziert hatte, um alle Spuren zu beseitigen, die sie an das Leid und die Vernachlässigung der vergangenen zwei Wochen erinnerten. Der Geruch der Sauberkeit tröstete und bestätigte sie in ihrem Entschluss.

Sie warf einen Blick auf die Uhr und berechnete die Zeitverschiebung gegenüber Thailand: Mittag in Paris, siebzehn Uhr in Ranong. Sie holte ihre Adoptionsakte hervor, dann setzte sie sich in ihrem Zimmer auf den Boden, ans Bett gelehnt. Um ihre Aufregung zu bezwingen, atmete sie tief unten im Bauch, konzentrierte sich auf die Gegend rund um den Nabel – eine klassische Entspannungstechnik, die sie durch Wing-Tsun kennengelernt hatte. Als der Sauerstoff sich in ihrem Blut verteilt hatte und an diesem geheimen Punkt versammelte, als die Ruhe sich in ihr ausbreitete wie eine große, besänftigende Leere, war sie bereit.

Sie hob den Hörer ab und wählte die Nummer des Waisenhauses der Stiftung Boria-Mundi. Nach mehrmaligem, unterbrochenem Läuten meldete sich eine näselnde Stimme. Diane fragte nach Térésa Maxwell. Sie wartete gut zwei Minuten, bis ein »Hallo« ertönte, scharf und abgehackt, wie eine zuknallende Tür. Lauter, als sie wollte, fragte Diane: »Madame Maxwell?«

»Am Apparat. Wer spricht?«

Die Verbindung war übel, der Tonfall der Direktorin noch viel übler.

»Hier ist Diane Thiberge«, begann sie. »Vor etwa einem Monat war ich bei Ihnen im Waisenhaus, genauer gesagt, am 4. September. Ich bin diejenige, die …«

»Die mit dem goldenen Nasenring?«

»Richtig.«

»Was wollen Sie? Haben Sie ein Problem?«

Diane stellte sich das gutmütige Gesicht, den forschenden Blick vor und log ohne zu zögern: »Nein, überhaupt nicht.«

»Wie geht es dem Jungen?«

»Sehr gut.«

»Warum rufen Sie dann an, wollen Sie mir etwas mitteilen?«

»Ja … Das heißt, nicht ganz. Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Aus der Leitung drangen nur Rauschen und ferne Stimmfetzen. Diane fuhr fort: »Als ich bei Ihnen war, sagten Sie, Sie wüssten nicht, woher das Kind kommt.«

»Das ist richtig.«

»Seine Familie kennen Sie nicht?«

»Nein.«

»Haben Sie nie seine Mutter gesehen?«

»Nein.«

»Und Sie haben keine Ahnung, welcher Volksgruppe er angehört? Oder aus welchem Grund er ausgesetzt wurde?«

Nach jeder Frage erfolgte ein kurzes, feindseliges Schweigen, ehe Térésa Maxwell eine Antwort gab. Die wiederum aus einer Frage bestand: »Wozu wollen Sie das denn wissen?«

»Na ja … Ich bin seine Adoptivmutter. Ich muss es einfach wissen, um meinen Sohn besser zu verstehen.«

»Es gibt also doch ein Problem. Sie verschweigen mir etwas.«

Vor Dianes Augen erschien die kleine Gestalt in ihren Verbänden, an Apparate und Infusionsschläuche angeschlossen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie sagte: »Nein, ich verschweige Ihnen nichts. Ich würde nur gern ein bisschen mehr über meinen kleinen Jungen wissen, und ich dachte …«

Térésa Maxwell seufzte und sagte, nun weniger angriffslustig: »Bei unserem Treffen habe ich Ihnen alles gesagt. Es gibt viele Straßenkinder in Ranong, die ohne Eltern und ohne medizinische Versorgung aufwachsen. Wenn ein Kind in wirklich schlimmer Verfassung ist, nehmen wir es auf und versorgen es. Das ist alles. Lü-Sian war so ein Straßenkind.«

»Was fehlte ihm?«

»Er litt unter Dehydrierung. Und unter Mangelernährung.«

»Wie lange war er denn im Waisenhaus, bevor ich ihn abgeholt habe?«

»Ungefähr zwei Monate.«

»Und in der Zeit haben Sie gar nichts über ihn erfahren?«

»Wir stellen keine Nachforschungen an.«

»Hat er nie Besuch bekommen?«

Die Störungen in der Verbindung setzten verstärkt wieder ein. Diane hatte den Eindruck, als würde ihre Gesprächspartnerin ihr entrissen – und damit auch jede Möglichkeit, mehr zu erfahren. Doch auf einmal drang die Stimme wieder durch das Rauschen: »Nehmen Sie sich in Acht, Diane.«

Sie zuckte zusammen. Térésas Stimme erschien ihr auf einmal viel näher. »Wo … wovor?«, stammelte sie.

»Vor sich selbst«, antwortete die Direktorin. »Hüten Sie sich vor dem Wunsch, mehr herauszufinden, vor der Verlockung, Erkundigungen über Lü-Sian einzuholen. Der Junge ist jetzt Ihr Kind. Woher er kommt, spielt keine Rolle mehr: Seine Herkunft sind Sie. Suchen Sie nicht weiter.«

»Aber … warum denn?«

»Es führt nirgendwohin. Das ist eine regelrechte Krankheit bei Adoptiveltern. Früher oder später wollen sie immer alles wissen, fangen an zu fragen, schnüffeln herum. Als wollten sie sich die Zeit aneignen, in der das Kind ihnen nicht gehört hat, von der sie nichts wissen. Aber die Kinder haben alle eine Vergangenheit, und daran können Sie nichts ändern. Das ist ihr dunkler Anteil.«

Diane konnte dem nichts hinzufügen. Ihre Kehle war trocken, und Térésa sprach weiter: »Wissen Sie, was ein Palimpsest ist?«

»Äh … ja … ich glaube schon.«

Térésa erklärte es trotzdem: »Palimpseste sind diese Pergamentstücke aus der Antike, von denen die mittelalterlichen Mönche aus Sparsamkeitsgründen den Text abschabten, um sie danach neu zu beschriften. Diese Schriftstücke tragen also einen neuen Text, doch in der Tiefe des Materials ist immer noch die ursprüngliche Botschaft enthalten. Ganz ähnlich ergeht es einem Adoptivkind. Sie ziehen es auf, bringen ihm eine Menge bei, prägen es durch Ihre Kultur, Ihre Persönlichkeit … Aber unter dieser Schicht befindet sich nach wie vor ein anderes Manuskript. Das Kind wird seine ursprüngliche Herkunft nie ganz ablegen. Das genetische Erbe seiner Eltern, seiner Kultur. Die paar Jahre, die es in seiner Heimat verbracht hat … Mit diesem Geheimnis müssen Sie leben lernen. Respektieren Sie es. Das ist der einzige Weg, um Ihren Sohn wirklich zu lieben.«

In Térésas rauer Stimme schwang ein sanfter Ton mit. Diane stellte sich das Waisenhaus vor. Sie nahm seine Gerüche wahr, die Hitze, die Krankenhausatmosphäre. Die Direktorin hatte natürlich in jeder Hinsicht Recht. Aber sie wusste nichts vom wahren Grund ihres Anrufs: Diane musste präzise Antworten auf ihre Fragen erhalten.

»Sagen Sie mir nur eines«, bat sie. »Könnte Lucien … das heißt Lü-Sian … könnte er Ihrer Ansicht nach Vietnamese sein?«

»Vietnamese? Du lieber Gott, wieso denn Vietnamese?«

»Na ja … Vietnam ist ja nicht so weit, und …«

»Nein. Ausgeschlossen. Im Übrigen spreche ich Vietnamesisch – Lü-Sians Sprache ist etwas völlig anderes.«

»Ich danke Ihnen«, murmelte Diane. »Ich … ich rufe Sie wieder an.«

Sie legte auf und lauschte dem Echo nach, das die Worte der Direktorin wie in einem riesigen, kalten Kirchenschiff hinterlassen hatten.

In dem Moment kam ihr eine weit zurückliegende Erinnerung in den Sinn.

Es war in Spanien, in Asturien, wo sie mehrere Raubvogelarten zu orten hatte, und in einem Augenblick der Muße hatte sie ein Kloster besucht. Ein hässliches graues Gemäuer, das noch in der Zeit der Meditationen und des Stein gewordenen Raunens lebte. In der Bibliothek jedoch hatte sie ein faszinierendes Objekt entdeckt: In einer Glasvitrine hing an Drähten ein Stück Pergament. Seine raue, rötliche Oberfläche ließ es aussehen wie etwas Organisches, beinahe Lebendiges. In eng zusammengedrängten, gestochen scharfen Buchstaben lief die gotische Schrift über die Zeilen und ließ nur hin und wieder Raum für eine feine Illumination.

Aber das eigentlich Spannende war etwas anderes.

In regelmäßigen Abständen ging darüber ein ultraviolettes Licht an und brachte unter den schwarzen Buchstaben eine andere Schrift zum Vorschein, flüssig und temperamentvoll. Die Spuren eines früheren Textes aus der Antike. Wie ein Abdruck im Fleisch des Pergaments.

Diane begriff jetzt: Wenn ihr Sohn ein Palimpsest war, wenn seine Vergangenheit ein halb ausgelöschter Text war, dann besaß sie davon lediglich Krümel. Lü. Sian. Und die wenigen Wörter, die er während der drei Wochen, die er bei ihr in Paris verbracht hatte, häufig wiederholt hatte. Diese Wörter, die Térésa Maxwell nicht verstand.