KAPITEL 3
Diane Thiberge hörte damals Frankie Goes to Hollywood, mit einem winzigen Walkman und voll aufgedrehten Bässen. Sie liebte diese Gruppe. Weil sie am Schnittpunkt mehrerer, scheinbar unvereinbarer Richtungen stand, die sie auf geniale Weise zu einem grandiosen Sound verband.
Schon deshalb, weil sie eine Gruppe knallharter Burschen waren, Straßenjungen direkt aus Liverpool. Außerdem waren sie eine Post-Disco-Band und hatten ein Gefühl für Rhythmik, für Groove entwickelt, der jeden Discobesucher im Handumdrehen mitriss. Schließlich war Frankie eine Schwulen-Band. Und das war das Verrückteste daran: Diese geballte Wucht aus Gebrüll, barbarischen Rhythmen und kämpferischen Parolen kam von einer Bande von Irren, die direkt vom Hof Ludwigs XIII. zu stammen schienen, und diese Kombination verlieh den Musikern eine unglaubliche Leichtigkeit, Beweglichkeit und Wendigkeit, die ihnen niemand so leicht nachmachte. Das fünfte Bandmitglied spielte überhaupt kein Instrument, sondern sang nur, tanzte nur, er war der »Mann in Bewegung« im Hintergrund der Bühne, der unter seiner Lederjacke die Schultern rollen ließ. Diane überlief jedesmal ein Schaudern: Jawohl, Frankie war eine Wahnsinnsband.
Die langen Nächte der Studentin beschränkten sich allerdings mehr oder weniger aufs Musikhören. Sie ging nicht aus, tanzte nicht, traf sich mit niemandem, sondern konzentrierte sich ganz auf ihr Studium der Ethologie, saß allabendlich in ihrer Bude im Viertel Cardinal-Lemoine, vertieft in Konrad Lorenz und Johann von Uexküll, und ernährte sich von Hamburgern.
Aber einmal, an einem Abend, wollte sich Diane doch ins Gewühl stürzen.
Nathalie, die kleine Pest aus dem Biologieseminar, die es verstand, sich alles unter den Nagel zu reißen, was der Fachbereich zu bieten hatte, veranstaltete ein Fest, und Diane wollte hingehen.
Es war der richtige Augenblick: jetzt oder nie.
Der ideale Anlass, um die Probe aufs Exempel zu machen.
Später dachte Diane oft an diese entscheidende Nacht zurück.
Die Ankunft in dem Mietshaus aus Quadersteinen am Boulevard Saint-Michel, die Stille im Treppenhaus, der Veloursteppich auf den Stufen. Dann das dumpfe Hämmern der Bässe, das aus einem der oberen Stockwerke drang. Sie versuchte ihr rasendes Herz zu besänftigen, das synkopisch zu den tiefen Rhythmen von oben schlug, und umklammerte den eisigen Hals der Champagnerflasche, die sie eigens besorgt hatte. Als sie oben vor der Wohnung stand, war der rhythmische Lärm so ohrenbetäubend, dass er die breite lackierte Holztür aus den Angeln zu sprengen drohte. Die hören mich nie, dachte sie, während sie auf die Klingel drückte.
Doch beinahe augenblicklich ging die Tür auf, und ein Schwall Musik quoll heraus. Diane erkannte sofort die Stimme von Holly Johnson, dem Sänger von Frankie, der brüllte: »RELAX! DON’T DO IT!« Das war ein günstiges Vorzeichen: Ihre geliebte Band, ihr Fetisch, begleitete sie bei der Prüfung. Eine Dunkelhaarige mit knochigen Gesichtszügen unter einem übertrieben grellen Make-up wippte auf der Türschwelle auf und ab. Nathalie-die-Medusa in Person.
»Diane!«, schrie sie. »Das ist ja supertoll, dass du kommst …«
Diane lächelte über die Lüge, während Nathalie sie von Kopf bis Fuß musterte. Diane trug eine schwarze Weste mit Perlmuttknöpfen und eine enganliegende lange Hose aus dunklem Molton – diesem Stoff, der damals unumschränkt über die Körper junger Mädchen herrschte. Im Übrigen war sie in einen riesigen wattierten Mantel gehüllt, der ebenfalls schwarz war.
»Bist du mit Schlafanzug und Bettdecke gekommen?«, fragte Nathalie grinsend.
Diane fasste mit Daumen und Zeigefinger das schwarze Taftkleid des Mädchens an.
»Ist doch ein Kostümfest, oder?«
Nathalie brach in Gelächter aus. Sie nahm ihr die Champagnerflasche ab und forderte sie brüllend auf: »Komm rein. Tu deine Sachen in das Zimmer da hinten.«
Drinnen tobte das Fest. Nachdem Diane ihren Mantel abgelegt hatte, bezog sie in der Nähe des Buffets Stellung, dem traditionellen Ankerplatz für alle, die niemanden kennen. Sie hatte sich vorgenommen, keinen Alkohol anzurühren, um einen klaren Kopf zu behalten, was auch immer geschah. Doch nach einer Stunde Langeweile war sie bereits beim dritten Glas angelangt. Sie nippte in kleinen Schlucken, während sie zur Tanzfläche hinüberschaute.
Die Uhr lief.
Zwar hatte Diane mit Festen dieser Art nicht viel Erfahrung, doch der rituellen Zyklen, die dabei abliefen, war sie sich jedenfalls bewusst. Um Mitternacht begann das Vorspiel. Die Mädchen tanzten, wirbelten herum, stellten sich mit übertriebenen Hüftschwüngen und Schütteln ihrer langen Mähnen zur Schau, während die Jungen sich im Hintergrund hielten, verstohlene Blicke warfen, mit flotten Sprüchen den Kontakt einleiteten …
Um zwei Uhr morgens begann eine neue Phase, das Fest begann zu brodeln, die Musik nahm an Lautstärke zu. Der Alkohol überwand jede Hemmung, alle Hoffnungen waren erlaubt. Die Jungen schritten zur Tat, brüllten über die Menge hinweg, suchten sich ihre Beute. Wieder war es Frankie, der die Menge bis zur Raserei aufpeitschte. Two Tribes. Ein Protestsong gegen den Krieg, unterlegt von einem wilden Beat, von dem Diane jede einzelne Note, jeden einzelnen Riff kannte.
Nun überließ auch sie sich der Musik. Sie stürzte sich ins Gewühl und verbarg, so gut es ging, ihre heuschreckenartigen Gliedmaßen. Sie bemerkte etliche Blicke in ihre Richtung und traute ihren Augen nicht. Schüchtern über alle Maßen, wusste sie doch, dass sie selbst noch mehr einschüchterte. In den meisten Fällen hielten ihre Schönheit, ihre Lockenmähne und ihre enorme Größe alle Kandidaten in gebührendem Abstand. Aber an diesem Abend war es anders: Ein paar ganz besonders Verwegene wagten es tatsächlich, sie anzusprechen.
Sie spürte jetzt, wie ihr Körper sich in leichten Spiralen auflöste und über dem Hämmern des Schlagzeugs schwebte, zwischen den anderen kreiste. In diesem Augenblick griff ein Typ nach ihrer Hand und wollte einen Rock ‘n’ Roll tanzen. Auf allen Tanzflächen der Welt gibt es immer einen, der sich in den Kopf setzt, jedem beliebigen Rhythmus irgendwelche komplizierten Schritte aufzuzwingen. Diane wich sofort zurück. Der andere ließ sich nicht abschrecken. Abwehrend hob sie beide Handflächen. Nein. Sie tanzte keinen Rock ‘n’ Roll. Nein. Sie ließ sich von keinem bei der Hand nehmen. Sie ließ sich überhaupt von niemandem irgendwo anfassen. Der Typ fing an zu lachen und verschwand in der Menge.
Einen Moment lang stand sie da wie versteinert und starrte auf ihre Hand, als hätte sie sich bei der Berührung verbrannt. Sie wankte, wich zurück bis zur Wand und ließ sich daran zu Boden gleiten. Neben sich fand sie ein halb volles Glas. Sie leerte es in einem Zug und hielt sich krampfhaft daran fest, reglos. Die Trauer überwältigte sie. Die erlebte Szene brachte ihr wieder die grausame Wahrheit zu Bewusstsein: Sie konnte nicht die geringste Berührung ertragen. Keine Liebkosung, nicht einmal ein flüchtiges Streifen ihrer Haut. Jedweder Körperkontakt war ihr unerträglich.
Um drei Uhr morgens nahm die Musik eine esoterische Wendung: O Superman von Laurie Anderson. Ein eigenartiges Wiegenlied, durchsetzt von hypnotisierendem Seufzen. Es war die Stunde der letzten Chancen. Im Halbdunkel waren nur noch ein paar vereinsamte Gestalten übrig, die sich im Rhythmus dieses Singsangs wiegten. Ein paar hartnäckige Jäger und ein paar arme Mädchen, die sich nicht geschlagen geben wollten.
Diane musterte die aufgelösten Gesichter, die schwankenden Schatten und hatte den Eindruck, sie betrachtete ein von Verwundeten und Sterbenden übersätes Schlachtfeld. Sie ging ihren Mantel holen und strich dann unauffällig entlang dem von leeren Flaschen überquellenden Büffet zur Wohnungstür. Im Geist war sie bereits draußen, stellte sich die kalte Luft vor, die sie wieder so weit ausnüchtern würde, dass sie über ihr Scheitern ausgiebig nachdenken konnte.
In diesem Augenblick spürte sie zwei Hände, die sich von hinten um ihre Taille legten.
Sie fuhr herum, an das Büffet gelehnt, gespannt wie ein Bogen.
Drei Kerle umringten sie und verströmten intensiven Alkoholdunst.
»He, Leute, da gibt’s tatsächlich noch was abzusahnen …«
Einer der Angreifer streckte von neuem die Hände nach ihr aus. Diane entzog sich ihm mit einem Hüftschwung und drehte sich wieder zum Tisch. Sie legte ihren Mantel ab, erspähte ein volles Glas und tat, als wollte sie trinken. Einen Augenblick lang dachte sie, die drei hätten aufgegeben, doch ein alkoholschwerer Atem hauchte ihr in den Nacken. Das Glas zerbarst zwischen ihren Fingern. Eine Scherbe trug Lippenstiftspuren. Diane drückte ihre Handfläche darauf und spürte, wir ihr das Glas ins Fleisch schnitt.
»Haut ab, lasst mich in Ruhe«, murmelte sie.
Die Burschen hinter ihr rückten glucksend näher.
»Oh-oh, zieren wir uns?«
Heiße Tränen traten ihr in die Augen und rannen ihr unter der Brille hervor über die Wangen. Langsam und deutlich sagte sie sich: Tu’s nicht. Aber einer der Betrunkenen gab jetzt saugende Geräusche von sich, direkt in ihr Ohr, und lallte etwas von Miezen und Würsten und Pelz, und sie dachte wieder: Tu’s nicht. Aber sie hatte bereits die Brille abgelegt und ihre Mähne zu einem Knoten geschlungen. Während sie noch mit ihrem Haar beschäftigt war, hatte einer der Burschen eine Hand unter ihre Weste geschoben, sie spürte die Wärme seiner tastenden Finger auf ihrer Brust, während eine feixende Stimme säuselte: »Mach mich nicht an, Süße, sonst …«
Das Knacken eines gebrochenen Kiefers blendete kurz die Musik von Art of Noise aus.
Der Typ wurden gegen den Kamin geschleudert und prallte mit dem Gesicht gegen eine Marmorkante. Diane hatte ihm einen Schlag mit dem Ellenbogen versetzt – jang tow. Noch einmal dachte sie: NEIN, doch gleichzeitig schoss ihre Hand vor und wie ein Rammbock in die Rippen des zweiten Gegners, die ein trockenes Splittern von sich gaben. Er landete auf dem Büffet, das unter Getöse zusammenbrach.
Diane rührte sich nicht mehr. Eines der Grundprinzipien von Wing-Tsun ist der äußerst sparsame Gebrauch von Kraft und Atem. Der letzte Angreifer hatte sich aus dem Staub gemacht. Erst jetzt wurde sie sich der entgeisterten Mienen, des verlegenen Raunens ringsum bewusst. Sie setzte ihre Brille wieder auf. Sie war selbst befremdet – nicht von ihrer Gewalttätigkeit oder dem Skandal. Sondern von ihrer eigenen Ruhe.
Irgendwo hinter ihr fing Nathalie zu kreischen an: »Bist du jetzt komplett durchgeknallt, oder was?«
Diane drehte sich langsam zu ihr um und erklärte: »Tut mir leid.«
Sie durchquerte das Zimmer, dann wiederholte sie über die Schulter, schreiend: »Tut mir leid!«
Der Boulevard Saint-Michel war genau so, wie sie gehofft hatte.
Menschenleer. Eisig. Hell erleuchtet.
Diane marschierte unter Tränen, gedemütigt und erleichtert zugleich. Jetzt hatte sie den Beweis, auf den sie gewartet hatte. Den Beweis, dass ihr Leben für immer genau so verlaufen würde: außerhalb des Kreises, fern von den anderen. Und wieder dachte sie an das Ereignis, mit dem alles begonnen hatte, diese grausame Szene, die ihre natürlichsten Impulse zerstört und rund um ihren Körper eine Festung errichtet hatte: unsichtbar, unverständlich – und uneinnehmbar.
Sie sah die Weiden wieder vor sich, die Lichter.
Sie spürte den Knebel aus Gras im Mund, den Atem unter der Vermummung.
Und sie sah auch mit einer Aufwallung von Hass das Gesicht ihrer Mutter – doch dann lächelte sie müde: An diesem Abend hatte sie nicht mehr die Kraft, irgendjemanden zu hassen. Sie erreichte die Place Edmond-Rostand, im Brunnen spiegelten sich die Lichter, und links von ihr raschelte leise das freundliche Laub des Jardin du Luxembourg. Spontan reckte sie sich und berührte mit den Fingerspitzen die Blätter an den Ästen, die über das schwarz-goldene Gitter hingen.
Mit einem Mal fühlte sie sich so leicht, dass sie meinte, nie wieder fallen zu können.
Dies geschah am Samstag, dem 18. November 1989. Diane Thiberge war soeben zwanzig geworden, aber sie wusste: Ihr Leben als junges Mädchen hatte sie für immer begraben.