SECHZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Gideon kroch um eine Ecke herum und sah ihn. Der massige Mann hockte mit ausgebreiteten Armen in einem rechtwinkligen Bereich, die eine Hand an dem Knopf, der den Menschen oben im Saal den sicheren Tod bringen würde. Gideons einzige Chance war, ihm diese Box abzunehmen und die Umwälzanlage abzuschalten, bevor die Ventilatoren das Gas aufnahmen.

Er zielte auf die rechte Hüfte des Mannes und schoss. Es war nicht möglich, seinen Kopf anzuvisieren, also musste er ihn stückweise erledigen.

Dale Wilmot brüllte laut auf, als die erste Kugel ihn am Bein traf. Mit seinem unversehrten Bein schob er sich nach vorn, seine Hände umklammerten noch immer die Fernsteuerung.

Gideon schoss erneut, diesmal in den unteren Rücken.

Wilmot stöhnte auf, kroch aber weiter. Die Fernsteuerung hielt er weiterhin fest. Wenn Gideon ihn nicht stoppte oder innerhalb der nächsten dreißig Sekunden an die Fernsteuerung kam, dann war es für alle zu spät.

Er feuerte wieder.

Wilmot schien von den schweren Verletzungen, die er erlitt, unbeeindruckt. Er kroch weiter ins Dunkle, und nun war er nur noch als Schattenriss vor dem massigen Apparat der Umwälzanlage zu erkennen. Das Geschrei im Kongresssaal war wieder lauter geworden, als die Anwesenden die Schüsse hörten und merkten, dass direkt unter ihnen etwas im Gange war.

»Amerika!«, rief Wilmot aus. »Der Tag der Abrechnung ist gekommen!« Seine Worte hallten durch die Metallrohre.

Dann zersprang sein Hinterkopf, und er fiel auf den Boden des Schachts.

Gideon drehte sich um, während gleichzeitig sein Bruder an ihm vorbeihechtete. Tillman kroch in Windeseile voran und riss dem Toten die Fernsteuerung aus der Hand. Er drückte auf den Knopf, und die Umwälzanlage kam jaulend zum Stehen. Alles war jetzt still.

»Guter Schuss, Bruderherz«, sagte Gideon.

»Es sah so aus, als bräuchtest du Unterstützung.«

»Er brach schon zusammen. Ich hatte ihn fast erledigt.«

»Ich möchte aber doch festhalten, dass ich den finalen Schuss abgegeben habe. Ich bin der Held des Tages.«

»Noch ein Schuss von mir, und er wäre fertig gewesen.«

»Ich sagte doch gerade, dass ich den entscheidenden Schuss abgegeben habe. Der Präsident wird sich bei dir bedanken, aber ich bin derjenige welcher. Das ist das größte Ding meines Lebens.«

»Ich hatte eine schlechte Schussposition.«

»Ja, wie auch immer. Das sag ich doch.«

Sie brachen in lautes Gelächter aus und krochen zurück durch den Schacht zur Luke.

»Ich möchte an dieser Stelle auch noch mal festhalten, dass du für den Posten eines College-Professors nicht im Geringsten geeignet bist«, sagte Tillman.

»Wieso das denn?«, fragte Gideon.

»Ich hab dein Gesicht gesehen. Du liebst diesen Scheiß. Du magst solche Aktionen viel zu sehr.«

Gideon seufzte. Tillman konnte nur das blasse Aufschimmern seiner weißen Zähne in der Dunkelheit sehen, als er breit zu grinsen anfing. »Tja, vielleicht hast du ja recht.«

Sie lachten immer noch, als zwanzig schwer bewaffnete Männer sie zu Boden warfen und fesselten. Kate brauchte, unterstützt von Shanelle Klotz, ganze dreißig Minuten, um sie wieder freizubekommen. Aber Gideon war das egal. Er war glücklich, ganz still neben seinem Bruder sitzen zu dürfen, während jemand anderes die Verhandlungen führte.

EINUNDSECHZIGSTES KAPITEL

PRIEST RIVER, IDAHO

Nancy Clement saß auf dem Sofa von Hank Adams und schaute sich im Fernsehen an, wie Präsident Erik Wade zurück aufs Podium stieg. »Meine amerikanischen Landsleute, wir sind heute Zeuge eines außergewöhnlichen Ereignisses geworden, als versucht wurde, auf die gewählte und rechtmäßige Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika einen Mordanschlag zu verüben. Das Attentat konnte verhindert werden. Doch selbst wenn alle Menschen hier in diesem Saal umgekommen wären, hätte der Anschlag keinen Erfolg gehabt. Auch wenn unsere Republik den einen oder anderen Makel hat, so kann sie doch nicht von einer Handvoll Extremisten zerstört werden. Sie ist viel zu stark, zu robust und meisterlich konstruiert. Wir – und damit meine ich alle, die sich hier versammelt haben – sind nur die ausführenden Organe des allgemeinen Willens. Und so wichtig wir uns im Einzelnen auch nehmen mögen, wir sind doch alle ersetzbar.«

Der Präsident warf einen prüfenden Blick ins Publikum. Auch wenn die Menge der Anwesenden sich deutlich verringert hatte, waren doch noch immer hunderte von Abgeordneten anwesend und wollten die Rede des Präsidenten hören.

»Nach dieser kurzen Vorrede«, fuhr Erik Wade fort, »möchte ich meiner gesetzlichen Pflicht nachkommen und den versammelten Vertretern des amerikanischen Volkes meine Rede zur Lage der Nation vortragen. Und ich habe nicht die Absicht, mich von irgendwelchen Möchtegernterroristen davon abhalten zu lassen.«

Damit erntete er tosenden Beifall, der fast fünf Minuten lang dauerte.

Hank Adams warf Nancy einen Blick zu und fragte: »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Nancy schaute ihn an und lächelte. Dabei merkte sie, dass sie irgendetwas an ihm überaus attraktiv fand. Er war vielleicht ein bisschen schräg drauf, aber war sie das nicht auch?

Erik Wade holte tief Luft und fuhr fort: »So … bevor ich unterbrochen wurde, war ich gerade dabei, einiges über die zukünftige Energieversorgung unseres Landes zu sagen.«

»Wissen Sie was?«, sagte Nancy und legte ihr verletztes Bein auf das Sofa. »Wo Sie sowieso aufstehen wollten, könnten Sie das doch ausschalten. Ich glaube, ich habe ein für alle Mal genug von Reden zur Lage der Nation.«