VIERZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Das Russell-Gebäude des US-Senats ist durch einen unterirdischen Gang mit dem Capitol verbunden. Der Tunnel war nicht nur dazu da, damit die Senatoren von ihren Büros ins Capitol gehen konnten, ohne sich unter den Pöbel mischen zu müssen; er ermöglichte es auch, Sachen anzuliefern, ohne dass hässliche, laute und Abgase ausstoßende Lastwagen den Hügel zum Capitol hinauffuhren. Durch diesen Tunnel mussten Wilmot und Collier gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber vorher mussten sie an Special Agent Shanelle Klotz vorbei, der Sicherheitsexpertin für die technischen Anlagen, die auch die Aufsicht über die Klimaanlage hatte.

Wilmot erklärte ihr geduldig und bis ins letzte Detail, welches Problem im Heizungssystem des Capitols aufgetreten war. Schließlich unterbrach ihn die Beamtin: »Okay, das sind mehr Einzelheiten, als ich nachvollziehen kann. Officer Grandison wird die beiden Druckflaschen durch den Röntgenapparat schicken, und wir werden sie uns ganz genau ansehen.«

»Ist klar«, sagte Wilmot.

Collier hatte ihm versichert, dass die Behälter eine derartige Untersuchung locker überstehen würden. Aber trotzdem war er besorgt.

»Soll ich sie dort drauflegen …«

Klotz schüttelte den Kopf. »Sie bleiben genau da, wo Sie jetzt sind, meine Herren.« Sie befahl einem der Beamten in Kampfmontur, die Stahlflaschen auf das Transportband des Röntgenapparats zu legen.

Wilmot schaute regungslos zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Als das Band sich in Bewegung setzte, war ein leises Jaulen zu hören. Die Behälter wurden in die Röntgenkammer transportiert. Das Jaulen hörte auf.

Special Agent Klotz trat hinzu und schaute über die Schultern von Officer Grandison. Beide Frauen blickten konzentriert auf den Bildschirm.

Nach einer Weile schüttelte die Polizistin den Kopf. »Das gefällt mir nicht«, sagte sie.

»Was sehen Sie denn?«, fragte die Agentin des Secret Service.

»Die Wände sehen nicht gut aus.« Grandison tippte auf den Bildschirm. »Sehen Sie? Zu dick.«

»Darf ich kurz …«, meldete Collier sich zu Wort.

Wilmot unterbrach ihn sofort. »Halt den Mund, John«, sagte er und lächelte breit. »Lass die Experten ihre Arbeit machen.«

»Zoomen Sie das mal ran«, verlangte Klotz. Sie starrte eine ganze Weile darauf. »Das gefällt mir auch nicht«, sagte sie schließlich. Sie wandte sich an Collier. »Sie wollten gerade etwas sagen?«

Collier schaute Wilmot fragend an. Der nickte andeutungsweise. Er hatte nichts dagegen, dass Collier etwas sagte. Er wollte nur sichergehen, dass Shanelle Klotz das Gefühl hatte, sie hätte alles im Griff.

»Darf ich kurz …« Collier räusperte sich. »Wenn Sie sich eine Propangasflasche oder eine Druckflasche für Sauerstoff, Helium, Argon oder Schweißgas ansehen, dann werden Sie feststellen, dass Sie immer einwandige Behälter haben. Stahlflaschen für Kühlflüssigkeiten waren lange Zeit auch so gebaut. Seit einigen Jahren aber, seit wir kein Freon mehr verwenden, sondern stattdessen R-410A, haben sich die thermalen Eigenschaften der komprimierten Gase verändert … Also, ich will Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen. Der Punkt ist einfach, dass wir jetzt doppelwandige Behälter benutzen. Dadurch bleibt die Temperatur der Kühlflüssigkeit konstanter. Aber natürlich sieht das für jemanden, der noch die alten einwandigen Flaschen kennt, ein bisschen ungewöhnlich aus.«

Klotz hob einen Finger, um Collier zum Schweigen zu bringen, griff nach dem Telefon auf dem Pult von Grandison und sagte: »Kann ich bitte Ron sprechen?« Sie schenkte Wilmot ein höfliches Lächeln und sagte dann: »Ron, hallo, Shanelle hier. Kühlmittel R-410A. Wird das in doppelwandigen Behältern aufbewahrt? Manchmal? Okay, danke.«

Collier lächelte andeutungsweise. »Ich würde Sie doch nicht anlügen.«

Wilmot bemühte sich, Collier zu signalisieren, dass er bitte den Mund halten sollte. Glücklicherweise ergriff Klotz wieder das Wort, bevor Collier etwas Unüberlegtes von sich geben konnte. »Passen Sie auf, ich sage Ihnen, was wir tun«, sagte sie. »Ich werde Sie mit Ihrem Kühlmittel da reinlassen. Aber ich werde Sie persönlich bis zu Ihrem Einsatzort begleiten. Wenn Sie an Ihrem Arbeitsplatz angekommen sind, werde ich zwei Sicherheitsbeamte abkommandieren, die Sie beaufsichtigen. Wenn es so weit ist, dass Sie das Kühlmittel einfüllen wollen, müssen Sie erst noch auf meine Genehmigung warten. Verstanden?«

»Geht klar«, sagte Wilmot.

»Aber vorher machen wir noch einen kleinen Test.«

Wilmot spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.

»Das Kühlmittel ist doch nicht giftig, richtig? In geringer Dosis, meine ich.«

Wilmot schluckte. »Das ist richtig, Ma’am.«

»Dann beweisen Sie uns das. Lassen Sie ein bisschen Gas raus und atmen Sie es ein.«

Wilmot zögerte und schaute Collier an, der nach einem der beiden Behälter fasste.

»Nicht den«, sagte Klotz. »Den anderen.«

Wilmot überlegte, was er jetzt tun sollte. Tatsächlich konnte er nichts tun. Er musste einfach abwarten, was passierte. Er holte tief Luft, weil er wusste, dass er eine ganze Weile nicht mehr atmen durfte.

EINUNDVIERZIGSTES KAPITEL

TYSONS CORNER, VIRGINIA

Verhoven lief im Wohnzimmer auf und ab. Tillman hatte Lorene noch eine Packung Kochsalzlösung verabreicht. Er tastete ihren Bauch ab und spürte nichts Festes. Auch ihr Atem ging gleichmäßig.

Was auch immer mit ihr los war, sie schien nicht zu verbluten. Aber es ging ihr dennoch nicht gut.

Tillman hatte den Mann und die beiden Kinder nach unten gebracht. Die Mädchen schauten sich einen Zeichentrickfilm im Fernsehen an, ihr Vater saß auf dem Sofa, rieb sich nervös die Hände und wiegte sich vor und zurück. Das ältere Mädchen hatte aufgehört zu weinen, aber auf ihrem Gesicht waren noch immer Tränenspuren zu sehen. Außerdem sah sie aus, als könnte sie sich jeden Moment übergeben.

Der Mann hörte kurz auf, sich die Hände zu reiben. »Ich bin Notarzt. Diese Frau muss dringend in ein Krankenhaus.«

»Seien Sie still«, sagte Verhoven.

»Vielleicht sollte er sie mal untersuchen«, schlug Tillman vor.

Verhoven seufzte und nickte dann zustimmend. Der Arzt holte seine Tasche mit den medizinischen Utensilien und wurde dabei von Tillman argwöhnisch beaufsichtigt. Dann untersuchte er Lorenes Wunde eingehend.

»Wie lange ist es her, seit sie angeschossen wurde?«, fragte er.

»Ein paar Stunden«, sagte Verhoven.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sie hat innere Blutungen. Es ist nicht sehr schlimm, sonst wäre sie schon tot. Aber sie muss dringend operiert werden.«

»Ihr Bauch ist nicht hart«, sagte Tillman und schob eine Erklärung hinterher: »Ich bin mal Sanitäter in einer Kampfeinheit gewesen.«

Der Arzt deutete auf Lorenes Unterleib und fragte sie: »Müssen Sie sehr oft zur Toilette gehen?«

Sie nickte schwach. Ihre Augen waren glanzlos.

»Blut im Urin?«

»Ja.«

Der Arzt wandte sich an Tillman und sagte: »Ein Geschosssplitter hat möglicherweise die Blase oder eine der Nieren durchbohrt. Vielleicht hat er auch die Vaginalarterie oder den Nebennierenbereich verletzt. Das Blut läuft in die Blase. Das ist nicht gut. Wenn die Blutung nicht gestoppt wird, und zwar so schnell wie möglich, wird sie sterben.«

Verhoven stöhnte laut auf, als hätte ihm jemand einen Tiefschlag versetzt. Mit zitterndem Zeigefinger deutete er auf den Arzt: »Sie müssen sie retten! Retten Sie sie, Sie verdammter Quacksalber!«

Der Arzt schaute Tillman an, als würde er sich von ihm Unterstützung erhoffen. Er hatte bereits mitbekommen, dass Tillman der Einzige war, der Ruhe bewahrte. Er war die einzige Stimme der Vernunft im Raum.

»Wir sollten uns alle erst einmal beruhigen«, sagte er.

Verhoven setzte sich neben seine Frau und strich ihr übers Haar. »Es ist alles gut, Lorene. Du wirst wieder gesund. Der Doktor wird sich was überlegen.«

Verhoven schien von Minute zu Minute labiler zu werden. Das Gespräch über Lorenes Zustand half gar nichts. Sie warteten auf einen Anruf, offenbar um weitere Instruktionen zu bekommen. Verhoven hatte sich nicht konkret dazu geäußert, und Tillman wollte ihn nicht unter Druck setzen. Stattdessen richtete er seine Fragen jetzt an den Arzt.

»Warum braucht denn ein ganz normaler Bürger in einem Vorort so viele Sicherheitsvorkehrungen?«, fragte er.

»Dafür bin ich nicht verantwortlich.« Der Mann sah auf einmal so aus, als bereute er seine Aussage.

»Oh?«, bohrte Tillman weiter. »Dann ist Ihre Frau die Sicherheitsfanatikerin?«

Der Arzt schaute ihn argwöhnisch an. »Wollen Sie sich über mich lustig machen?«

Tillman warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Wie meinen Sie das?«

»Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie nicht, was meine Frau für einen Beruf hat«, sagte der Arzt. »Morgen hält der Präsident seine Rede zur Lage der Nation.«

Tillman ging zum Kamin und nahm nacheinander verschiedene Familienfotos in die Hand. Auf mehreren war der Mann mit den zwei Mädchen und einer Frau zu sehen, die ganz offensichtlich seine Ehefrau war. Eine kleine Person, sehr attraktiv. Dann entdeckte er eine Urkunde mit einem Bild der Frau, auf dem sie vor einem blauen Hintergrund stand, neben einer Tafel mit einem offiziellen Wappen.

Tillman schaute sich die Urkunde genauer an. Die Frau trug eine Pistole und hatte ein Abzeichen am Gürtel. Ganz allmählich fügten sich die Einzelteile zu einem Gesamtbild. »Das ist also Ihre Frau, hm?«

Der Arzt sagte nichts, aber sein Schweigen beantwortete Tillmans Frage.

Ganz unten auf der Urkunde war ein Schriftzug, den Tillman jetzt laut vorlas, in der Hoffnung, dass Gideon nahe genug war, um es über Funk mitzubekommen.

»United States Secret Service«, sagte Tillman. »Ihre Frau ist Special Agent Shanelle Klotz.«

Der Polizist war nicht sehr gesprächig, aber Gideon versuchte, ihn zum Reden zu bringen. Zuerst hatte er dem Beamten die Wahrheit erzählt: Dass sie hinter einheimischen Terroristen her wären, die eine Familie als Geiseln genommen hätten. Aber als der Polizist so tat, als würde er ihm glauben und vorschlug, sie sollten doch zu seiner Dienststelle fahren und eine Anzeige aufnehmen, gab Gideon auf. Er konnte sich durchaus vorstellen, wie der Polizist die Angelegenheit wahrnahm: Ein schmutziger, verlottert wirkender, zotteliger Typ mit einer Pistole in der Hand behauptete, er würde hier in der Vorstadt mit seinem Bruder, einem ehemaligen Sträfling, Terroristen verfolgen. Und verlangte dabei auch noch die Unterstützung der Polizei. Na ja, anstelle des Beamten wäre er auch ziemlich skeptisch. Also hörte er auf, über Verhoven zu reden und schnitt irgendwelche belanglosen Themen an, einfach um sich die Zeit zu vertreiben. Aber der Polizist hatte keine Lust dazu und reagierte patzig.

Gideon hörte nur Bruchstücke von dem, was im Haus vor sich ging, aber er hatte inzwischen herausgefunden, dass die Frau, die in dem Haus wohnte, beim Secret Service arbeitete und zu der Abteilung gehörte, die bei der Rede des Präsidenten für Sicherheit sorgte. Und ihre Familie war gekidnappt worden, um Druck auszuüben. Aber ihm war immer noch nicht klar, worum genau es ging.

Konnte es sich um eine so einfache Sache handeln wie: Entweder Sie töten den Präsidenten, oder wir töten Ihre Familie? Das wohl eher nicht. Selbst wenn sie eine Secret-Service-Beamtin dazu bringen könnten, ihre Waffe auf den Präsidenten zu richten, dann wäre die Sache in wenigen Sekunden vorbei. Aber Mixon hatte einen anderen Eindruck vermittelt: Es ging nicht bloß um einen simplen Mordanschlag, sondern um einen Terroranschlag mit zahlreichen Opfern. Die Rede des Präsidenten im Capitol war natürlich die perfekte Gelegenheit. Aber solange er nicht wusste, welche Rolle die Frau vom Secret Service dabei spielte, und er noch keine Nachricht von Nancy hatte, verfügte er nicht über genügend Informationen, um mit Dahlgren darüber zu sprechen. Jedenfalls nicht, wenn er ihn überzeugen wollte und zugleich verhindern, dass er selbst verhaftet wurde.

Auch wenn es ihm nicht passte, er musste hier sitzen bleiben und abwarten.

ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Wilmot hielt die Luft an, während das Gas aus dem Behälter zischte.

Ein rosafarbener Strahl schoss aus der Flasche und verdampfte sofort, als er mit der Luft in Kontakt kam. Collier drehte den Verschluss wieder zu, beugte sich nach unten und atmete die Luft in der Nähe der Gasflasche ein. Wilmot erwartete, dass er sich jeden Moment an den Hals fasste und umkippte, ihm Schaum vorm Mund stand und er laut aufschrie.

Aber nichts geschah.

Stattdessen richtete Collier sich auf und sagte: »Sehen Sie. Alles ganz harmlos.« Er grinste. »Es riecht nicht besonders gut … aber es ist total harmlos, solange man nicht riesige Mengen davon einatmet.«

Wilmots Puls verlangsamte sich wieder. Er bemühte sich, nicht erstaunt dreinzublicken. Was zum Teufel war da gerade passiert?

Der Sicherheitsbeamte, der in der Nähe von Collier stand, nickte Special Agent Klotz zu: »Ja, das ist ein Kühlmittel. Das erkenne ich am Geruch. Mein Schwager hat letztes Jahr versucht, unsere Heizung zu reparieren. Er hat versehentlich die Leitung gekappt, und das Zeug ist in den Keller geströmt.« Er rümpfte die Nase. »Den Gestank mussten wir ertragen, wenn ich mit meinen Kumpels runterging, um Karten zu spielen, erst nach zwei Monaten war er verflogen.«

»Also gut, meine Herren«, sagte Klotz. »Ich denke, das genügt. Gehen wir.«

Wilmot lief hinter Collier her, Klotz folgte wenige Schritte hinter ihnen, die Hand an der Waffe. Wilmot war beeindruckt. Diese Leute vom Secret Service waren wirklich gründlich.

Ein langer Betonkorridor führte zu einer kleinen U-BahnStation. Dort stand ein Waggon mit geöffneten Türen. Collier schob den Servicewagen zielstrebig auf den Waggon zu. Sofort traten ihm zwei Männer in den Weg.

»Wir gehen zu Fuß«, sagte Klotz. »Die U-Bahn wurde in den Sechzigerjahren auf breiteren Gleisen neu gebaut. Der alte Tunnel ist da drüben. Er dient jetzt als Liefereingang für das Capitol.«

Collier ging durch den Eingang in den zweiten Tunnel, und das Vorderrad des Servicewagens quietschte laut. Wilmot folgte ihm.

Der Weg zum Capitol kam ihm unendlich lang vor. Die ganze Zeit über fragte er sich, warum Collier nicht beim Einatmen des Gases umgekommen war. Offenbar hatte sein Komplize ihm einige problematische Details nicht mitgeteilt. War nur in einem der Behälter Gas? Hatte Collier einfach die Luft angehalten und sich darauf verlassen, dass das Zyanid ein bisschen schwerer war als Luft? Falls das der Fall war, würde das Gas sich ausbreiten, und die Personen, die im Raum geblieben waren, würden es riechen und womöglich umkippen. In diesem Fall müssten sie sich sehr beeilen. Aber Collier schien nicht in Eile zu sein.

Schließlich erreichten sie das Ende des Tunnels und betraten einen kleinen gekachelten Raum mit einem Aufzug und einer alten Eisentreppe, die nach oben führte.

Alles war genau so, wie er es erwartet hatte. So hatten sie es auf den Plänen gesehen, die der National Heat & Air übergeben worden waren, als sie den Zuschlag für den Bau der Klimaanlage bekommen hatten.

Die Beamtin vom Secret Service sagte: »Gehen Sie bitte weiter, meine Herren. Wir nehmen den Aufzug.« Sie sprach leise in das Mikrofon an ihrem Ärmel: »Bitte den Aufzug vom Südflügel auf Ebene L.«

Collier schluckte und schob den Servicewagen auf den Aufzug zu.

Kurz darauf öffneten sich die Türen mit einem schrillen Quietschen, das in den Ohren schmerzte.

DREIUNDVIERZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Wilmot und Collier verbrachten den ganzen Morgen im Kontrollraum der Klimaanlage und quälten sich mit den verschiedenen Kontrollreglern des Heizungssystems herum. Es war, wie geplant, heruntergefahren worden. Gegen Mittag wandte Wilmot sich an Shanelle Klotz: »Also, wenn Sie wollen, dass die Anlage während der gesamten Präsidentenrede durchläuft, dann müssen wir hier unten bleiben und die ganze Zeit aufpassen.«

»Sie dürfen nicht hier unten bleiben.«

»Das müssen Sie entscheiden. Zehn zu eins, dass die Anlage noch vor heute Abend wieder ausfällt.«

Einige Anrufe später erklärte Klotz: »Okay, Sie können hierbleiben. Vor der Tür wird ein Wachposten stehen. Sie machen die Tür nicht auf, sondern Sie klopfen, und der Beamte kommt herein. Wenn Sie irgendwohin gehen wollen, dann muss ich das persönlich genehmigen und Sie begleiten. Verstanden?«

»Ist kein Problem«, sagte Wilmot. Er setzte sich und wartete, bis die Türe sich wieder geschlossen hatte. Sie befanden sich in einem kleinen, dunklen Raum. Von hier aus hatten sie keinen direkten Zugriff auf das Heizungssystem, nur auf die Kontrollarmaturen. An diesem Ort konnten sie nichts weiter unternehmen.

Aber jetzt waren sie zum ersten Mal wieder allein.

»Was war denn das vorhin?«, fragte Wilmot. »Wieso sind wir nicht alle an einer Zyanidvergiftung gestorben?«

Collier schaute ihn auf seine typische misslaunige, hochnäsige Art an. »Ich dachte mir schon, dass jemand eine Probe aus dem Tank haben will, also habe ich beide mit einer doppelten Wand versehen. Das bedeutet, jeder Behälter hat zwei Tanks. Die äußere Schicht enthält das Kühlmittel. Wenn man den Hahn aufdreht, kommt reines R-410A heraus.« Er deutete auf den Behälter. »Sehen Sie die Schraube da? Wenn ich die dreimal drehe, dann bricht die Sperre zwischen der inneren und der äußeren Kammer. Wenn wir dann den Hahn aufdrehen, kommt kein Kühlmittel mehr heraus …«

»… sondern Hydrogenzyanid.«

»Genau.«

»Wäre ganz nett gewesen, wenn du mir das vorher schon mitgeteilt hättest«, sagte Wilmot.

Collier starrte ihn an. »Sie sollten nur wissen, dass Sie mich brauchen. Sie werden mich bis zum Schluss brauchen.«

Wilmot legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Daran hatte ich nie den leisesten Zweifel, mein Junge«, sagte er. »Nicht für eine Sekunde.«

Colliers Gesicht glühte.

Wilmot lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Servicewagen. »Glaubst du, die Anlage wird den ganzen Tag durchlaufen, ohne einen weiteren Defekt?«

Collier grinste breit. »Das will ich doch hoffen.«

VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL

INTERSTATE 66, AUSSERHALB VON WASHINGTON, D.C.

Kate Murphy beendete das Auftragen des Make-ups im Wagen. Wenn doch nur Gideon bei ihr wäre, dachte sie, als sie in der Limousine durch den dichten Verkehr der Hauptstadt kroch. In wenigen Stunden würde sie bei der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation dabei sein, aber was sie sich viel mehr wünschte, war, Gideons Stimme zu hören.

Etwas früher am Tag hatte sie Besuch von einem ziemlich unangenehmen Menschen bekommen – Ray Dahlgren, der stellvertretende Direktor des FBI, hatte nach Gideons Aufenthaltsort gefragt und behauptet, er wolle ihm »helfen«. Aber Kate war nicht so leicht an der Nase herumzuführen. Sie erkannte einen Lügner schon von Weitem, und Dahlgren wirkte unglaublich scheinheilig. Ziemlich bald schon ließ Dahlgren seine Maske fallen, und sie gerieten in eine heftige verbale Auseinandersetzung, in deren Verlauf Dahlgren mit Worten wie »Verschwörer« und »Behinderung der Justiz« um sich warf. Kate ließ ihn abblitzen. Trotzdem machte sie sich Sorgen um Gideon. Auf ihrem Anrufbeantworter hatte er ihr mitgeteilt, dass es ihm gut ging. Aber seine Nachforschungen hatten Dahlgren eindeutig in größte Unruhe versetzt. Nun fürchtete sie, dass er sich durch seinen Konflikt mit dem FBI noch mehr in Gefahr brachte.

Sie bemerkte die deutliche Präsenz von Sicherheitskräften rund um das Capitol, die sogar für Washingtoner Verhältnisse sehr auffällig war. Sie wusste ja, dass der Secret Service nichts dem Zufall überließ, fragte sich aber, ob sie wirklich auf alle Eventualitäten vorbereitet waren. Drohungen kamen ständig aus allen Richtungen, und selbst die wachsamsten Sicherheitsbeamten konnten nicht gleichzeitig überall sein. Als die Limousine an einer roten Ampel hielt, fragte sie sich ganz kurz, ob womöglich ein Anschlag während der Rede des Präsidenten im Capitol geplant war und ob sie in diesem Gebäude wirklich in Sicherheit war.

Aber dann fand sie sich doch übertrieben ängstlich. In der Welt nach dem 11. September war absolute Sicherheit nicht mehr gegeben und kein Ort wirklich ungefährlich. Diese Ungewissheit war inzwischen zum Normalzustand geworden. Wichtig war, dass sie Gideon vertraute. Wenn wirklich ein Anschlag geplant war, dann würde er eine Möglichkeit finden, ihn zu unterbinden. Und sie sollte sich besser auf das konzentrieren, was direkt vor ihr lag.

Eine Angehörige der Protokollabteilung des Weißen Hauses, eine sehr junge Frau, die aussah, als hätte sie gerade erst die Mädchenschule abgeschlossen, hatte Kate über den Ablauf des Festaktes aufgeklärt. Laut offiziellem Protokoll waren die Gäste in drei Kategorien eingeteilt. Es gab Teilnehmer, die deshalb eingeladen worden waren, weil sie die Wahlkampagne des Präsidenten mit Spenden finanziert hatten oder weil sie aus demographischen Gründen wichtig waren, zum Beispiel eine hispanische Bürgerin, die eine Ehrenmedaille bekommen hatte, oder eine weiße Polizistin. Auf der nächsten Stufe der Leiter standen Leute wie Kate, die Beamte oder Mitarbeiter der Regierung waren, gewesen waren oder es in Zukunft werden sollten. Darüber standen die Kongressabgeordneten und über denen wiederum die Senatoren, einige bedeutende Regierungsmitglieder, die Generalstabschefs, die Angehörigen des Obersten Gerichtshofs und schließlich der Sprecher des Kongresses, der Vizepräsident und der Präsident selbst.

Je weiter unten man auf der Liste verzeichnet war, umso früher musste man vor Ort sein. Auch Milliardäre, Kriegshelden und Goldmedaillengewinner waren verpflichtet, sich schon vier Stunden vor dem Ereignis am Versammlungsort im Russell-Gebäude einzufinden. Kate, die immerhin eine Stufe höher stand, wurde erst drei Stunden vor Beginn erwartet.

Die Limousine kam im dichten Verkehr kaum voran. Die Kuppel des Capitols lag noch in weiter Ferne. Sollte es womöglich doch das Ziel eines Anschlags werden? Sie spürte, wie ihre Beine nervös zuckten.

Wenn Gideon sich doch nur melden würde.

FÜNFUNDVIERZIGSTES KAPITEL

TYSONS CORNER, VIRGINIA

»Doktor, ich habe da einige Arzneimittel in der Küche gefunden. Könnten Sie sich die mal ansehen?«, fragte Tillman und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.

Der Arzt schaute ihn misstrauisch an. »Was meinen Sie denn?«

»Verbandszeug, das Sie sich mal anschauen sollten.« Er deutete mit dem Lauf seiner Waffe in die Küche. »Kommen Sie doch mal mit.«

»Ich lasse die Mädchen nicht allein.«

»Wir wollen uns doch nicht über solche Lappalien streiten, oder?«, sagte Tillman ruhig. Dann warf er ihm einen deutlich auffordernden Blick zu.

Klotz schien einen Moment lang zu überlegen. Dann nickte er knapp und lief eilig auf die Küchentür zu.

Tillman folgte ihm, konnte ihn aber nicht überholen. Als er eintrat, stand Klotz gegen den Tresen gelehnt, mit ausdruckslosem Gesicht, die Hände hinter dem Rücken.

Tillman blieb neben der Tür stehen. Es war eine hübsche moderne Küche – mit einer Arbeitsplatte aus Granit und einer Sitzgruppe in der Mitte. Alles war sauber und ordentlich, die Pfannen hingen an ihren Haken, und die Messer steckten in ihrem Holzblock. Eine Pfanne an jedem Haken, ein Messer in jedem Schlitz.

Nur eins fehlte.

Tillman blieb auf der anderen Seite der Sitzgruppe stehen und blieb auf Distanz. Er beugte sich vor und sprach so ruhig und sanft, wie er konnte. »Der Mann im Nebenzimmer ist ziemlich aufgebracht. Er ist fest davon überzeugt, dass er einer sehr großen Sache dient. Und diese Sache hat ihn hierhergeführt. Er will sie unbedingt zu einem erfolgreichen Ende bringen. Aber er liebt seine Frau. Er ist jetzt in einem ziemlich erregten Zustand. Wir müssen alle unbedingt ruhig bleiben.«

Klotz starrte ihn an.

Tillman kam um die Sitzgruppe herum und blieb dicht vor Klotz stehen. Nun konnte er so leise sprechen, dass Verhoven ihn nicht hören konnte.

»Wie Sie sich wahrscheinlich schon gedacht haben, ist ein Anschlag während der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation geplant. Ich bin hier, um zu verhindern, dass es so weit kommt.«

Klotz schloss kurz die Augen. Ein Ausdruck der Erleichterung huschte über sein Gesicht. »Oh, Gott sei Dank«, flüsterte er. »Dann sind Sie vom FBI

»Ich wünschte, es wäre so einfach«, sagte Tillman. »Aber ich gehöre jedenfalls zu den Guten.«

»Sind Sie Polizist?«

»Bleiben wir lieber bei den wichtigen Dingen. Erstens: Sie müssen mitspielen. Egal, was ich Ihnen sage, tun Sie es einfach. Keine schlauen Bemerkungen, keine Messer im Ärmel.« Er streckte die Hand aus und packte Klotz am Arm. Mit der anderen zog er das Ausbeinmesser mit der achtzehn Zentimeter langen Klinge aus dem Ärmel des Arztes und schob es wieder in den Holzblock.

»Mist«, sagte Klotz. »Tut mir leid.«

»Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, dass Sie Ihre Familie verteidigen wollen«, sagte Tillman. »Zweitens müssen wir die Leute ausfindig machen, die diesen Anschlag durchführen wollen. Wir wissen nicht, wer sie sind oder wo sie sind. Aber sie werden sich irgendwann hier melden. Was immer dann passiert, machen Sie mit.«

Klotz kniff die Augen zusammen. »Können Sie irgendwie beweisen, was Sie da behaupten? Vielleicht erzählen Sie mir ja nur ein Märchen, damit ich nichts gegen Sie unternehme.«

Tillman schaute ihm direkt ins Gesicht und sagte: »Sir, um ganz ehrlich zu sein, haben Sie überhaupt keine andere Wahl. Ich bin Ihre einzige Versicherung, dass Sie aus diesem Schlamassel rauskommen. Und jetzt müssen Sie mir sagen, bei welcher Einheit Ihre Frau arbeitet.«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie hat Ihnen das nicht erzählt?«

»Sehen Sie sich doch um. Dann kriegen Sie schnell mit, auf welchem Sicherheitslevel meine Frau sich bewegt. Ihr Tätigkeitsbereich ist geheim. Sie erzählt niemandem davon, schon gar nicht ihrer Familie.«

Tillman schaute sich sein Gegenüber eingehend an und entschied, dass er ihm glauben musste. »Okay. Dann müssen wir eben abwarten. Aber wir können nicht zulassen, dass Lorene stirbt, während wir hier tatenlos herumsitzen. Sie müssen sich was überlegen, um ihr das Leben zu retten.«

»Ich kann hier doch keine Operation durchführen! Selbst wenn ich genau wüsste, wo sich die Splitter befinden. Ich bin kein Nierenspezialist. Und wir sprechen hier von einem sehr heiklen chirurgischen Eingriff, bei dem die Gefäße betroffen sind.«

»Dann müssen Sie sich was anderes überlegen. Je besser es dieser Frau geht, umso sicherer sind Ihre Kinder. Ich habe Geräte für eine Infusion im Auto, aber ich habe bereits zwei Beutel Kochsalzlösung und zwei mit Blutplasma verbraucht. Ich habe nichts mehr für eine Transfusion.«

Klotz dachte kurz nach. »Ich glaube, ich habe noch zwei Flaschen mit steriler Kochsalzlösung oben im Panikraum. Die sind eigentlich für die Befeuchtung von Wunden gedacht, aber …« Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Also theoretisch könnten wir ein bisschen Zucker untermischen und damit eine Infusion machen. Das peppt sie ein bisschen auf, und ihr Zustand wird sich stabilisieren. Aber dabei könnten wir die Salzlösung unter Umständen verunreinigen. Wenn das passiert, wird sie eine Infektion bekommen, die möglicherweise tödlich ist.«

»Wir brauchen sie heute lebendig. Morgen wird sich der Rest von selbst erledigen.«

»Ich nehme meinen hippokratischen Eid sehr ernst. Ich darf einem Patienten nicht schaden. Das Risiko …«

Tillman unterbrach ihn und flüsterte mit zusammengebissenen Zähnen: »Diese Schweine wollen eine große Anzahl von Menschen kaltblütig umbringen. Auch Ihre beiden Töchter übrigens. Das Leben der Frau ist mir völlig egal. Wenn es nach mir geht, wird diese Frau sowieso bald tot sein.«

Klotz’ Gesichtszüge verhärteten sich. »Also gut«, sagte er schließlich. »Holen Sie die Sachen für die Infusion aus dem Auto. Ich will mal sehen, was ich da zusammenmischen kann.«

Tillman deutete mit der Waffe zur Tür. »Zurück ins Wohnzimmer.«

Verhoven schaute sie erwartungsvoll an, als sie eintraten.

»Das mit den Medikamenten war leider falsch, Colonel«, sagte Tillman. »Aber ich glaube, der Doktor und ich haben eine Lösung gefunden …«

Gideon fragte den Polizisten, ob er Hunger hätte.

»Ich brauche nichts«, sagte Officer Millwood.

»Ich habe ein paar Müsliriegel in meiner Jackentasche.«

»Ich brauche nichts«, wiederholte der Polizist.

»Hören Sie, ich kann ja verstehen, dass Sie nicht besonders glücklich darüber sind, hier mit mir herumzusitzen. Aber es wäre alles viel einfacher, wenn Sie mir vertrauen und was zu essen annehmen würden.«

»Warum sollte ich Ihnen vertrauen?«

»Sie haben doch mitbekommen, was da im Haus abgelaufen ist. Glauben Sie, ich habe Ihnen das vorgespielt?«

»Ich habe nichts weiter mitbekommen als die Tatsache, dass dort ein paar Leute eine unschuldige Familie als Geiseln genommen haben.«

Gideon seufzte. Er saß jetzt seit fast sechs Stunden mit diesem Beamten hier zusammen, und in diesem Zeitraum war kaum etwas passiert. Um ihn herum belebte sich die Gegend. Eltern brachten ihre Kinder zum Schulbus, und als die Kinder weg waren, kamen die Mütter mit den Hunden heraus, um Gassi zu gehen. Dann rückten die Putzfrauen an. Glücklicherweise hatte Officer Millwood noch zwei Stunden lang Dienst, und abgesehen davon, dass sein Vorgesetzter sich einmal gemeldet hatte, gab es keine Notfälle, die ihn betrafen.

Wenn Tillman ihm doch nur über Funk mehr Informationen übermitteln könnte. Aber es war ja klar, dass er keine Gelegenheit dazu hatte. Stattdessen hörte Gideon gedämpfte Unterhaltungen, die von dem Mikro aufgenommen wurden, das Tillman in der Tasche hatte. Es war nicht ideal, aber zumindest blieb er auf dem Laufenden. Er wusste, dass sie Lorene eine Infusion gegeben hatten, und konnte sich ausrechnen, dass ihnen das noch ein oder zwei Stunden Puffer verschaffte. Aber hatten sie überhaupt so viel Zeit? Die Rede zur Lage der Nation würde in wenigen Stunden stattfinden, und mit jeder Minute, die verstrich, näherten sie sich dem Zeitpunkt des Anschlags. Aber wenn Tillman jetzt herauskam, hatten sie nicht viel mehr als den Namen der Secret-Service-Agentin. Unter normalen Umständen hätte das genügt, aber damit würden sie nicht durch die Sicherheitskontrollen kommen oder Dahlgren überzeugen. Die Zeit verstrich, und doch konnten sie im Moment nur abwarten. Zweifellos würde sich das in absehbarer Zeit ändern.

»Worauf warten wir denn bloß?«, murmelte er vor sich hin.

»Genau das frage ich mich auch«, sagte Officer Millwood.

Gideon drehte sich zu ihm. Das war der erste Kommentar zur Lage, den der Polizist überhaupt gemacht hatte. Vielleicht war das Eis ja jetzt gebrochen.

Aber bevor er antworten konnte, wurde er von einem leisen Geräusch in seinem Ohrhörer zurückgehalten. Im Haus der Familie Klotz klingelte das Telefon. Er hörte, wie Verhoven sagte: »Gehen Sie ran. Das ist Ihre Frau.«

SECHSUNDVIERZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Zehn Minuten zuvor, als die Temperatur im Capitol sechzehn Grad Celsius erreicht hatte, öffnete Collier die Tür und sagte zu dem Wachposten, der draußen stand: »Ich glaube, Sie müssen Special Agent Klotz noch mal rufen. Wir haben ein Problem mit der Temperaturregelung.«

Der Beamte nickte und rief sie dann über das Mikrofon, das an seinem Ärmel steckte.

Als Shanelle Klotz den Kontrollraum erreichte, erklärte Wilmot ihr, dass das Heizungsproblem doch schlimmer sei als erwartet. Im Capitol würde es in ungefähr einer Stunde wieder so kalt sein wie in einem Kühlschrank.

»Was müssen Sie tun, um das in Ordnung zu bringen?«, fragte sie.

»Ich muss die Kontrollanzeigen in der Eingangshalle prüfen, während John hier die Daten eingibt. Ich nehme mal an, Sie wollen lieber hierbleiben, während ich dahin gehe.« Shanelle Klotz nickte und steckte den Kopf aus der Tür. »Mr Wilmot kommt jetzt heraus. Ich bleibe hier drinnen.«

»Ja, Ma’am«, sagte der Posten.

Wilmot trat mit dem Spannungsmesser in der Hand nach draußen, schaute den Flur entlang und wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Bis auf den Wachposten und ihm selbst war niemand zu sehen.

»Wir müssen in diese Richtung«, sagte er und deutete nach links. »Müssen Sie mich begleiten?«

»Ja, Sir, das muss ich.«

Wilmot ging los. Plötzlich sagte er: »Oh, verflixt, das ist ja das falsche Kontrollbord«, und drehte sich abrupt um.

Jetzt stand er in Reichweite des Beamten. Er tat so, als würde er stolpern, und streckte die Hand aus, als wollte er sein Gegenüber davor bewahren, gegen ihn zu stoßen.

Das Gerät in seiner Hand sah aus wie ein Spannungsmesser, war es aber nicht. Tatsächlich handelte es sich um ein Betäubungsgewehr. Ein normales Betäubungsgewehr gibt einen Stromstoß von ungefähr fünfzigtausend Volt bei 0,01 Milliampere ab. Dieses Betäubungsgewehr jedoch besaß einen anderen Kondensator und Transformator als die handelsüblichen Modelle und produzierte ungefähr drei Ampere.

Wilmot stieß die beiden fast unsichtbaren Spitzen am Ende des Spannungsmessers in den Brustkorb des Beamten und drückte auf den Knopf, wodurch er die gesamte im Gerät enthaltene Strommenge in dessen Körper entlud. Die Stärke des Stromstoßes – genug, um einen Toaster anzutreiben – genügte, um das Herz des Mannes augenblicklich zum Stillstand zu bringen.

Der Beamte zuckte so heftig, dass sein Kopf gegen die Wand geschmettert wurde. Es klang, als würde jemand mit einer Machete eine Kokosnuss spalten. Der Beamte war schon tot, als sein Körper auf dem Boden aufkam. Wilmot zog die Maschinenpistole aus seinem Holster, schob die Leiche mit dem Fuß ein paar Meter zur Seite und klopfte dann leise an die Tür.

Als Shanelle Klotz aufmachte, packte er sie an der Kehle und drängte sie zurück in den Raum, während er ihr die Maschinenpistole ins Gesicht hielt.

Laut ihren Personalakten – die Wilmot sehr sorgfältig studiert hatte – hatte Agent Klotz ein sehr intensives Training in Selbstverteidigung bekommen, wie alle anderen Beamten des Secret Service auch. Aber er war gut dreißig Zentimeter größer und knapp 60 Kilo schwerer als sie.

Sie hatte keine Zeit zu schreien oder nach ihrer Waffe zu greifen, da hatte Collier sie schon entwaffnet und ihr ein Klebeband über den Mund gezogen. Sie kämpfte immer noch wild gegen Collier an, während Wilmot den toten Beamten in den Kontrollraum zog, aber es war zu spät. Wilmot schloss die Tür und richtete die Maschinenpistole auf ihr Gesicht.

»Wenn wir die Absicht gehabt hätten, Sie zu töten, dann wären Sie schon tot. Sie können sich also beruhigen, um herauszufinden, was wir vorhaben.«

Sie setzte sich weiterhin zur Wehr, während Wilmot ihr Plastikfesseln um die Arme und Handgelenke legte. Schließlich sah sie ein, dass Widerstand zwecklos war, und beruhigte sich. Wilmot erkannte aber deutlich, dass sie nicht gewillt war aufzugeben. Sie sparte lieber ihre Kräfte, um ihre Situation einzuschätzen und in einem günstigen Moment das Blatt zu wenden. In ihren Augen flammte immer noch der unterdrückte Zorn auf. Je mehr er mit ihr zu tun hatte, umso mehr mochte er sie.

»Sie rufen jetzt zu Hause an«, sagte er. »Sie wollen doch nicht, dass Ihren Töchtern was passiert.«

Sie riss die Augen auf, und jetzt wusste Wilmot, dass er sie gefügig gemacht hatte. Er hatte sehr viel Zeit mit eigenen Ermittlungen im Vorfeld dieser Aktion verbracht. Er hatte die psychologischen Profile gelesen und sie für geeignet befunden, weil sie Mutter von zwei kleinen Kindern war.

Collier zog das Handy aus dem Gürtel der Beamtin und steckte ein dünnes Kabel ein, das mit dem USB-Anschluss des Kontrollbords der Klimaanlage verbunden war.

»Wir wissen, dass der Secret Service während der Rede des Präsidenten alle Mobilfunkfrequenzen unterdrückt. Aber die Kabelverbindung über den Server der National Heat & Air funktioniert ausgezeichnet. Sie gehört zu den Sicherheitsleitungen, die das Capitol mit dem staatlichen Sicherheitssystem verbindet. Wir können uns eine Leitung nach draußen verschaffen, indem wir die Identifikationsdaten auf der SIM-Karte in Ihrem Mobiltelefon benutzen. Mein Freund John hier könnte Sie stundenlang mit den technischen Details langweilen. Aber das Wichtigste ist, dass derjenige, der diesen Anruf entgegennimmt, Ihren Namen auf dem Display sieht.«

Collier gab ihr Passwort auf dem Handy ein und sagte: »Laut meinen Informationen haben Sie Ihre Nummer zu Hause als Nummer zwei in die Liste eingetragen.«

Er drückte auf die Zweier-Taste. Als es klingelte, schaltete er den Lautsprecher ein und hielt den Apparat vor das Gesicht von Shanelle Klotz.

Nachdem es drei Mal geklingelt hatte, meldete sich eine männliche Stimme, die sehr verängstigt klang. »Liebling, bist du das?«

»Hallo, Dr. Klotz«, sagte Wilmot. »Ihre Frau steht gerade direkt neben mir. Sie hat ein Klebeband über dem Mund, und ihre Arme und Beine sind gefesselt. Aber sie hört sehr aufmerksam zu. Sie sollten ihr jetzt erst einmal eine ehrliche und genaue Beschreibung Ihrer momentanen Situation geben.«

Wilmot hörte, wie Klotz am anderen Ende der Leitung die Luft einsaugte und ausstieß – ein schnelles, fast schon hysterisches Atmen. »Liebling? Bist du dort? Hier sind … hier sind zwei Männer und eine Frau in unserem Haus. Sie sind schwer bewaffnet. Nicht nur mit Pistolen. Sie haben auch Sprengstoff und solche Sachen bei sich. Sie haben anscheinend die Alarmanlage ausgeschaltet, sodass die Polizei nichts mitbekommen hat. Das sind … ich weiß auch nicht, jedenfalls sind sie wirklich … sehr ernst zu nehmen.«

Shanelle Klotz sah ungeheuer wütend aus. Ihre Augen blitzten auf vor Wut und vor Angst.

Wilmot legte einen Finger an die Lippen. »Sprechen Sie mit ihm, Agent Klotz«, forderte er sie auf. »Aber vergessen Sie nicht: Wenn Sie uns Schwierigkeiten machen, werden Ihr Mann und Ihre Töchter getötet.«

Collier riss ihr das Klebeband vom Mund.

»Nathan«, sagte sie, »du weißt doch, dass ich nicht …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.

»Bitte, Liebling! Tu, was sie sagen!« Die Stimme ihres Mannes war sehr hoch und zittrig. »Sie haben die Mädchen.«

Shanelle Klotz starrte geradeaus auf die kahle Wand. Ihre Miene war unbewegt, aber Tränen strömten ihr übers Gesicht.

»Sie sollen uns nur eine Tür öffnen, mehr verlangen wir nicht von Ihnen«, sagte Wilmot.

Die Agentin schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Ich kann nicht, Nathan. Ich habe einen Eid geschworen.«

Wilmot war verblüfft. Er wusste ja, wie sehr er seinem eigenen Sohn zugetan war. Dass eine Mutter derart hartherzig war und das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzte, konnte er nicht fassen. Er hätte nie gedacht, dass eine Frau zu einer solchen Entscheidung fähig war. Und jetzt waren es bis zur Rede des Präsidenten nur noch eine Stunde und vierzig Minuten.

Im Wohnzimmer der Familie Klotz sah Tillman verblüfft zu, wie Lorene Verhoven mit einem Mal vom Sofa aufstand. Obwohl sie halb tot wirkte, war jetzt wieder dieser manische Schimmer in ihren Augen zu sehen.

Sie ging zu ihrem Mann, nahm ihm das Telefon aus der Hand und stellte den Lautsprecher aus. Dann hob sie den Hörer ans Ohr. Sie fasste das jüngere Mädchen bei der Hand und sagte lächelnd: »Hallo, Liebes. Sag mir doch mal deinen Namen.«

»Wendy«, sagte das Mädchen.

»Wendy. Das ist ein hübscher Name.« Lorene sprach in einem fiebrigen Flüsterton. »Das war doch das Mädchen bei Peter Pan, das sich immer um die anderen gekümmert hat. Kümmerst du dich auch immer um deine Puppen?«

Das Mädchen nickte. »Ja.«

»Und kümmert sich deine Mami auch so schön um dich, wie du um deine Puppen?«

»Ja.«

Lorene zog das Mädchen mit sich und sagte: »Komm doch mal kurz mit mir, Herzchen. Wir werden jetzt mal ein Gespräch unter Mädchen mit deiner Mutter führen, okay? Nicht hier, wo diese schrecklichen Männer mit ihren Waffen herumstehen. Bist du einverstanden?«

Das Mädchen schaute zu ihrem Vater. Er sah Tillman fragend an. Der nickte. Klotz nickte dem Mädchen zu. Es lächelte, weil es glaubte, dieses Nicken hätte alles in Ordnung gebracht.

Tillman konnte sich nicht erinnern, jemals so vertrauensvoll gewesen zu sein. Vielleicht war er das ja mal gewesen. Aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern.

»Stützt du mich ein bisschen beim Gehen?«, fragte Lorene. »Ich bin im Moment nicht so gut auf den Beinen.«

»Ja.«

»Vielen Dank, Liebes.«

Zusammen gingen sie ganz langsam auf die Treppe zu. Das Mädchen hatte ihren Arm um die Hüfte von Lorene gelegt, der man deutlich ansah, dass sie Schmerzen hatte. Sie stiegen nach oben und verschwanden.

Bitte, betete Tillman, dem kleinen Mädchen soll nichts passieren.

Es dauerte eine Weile, bevor sich die Frau am anderen Ende wieder meldete. »Hallo, Special Agent Klotz«, sagte sie. Wilmot kannte ihre Stimme nicht, aber er wusste, dass es Verhovens Frau sein musste.

Shanelle Klotz starrte das Telefon in Colliers Hand an, als wäre es eine Giftschlange. »Hallo«, sagte sie leise.

»Mein Name ist Lorene Verhoven«, sagte die Frau. »Jedenfalls benutze ich diesen Namen jetzt. Meine Mutter hat mich Alice genannt. Die kleine Wendy hier … Sie hat ein liebes, vertrauensseliges Gesicht. Ich bin mir sicher, dass sie an ihre Mutter glaubt.«

Shanelles Hände zitterten, sie ballte die Fäuste. Aber sie sagte nichts.

»Ich habe den Namen, den meine Mutter mir gegeben hat, schon seit Langem abgelegt. Weil ich meiner Mutter nie vertrauen konnte. Meine Mutter war eine Hure. Ich will nicht darüber urteilen, ich stelle es nur fest. Sie hatte ein schweres Leben. Männer kamen zu ihr und sagten schlimme Sachen und taten schlimme Sachen mit ihr. Und sie … hat es einfach zugelassen. Hat nicht ein Mal etwas dagegen gesagt. Wenn die Männer fort waren und die Türen hinter ihnen zugefallen waren, wenn sie den Schlüssel im Schloss wieder umgedreht hatte, wenn sie in Sicherheit war … dann sind der Schmerz und die Wut aus ihr hervorgebrochen. Was sie dann mit mir tat hinter der verschlossenen Tür, wenn wir allein waren – nun, das könnte ich Ihnen jetzt alles erzählen … Aber ich glaube nicht, dass Ihre kleine Tochter das hören sollte.«

Wilmot hörte, wie Lorene Verhoven tief Luft holte.

»Muttersein ist eine heilige Pflicht«, fuhr sie fort. »Und ehrlich gesagt habe ich mich nie getraut, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß, zu was ich fähig bin. Ich tue Dinge mit Messern und mit Spießen, mit Zigaretten und mit dem Hammer, mit Nadeln und Glasscherben. Sie wären überrascht, wie viel Schmerzen man verursachen kann mit Dingen, die man in seinem Schlafzimmer findet.«

Lorene seufzte.

»Oh, Wendy, du bist wirklich süß. Und hast so hübsches Haar. Ich mag dein Haar. Es ist ganz weich und wellig.«

»Warum weinen Sie denn?«, war jetzt die dünne Stimme des Mädchens zu hören.

»Es ist schon gut, Liebes«, sagte Lorene Verhoven. »Mach dir keine Sorgen um mich. Mir wird nichts passieren.«

Ein gepresster, animalischer Laut entrang sich der Kehle von Shanelle Klotz. »Nicht!«, stöhnte sie auf. »Tun Sie ihr nicht …«

»Hören Sie gut zu«, sagte Lorene, und auf einmal klang ihre Stimme scharf wie ein Peitschenschlag. »Ich habe Ihnen meinen Namen genannt. Sie wissen ja, was das bedeutet. Ich habe mit meinem Leben abgeschlossen. Mein Mann ist ein Visionär, er hat mich hierhergebracht, weil ich Teil einer ganz großen Sache bin. Am heutigen Tag habe ich die Chance, an einer historischen Tat teilzunehmen, an etwas Großem, zu dem ich allein nie in der Lage gewesen wäre. Es ist ein Höhepunkt. Es ist der Schlusspunkt meines ansonsten unbedeutenden Lebens. Deshalb interessiert es mich nicht, ob Ihre Tochter mich bei einer Gegenüberstellung wiedererkennt. Es ist mir egal, ob sie meinen Namen weiß. Sie muss nicht zum Schweigen gebracht werden, das ist unnötig. Davon sind wir längst weit entfernt. Ich möchte wirklich gern, dass dieses süße Mädchen, wenn alles vorbei ist, hier aus dem Haus geht, sauber und rein, unversehrt und springlebendig, so wie gestern und alle Tage zuvor. Aber wir müssen alle unsere Rolle spielen. Ihre ist noch nicht festgeschrieben. Mein Schicksal hingegen ist besiegelt. Aber ihres? Das liegt ganz allein in Ihrer Hand.«

»Sie Miststück«, zischte Shanelle. »Wagen Sie es nicht, sich an meiner Tochter zu vergreifen.«

Lorene erwiderte nichts und ließ die peinigende Stille für sich sprechen.

Dann war der scharfe Schmerzensschrei eines Kindes zu hören. »Aua!«, schrie das Mädchen. »Sie tun mir ja weh!«

»Nein, Herzchen«, sagte Lorene ganz ruhig. »Ich hab noch nicht mal damit angefangen.«

Und im Bruchteil einer Sekunde war aller Widerstandsgeist bei Shanelle Klotz verpufft. Sie sackte in sich zusammen.

»Okay«, flüsterte sie. »Ich mache, was Sie sagen. Aber bitte tun Sie meinen Mädchen nichts.«

Tillman hörte den Schrei des Mädchens und rannte zur Treppe. Aber als er auf dem ersten Absatz angekommen war, stiegen Lorene und die Kleine schon die Stufen herunter, Hand in Hand. Die Farbe von Lorenes Eyeliner lief über ihre Wangen.

»Entschuldige bitte«, sagte sie zu Wendy. »Ich wollte dich nicht so hart anfassen. Es war keine Absicht.«

»Das ist schon okay«, sagte die Kleine und strich Lorene die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß ja, dass Sie es nicht so gemeint haben.«

Lorene gab dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. »Du bist so süß.«

Tillman senkte seine Waffe und stieg rückwärts die Treppe wieder herunter.

Als sie unten angekommen war, hielt Lorene das Telefon in die Höhe und lächelte mit leerem Blick.

»Geschafft«, sagte sie.

SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Der Secret Service der Vereinigten Staaten ist eine Organisation, in der Verfolgungswahn als Tugend angesehen wird. Er hat schon die verrücktesten Möglichkeiten eines Anschlags während der Rede des Präsidenten im Capitol durchgespielt, zum Beispiel: ein Selbstmordattentäter in Kleidern mit einem Gewebe aus Plastiksprengstoff; Schusswaffen aus Plastik oder Keramik, die jemand im Anus hereintransportiert; Messer, die vollständig aus Glas oder Obsidian gefertigt sind; mit Sprengstoff gefüllte Herzschrittmacher im Brustkorb, die den Saal mit Strontium 90, Cäsium 137, Kobalt 60 oder sogar mit Plutonium 239 verseuchen. Wenn man einen Herzschrittmacher hat und der Rede zur Lage der Nation beiwohnen möchte, sollte man in der Lage sein, den Sicherheitsbeamten den Namen des Arztes, des Herstellers und des Modells sowie die Seriennummer zu geben, und zwar zwei Wochen vor dem Ereignis. So vorsichtig sind sie.

Natürlich ist es den Fachleuten vom Secret Service auch nicht verborgen geblieben, dass die Klimaanlage des Capitols die Möglichkeit in sich birgt, Reizgase, Giftgase oder radioaktives Material in den Saal zu pumpen, in dem sich rund sechshundert der bedeutendsten Menschen des Landes versammelt haben.

Für jede Gefahr, die ein solches Großereignis bedrohen könnte, hat der Secret Service ein detailliertes Szenario geschrieben. So gibt es zum Beispiel ein dreizehn Seiten umfassendes Dokument in einem Ordner der Zentrale des Sicherheitsdienstes, in dem alle möglichen Schritte zum Einschmuggeln eines explosiven Herzschrittmachers dargelegt werden. Der Secret Service hat hunderte solcher Protokolle verfasst. Um einen Angriff auf das Heizungs- und Lüftungssystem zu verhindern, gibt es ein Dokument, in dem einunddreißig sogenannter »Action Events« aufgelistet sind, siebzehn unter der Überschrift »Vermeidung« und vierzehn unter der Überschrift »Reaktionen«. Die Aktion Nummer elf auf der Vermeidungsliste legt fest, dass jede Person, die den Serviceraum der Umwälzanlage betreten will, von dem Leiter des zuständigen Sicherheitsteams eine Genehmigung einholen muss. Darüber hinaus muss jeder Techniker von zwei bewaffneten Beamten begleitet werden, wenn er den Raum mit direktem Zugriff auf die Klimaanlage betritt. Für den Fall, dass der Anlage irgendwelche komprimierten Gase zugefügt werden müssen, müssen diese Substanzen einer zusätzlichen letzten Kontrolle von einem eigens dafür bestimmten Spezialisten unterzogen werden. Diese Überprüfung muss von einem Vorgesetzten beaufsichtigt werden – und das war in diesem Fall Special Agent Shanelle Klotz.

»Bevor wir nun zum Serviceraum gehen«, sagte Wilmot zu ihr, »schauen wir uns noch mal unseren Detailplan an, damit wir alle genau wissen, wie es abläuft …«

Drei Minuten später standen sie vor der Tür, vor der sie bereits zwei Beamte erwarteten.

Shanelle nickte ihnen knapp zu und sagte: »Einer kommt mit rein, der andere bleibt draußen vor der Tür.«

Der eine Agent folgte ihnen in den Raum. Wilmot wartete, bis die Tür hinter ihm zugegangen war, dann schlug er ihm mit einer Rohrzange über den Schädel. Als der Mann zu Boden gegangen war, klebte Collier ihm ein Band über den Mund und legte ihm Plastikfesseln an.

»Sie sagten doch, Sie würden ihn nicht verletzen«, protestierte Shanelle Klotz.

»Ich habe gelogen«, gab Wilmot zurück.

Collier schaute auf die Uhr. »Noch dreiundfünfzig Minuten.«

»Gehen Sie raus und sagen Sie dem Mann vor der Tür, dass alles in Ordnung ist und er auf seinen Posten zurückgehen kann.«

Sie öffnete die Tür und sagte: »Hier ist alles bestens. Sie können zurückgehen.«

»Jawohl, Ma’am.« Der Sicherheitsbeamte, ein breiter Kerl in einem grauen Anzug, stapfte davon.

Wilmot wandte sich an Shanelle Klotz: »Hören Sie, Sie können davon ausgehen, dass wir ein sehr genaues Bild haben von der Art und Weise, wie Sie Ihren Job hier erledigen. Wir kennen alle Formulierungen bei Warnungen, alle Passwort-Vorschriften, die Durchführung von Authentifizierungen, die Befehlskette – einfach alles. Wir wissen auch, dass der zufällig in einem Gespräch geäußerte Satz ›das dürfte zu erwarten sein‹ einem anderen Sicherheitsbeamten signalisiert, dass ein Anschlag auf den Präsidenten geplant ist. Wenn Sie also vermeiden wollen, dass Wendy von dieser irren Lorene Verhoven Schmerzen zugefügt werden, dann sollten Sie diese Phrase vermeiden.«

Wilmot hatte ziemlich viel über die Verhaltensweisen des Secret Service am heutigen Tag herausgefunden, aber nicht alles. Shanelle Klotz gegenüber gab er die wenigen Details zum Besten, die er kannte, und erweckte auf diese Weise den Eindruck, er hätte über alles einen genauen Überblick. Je mehr sie davon überzeugt war, dass er Bescheid wusste, umso weniger würde sie es wagen, etwas Dummes zu tun.

Shanelle Klotz unterbrach ihn: »Dann wissen Sie ja auch, dass wir noch einen letzten Test machen müssen, um sicherzugehen, dass in diesen Behältern nicht das ist, was drin ist … Nervengas? Rizin? Zyklon B?«

»Damit Sie sich nicht allzu sehr aufregen«, sagte Wilmot, »will ich Ihnen noch sagen, dass wir hier eine Protestaktion durchführen. In diesen Behältern ist CS-Reizgas. Damit kennen Sie sich ja aus.«

»Tränengas.«

»Genau. Jedenfalls wird es Tränengas genannt. Aber es bewirkt vor allem, dass man sich übergeben muss.«

»Sie haben also nicht die Absicht, jemanden umzubringen?«

Wilmot schüttelte den Kopf. »Die Regierung ist außer Kontrolle geraten. Wir sind der Meinung, dass das amerikanische Volk aufgerüttelt werden muss. Die Aktion, die wir hier durchführen, soll zeigen, wie schwach, dumm und verletzlich unsere Administration ist. Wir sind nicht hier, um Menschen zu töten. Sie müssen sich also nicht mit der Frage herumschlagen, ob Sie sich selbst oder Ihre Familie opfern sollen, um die ganzen Fettsäcke oben im Saal zu retten. Dann würden Sie das Leben Ihres Mannes und Ihrer Kinder für nichts und wieder nichts fortwerfen.«

Wilmot war sich nicht sicher, ob die Beamtin ihm das abnahm. Aber es war einen Versuch wert. Wenn man jemandem etwas einredete, und sei es auch noch so fragwürdig, dann konnte dies eine Detail mitunter darüber entscheiden, ob die Person aufbegehrte oder alles passiv über sich ergehen ließ. Wenn seine Lüge bewirkte, dass sie den Bruchteil einer Sekunde länger darüber nachdachte, ob sie sie aufhalten sollte, dann konnte dieser winzige Moment vielleicht darüber entscheiden, ob ihre Aktion ein Erfolg oder ein Misserfolg wurde.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das glauben soll«, sagte Shanelle Klotz.

»Es ist mir scheißegal, ob Sie mir glauben oder nicht«, sagte er. »Los, rufen Sie jetzt den Typen mit dem Spürhund. Damit wir das auch hinter uns bringen können.«

Klotz sprach in das Mikro am Ärmel.

»Noch einundfünfzig Minuten«, sagte Collier.

ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL

TYSONS CORNER, VIRGINIA

Im gleichen Moment, als Lorene »geschafft« sagte, taumelte sie und klammerte sich am Treppengeländer fest. Das Telefon fiel ihr aus der Hand, sie kippte nach hinten und rutschte die Wand herunter. Ein langer blutroter Streifen zog sich hinter ihr über die cremefarbene Wand.

Verhoven lief zu ihr. »Lorene!«, rief er. »Lorene!«

Ihr Kopf ruckte nach vorn.

»Lorene!«

Sie gab ein schnarchendes Geräusch von sich. Tillman kannte diesen Ton. Es war das Geräusch, das ein Verletzter von sich gab, der dem Tod geweiht war, wenn er nicht verdammt schnell Hilfe bekam.

Was der Arzt auch getan hatte, es war nicht genug. Die Infusion hatte ihr nur einen kurzen Energieschub gegeben. Der war aber sehr schnell verbraucht, und jetzt befand sie sich in einem sehr schlechten Zustand.

Verhoven beugte sich über seine Frau und schüttelte sie. Sie reagierte nicht. Sein Gesicht verhärtete sich, und Tillman bemerkte etwas, das ihm sagte, dass die Sache hier ein schlimmes Ende nehmen könnte.

»Was haben Sie getan?«, schrie Verhoven den Arzt an. »Was zum Teufel haben Sie getan?«

»Bleiben Sie doch ruhig«, sagte Tillman und packte Verhoven an der Schulter. »Wir haben doch beide zugesehen. Er hat nichts getan. Zucker und Salzlösung, das war alles. Sie ist einfach geschwächt. Sie gerät in einen Schockzustand. Wir müssen sie hinlegen und …«

Verhoven hob seine Pistole und zielte auf Klotz.

Tillman sah, wie wütend und verzweifelt Verhoven war, und wusste, dass er seine Wut an dem Arzt auslassen wollte. Wie jeder machtlose Kriminelle verspürte auch er den Drang, sich auf das schwächste Objekt in seiner Umgebung zu stürzen.

Tillman kannte noch immer nicht den genauen Ort des Anschlags und auch nicht, wie er durchgeführt werden sollte. Aber er wusste, dass eine Agentin des Secret Service namens Shanelle Klotz dazu gezwungen wurde, etwas zu tun, was mit diesem Anschlag in Zusammenhang stand. Wenn er zusammen mit Gideon herausfand, wo sie stationiert war, konnten sie den Anschlag verhindern.

Kurz gesagt, das musste jetzt genügen. Er hatte keine Zeit mehr, sich über weitere Optionen Gedanken zu machen.

Tillman feuerte aus nächster Nähe, lud durch und feuerte noch mal.

Die Kugel aus seinem Gewehr riss große Fleischstücke aus dem Körper von Jim Verhoven. Ein Teil seiner Eingeweide wurde sichtbar. Er wurde nach hinten geschleudert, der Rumpf in die eine, die Beine in die andere Richtung.

Das Geräusch der Schüsse weckte Lorene aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie setzte sich auf und schaute sich verwirrt um. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was gerade passiert war. Ihr Mann lag auf dem Boden, und aus dem Lauf von Tillmans Gewehr stieg Pulverdampf empor.

Sie griff nach der Pistole, die an ihrem Gürtel im Holster steckte. »Du Scheißkerl! Du verdammter, dreckiger Lügner!«, schrie sie. »Du hast uns verraten!«

»Eigentlich war ich nie auf eurer Seite«, sagte Tillman.

Sie hielt noch immer den Pistolengriff umklammert. Da sie gegen das Treppengeländer gelehnt dalag, konnte sie ihre Waffe nicht einfach aus dem Holster ziehen.

»Tun Sie es nicht«, sagte Tillman und lud sein Gewehr erneut durch. »Tun Sie’s nicht.«

Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen, irren Augen an und zog die Waffe aus dem Holster. Sie lächelte. Es war ein wildes, barbarisches Grinsen. Sie wusste, was jetzt kam. Sie sehnte sich geradezu danach, dass ihr trauriges Leben mit diesem grauenhaften Höhepunkt zu Ende ging.

»Nicht«, wiederholte Tillman.

Sie richtete sich mühsam auf, stand da, lachte ihn aus und hob die Pistole.

Er feuerte, lud durch und feuerte noch einmal.

Die sterblichen Überreste von Lorene Verhoven stürzten wie in Zeitlupe vornüber. Ihre Bluse blieb am Treppenpfosten hängen und zerriss. Sie selbst blieb dort hängen, mit entblößtem Rücken. Darauf waren viele Narben zu sehen. Schnitte, Verbrennungen, zahllose rosafarbene Furchen, die sich zu einem grässlichen Muster zusammenfügten – die Landkarte einer qualvollen Kindheit.

»Kommen Sie«, sagte Tillman zu Klotz. »Wir müssen Ihre Mädchen hier rausbringen.«

Klotz stand wie angewurzelt da, bis Tillman ihn mit dem Gewehrkolben anstieß. Daraufhin sprang er vorwärts, packte seine Kinder und rannte zur Haustür.

Gideon hörte die Schüsse in seinem Ohrhörer und sprang aus dem Wagen. Er fesselte den Polizisten mit seinen Handschellen ans Lenkrad und rannte über den Rasen des Vorgartens. Als er vor der Haustür ankam, ging sie auf. Tillman, Klotz und die beiden Mädchen kamen heraus.

»Wo ist Verhoven?«, fragte Gideon.

»Tot«, sagte Tillman. »Lorene auch.«

»Ist mit dir alles in Ordnung? Was ist mit Dr. Klotz und den Mädchen?«

»Uns geht’s gut, aber wir müssen dringend zum Capitol.«

»Erst müssen wir die Fakten durchgeben. Wir haben einen Zeugen. Klotz kann alles bestätigen, was wir sagen.« Der Arzt musterte ihn schweigend, die beiden Mädchen klammerten sich ängstlich an seine Hosenbeine.

»Wir können nicht darauf warten, bis diese Bürokraten sich einen Reim darauf gemacht haben. Wenn die damit fertig sind, sind der Präsident, der Vizepräsident und der größte Teil der Regierung tot.«

»Zumindest können wir ihnen alle Informationen geben, die wir haben.«

»Du denkst noch immer wie ein Unterhändler, Gideon. Das dauert doch Stunden. Und was dann? Meinst du, die glauben uns? Denkst du, Dahlgren wird uns glauben? Denkst du, Präsident Wade wird uns glauben?« Er spuckte den Namen des Präsidenten aus, als wäre es ein vergifteter Kirschkern.

Gideon sah ein, dass sein Bruder recht hatte. Selbst wenn sie genügend Zeit hätten, mussten sie gegen Dahlgren, seine Abneigung und seine Vorurteile ankämpfen. Er würde wahrscheinlich gar nicht zuhören und alles in seiner Macht Stehende tun, um ihnen in den Arm zu fallen. Sie kannten ja nicht mal alle Details des Anschlags. Und so gab es nur eine Möglichkeit.

Gideon wandte sich an Klotz. »Sie müssen uns genügend Zeit geben, damit wir dort reinkommen. Sind Sie damit einverstanden?«

Klotz dachte nach und nickte dann.

»Versprechen Sie es mir, Doktor.«

»Ich verspreche es.«

»Die Polizei wird bald hier sein. Sagen Sie ihnen, Sie seien überfallen worden und jemand von einem privaten Sicherheitsdienst hätte die Einbrecher überwältigt. Sagen Sie ihm, er sei in die Stadt gefahren, um Meldung zu machen.«

Klotz stimmte zu. »Und bitte«, sagte er, »wenn Sie meine Frau sehen, sagen Sie ihr, dass es uns gut geht.«

»Mach ich.«

Tillman gab ihm die Hand zum Abschied, und dann gingen sie zu Gideons Wagen. Officer Millwood saß noch immer schweigend auf dem Beifahrersitz.

»Oh, das ist ja interessant«, sagte Tillman.

»Ist eine längere Geschichte«, erwiderte Gideon. Er nahm dem Beamten die Handschellen ab. »Was halten Sie von einer kleinen Spritztour mit der Metro?«

NEUNUNDVIERZIGSTES KAPITEL

PRIEST RIVER, IDAHO

Es war fast Viertel nach fünf, als Nancy Clement das Farmhaus in der Ferne entdeckte. Der Bulldozer hatte sich nun schon zwei Stunden lang in gleichmäßigem Tempo die gewundene Landstraße entlanggeschoben, und die ganze Zeit hatte sie weder ein Haus noch ein Auto gesehen. Ein Funksignal für ihr Handy gab es ebenfalls nicht. Inzwischen war der Tank der Planierraupe fast leer.

Sie hoffte nun, dass die Bewohner der Farm ihr helfen konnten, Kontakt mit Washington, D.C. aufzunehmen. Der Bulldozer fuhr so langsam, dass sie beinahe das Gefühl hatte, er würde sich rückwärtsbewegen.

»Hallo!«, rief sie. »Hallo!«

Aber niemand antwortete. Sie war noch zu weit entfernt.

Sie bog um eine Kurve, und das Haus verschwand irgendwo zwischen den Bäumen. Dann war es wieder zu sehen, verschwand und tauchte erneut auf.

Wieder rief sie laut: »Hallo!«

Endlich bemerkte sie jemanden, einen Mann im Hof, der mit etwas beschäftigt war. Die Planierraupe kroch näher und näher. Holz hacken. Der Mann hackte Holz.

Er hörte den Motor des Bulldozers, senkte seine Axt und kam ihr lässig entgegen.

Als sie kurz vor ihm angekommen war, drückte sie auf das Pedal und drosselte den Motor, dann schaltete sie ihn aus, damit sie sich verständlich machen konnte.

»Machen Sie eine Spazierfahrt?«, fragte er.

»Haben Sie ein Telefon?«

»Die Leitungen sind defekt.«

»Wie sieht’s mit Internet aus?«, fragte sie.

Der Mann schaute sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob er ein Außerirdischer sei.

»Internet«, wiederholte sie. »Haben Sie einen Internetanschluss?«

Der Mann starrte sie weiterhin verwundert an. Sie schaute auf die Axt, auf das hübsche Haus mit der abblätternden Farbe und der leicht schrägen Veranda, den ramponierten Pick-up, den windschiefen Hühnerstall und spürte, wie die Verzweiflung sie übermannte. Internet? Wer weiß, ob der Kerl hier überhaupt wusste, was ein Computer war.

»Internet?«, wiederholte sie mit matter Stimme.

»Natürlich habe ich Internet«, sagte der Mann und hieb seine Axt in einen Holzblock, wo sie stecken blieb. »Heutzutage hat doch jeder Internet.«

Es stellte sich heraus, dass er kein Hinterwäldler war, sondern ein Computerexperte aus Boise, der sich die Farm als Ferienhaus gekauft hatte. Nachdem er im letzten Jahr seinen Job verloren hatte, war er ganz hierhergezogen, um seine Lebenshaltungskosten zu senken. Sein Name war Hank Adams. Er war ein Fan von TV-Serien wie »Akte X« oder anderen Sendungen, Filmen oder Büchern, die auf Verschwörungstheorien basierten. Er hatte keinen Kabelanschluss, aber eine große Satellitenschüssel, über die er alle seine Lieblingsprogramme und das Internet empfangen konnte. Als sie ihm erklärte, in welchem Schlamassel sie steckte, war er sofort bereit zu helfen und wurde richtig aufgeregt.

Kurz darauf saß sie vor seinem nagelneuen iMac mit riesigem Bildschirm und loggte sich in seinen Skype-Account ein. Dann tippte sie die Nummer von Gideons Handy ein.

»Gideon?«, fragte sie, als eine Stimme sich meldete.

»Ich hab mich schon gefragt, was aus dir geworden ist. Alles in Ordnung?«

»Sie planen einen Gasangriff«, sagte sie atemlos. »Zyanid, glaube ich. Aber ich habe noch nicht herausgefunden, welches Ziel.«

»Das Capitol während der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation«, sagte Gideon. »Wir sind jetzt auf dem Weg dorthin. Tillman ist bei mir.«

Nancy brauchte einen Moment, um das alles zu verarbeiten, dann fuhr sie fort: »Ein Typ namens Dale Wilmot steckt dahinter. Er hat eine Fabrik in Idaho errichtet, um das Gift aus irgendeiner Wurzelknolle zu gewinnen. Es verflüchtigt sich bei einundzwanzig Grad Celsius. Sie können das Zeug in flüssiger Form ins Capitol schmuggeln, um es dann zu versprühen oder auszugießen. Daraufhin vaporisiert es.«

»Vorausgesetzt, die Lufttemperatur liegt über einundzwanzig Grad Celsius.«

»Richtig.«

»In Washington sind es heute minus vier Grad.«

Nancy war mit einem Mal verunsichert. Wie konnte sie ein so wichtiges Detail ignorieren? Es gab noch immer ein Teil in diesem Puzzle, von dem sie nichts wusste.

»Sie müssen irgendeine Möglichkeit gefunden haben, wie sie die Substanz trotzdem in Gasform bekommen«, sagte sie. »Wir müssen den Secret Service alarmieren. Wir sollten sie im Rayburn House treffen.«

»Nein. Dahlgren hat überall durchgegeben, dass ich unzurechnungsfähig bin. Und du bist als abtrünnige Agentin eingestuft, die sowieso unter Verdacht steht, weil sie über einen inländischen Terroranschlag fantasiert hat. Die werden weder mir noch dir Glauben schenken. Wir sind auf uns allein gestellt. Ich sag dir mal kurz, was wir wissen: Verhoven und seine Frau Lorene haben die Familie einer Secret-Service-Beamtin namens Shanelle Klotz gekidnappt. Sie haben von ihr verlangt, dass sie eine Tür aufmacht, andernfalls würde ihre Familie umgebracht. Sie muss jetzt mit den Attentätern zusammen sein. Wenn wir herausfinden, wo sie während der Rede des Präsidenten stationiert ist, haben wir vielleicht eine Chance, den Anschlag zu verhindern.«

»Lass mir kurz Zeit, dann kriege ich vielleicht was raus.«

»Beeil dich. Wir sind jetzt auf der Interstate 66. In zehn Minuten kommen wir in Washington an. Wenn der Secret Service nichts unternimmt, müssen wir selbst dort rein.«

»Dann braucht ihr meine Unterstützung.«

»Ich ruf dich zurück, okay? Finde jetzt erst einmal heraus, wo Wilmot und Collier sich befinden.«

Die Verbindung brach ab, und Nancy starrte nur noch auf das blau-weiße Skype-Logo.

»Was ist mit den Heizungsrohren?«

Nancy drehte sich um. »Was soll damit sein?«

Hank beugte sich vor und schaute sie erwartungsvoll an. »Ich habe eben zugehört«, sagte er. »Nehmen wir mal an, das Zyanid geht bei 21 Grad in einen gasförmigen Zustand über. Wenn man es dann über den Brenner in die Klimaanlage leitet, wird die Lufttemperatur dort ungefähr 38 Grad betragen. Die Luft bleibt sehr warm, wenn sie durch die Rohre gepumpt wird und verteilt sich über alle Räume im Gebäude. Auf diese Weise kann man jede Menge Gas im Capitol verbreiten.«

Nancy starrte den leeren Computerbildschirm an. »Ja, aber wie schaffen es diese beiden Typen, ins Capitol zu kommen? Und wie verschaffen sie sich Zugang zum Heizungssystem?«

Hank griff über ihre Schulter und tippte etwas auf der Tastatur. Sie merkte, dass er nach Holzkohle und Aftershave roch. Die Kombination war gar nicht so übel.

»Schon mal was von Google gehört?«, fragte Hank mit einem schiefen Grinsen.

Auf dem Bildschirm erschien eine Suchliste, und ganz oben bei den Einträgen war folgende Meldung zu lesen:

PRESSEERKLÄRUNG: Die Firma National Heat & Air Conditioning, ein Tochterunternehmen von Wilmot Industries, hat in diesem Jahr den Wettbewerb für die Erneuerung der in die Jahre gekommenen Klimaanlage in Amerikas berühmtestem öffentlichen Gebäude gewonnen, dem Capitol der Vereinigten Staaten. Das Capitol wurde seit seiner Errichtung mehrfach erweitert und umgebaut …

»Warten Sie mal einen Moment«, sagte Nancy.

Jetzt verstand sie, warum die Gebäude von Wilmots kleiner Industrieanlage ein so aufwändiges Heizungs- und Lüftungssystem hatten … und warum der Raum, in dem gearbeitet worden war, so riesige Ausmaße besaß. Das alles war eingerichtet worden, um einen Probelauf durchzuführen. Wahrscheinlich entsprachen die Maße exakt denen des Repräsentantenhauses und der Klimaanlage, die dort eingebaut war. Deshalb hatte es in diesem Gebäude nach Zyanid gerochen. Sie hatten es an den dort Arbeitenden getestet und ausprobiert, ob man Zyanid in Gasform durch das Lüftungssystem pumpen kann. Dann hatten sie zugesehen, wie die im Gebäude anwesenden Menschen starben.

Ihr wurde übel.

Nancy war suspendiert worden, und ihre Zugangsberechtigung für den FBI-Server war ausgesetzt. Aber ein Sicherheitssystem war immer nur so gut wie die Menschen, die es benutzten. Dahlgren hatte ihr sein Passwort gegeben, als er unterwegs war und es wichtig gewesen war, dass sie bestimmte Vorgänge verfolgte. Sie war sich ziemlich sicher, dass er es seitdem nicht geändert hatte.

Sie verschaffte sich Zugang zur FBI-Website und zum FBI-Intranet. Dann gab sie das Passwort für Außendienstmitarbeiter ein. Als es klappte, tippte sie Dahlgrens Namen und sein Passwort und kam rein. Schließlich loggte sie sich bei VORTEX ein, der großen Datenbank, in der gigantische Datenmengen über Regierungsbehörden und Privatfirmen gesammelt waren.

Wenige Minuten später hatte sie die Daten von Special Agent Shanelle Klotz ausfindig gemacht. Jeder Beamte vom Secret Service hatte ein GPS-Ortungsgerät in seinem Funkgerät. Sie vergrößerte den Grundriss des Capitols und legte ihn über die GPS-Koordinaten. Kleine blaue Punkte signalisierten, wo sich die einzelnen Agenten zurzeit befanden. Sie gab den Namen von Shanelle Klotz ein. Einer der schimmernden Punkte wechselte von Blau zu Rot.

Sie zoomte ihn heran. Klotz befand sich offenbar im Büro des Sprechers des Repräsentantenhauses. Das kam ihr eigenartig vor. Vielleicht hatte sie ja das falsche Stockwerk im Blick. Sie wechselte auf Kellerebene eins. Jetzt sah es so aus, als würde Special Agent Klotz sich in der Herrentoilette aufhalten.

Sie wechselte auf Kellerebene zwei.

Und jetzt passte es: Sie befand sich im Raum mit direktem Zugang zur Klimaanlage.

»Da haben wir’s ja«, flüsterte sie.

»Jetzt müssen Sie nur noch die anderen dorthin lotsen«, stellte Hank Adams fest.

Ihre Finger flogen über die Tastatur. Noch zehn Minuten. Sie hatte noch zehn Minuten, um sich einen Plan auszudenken.

FÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Erik Wade, der Präsident der Vereinigten Staaten, nickte Karl Utrecht, dem Leiter seines Sicherheitstrupps, zu und sagte: »Fertig.«

Utrecht gab seinem Team ein Zeichen: »Los.«

Die Beamten mussten eigentlich nicht instruiert werden. Jedes Teammitglied hatte hunderte von Stunden Training hinter sich, war schon tausende von Stunden in diesem Beruf tätig und verfügte als altgedienter Secret-Service-Agent über mindestens zehn Jahre Erfahrung beim Schutz von hochrangigen Würdenträgern. Der Trupp funktionierte wie eine gut geölte Maschine.

Als der Präsident das Oval Office verließ, umringten sie ihn und verlangten in flüsterndem Ton, dass Aufzüge und Autos bereitgestellt, Türen und Tore geöffnet, Flure freigemacht, Fenster nach potenziellen Gefahren abgesucht und unübersichtliche Ecken überprüft wurden. Das Team operierte so effektiv und reibungslos, dass der Präsident ihre Anwesenheit kaum bemerkte. Außer im Aufzug, der genau dreiundzwanzig Sekunden brauchte, um das Erdgeschoss zu erreichen, musste er kein einziges Mal seine Schritte verlangsamen oder beschleunigen.

Die Türen gingen wie von Zauberhand auf, Wachposten erschienen und verschwanden, und draußen, am Eingang des Weißen Hauses, gesellte sich seine Frau Grace zu ihm und nahm blitzschnell ihren Platz ein, wie ein Flugzeug bei einer Luftschau.

Sie brauchten eine Minute und einundvierzig Sekunden vom Oval Office bis zur Limousine. Die Tür des gepanzerten Cadillacs öffnete sich, und der Präsident stieg ein. Eine zweite Limousine, die der ersten täuschend ähnlich war, fuhr vor. Die Tür ging auf, und ein Beamter, der die gleiche Statur wie der Präsident hatte, stieg ein. Auch diese Tür schloss sich sofort wieder.

Der Konvoi aus Limousinen und Begleitfahrzeugen setzte sich in Bewegung und fuhr über die Auffahrt zur Pennsylvania Avenue.

Im gleichen Moment, als Präsident Wade seine Fahrt Richtung Capitol antrat, gab der Protokollchef die Ankunft von Christine Harris Minor, Richterin am Obersten Gerichtshof, bekannt. Die frühere Generalstaatsanwältin des Staates Missouri, die auch langjährige Erfahrung als Politikerin hatte, nahm sich die Zeit, jedem Kongressabgeordneten, an dem sie vorbeikam, die Hand zu schütteln.

Der Protokollchef flüsterte seinem Assistenten zu: »Wie sieht’s aus?«

»Herrje, wenn wir einen sprechenden Hund dort hingestellt hätten, dann hätte die ihm die Pfote geschüttelt«, sagte der Assistent. »Wir sind schon viereinhalb Minuten zu spät.«

»Gehen Sie raus und machen Sie diesen Windbeuteln ein bisschen Dampf unterm Hintern. Wir wollen doch nicht, dass der Präsident draußen in seinem Wagen warten muss und sich zu Tode langweilt, okay?«

»Sprecherin des Hohen Hauses!«, rief der Zeremonienmeister aus. »Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, der Ehrenwerte Edison Lockhardt.«

Edison Lockhardt war nicht nur ein hoch angesehener Jurist, sondern war früher auch Gouverneur von New Jersey gewesen, und als solcher lehnte er es ab, hinter der als liberal geltenden Richterin zurückgesetzt zu werden. Deshalb nahm er sich demonstrativ viel Zeit und bemühte sich, noch mehr Abgeordneten die Hand zu schütteln als seine Vorgängerin.

Der Protokollchef verzog das Gesicht. Wenn das so weiterging, würde die Veranstaltung mit fünfzehnminütiger Verspätung beginnen. Er hasste diese Politiker. Manchmal fragte er sich, ob er nicht den falschen Beruf ergriffen hatte.

»Sprecherin des Hohen Hauses!«, rief er aus. »Der Ehrenwerte Francis X. Dugan junior …«

EINUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Sie ließen Officer Millwood an der Metrostation Foggy Bottom heraus. Er versprach, sie nicht anzuzeigen, aber selbst wenn er das tat, wären sie schon beim Capitol angelangt, bevor er irgendjemanden erreicht hatte. Dort hineinzukommen war allerdings eine ganz andere Sache.

»Was jetzt?«, fragte Tillman. »Die Mall ist komplett abgeriegelt, und diese Typen vom Secret Service fackeln nicht lange.«

Als wollte es auf diese Frage antworten, fing Gideons neues Prepaid-Handy an zu klingeln. Es war Nancy.

»Was kannst du uns anbieten?«

»Tunnel«, sagte sie.

»Was für Tunnel?«

»Ich hab mich in den Server des Secret Service eingehackt«, sagte sie. »Ihr habt Zugang über das Parkhaus des Russel-Gebäudes. Ihr seid beide zugelassen, aber nur für die dortige Sicherheitszone. Vom Russel-Gebäude führt ein unterirdischer Tunnel zum Capitol. Es gibt aber noch zwei ältere Tunnel. Einer davon wurde in den späten Sechzigerjahren durch einen größeren ersetzt, der andere ist ein Ventilations- und Serviceschacht. Na ja, es ist eher eine Röhre als ein Tunnel. Da müsst ihr durchkriechen.«

»Wenn du uns eine Genehmigung für das Parkhaus verschaffen kannst, wieso dann nicht für das Capitol?«

»Weil das so nicht geht. Alles, was das Capitol betrifft, läuft über einen sicheren, nicht mit dem Netz verbundenen Computer, zu dem ich keinen Zugang habe.«

»Wir müssen uns also überlegen, wie wir die letzte Sicherheitskontrolle überwinden?«

»Ja«, sagte Nancy. »Ich kann euch immerhin mitteilen, dass Shanelle Klotz sich in dem Serviceraum befindet, von dem aus man direkten Zugang zur Klimaanlage hat. Er liegt auf der zweiten Kellerebene des Capitols. Ich vermute, sie wollen das Zyanid in flüssiger Form in das Heizungssystem einführen. Die Flüssigkeit wird verdampfen und sich über das Röhrensystem im ganzen Gebäude verbreiten und alle töten, die sich dort befinden. Ich verstehe nur nicht, wie sie lebend wieder rauskommen wollen.«

»Wollen sie gar nicht«, sagte Gideon. »Sie müssen alles per Hand machen. Fernsteuerung ist nicht möglich, da alle Funksignale gestört werden.«

Das war ein ernüchternder Gedanke. Menschen, die ihren eigenen Tod miteinplanten, waren sehr schwer zu stoppen. Jemand, der beabsichtigte, sein eigenes Leben für eine Sache zu geben, war ein sehr schlechter Verhandlungspartner.

»Wenn ihr erst einmal im Capitol seid, wird der Kontakt zu mir abbrechen«, sagte Nancy. »Ich kann euch ins Russell-Gebäude führen. Aber wenn ihr drin seid, müsst ihr allein klarkommen.«

»Verstanden«, sagte Gideon.

»Eins solltest du noch wissen.« Sie zögerte und schaute auf den Fernsehbildschirm hinter sich, auf dem die Übertragung des großen politischen Ereignisses lief. »Deine Verlobte ist auch da drin.«

»Kate?«, fragte Gideon erstaunt. »Was zum Teufel macht sie denn da?«

»Sie wurde vom Innenminister eingeladen.«

Gideon wusste, dass Kate mit Minister Fitzgerald in der Deepwater-Kommission zusammengearbeitet hatte. Trotzdem war er überrascht, dass sie eine Einladung zur Präsidentenrede im Capitol angenommen hatte. Nun befand sie sich direkt am Ground Zero des Anschlags, und das erfüllte ihn mit großer Sorge.

»Nancy, du musst sie dort rausholen.«

»Ich kann sie doch gar nicht erreichen.«

»Überleg dir was. Du musst doch jemanden kennen, der da drin eingesetzt ist. Gib meine Nummer weiter. Lass ihr ausrichten, sie soll mich anrufen.«

»Da ist vielleicht jemand, dem ich vertrauen kann …«

Am Klang ihrer Stimme konnte Gideon erkennen, dass sie gewillt war, ihm zu helfen. Er wusste nun, dass ihre Beziehung ein neues Fundament hatte. Nancy hatte es geschafft, ihre latente Abneigung zu überwinden und konnte sich nun voll und ganz ihrem gemeinsamen Ziel verschreiben.

»Ich danke dir, Nancy.«

»Viel Glück.«

Gideon unterbrach die Verbindung und erklärte Tillman, was er von Nancy erfahren hatte.

»Alles okay mit dir?«, fragte sein Bruder.

»Ja, schon, aber wenn es uns nicht gelingt, dort reinzukommen und uns durchzumogeln, müssen wir denen klarmachen, dass ein Anschlag auf das Capitol geplant ist – das ist etwas derartig Gigantisches … Sie wären gezwungen, das Gebäude zu evakuieren … oder zumindest alle Sicherheitsmaßnahmen vollkommen umzuschmeißen.«

»Du meinst, wir haben es mit einem Selbstmordanschlag zu tun?«

Gideon nickte. »Kate ist da drin. Ich habe überhaupt keine Wahl. Ich muss Wilmot stoppen und sie da rausholen. Aber du musst nicht mitkommen.«

»Soll das ein Witz sein? Natürlich komme ich mit. Ich bin dein Bruder.«

»Na ja, bekanntlich hat diese Regierung dich übel hintergangen. Du schuldest diesen Leuten überhaupt nichts. Und schon gar nicht musst du dein Leben für sie aufs Spiel setzen.«

»Gideon, die Wahrheit ist, dass ich sogar mit dir gehen würde, wenn du nicht mein Bruder wärst. Ich bin vielleicht kein glühender Patriot mehr, aber ich liebe mein Land immer noch, und ich werde nicht zulassen, dass ein paar Irre eine ganze Menge unschuldiger Menschen umbringen. Vor allem aber werde ich nicht zulassen, dass sie dich oder meine zukünftige Schwägerin töten. Nicht wenn ich es verhindern kann.«

Gideon schaute in Tillmans müdes, von zahlreichen Linien durchzogenes Gesicht, das so anders war als sein eigenes und doch so vertraut. »Danke«, sagte er gerührt.

»So, und jetzt lass uns losgehen und den Scheiß hinter uns bringen.«

Gideon steuerte den Wagen um die bombensicheren Barrieren vor dem Parkhaus des Russel-Gebäudes. Sie hielten vor dem Eingang, und ein schweigsamer Beamter kontrollierte ihre Ausweise und hämmerte die Daten ohne weitere Erklärung in den Computer ein, in dem alle Personen verzeichnet waren, die heute dort parken durften.

Gideons Herz klopfte, als der Beamte gähnte und auf den Bildschirm starrte. Soweit er wusste, konnte der Computer mit jeder Datenbank verbunden werden, die der FBI dafür freigeschaltet hatte.

Aber ganz offensichtlich war der Computer nur dafür da, die Parkplätze zu verwalten. Der gelangweilte Beamte winkte sie durch und wandte sich wieder seiner Washington Post zu.

Das Parkhaus war fast voll.

»Stell ihn einfach hier ab«, sagte Tillman, als sie im Untergeschoss angekommen waren, von dem aus der Tunnel zum Russel-Gebäude abging.

Gideon parkte direkt neben den Aufzügen und stieg aus dem Wagen. Er trug noch immer seine Kampfmontur.

Nach Auskunft von Nancy lag der Eingang zum Tunnel neben den Aufzügen. Dort standen zwei schwer bewaffnete Wachposten vor einer Tür.

»Reden oder schießen?«, fragte Tillman.

»Reden«, sagte Gideon. »Wenn wir jetzt schon anfangen rumzuballern, dann haben wir gleich Alarmstufe Rot und alles ist im Arsch.«

»Gut.«

»Lass mich mal machen.«

Als Gideon in Hörweite der Posten kam, fing er an, laut in sein Handy zu sprechen. »Ja, Ma’am, ich verstehe das. Ist mir klar … Ja, Ma’am. Ich bin in drei Minuten dort, versprochen.« Er ignorierte die beiden Posten und ging direkt auf die Tür zu.

»Hey, hey, hey«, brüllte einer das Wachposten. »Sofort anhalten!«

Gideon winkte dem Posten zerstreut zu, als wäre er völlig von seinem Telefonat in Anspruch genommen. Aber er blieb stehen. »Ja, Ma’am, ich verstehe das ja. Ich bin schon beim Checkpoint im Russel-Gebäude. Wenn Sie bitte einfach … Ja … ja … ja.«

»Wer zum Teufel sind Sie?« Der Posten hob seine P-90 an und zielte auf Gideon. »Bleiben Sie da stehen!«

Gideon schaute genervt zur Decke. »Einen Moment, Ma’am.« Er legte eine Hand über das Handy. »Agent Dillard und Agent Koons«, sagte er dem Posten. »State Department Security, ich spreche gerade mit der Außenministerin.«

»Was?«, sagte der Posten ungläubig.

»Wir haben hier ein Problem. Der Sicherheitsbeamte des Arbeitsministers wurde am Eingang aufgehalten, und ich muss jetzt dorthin und die Situation klären.«

»Einen Moment mal! Einen Moment mal! Wer sind Sie überhaupt?«

»Verdammt noch mal, das habe ich doch gerade gesagt. Sind Sie taub? Agent Dillard und Agent Koons vom State Department.«

»Wo ist Ihre Zugangsgenehmigung? Wo ist Ihr Ausweis?«

»Hören Sie, klären Sie das mit Außenministerin Bonifacio ab, okay?«

Gideon hielt dem Posten sein Handy hin. Der Mann starrte es an, als sei es radioaktiv verseucht. Die Außenministerin war für ihr cholerisches Temperament bekannt, und Gideon sah dem Posten an, dass er innerlich mit sich rang, ob er riskieren sollte, bei ihr in Ungnade zu fallen. Dann sagte er: »Also gut, gehen Sie durch. Aber Sie müssen Ihre Waffen ablegen.«

»Geht klar«, sagte Gideon. »Machen wir. Meine hab ich sowieso im Wagen gelassen.« Er hob seine Jacke an und zeigte sein leeres Holster.

Tillman zog seine Pistole heraus und legte sie auf den Tisch neben der Tür.

Die Posten suchten beide mit einem Metalldetektor ab und winkten sie durch. Gideon und Tillman passierten die Tür, betraten den Betontunnel und gingen Richtung Russel-Gebäude, das ein paar hundert Meter entfernt lag.

»Ich bin beeindruckt«, sagte Tillman. »Du warst sehr überzeugend.«

»Ich hab viel geübt«, erwiderte Gideon.

Sie hatten erst wenige Schritte gemacht, als einer der Posten ihnen hinterherrief: »Entschuldigung, meine Herren, aber ich muss noch Ihre Ausweise prüfen.«

Natürlich hatten sie nur ihre echten Ausweise dabei. Wenn sie die zeigten, wurde garantiert Alarm ausgelöst.

»So viel zum Thema reden«, sagte Tillman.

»Ich nehme den Linken«, flüsterte Gideon.

Sie drehten um und gingen auf die beiden Wachposten zu. Als sie zwei Meter vor ihnen angekommen waren, duckten sie sich, sprangen nach vorn und schleuderten die beiden Männer gegen die Betonwand. Tillman und Gideon waren sehr große, kräftige Männer und gut durchtrainiert. Aber das waren die beiden Secret-Service-Agenten auch. Da er ein Leben lang Kampfsituationen trainiert hatte, war Tillman besser vorbereitet als Gideon. Er legte seine Hand unter das Kinn des Beamten und schmetterte seinen Helm gegen die Betonwand. Sogar mit Helm war der Aufprall für seinen Kopf so stark, dass der Mann benommen wurde. Tillman verpasste ihm anschließend einen Faustschlag gegen das Kinn, und er sackte zu Boden.

Währenddessen war Gideon damit beschäftigt, einen wesentlich jüngeren und stärkeren Gegner niederzuringen. Schon nach wenigen Sekunden stellte sich heraus, dass das nicht so einfach war. Der Agent überwand seine anfängliche Verwirrung sehr schnell und zwang Gideon zu Boden.

Tillman packte ihn von hinten, zwängte ihn mit den Beinen ein und legte seine Arme um den Kopf des Gegners. Es war ein Würgegriff, den die brasilianischen Jiu-Jitsu-Kämpfer »Löwentöter« nannten.

Der Posten versuchte, um Hilfe zu rufen. Aber es kam nur ein gurgelnder, keuchender Laut aus seinem Mund.

»Pack seine Arme!«, zischte Tillman. »Vielleicht hat er irgendwo einen Notsignalknopf.«

Gideon packte die Arme im gleichen Moment, als die Finger sich einem kleinen roten Knopf am Funkgerät näherten, das er am Gürtel trug. Nach wenigen Sekunden erschlaffte der Körper des Postens, nachdem sein Gehirn durch den Arterienwürgegriff unter Blutverlust zu leiden begann.

»Nimm ihre Klamotten, Ausweise und Waffen«, flüsterte Tillman und zog ein paar Plastikfesseln vom Gürtel des Postens. »Wir müssen uns beeilen. Er kommt gleich wieder zu sich.«

Sie zogen den Wachposten die Kleider aus und packten die beiden in den Kofferraum ihres Wagens. Fünf Minuten später krochen sie in den Lüftungsschacht über dem unterirdischen Tunnel.

Tillman kroch bis zum Gitter am Ende des Schachts und spähte hindurch. Vor ihm lag der Zugang zum älteren unterirdischen Gang, eine Art Rampe. Wachposten waren nicht in Sicht, auch keine Hunde, nichts. Er zog das Gitter aus der Wand. Es hing in rostigen Angeln und konnte zur Seite gedreht werden. Ein schrilles Quietschen ertönte. Auf der anderen Seite der Rampe bewegte sich ein Schatten auf einen offenen Durchgang zu.

»Bleib da«, flüsterte er, schob sich wieder zurück und schloss das Gitter.

Lampen gingen flackernd an und tauchten den gesamten Raum in einen grellen Lichtschein. Ein groß gewachsener Sicherheitsbeamter trat ein. Er hatte die Hand unter die Jacke geschoben und umfasste den Knauf seiner Pistole. Ein zweiter Beamter folgte ihm. Der zweite hatte eine kleine, aber sehr helle Taschenlampe bei sich und leuchtete damit über die Rampe hinweg zu einer Stelle, wo ein größerer Tunnel abging.

»Alles klar«, sagte er.

»Aber ich hab was gehört«, sagte der große Beamte, immer noch mit der Hand an seiner Pistole. Er deutete auf den Luftschacht: »Wo führt der hin?«

»Zu einem Luftschacht, der zum Bunker führt.«

Tillman hatte davon gehört, dass es einen Bunker unter dem Capitol gab. Aber dies hier war für ihn die erste Bestätigung dieses Gerüchts.

»Sollten wir das nicht überprüfen? Die ganze Umgebung ist so unübersichtlich wie ein Rattennest.«

Der Beamte mit der Taschenlampe schüttelte den Kopf. »Am Ende des Tunnels ist eine Tür, und die ist zugeschweißt.«

»Überprüf das mal.«

Der Beamte ging und kam nach einigen Minuten zurück. »Wie ich gesagt habe, zugeschweißt.«

»Aber ich weiß doch, dass ich was gehört habe, verdammt.«

»Hast du schon mal gesagt.«

»Was ist mit dem Luftschacht dort?« Er deutete in Tillmans Richtung und richtete die Taschenlampe auf das Schachtende.

Tillman erstarrte. Er wusste, dass sie ihn entdeckten, wenn sie durch das Gitter leuchteten. Aber wenn er jetzt versuchte, sich zurückzuziehen, würden sie seine Bewegung bemerken.

»Warte mal«, sagte der Mann mit der Taschenlampe und legte den Kopf zur Seite, als würde er auf etwas in seinem Ohrhörer lauschen. »Der Präsident ist im Anrücken. Wir müssen den Korridor überprüfen.«

Der große Beamte verzog das Gesicht und schüttelte bedauernd den Kopf. Ein Schweißtropfen rann über Tillmans Gesicht. Der Beamte schaltete seine Taschenlampe aus, drehte sich um und verließ mit seinem Kollegen die Rampe.

»Los«, flüsterte Gideon.

Tillman zog das Gitter so langsam wie möglich auf. Dieses Mal gab es nur ein ganz leises Ächzen von sich.

Sie kletterten aus dem Luftschacht.

»Und wohin jetzt?«, fragte Tillman leise.

Gideon deutete auf den Tunnel, den die beiden Sicherheitsbeamten gerade überprüft hatten. »Lass uns mal versuchen, ob wir die zugeschweißte Tür nicht irgendwie aufkriegen. Wenn wir in den Aufzugschacht kommen oder in einen Technikschacht, dann finden wir bestimmt einen Weg zur unteren Kellerebene.«

»Klingt gut. Mit Überredungskünsten kommen wir bestimmt nicht weiter.«

Sie betraten den Tunnel. Tillman schaltete die Taschenlampe ein, die er einem der überwältigten Sicherheitsbeamten im Parkhaus abgenommen hatte. Als sie die Stahltür erreichten, untersuchte Gideon die Schweißnähte am Rahmen. Alle Schweißnähte befanden sich auf der Seite der Tür, wo auch der Griff war. Auf der Seite der Angeln waren keine.

»Wir setzen bei den Türangeln an«, sagte Gideon.

»Hab ich mir auch gerade überlegt.«

Tillman zog ein Taschenmesser aus dem Gürtel, das er ebenfalls dem überwältigten Agenten abgenommen hatte. Es war ein gutes Messer, ein Benchmade-Automatic. Der Mann hatte einen guten Geschmack, was Messer betraf.

»Du setzt oben an, ich unten«, sagte Tillman und drückte auf den Knopf, der die Klinge mit einem satten Schnappgeräusch ausklappen ließ.

Weitere Abmachungen waren zwischen den Brüdern nicht nötig. Sie wussten beide ganz genau, was zu tun war. Tillman hockte sich hin und schob die Messerklinge unter den Flansch am oberen Ende des Scharniers. Gideon stieg auf Tillmans Rücken und machte sich am oberen Scharnier zu schaffen.

Nach wenigen Sekunden hatten sie die Bolzen herausgezogen. Im Gegensatz zu den Scharnieren beim Gitter im Lüftungsschacht waren diese hier mit einer dicken Schicht Schmierfett bedeckt.

Gideon sprang von Tillmans Rücken, machte sich daran, das dritte Scharnier zu lösen, und schob anschließend sein Messer in den entstandenen Spalt. Tillman folgte seinem Beispiel.

»Eins, zwei …« , sagte Tillman.

»Drei«, sagten sie gleichzeitig. Mit einer scharfen Drehung der beiden Messer gelang es ihnen, die Tür einen halben Zentimeter aus den Angeln zu heben.

»Du stützt ab, ich geh tiefer rein«, sagte Gideon.

Tillman legte konstant viel Kraft auf das Heft seines Messers, während Gideon seine Klinge tiefer in den Spalt schob.

»Jetzt«, sagte Gideon.

Nun stützte er ab, während Tillman seine Klinge tiefer hineintrieb.

»Eins, zwei, drei.«

Wieder ein halber Zentimeter. Jetzt spürten sie den Widerstand der Schweißnähte. Mehr als einen Viertelzentimeter würden sie die Tür nicht mehr bewegen können.

Die ganze Prozedur wiederholte sich noch mehrmals, bis die Tür endlich aus dem Scharnier gestemmt war. Jetzt schoben sie die Messerklingen in den Zwischenraum und drückten mit aller Kraft dagegen. Die Schweißnähte brachen und die Tür war auf.

»Was auch geschieht«, flüsterte Gideon, »ich bin froh, dass wir das gemacht haben. Und ich bin stolz darauf, dein Bruder zu sein.«

»Jetzt fang nicht an zu flennen«, sagte Tillman.

Gideon grinste und schob die Tür gegen die Wand. Tillman leuchtete auf der anderen Seite in den Tunnel. Jenseits der Tür lag ein niedriger Gang aus bröckelnden Ziegelsteinen, der aussah, als sei er gut hundertfünfzig Jahre alt.

Gideon schaute auf seine Armbanduhr. Sie hatten noch acht Minuten bis zur Rede des Präsidenten. Acht Minuten, um Kate zu retten oder bei dem Versuch zu sterben.

ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Im gleichen Augenblick erfreute sich Kate an den feierlichen Aspekten des politischen Zirkus. Zahllose Senatoren und Abgeordnete, die sie bislang nur von Weitem oder im Fernsehen gesehen hatte, liefen kreuz und quer und um sie herum. Einflussreiche Männer und Frauen in feinem Zwirn schüttelten sich die Hände oder klopften sich jovial auf den Rücken. Zwistigkeiten zwischen den Parteien zählten heute nicht, alle rückten zusammen, achteten einander wegen der Bedeutung ihrer Ämter, machten sich Komplimente und wünschten sich Glück für die Zukunft.

Entsprechend überrascht war sie, als sich eine raue Hand auf ihre Schulter legte und sie ein Agent des Secret Service mit dem berühmten Knopf im Ohr ansprach, als wäre sie eine Schülerin in der Highschool, die sich einen schlechten Streich erlaubt hatte.

»Bitte kommen Sie mit mir mit, Ma’am.«

Ihr erster Gedanke war, dass der Secret Service herausgefunden hatte, dass sie nur die Angestellte einer mittelprächtigen Ölgesellschaft war, die kein Recht hatte, sich unter die Entscheidungsträger und Strippenzieher zu mischen. Diesem Gedanken folgte die ganz konkrete Angst, dass Gideon etwas passiert sein könnte. Aber während der Beamte sie durch die Masse der Politiker und Staatsbeamten hindurchmanövrierte, wurde ihr klar, dass Gideon doch überhaupt nicht wissen konnte, dass sie sich im Capitol befand, und dass es andererseits niemanden hier drinnen gab, der sich dafür interessierte, ob er verletzt worden oder in Schwierigkeiten geraten war.

Am Eingang zum Russel-Gebäude überreichte der Mann vom Secret Service ihr ein Gerät, das wie ein altmodisches Transistorradio aussah und eine kurze Antenne hatte. Es war aber kein Radio, sondern ein abhörsicheres Voice-over-IP-Telefon, das über das Netzwerk der NSA mit der Außenwelt verbunden war, wie der Beamte ihr eilfertig erklärte. Er sagte ihr auch, dass ein Anruf für sie gekommen sei.

Sie wäre nicht weniger überrascht gewesen, wenn Gideon persönlich vor ihr erschienen wäre. Aber sie war doch sehr erstaunt, als sie feststellte, dass die Stimme am anderen Ende die einer Frau war.

»Spreche ich mit Kate Murphy?«, fragte die Stimme. Sie hatte einen leichten Südstaatenakzent, und Kate wusste sofort, dass es sich um Nancy Clement handelte. Sie erinnerte sich daran, dass Gideon und sie in Tennessee aufgewachsen waren. Sie war die Tochter eines Tabakproduzenten. Ein Mädchen aus gutem Hause, das sich zu einem schlecht bezahlten Job beim FBI entschlossen hatte, was Kate durchaus bewundernswert fand.

»Geht es um Gideon?«, fragte sie. »Ist alles in Ordnung?«

»Gideon geht’s gut«, sagte Nancy. »Aber Sie sind in Gefahr. Sie müssen sofort das Capitol verlassen.«

»Warum?«

»Ich kann das jetzt nicht erklären. Aber der Beamte, der neben Ihnen steht, heißt Ron Livingston. Er ist ein guter Freund von mir. Er wird Sie aus dem Gebäude führen.«

»Ich kann doch nicht jetzt, kurz vor der Rede des Präsidenten, hier weggehen. Ich wurde von Innenminister Fitzgerald eingeladen. Wie soll ich ihm das denn erklären?«

»Darüber können Sie später noch nachdenken. Es ist ein Anschlag auf das Repräsentantenhaus geplant. Die Zeit ist knapp. Gideon hat mich gebeten, Sie dort rauszuholen.«

»Gideon?«

»Er ist dort. Er versucht, es zu verhindern. Aber Sie müssen raus.«

Sie konnte doch Gideon nicht einfach im Stich lassen. »Vielleicht braucht er ja meine Hilfe«, sagte sie.

»Kate, jetzt hören Sie mal zu. Die Männer, die diesen Anschlag geplant haben, sind knallharte Fanatiker. Die sind durch nichts aufzuhalten, nur durch Gewalt.«

»Aber Gideon …« Sie wurde von einem großen, mürrischen Mann unterbrochen, den sie sofort als Ray Dahlgren identifizierte, der sie schon mal wegen Gideon ausgefragt hatte. Zwei Beamte begleiteten ihn. Er bedeutete Livingston, er solle ihm sein Telefon geben. Livingston verzog das Gesicht und nahm Kate zögernd den Apparat aus der Hand und reichte ihn Dahlgren.

»So«, sagte Dahlgren. »Was ist los?«

DREIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

»Der Präsident wird in sechzig Sekunden eintreffen«, sagte die Stimme in Wilmots Ohrhörer. Er kannte die klare, schneidende Stimme des Verbindungsbeamten bereits. Er war nicht der Einsatzleiter, sondern nur derjenige, der die Befehle an alle Einheiten weitergab.

Dale Wilmot fühlte sich so lebendig wie noch nie zuvor in seinem Leben. Alles passte exakt zusammen. Collier hatte den ersten Gasbehälter bereits an die Klimaanlage angeschlossen. Jetzt arbeitete er am zweiten.

Die Stimme des Verbindungsbeamten sagte: »Agent Busbee und Agent Weiner, bitte melden.«

Jeder Beamte musste sich im Abstand von fünfzehn Minuten mit der Einsatzzentrale kurzschließen. Wenn sie das nicht taten, wurden sie per Funk angefragt. Dann mussten sie sich unverzüglich melden. War das nicht der Fall, ging man davon aus, dass etwas passiert war.

»Agent Busbee und Agent Weiner, bitte Rückmeldung.«

Immer noch keine Antwort.

»Warum melden die sich nicht?« Wilmot beugte sich näher zu Shanelle Klotz, als diese keine Antwort gab.

»Sie sind im Parkhaus im Russel-Gebäude stationiert«, sagte sie. »Manchmal funktionieren die Funkgeräte in dem Gebäude aus gehärtetem Beton nicht so gut. Die Stahlträger sorgen für Interferenzen.«

Wilmot schaute sie prüfend an.

»Agent Dennis und Agent Roberts. Level zwei. Bitte überprüfen Sie Posten neun«, sagte der Verbindungsbeamte.

»Diese beiden sollen also die anderen beiden überprüfen, richtig?«

»Richtig.«

»Level zwei, was bedeutet das?«

»Sie sollen die Waffen ziehen, weil es möglicherweise einen Anschlag gibt.«

»Wie oft passiert so etwas?«

Shanelle Klotz räusperte sich nervös. »Nicht sehr oft.«

»Wenn es da ein Problem gibt, wird uns das hier beeinflussen?«

»Nur wenn es einen Generalalarm gibt.«

Collier nickte und richtete sich auf. »Alles startklar.«

Die Stimme des Verbindungsbeamten ertönte wieder. »Der Präsident erreicht jetzt Station eins. Noch zwei Minuten bis Station zwei.«

Station eins, das wusste Wilmot, bezeichnete den Eingang zum Capitol. Station zwei war die Tür zum Saal des Repräsentantenhauses. Sie hatten also noch ein paar Minuten Zeit. Laut Plan wollten sie so lange warten, bis der Präsident seine Rede begonnen hatte, und dann das Hydrogenzyanid einspeisen. Sie hatten überlegt, ob sie es schon tun sollten, wenn er den Saal betrat. Aber sie wollten abwarten, bis die Türen geschlossen waren und er in der Mitte des Raums angekommen war, wo man ihn nicht so einfach schützen konnte.

Bis dahin mussten sie das Polittheater über sich ergehen lassen, das mit der Ankunft des Präsidenten verbunden war. Er würde Hände schütteln, während er zwischen den Stuhlreihen hindurchschritt, und dann je eine Kopie seiner Rede dem Sprecher des Repräsentantenhauses und dem Vizepräsidenten überreichen. Anschließend würde er sich vorne aufbauen und feist grinsen, bis der aufbrandende Applaus abgeebbt war. Seine Rede begann traditionell mit den Worten »Meine amerikanischen Landsleute …«, und in diesem Moment würden sie das Gas ausströmen lassen.

Collier brachte die Gasflaschen in Position, während Wilmot wartete. Collier setzte einen Schraubendreher unterhalb der Ventile an. Er musste sehr viel Kraft aufwenden, aber dann bewegte sich die Feststellschraube. Ein, zwei, drei Drehungen, und schon war ein leises Zischen innerhalb des Behälters zu hören. Er holte eine kleine Box mit einem roten Schalter hervor. Es war der Auslöser, der den normalen Ein- und Ausschalter der Klimaanlage überging. Er funktionierte per Fernsteuerung über Kurzwelle aus einer Entfernung von bis zu fünfundzwanzig Metern. War der Abstand größer, würden die Frequenzen gestört und das Signal blockiert. War der rote Schalter umgelegt, wurde die heiße Luft in das Röhrensystem geblasen. Zehn Sekunden würde der Inhalt der beiden Zyanidbehälter durch ein Magnetventil direkt in die Luftkammer strömen, die Gebläsemotoren würden anspringen und die Luftleitbleche das Gemisch durch die Anlage direkt ins Repräsentantenhaus leiten.

Innerhalb von dreißig Sekunden wäre der Großteil der dort Anwesenden tot.

»Der Präsident geht los. Ich wiederhole, der Präsident geht los.«

Wilmot spürte, wie sich ein gleichmäßiges Summen in seinem Körper ausbreitete. Es fühlte sich an, als hätte jemand den tiefsten Ton einer sehr großen Kirchenorgel betätigt.

»Gib ihn mir«, sagte Wilmot.

Collier übergab ihm den Schalter.

VIERUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Präsident Erik Wade stieg aus der Limousine, die vor dem Capitol angehalten hatte, hielt kurz inne, um die Fassade des riesigen Gebäudes zu betrachten, während seine Frau neben ihn trat, und stieg dann die Stufen hinauf. Oben angekommen, drehte er sich um, winkte der kleinen Menschenmenge zu, die sich vor dem Gebäude versammelt hatte, und trat ein.

Obwohl er heute seine allererste Rede zur Lage der Nation halten sollte, war er kein bisschen nervös. Er hatte schon unzählige Reden in der Öffentlichkeit gehalten und wusste, dass er kein Cicero war, aber er wollte das Ereignis angemessen über die Bühne bringen. Er hatte sich gewissenhaft vorbereitet und würde bestimmt nicht ins Stottern geraten. Seine Abgeordneten sorgten garantiert dafür, dass der Applaus laut und ausgiebig ausfiel. Irgendwelche Problemthemen waren im Augenblick nicht an der Tagesordnung.

Dennoch war er verärgert und besorgt wegen der Schießerei in West Virginia. Er war vom stellvertretenden FBI-Direktor Dahlgren darüber unterrichtet worden, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte. Schon wieder steckte dieser verdammte Gideon Davis mit drin und mischte sich in Angelegenheiten ein, die ihn nichts angingen. Nun war Wade gezwungen, auf dieses katastrophale Ereignis einzugehen, und das in jenem glorreichen Moment, wo er als Letzter in einer langen Reihe bedeutender Männer hier eine Rede hielt. Als er den Eingang zum Capitol erreichte, verzog er kurz das Gesicht, dann ging er in die eine Richtung, seine Frau in die andere. Sie würde auf der Galerie Platz nehmen, zwischen heldenhaften Feuerwehrmännern und Polizisten, Trägern der Ehrenmedaille und Rollstuhlfahrern.

Sein Kabinett erwartete ihn. Er schüttelte jedem Minister die Hand, machte ein paar Scherze, drückte hier und da jemandem den Arm und fragte nach Frau und Kindern. Als er die Gesundheitsministerin begrüßte, hatte seine Frau es sich schon auf der Galerie gemütlich gemacht, und die Kabinettsmitglieder waren auf dem Weg in den Saal.

Er holte tief Luft. Die Show konnte beginnen.

FÜNFUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Tillman und Gideon machten sich kurz mit den Tunneln vertraut, die alle von Dampfrohren und dicken Kabelkanälen durchzogen wurden. An jedem anderen Tag wäre dies eine außergewöhnlich interessante Tour durch die Geschichte der Vereinigten Staaten gewesen – die Ziegelsteine, mit denen die Tunnel gemauert waren, stammten aus dem 19. Jahrhundert, die schweren Stahltüren aus der Zeit des Kalten Krieges, die Glasfaserkabel wiederum aus dem 21. Jahrhundert. Aber im Augenblick war keine Zeit, sich näher damit zu befassen.

Gideon schaute auf seine Armbanduhr. In wenigen Minuten würde der Präsident mit seiner Rede beginnen.

Sie folgten dem Tunnel, der um einen vertikalen Schacht herumführte, und erreichten eine weitere Tür. Darauf stand: Kellerebene zwei. Sie waren also in dem Stockwerk, von dem aus sie Zugang zur Klimaanlage hatten, aber leider war die Tür verschlossen. Über ihnen hing eine Videokamera, die zweifellos Aufnahmen von ihnen in die Einsatzzentrale übermittelte. Gideon hoffte, dass sie in ihrer Kampfmontur und mit den Mützen nicht zu identifizieren waren.

»Agent Busbee und Agent Weiner bitte melden«, ertönte eine Stimme in seinem Ohrhörer, der zu dem Funkgerät gehörte, das sie den überwältigten Beamten abgenommen hatten.

»Ich habe eine Idee«, sagte Gideon.

Er winkte in die Kamera, deutete auf sein Mikrofon und schüttelte den Kopf. Tillman kapierte, worauf er hinauswollte, und winkte ebenfalls.

»Agent Busbee, wir sehen zwei Beamte in einem nichtautorisierten Gebiet«, sagte die Stimme über Funk. »Sind Sie das?«

Gideon senkte den Kopf und deutete auf die Tür, als würde er etwas mit Tillman besprechen. Aber er machte ein Zeichen mit erhobenen Daumen Richtung Kamera.

»Agent Busbee, ist das Agent Weiner bei Ihnen?«

Gideon machte wieder ein Zeichen mit dem Daumen. »Schlag einfach gegen die Tür«, sagte er zu Tillman. »Sie glauben jetzt, unsere Funkgeräte sind ausgefallen.«

Tillman schlug mit der flachen Hand gegen die Tür.

»Agent Busbee und Agent Weiner, Sie sind für Ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht autorisiert. Kehren Sie auf Ihren Posten zurück.«

Tillman schlug weiter gegen die Stahltür. »Vielleicht machen sie die Tür ja auf«, sagte er. »Aber wenn sie es tun, dann stehen auf der anderen Seite wahrscheinlich zehn Typen mit MP-5-Maschinenpistolen und zielen auf uns.«

»Das will ich doch hoffen«, sagte Gideon.

Plötzlich hörten sie ein Scharren auf der anderen Seite. Die Tür schwang auf, und vier bewaffnete Männer erschienen vor ihnen, die P-90-MPs direkt auf sie gerichtet.

»Oje, wie schrecklich«, sagte Tillman. »Die haben keine MP-5, sondern P-90er.«

Dann wurden sie angebrüllt: »Runter auf den Boden! Sofort runter auf den Boden! Los, runter!«

Tillman und Gideon gingen in die Knie, und ein fünfter Mann, der Truppführer, näherte sich. Er grinste süffisant. Seine pomadisierten Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Es war Ray Dahlgren.

»Gideon Davis«, sagte er. »Und das da muss Ihr Bruder Tillman sein.«

Sie befanden sich in einer Halle mit Betonwänden. Ungefähr zwanzig Meter von ihnen entfernt, am anderen Ende, war eine rote Tür, auf der in großen schwarzen Buchstaben »ZUGANG KLIMAANLAGE« geschrieben stand.

»Dahlgren!«, rief Gideon. »Da drüben in dem Raum sind zwei Männer, die gerade versuchen, Zyanid in das Heizungssystem zu pumpen. Sie müssen sofort da rein und sie aufhalten, sonst werden sie alle Personen in diesem Gebäude umbringen.«

»Sie müssen sich schon was Besseres ausdenken, wenn Sie sich vor einem längeren Aufenthalt im Bundesgefängnis drücken wollen.«

»Hören Sie doch mal zu, Sie Idiot«, sagte Tillman. »Sie sind vielleicht schon in ein paar Minuten tot.«

»Bleiben Sie doch bitte höflich«, sagte Dahlgren amüsiert.

»Hören Sie bitte«, sagte Gideon. »Lassen Sie mich die Tür da öffnen. Sie haben nichts zu verlieren. Wenn ich falschliege, dann verschwenden Sie nur wenige Minuten Ihrer Zeit. Aber wenn ich recht habe, dann können Sie den Tod des Präsidenten verhindern, wie auch des Vizepräsidenten und von hunderten von Senatoren und Kongressabgeordneten. Sie wollen bestimmt nicht in die Geschichte eingehen als der Mann, der es nicht verhindert hat.«

»Sie werden überhaupt keine Tür öffnen«, sagte Dahlgren. Aber Gideon sah ihm an, dass seine Worte ihn beeindruckt hatten, als er zwei seiner Männer anwies: »Bringt sie in den Arrestraum.« Dann zog er eine Pistole aus dem Holster. »Ich werde diese verdammte Tür öffnen, und dann werden wir den ganzen Quatsch beenden.«

Wilmot und Collier hörten, dass draußen vor der Tür etwas im Gange war.

»Was zum Teufel ist denn da los?«, fragte Collier und spähte durchs Schlüsselloch. »Da sind Leute vom Secret Service, die andere Leute vom Secret Service verhaften.«

»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Wilmot. »Los jetzt, wir ziehen es durch.«

»Der ganze Ablauf dauert eine Minute und dreißig Sekunden.« Collier fing an, auf seiner Tastatur herumzutippen.

»Ich dachte, du hättest alles bereit.«

»Hab ich auch. Aber die Heißluft muss zirkulieren. Erst kommt das Gas, dann wird die Luft in der Umwälzanlage aufgeheizt. Die Ventilatoren gehen erst an, wenn die Luft eine bestimmte …«

»Ist ja gut. Tu’s einfach.«

Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile verspürte Shanelle Klotz so etwas wie Hoffnung. »Sie werden es nicht schaffen, das ist doch klar«, sagte sie. »Sie werden gleich hier sein …« Sie schaute zur Tür. »Da sind sie ja schon.«

Die Türklinke wurde gedrückt, jemand trat gegen die Tür.

»Mist«, sagte Wilmot.

Colliers Hände flogen über die Tasten. »Nur noch ein paar Sekunden …«

Wieder trat jemand gegen die Tür.

Wilmot legte die kleine Box mit dem roten Schalter beiseite und griff nach der Pistole, die er dem überwältigten Beamten abgenommen hatte. »Wir können nicht mehr warten. Mach weiter, ich halte sie auf.«

»Nein, Sir.« Collier stand auf. »Das übernehme ich.«

»Aber du musst doch noch …«

»Alles erledigt. Ich habe das System scharf gemacht.« Er griff nach der Box mit dem roten Schalter und hielt sie Wilmot hin. »Sie müssen nur auf den Knopf drücken.«

Wilmot schaute Collier an, dann überreichte er ihm die Pistole.

Collier nahm sie nicht entgegen. »Ich hab was Größeres vor.«

»Vielen Dank, mein Sohn. Für alles.«

Collier salutierte: »Ich bin stolz darauf, Ihr Sohn sein zu dürfen.«

Wilmot rang sich ein Lächeln ab, von dem er hoffte, dass es seine Verachtung für Collier überspielte. Er war überrascht, dass er so negative Gefühle hegte, vor allem angesichts seiner bedingungslosen Hingabe.

Präsident Erik Wade hörte, wie der Zeremonienmeister ausrief: »Sprecherin des Hohen Hauses, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika!«, und betrat den Saal.

Da Erik Wade vor seiner Wahl zum Präsidenten Gouverneur gewesen war, hatte er das Abgeordnetenhaus bislang nur einige Male besucht. Jetzt kam ihm der Saal kleiner und weniger prächtig vor, als er ihn in Erinnerung hatte.

Seine Sicherheitsleute hatten den Befehl, ihm nicht zu dicht auf die Pelle zu rücken. Der Saal war ja gefüllt mit Menschen, die ihrem Land viele Jahre treu gedient hatten. In diesem Moment war es hier wahrscheinlich so sicher wie in Fort Knox. Wade wollte Hände schütteln. Er nahm sich die Zeit, bei einem Demokraten aus Kalifornien anzuhalten, bei einem Republikaner aus South Carolina, bei einem Senator, einem Kongressabgeordneten. Wade hatte ein fast fotografisches Gedächtnis und sprach jede Person mit Namen an. Den Abgeordneten hatte er noch nie in seinem Leben gesehen, aber ihm fiel rechtzeitig der Name von dessen Tochter ein.

»Hallo Ted, wie geht’s Christines Bein?«, fragte er und bezog sich damit auf eine Verletzung, die sich das Mädchen beim Fußballspielen zugezogen hatte. Ein Hinweis darauf hatte in den Personalunterlagen gestanden, die er eifrig studierte, seit er Präsident geworden war.

»Danke, gut, Mr President. Nett, dass Sie danach fragen.« Das Gesicht des unbedeutenden Abgeordneten leuchtete auf. Er war überrascht, dass der Präsident seinen Namen kannte und sogar von dem Beinbruch seiner Tochter wusste.

»Vielen Dank, dass Sie mir bei der Energiegesetzgebung Ihre Stimme geben«, sagte Wade.

»Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Oh, was das betrifft, habe ich vollstes Vertrauen in Sie«, sagte Wade mit einem Augenzwinkern.

Und schon war er weitergegangen, um noch mehr Hände zu schütteln.

Als er endlich das Podium erreichte, den Text seiner Rede in der linken Hand, bemerkte er, dass die Agenten des Secret Service aufgeregt in ihre Mikrofone sprachen.

Sie schienen über irgendetwas beunruhigt zu sein. Aber das war ja schließlich ihre Aufgabe. Wenn es ein ernstes Problem gab, würden sie ihn packen und in Sicherheit bringen. Bis es so weit war, hatte er sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen.

Er gab dem Vizepräsidenten die Hand und lächelte ihn breit an. Er hasste den Vizepräsidenten und war sich sicher, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber so war Politik nun mal.

Er reichte dem Vizepräsidenten eine Kopie seiner Rede und gab der Sprecherin des Kongresses einen Kuss auf die Wange. Er mochte diese Frau überhaupt nicht, hatte sogar ein wenig Angst vor ihr. Ein zufälliger Beobachter hätte das überschwängliche Lächeln der beiden ganz anders interpretiert: Er hätte eher vermutet, dass sie sich nach unheimlich langer Zeit endlich wieder gefunden hatten. »Schön Sie zu sehen, Ma’am. Sie sehen wie immer wundervoll aus.«

»Mit Schmeicheleien werden Sie gar nichts erreichen, Mr President.«

Erik Wade lachte laut auf und sagte: »Wie es das Protokoll verlangt, überreiche ich Ihnen hiermit eine Kopie meiner Rede.«

»Wie es das Protokoll verlangt, nehme ich sie mit großer Freude entgegen«, sagte sie und trat danach ans Mikrofon, wo sie ausrief: »Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre und das Privileg, Ihnen den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu präsentieren.«

Erik Wade wandte dem Vizepräsidenten und der Sprecherin den Rücken zu und stieg auf das Podium.

»Vielen Dank«, sagte er und hob die Hände, um den donnernden Applaus zu besänftigen. »Vielen Dank. Vielen Dank, Leute. Ich danke euch von ganzem Herzen …«

Der Präsident bemerkte, dass es im Saal ungewöhnlich kalt war, und fragte sich, ob sich vielleicht mal jemand um die Heizung kümmern könnte. Weiter kam er nicht, denn genau in diesem Moment wurde der Saal von einer gigantischen Explosion erschüttert, und er merkte, dass er fiel.

SECHSUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Hydrogenzyanid verwandelt sich bei Zimmertemperatur in ein extrem flüchtiges Gas. Es ist sehr leicht entflammbar, wenn es sich mit Luft mischt, und schon der kleinste Funke kann eine Explosion verursachen.

Als es Dahlgren nicht gelang, die Tür aufzutreten, zog er seine Dienstpistole und zielte. Aber im selben Moment, als er gerade fünf Schüsse abgeben wollte, sprang die Tür auf und Collier stürzte heraus, die Arme fest um eine der Gasflaschen geschlungen. Dahlgren konnte nur einen Schuss abgeben, bevor Collier gegen ihn prallte und beide Männer zu Boden gingen.

Obwohl Collier die Absicht gehabt hatte, seine Gasbombe selbst zu zünden, war das nun nicht mehr nötig. Die von Dahlgren abgefeuerte Kugel drang durch die Metallwand, perforierte den Tank, entzündete die darin befindliche Flüssigkeit und verursachte eine Explosion. Die Druckwelle tötete Collier augenblicklich, und die Flammen verbrannten Dahlgren so schwer, dass er einen sofortigen Herzstillstand erlitt. Zwei Beamte des Secret Service, die dicht neben ihm standen, erstickten wegen des plötzlichen Sauerstoffmangels, und ein dritter sollte später an den Folgen einer Zyanidvergiftung sterben.

Tillman wurde gegen die Wand geschleudert, während Gideon sich auf den Boden warf und nur knapp einem herumfliegenden Metallsplitter entging. Glücklicherweise waren beide so weit von dem entstandenen Feuerball entfernt, dass die Flammen beinahe das gesamte Zyanid verbrannt hatten, als die Gaswelle sie erreichte. Ihre Augen brannten, und es sollte einige Wochen dauern, bis Tillman wieder etwas essen konnte, ohne den typischen Bittermandelgeschmack im Rachen zu spüren. Aber beide überlebten die Explosion relativ unbeschadet.

Gideon stand auf und sah, dass sein Bruder noch auf dem Boden kniete, sich die Hände vors Gesicht hielt und hustete. »Alles okay?«, fragte er.

Tillman nickte, konnte aber nicht sprechen. Die toten Sicherheitsmänner lagen neben Collier und Dahlgren auf dem Boden. Der verwundete Beamte kroch auf seine Kollegen zu, denen er allerdings nicht mehr helfen konnte. Gideon wusste, dass es zwei Männer waren, die sich Zugang zur Klimaanlage verschafft hatten. Nur einer lag tot vor ihnen, was bedeutete, dass der andere – er vermutete, dass es Wilmot war – sich noch drinnen befand. Er streckte die Hand aus und zog seinen Bruder auf die Füße. Dann stiegen sie vorsichtig über das Durcheinander auf dem Boden des Korridors und gingen auf den Raum zu, in dem sie ihren zweiten Gegner vermuteten.

Als die Explosion den Kongresssaal erschütterte, warfen sich die Beamten des Secret Service vor die Türen. Den Raum zu sichern und das Gebäude abzuriegeln, war allererste Priorität. Das war der erste Punkt auf der Liste der sofortigen Maßnahmen, wenn ein Anschlag auf den Präsidenten erwartet wurde. In diesem Fall war es allerdings das denkbar Schlechteste, was sie tun konnten. Der Gefahrenherd befand sich ja nicht außerhalb des Gebäudes, sondern darin. Außerdem versuchte die panische Menschenmenge, die Türen aufzureißen. Senatoren packten Kongressabgeordnete, Männer fassten Frauen unter, Frauen krochen über Männer, Starke schoben die Schwachen beiseite, die Schwachen trampelten über die am Boden Liegenden. Vor jeder Tür drängten sich hunderte von Personen, wurden gegeneinandergeworfen, stöhnten, schrien, weinten – in wenigen Sekunden war aus den ruhig und beherrscht handelnden, zivilisierten Menschen eine chaotische Horde von Tieren geworden, die nur noch ihrem Überlebensinstinkt gehorchten.

Kate war draußen vor dem Saal geblieben, nachdem Dahlgren sie befragt hatte. Jetzt, in diesem ganzen Chaos, dachte sie nur daran, Gideon zu finden. Sie hatte Dahlgren keine Informationen gegeben, jedenfalls keine, die Gideon irgendwie schaden konnten. Die Explosion, so vermutete sie, hatte etwas mit den Terroristen zu tun, denen Gideon auf der Spur war. Offenbar hatte sie sich irgendwo im Keller ereignet. Kate riss sich von dem Sicherheitsbeamten los und rannte ins Treppenhaus.

SIEBENUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Gideon trat mit den Absätzen gegen die unverschlossene Tür des Serviceraums. Sie sprang auf, und er und Tillman stürmten hinein und suchten den Raum nach möglichen Gegnern ab.

Niemand war zu sehen.

Nur auf dem Boden lagen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, beide in der Uniform des Secret Service.

»Tot«, stellte Gideon fest, nachdem er nach dem Puls des Mannes gefühlt hatte.

Die Frau lag mit ausgestreckten Gliedmaßen regungslos da, Blut rann über ihre Wange. Tillman erkannte die Frau wieder, die er auf den Familienfotos im Haus von Dr. Klotz gesehen hatte – es war seine Frau Shanelle.

»Ist sie auch tot?«, fragte Gideon.

Als wollte sie seine Frage beantworten, stöhnte sie auf.

»Nein«, sagte Tillman mit rauer, kratziger Stimme.

»Wo zum Teufel ist er denn hin?«, fragte Gideon. »Hier drin ist niemand sonst.«

Shanelle Klotz setzte sich auf und hielt sich den Kopf. »Ich kenne Sie doch«, sagte sie schwerfällig.

»Gideon Davis«, stellte er sich vor.

»Das FBI sucht Sie.«

Gideon antwortete nicht, er wusste nur zu gut, was Dahlgren ihm alles angehängt hatte. »Der Mann, der hier war. Wo ist der hin?«

In diesem Augenblick hörte er das surrende Geräusch innerhalb der riesigen Klimaanlage, wo die Luftmassen umgewälzt wurden. Shanelle deutete wortlos zum anderen Ende des Raums, wo es eine Luke oder Zugangstür gab, die in das Gehäuse der Klimaanlage führte. Wilmot war offenbar in eine Röhre gekrochen und steuerte von dort aus die Anlage per Funk.

»Keine Bewegung!«

Gideon wirbelte herum. Shanelle Klotz zielte mit einer kleinen Pistole direkt auf seinen Kopf. Sie musste die Waffe irgendwo verborgen getragen haben, als Reserve im Fall einer Entwaffnung, war bislang aber nicht an sie herangekommen.

»Hören Sie«, sagte Gideon. »Er hat bereits den Gashahn aufgedreht. Wir haben vielleicht noch sechzig Sekunden, bevor das Zyanid sich ausbreitet.«

»Zyanid?«

»Er will es zerstäuben und verteilt es über die Klimaanlage im ganzen Gebäude.«

»Um Gottes willen.« Sie deutete auf den Behälter, der über die Leitung für das Kondenswasser mit der Anlage verbunden war. »Da ist genug drin, um alle Menschen oben im Saal zu vergiften.«

»Wir müssen was tun«, sagte Gideon. »Sie müssen mir vertrauen.«

»Aber die haben meine Kinder.«

Gideon schüttelte den Kopf. »Ihren Töchtern geht’s gut. Tillman hat sie befreit.«

Die Agentin schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an und wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»Es ist eine lange Geschichte«, sagte Gideon. »Aber wir müssen jetzt etwas unternehmen.«

Shanelle Klotz hielt die Pistole noch einige Sekunden lang auf Gideons Kopf gerichtet, dann senkte sie den Arm.

»Los«, sagte sie.

ACHTUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Gideon kletterte in den dunklen Schacht hinauf. In der Ferne hörte er Alarmrufe und Kommandos der Sicherheitskräfte.

Die Röhren vibrierten, während die Luft in der Umwälzanlage sich erwärmte. Er wusste, dass in dem Moment, wo sie die richtige Temperatur erreichte, die Ventilatoren ansprangen und die mit Zyanid verseuchte heiße Luft durch das Röhrensystem im ganzen Gebäude verteilten. Er und Tillman wären die ersten Opfer. Ihre einzige Chance war, Wilmot zu erreichen, bevor es so weit war, und die Anlage herunterzufahren.

Gideon bewegte sich, so schnell er konnte, durch den Schacht voran. Tillman folgte ihm. Die Röhren waren ungefähr neunzig Zentimeter breit und ein Meter zwanzig hoch, und es gab Einkerbungen im Abstand von dreißig Zentimetern, um Fuß fassen zu können. Sie quälten sich in gebückter Haltung voran. Nach ungefähr fünf Metern kamen sie zu einer Abzweigung, wo mehrere Schächte in horizontaler Richtung abgingen. Gideon horchte, ob er aus irgendeiner Richtung Schritte hörte, aber das laute Dröhnen der Umwälzanlage übertönte alles. Kurz kam ihm ein eigenartiger Gedanke: Wenn er jetzt die nächsten fünfzehn bis zwanzig Sekunden ganz einfach nichts tat, dann würde er eine Phase seines Lebens beenden, die sehr erniedrigend für ihn gewesen war, und zwar auf eine sehr spektakuläre Weise. So schäbig wie Präsident Wade ihn behandelt hatte, wäre es zwar ein gerechtes, aber auch irgendwie perverses Ende der Geschichte.

Aber das war nur ein kurzer Gedanke. Gideon wusste, dass hier der nackte Wahnsinn am Werk war. Dieser irre Wilmot wollte den Tempel der Demokratie niederreißen, der hier seit über zweihundert Jahren stand. Es stimmte schon, dass vieles in diesem Tempel falsch lief, aber es würde ohnehin niemals eine absolut perfekte menschliche Institution geben. Jedenfalls nicht, bevor der Mensch selbst perfekt geworden war. Aber die amerikanische Demokratie war trotzdem noch immer die beste Regierungsform in der Menschheitsgeschichte.

Er spürte Tillman neben sich.

»Du gehst in diese Richtung«, flüsterte Tillman. »Ich gehe in die andere.«

Gideon nickte.

Tillman kroch ein Stück weit in die Röhre, dann hielt er an und drehte sich um. »Wenn du diesen Drecksack siehst, dann zögere keine Sekunde«, flüsterte er. »Töte ihn einfach.«

Dann wandte er sich wieder um und kroch weiter.

NEUNUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

WASHINGTON, D.C.

Dale Wilmot hätte beinahe laut aufgelacht. Die Sicherheitsleute hatten allen Anwesenden befohlen, im Saal zu bleiben. Genau das hatte er erwartet, und es war genau das Falsche.

Die in Panik verfallene Horde im Kongresssaal beruhigte sich allmählich wieder. Aber noch immer versuchten manche, aus dem Saal zu kommen, während die Sicherheitsbeamten den Präsidenten umringten.

»Bleiben Sie ruhig«, hörte er sie rufen. »Bleiben Sie ruhig! Hier drinnen sind Sie sicher!«

Das waren sie eben nicht, aber das wusste nur Wilmot allein. Jetzt, wo der große Moment gekommen war, hätte er ihn nur allzu gern in die Länge gezogen. Es kam ihm vor, als würde seine Seele aufbrechen und sich ausbreiten, während er eins wurde mit der historischen Mission, die er nun erfüllen durfte. Hatte Lincoln sich vor seiner großen Rede auf dem Soldatenfriedhof in Gettysburg so gefühlt? Hatten sich die Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung oder der Verfassung so gefühlt, als sie ihre Namen darunter setzten?

Das Gesicht seines Sohnes tauchte vor seinem geistigen Auge auf – nicht sein verstümmeltes Gesicht, sondern das hübsche Gesicht, mit dem er nach Afghanistan aufgebrochen war. Alles, was er getan hatte, hatte er für Evan getan, und eines Tages, da war er sich ganz sicher, würde sein Sohn die Bedeutung dieser Tat erkennen. Es war eine großartige Tat, und die Geschichte würde ihn gerecht beurteilen.

Die Box mit dem roten Knopf in der einen Hand, hob er triumphierend die Arme. In der Dunkelheit blitzte das Metall auf wie eine silberne Kugel, die durch die dunkle Nacht flog.