IX
Die Horst-Wessel-Oberschule hieß vor dem Krieg KronprinzWilhelm-Realgymnasium und roch ähnlich verstaubt wie unsere Schule. Das Gebäude, ich meine, neunzehnhundertzwölf erbaut, nur äußerlich freundlicher als unser Backsteinkasten, lag im Süden des Vorortes, am Fuße des Jäschkemaler Waldes; folglich kreuzte sich Mahlkes Schulweg mit meinem Schulweg nirgends, als im Herbst wieder einmal die Schulzeit begann.
Aber auch während der Großen Ferien blieb er verschollen – ein Sommer ohne Mahlke – denn es hieß, er hätte sich in ein Wehrertüchtigungslager mit der Möglichkeit vormilitärischer Funkerausbildung gemeldet. Weder in Brösen noch in der Badeanstalt Glettkau zeigte er seinen Sonnenbrand. Weil es sinnlos blieb, ihn in der Marienkapelle zu suchen, konnte Hochwürden Gusewski, solange die Ferien dauerten, mit einem seiner zuverlässigsten Ministranten nicht mehr rechnen: der Ministrant Pilenz sagte sich: Keine Messe ohne Mahlke.
Wir Übriggebliebenen hockten dennoch ab und zu aber lustlos auf dem Kahn. Hotten Sonntag versuchte vergeblich, den Zugang zur Funkerkabine zu finden. Auch bei den Tertianern wisperten immer neue Gerüchte von einer dollen und verrückt eingerichteten Bude im Inneren der Brückenaufbauten. Ein Bengel, mit Augen nah beieinander, den die Stinte untergeben Störtebeker nannten, tauchte unermüdlich. Tulla Pokriefkes Cousin, ein eher schmächtiges Kerlchen, war ein oder zweimal auf dem Kahn, tauchte aber nie. Entweder in Gedanken oder wortwörtlich versuchte ich, mit ihm ein Gespräch über Tulla anzufangen; mir lag an ihr. Aber wie mich hatte sie den Cousin – womit wohl? – mit ihrer verfilzten Wolle, mit ihrem unauflöslichen Tischlerleimgeruch verseucht. »Das geht Sie einen Scheißdreck an!« sagte der Cousin zu mir – oder hätte er sagen können. Tulla fehlte auf dem Kahn, blieb in der Badeanstalt, hatte aber mit Hotten Sonntag Schluß gemacht. Zwar war ich zweimal mit ihr im Kino, hatte aber dennoch kein Glück: ins Kino ging sie mit jedem. Es hieß, sie hätte sich in jenen Störtebeker vergafft, unglücklich vergafft, denn der Störtebeker zeigte sich vorerst in unseren Kahn vergafft und suchte den Zugang zu Mahlkes Bude. Gegen Ende der Großen Ferien wurde viel von seiner angeblich erfolgreichen Taucherei geflüstert. Beweise fehlten: weder brachte er eine verquollene Schallplatte noch eine vergammelte Schnee-Eulenfeder hoch. Dennoch hielten sich die Gerüchte; und als zweieinhalb Jahre
später jene ziemlich mysteriöse Jugendbande, als deren Anführer Störtebeker genannt wurde, aufflog, soll während des Prozesses abermals von unserem Kahn und dem Versteck im Inneren der Brückenaufbauten die Rede gewesen sein. Aber da war ich schon beim Barras, erfuhr nur satzweise davon, weil mir Hochwürden Gusewski bis zum Schluß und solange die Post mitmachte, seelsorgende bis freundschaftliche Briefe schrieb. Und in einem der letzten Briefe vom Januar fünfundvierzig – als die russischen Armeen schon gegen Elbing vorstießen – stand etwas von einem schändlichen Überfall geschrieben, den sich die sogenannte Stäuberbande auf die Herz-Jesu-Kirche, in der Hochwürden Wiehnke amtierte, geleistet hatte. Der Bursche Störtebeker wurde in dem Brief unter seinem Familiennamen erwähnt; auch glaube ich, etwas von einem dreijährigen Kind gelesen zu haben, das die Bande als Talismann, Maskottchen in Ehren gehalten hatte. Manchmal bin ich sicher, manchmal zweifle ich, ob in Gusewskis letztem oder vorletztem Brief – das Bündel ging mit Tagebuch im Brotbeutel bei Cottbus verloren – auch jener Kahn genannt wurde, der vor Beginn der Sommerferien zweiundvierzig seinen großen Tag feiern durfte, aber während der Ferien an Glanz verlor; denn noch heute schmeckt mir der besagte Sommer flau, weil Mahlke fehlte – Kein Sommer ohne Mahlke!
Nicht, daß wir verzweifelten, da es ihn nicht mehr gab. Besonders ich war froh, ihn los zu sein, ihm nicht hinterdrein zu müssen; aber warum wohl meldete ich mich gleich nach Schulanfang bei Hochwürden Gusewski und bot mich als Meßdiener an? Hochwürden war hinter randloser Brille tausendfältig erfreut und wurde hinter gleicher Brille faltenlos ernst, als ich, so nebenbei, beim Ausbürsten seiner Soutane – wir saßen in der Sakristei – nach Joachim Mahlke fragte. Ruhig, mit einer Hand an der Brille, tönte er: »Gewiß, nach wie vor ist er einer der Eifrigsten, versäumt keine Sonntagsmesse, war allerdings während vier Wochen in einem sogenannten Wehrertüchtigungslager; ich will doch nicht glauben müssen, daß Sie nur Mahlke wegen wieder vor dem Altar dienen wollen. Äußern Sie sich, Pilenz!« Nun war knappe zwei Wochen zuvor bei uns die Nachricht eingetroffen, mein Bruder Klaus wäre als Unteroffizier am Kuban gefallen. Seinen Tod gab ich als Grund fürs wieder aufgenommene Ministrieren vor dem Altar an. Hochwürden Gusewski schien mir zu glauben oder gab sich Mühe, mir und meiner aufgewerteten Frömmigkeit Glauben zu schenken.
So wenig ich mich erinnere, aus welchen Einzelheiten sich Hotten Sonntags oder Winters Gesicht zusammensetzte, Gusewski hatte dichtes drahtiges krausschwarzes, nur vereinzelt eisgraues Haar auf schuppiger, die Soutane zeichnender Kopfhaut. Peinlich genau rasiert saß ihm die Tonsur bläulich am Hinterkopf. Birkenhaarwasser und Palmolivseife bestimmten seinen Geruch. Manchmal rauchte er Orientzigaretten mit Hilfe einer kompliziert geschliffenen Bernsteinspitze. Er galt als fortschrittlich und spielte mit den Ministranten, auch mit den Erstkommunizierenden Tischtennis in der Sakristei. Alles Weißzeug, das Humerale und die Albe ließ er sich von einer Frau Tolkmit oder, wenn die Alte erkrankt war, von geschickten Ministranten, oft von mir, übermäßig stärken. Jeden Manipel, jede Stola, alle Meßgewänder, ob sie in Schränken lagen oder hingen, behängte und beschwerte er eigenhändig mit Lavendelsäckchen. Als ich etwa dreizehn Jahre alt war, fuhr er mir mit kleiner unbehaarter Hand vom Nacken abwärts unters Hemd bis zum Bund der Turnhose, ließ dann die Hand zurückkehren, weil die Hose keinen dehnbaren Gummizug hatte, und ich sie vorne mit eingenähten Stoffbändern schnürte. Ich machte mir nicht viel aus dem versuchten Griff, zumal Hochwürden Gusewski in seiner freundlichen, oft jungenhaften Art meine Sympathie besaß. Noch heute erinnere ich mich seiner mit spöttischem Wohlwollen; deshalb kein Wort mehr über gelegentliche und harmlose, im Grunde nur meine katholische Seele suchende Handgriffe. Insgesamt war er ein Priester wie hundert andere, unterhielt eine gutausgewählte Bibliothek für seine wenig lesende Arbeitergemeinde, war nicht übertrieben eifrig, gläubig mit Einschränkungen – zum Beispiel in Sachen Maria Himmelfahrt – und sprach jedes Wort, ob er übers Korporale hinweg vom Blut Christi oder in der Sakristei vom Tischtennis sprach, mit gleicher, salbungsvoll heiterer Betonung. Albern an ihm fand ich, daß er schon Anfang vierzig einen Antrag auf Namensänderung stellte und sich ein knappes Jahr später Gusewing, Hochwürden Gusewing nannte und nennen ließ. Aber die Mode der Germanisierung polnisch klingender Namen, die auf ki oder ke oder a – wie Formella – endeten, machten damals viele mit: aus Lewandowski wurde Lengnisch; aus Herrn Olczewski, unserem Fleischer, entpuppte sich ein Fleischermeister Ohlwein; Jürgen Kupkas Eltern wollten ostpreußisch Kupkat heißen – aber der Antrag wurde, wer weiß warum, abgelehnt. Vielleicht nach dem Muster Saulus wird Paulus, wollte ein gewisser Gusewski zum Gusewing werden – aber auf diesem Papier heißt Hochwürden Gusewski weiterhin Gusewski; denn Du, Joachim Mahlke, hast Deinen Namen nicht ändern lassen. Als ich zum erstenmal nach den Großen Sommerferien während der Frühmesse vor dem Altar diente, sah ich ihn wieder und neu. Schon gleich nach den Stufengebeten – Gusewski stand auf der Epistelseite und war mit dem Introitus beschäftigt – entdeckte ich ihn in der zweiten Bank vor dem Marienaltar. Aber erst zwischen der Epistellesung und dem Graduale, danach ausgiebig während der Lesung aus dem Tagesevangelium, fand ich Zeit, seinen Anblick zu überprüfen. Wenn auch sein Haar nach wie vor in der Mitte gescheitelt und mit dem üblichen Zuckerwasser haltbar gemacht worden war, trug er es neuerdings um eine Streichholzspanne länger. Starr und kandiert fiel es, zwei steile Dächer, über beide Ohren: er hätte als Jesus auftreten können, faltete die Hände freischwebend, also ohne die Ellenbogen aufzustützen, etwa in Stirnhöhe, gab unter dem Händedach die Ansicht eines Halses frei, der nackt und ungeschützt alles offenbarte; denn seinen Hemdkragen ließ er als Schillerkragen über den Jackenkragen fallen: kein Schlips, keine Puscheln, kein Anhänger, Schraubenzieher oder sonst ein Stück aus reichhaltigem Arsenal. Einziges Wappentier auf freiem Feld war jene unruhige Maus, die er an Stelle eines Kehlkopfes unter der Haut beherbergte, die einst die Katze angelockt und mich verlockt hatte, ihm die Katze an den Hals zu setzen. Zudem gab es auf der Strecke vom Adamsapfel zum Kinn noch einige verkrustete Rasierspuren. Fast wäre ich beim Sanctus mit der Schelle zu spät gekommen.
An der Kommunionbank gab sich Mahlke weniger affektiert. Er ließ die gefalteten Hände bis unters Schlüsselbein sinken und roch aus dem Mund, als kochte in seinem Innern ständig ein Töpfchen Wirsingkohl auf kleiner Flamme. Kaum hatte er die Oblate bei sich, fiel eine weitere gewagte Neuerung auf: den Rückweg von der Kommunionbank zu seinem Platz in der zweiten Bankreihe, jenen stillen Weg, den Mahlke bisher wie jeder Kommunizierende ohne Umweg hinter sich gebracht hatte, dehnte er aus, unterbrach ihn, indem er zuerst mit langsam stelzendem Schritt die Mitte des Marienaltares suchte, dann auf beide Knie fiel und nicht den Linoleumfußboden, sondern einen rauhhaarigen Teppich als Unterlage wählte, der kurz vor den Altarstufen begann. Die gefalteten Hände streckte er über Augenhöhe, Scheitelhöhe, noch höher und schon begehrlich gegen jene überlebensgroße Gipsfigur, die ohne Kind, als Jungfrau der Jungfrauen, auf versilberter Mondsichel stand, einen preußischblauen sternenbesetzten Mantel von den Schultern zu den Knöcheln fallen ließ, langfingrige Hände vor flacher Brust faltete und mit eingesetzten, leicht vortretenden Glasaugen gegen die Decke der ehemaligen Turnhalle blickte. Als Mahlke sich Knie nach Knie wieder erhob und die Griffel abermals vor dem Schillerkragen versammelte, hatte der Teppich seinen Kniescheiben ein grobes hochgerötetes Muster geprägt.
Auch Hochwürden Gusewski waren Einzelheiten Mahlkes neuer Moden aufgefallen. Nicht, daß ich Fragen stellte. Ganz aus sich, schon bedrückt, als wollte er eine Last loswerden oder teilen, begann er gleich nach der Messe von Mahlkes übergroßem Glaubenseifer, von gefährlichen Äußerlichkeiten und von jener, ihn seit geraumer Zeit erfüllenden Sorge zu sprechen. Mahlkes Marienkult grenze, so sagte er, an heidnischen Götzendienst, welch innere Not ihn auch immer vor den Altar führen möge.
Er wartete vor dem Sakristeiausgang auf mich. Der Schreck wollte mich wieder in die Tür drücken, aber schon nahm er meinen Arm, lachte auf neue Art ungezwungen, plauderte plauderte. Er, der Einsilbige, sprach übers Wetter – Altweibersommer, goldene Fäden in der Luft - und begann unvermittelt, doch ohne die Stimme zu senken, im gleichen Plauderton zu berichten: »Hab mich übrigens freiwillig gemeldet. Schüttel über mich selber den Kopf. Weißt ja, wie wenig ich davon halte: Militär, Kriegspielen und diese Überbetonung des Soldatischen. Rat mal, zu welcher Gattung. Keine Spur. Mit der Luftwaffe ist doch schon lange nichts mehr los. Daß ich nicht lache: Fallschirmjäger! Nun sag bloß, ich will zu den U-Booten. Na also, endlich! Das ist die einzige Gattung, die noch Chancen in sich hat; obgleich ich mir kindisch vorkommen werde in solch einem Ding, und ich viel lieber was Zweckmäßiges täte oder was Komisches. Weißt ja, wollte mal Clown werden. Was einem als Junge nicht alles einfällt. Dabei finde ich den Beruf heute noch ganz passabel. Sonst geht es mir so lala. Och, Penne ist Penne. Was man früher für Quatsch gemacht hat. Erinnerst Du Dich? Konnte mich einfach nicht an das Ding da gewöhnen. Dachte, das ist eine Art Krankheit, dabei ist das vollkommen normal. Kenne Leute oder hab welche gesehen, die noch größere haben, ohne sich groß aufzuregen. Fing damals mit der Katzengeschichte an. Weißt Du noch, wir lagen auf dem Heinrich-Ehlers-Platz. Lief wohl gerade ein Schlagballturnier. Ich schlief oder drusselte vor mich hin, und das graue Biest oder war es schwarz, sah meinen Hals und sprang, oder einer von Euch', Schilling, glaub ich, war ihm zuzutrauen, nahm die Katze . . . Na, Schwamm drüber. Nein, auf dem Kahn war ich nicht mehr. Störtebeker? Habe davon gehört. Soll er, soll er. Habe den Kahn nicht gepachtet, oder? Laß Dich mal sehen bei uns.« Erst am dritten Advent, und nachdem mich Mühlke den Herbst über zum fleißigsten Meßdiener gemacht hatte, kam ich seiner Einladung nach. Ich mußte bis in die Adventszeit hinein alleine dienen, weil Hochwürden Gusewski keinen zweiten Ministranten auftreiben konnte. Eigentlich wollte ich Mahlke schon am ersten Advent besuchen und ihm die Kerze bringen, aber die Zuteilung kam zu spät, und Mahlke konnte die geweihte Kerze erst am zweiten Advent vor dem Marienaltar aufstellen. Als er mich fragte, »Kannst Du welche auftreiben? Gusewski will keine rausrücken«, sagte ich: »Mal sehen.« Und ich besorgte ihm eine jener in Kriegszeiten raren langen kartoffelkeimbleichen Kerzen; denn unsere Familie hatte, weil ja mein Bruder gefallen war, Anspruch auf den rationierten Artikel. Und ich ging zu Fuß zum Wirtschaftsamt, bekam nach Vorlage des Totenscheines den Bezugschein, suchte mit der Straßenbahn das Spezialgeschäft in Oliva auf, fand keine Kerzen vorrätig, machte noch zweimal den Weg und konnte Dich erst zum zweiten Advent beliefern und am zweiten Advent mit der Kerze, so wie ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte, vor dem Marienaltar knien sehen. Während Gusewski und ich in der Adventszeit violettes Tuch trugen, wuchs Dein Hals aus weißem Schillerkragen, den der gewendete umgearbeitete Mantel des annodazumal verunglückten Lokomotivführers nicht verdecken konnte, zumal Du Dir – eine weitere Neuerung – keinen Shawl mit großer Sicherheitsnadel vorgebunden hattest. Und Mahlke kniete am zweiten wie dritten Advent, da ich ihn am Nachmittag beim Wort nehmen und besuchen wollte, lange und steif auf grobem Teppich. Sein glasiger Blick, der nicht zucken wollte – oder er zuckte, sobald ich am Altar zu tun hatte – war über die gestiftete Kerze hinweg auf den Bauch der Gottesmutter gerichtet. Aus beiden Händen hatte er, ohne mit gekreuzten Daumen die Stirn zu berühren, ein steiles Dach dicht vor der Stirn und ihren Gedanken errichtet. Und ich dachte: Heute geh ich. Ich geh und guck ihn mir an. Den guck ich mir mal genau an. Den werd ich mir mal. Da muß doch was dahinter. – Außerdem hat er mich eingeladen.
So kurz die Osterzeile war: die Einfamilienhäuschen mit leeren Spalieren an rauhgeputzten Fassaden, die gleichmäßige Bepflanzung der Bürgersteige – es hatten die Linden vor Jahresfrist ihre Pfähle verloren, bedurften aber immer noch der Stützen - entmutigten und ermüdeten mich, obgleich unsere Westerzeile vom gleichen Guß war, oder weil unsere Westerzeile gleich roch, atmete und mit Liliputvorgärten die Jahreszeiten durchspielte. Noch heute, wenn ich, was selten vorkommt, das Kolpinghaus verlasse, Bekannte oder Freunde in Stockum oder Lohhausen, zwischen Flugplatz und NordFriedhof, besuche und durch Siedlungsstraßen muß, die sich ähnlich ermüdend und entmutigend von Hausnummer zu Hausnummer, von Linde zu Linde wiederholen, bin ich immer noch auf dem Weg zu Mahlkes Mutter und Mahlkes Tante, zu Dir, zum Großen Mahlke: und es klebt die Klingel an einem Gartentor, das sich mit hohem, nicht einmal anstrengend hohem Schritt übersteigen ließe. Schritte durch den winterlichen aber schneelosen Vorgarten mit seinen kopflastig eingepackten Rosenbüschen. Zierbeete ohne Pflanzen sind mit heilen und zertretenen Ostseemuscheln ornamental belegt. Der keramische Laubfrosch von der Größe eines hockenden Kaninchens auf einer Platte Bruchmarmor, deren Ränder umgegrabene Gartenerde einfaßt und an Stellen krümelig oder verkrustet überkriecht. Und im Zierbeet auf der anderen Seite jenes schmalen Weges, der mich, solange ich denke, die paar Schritte von der Gartentür zu den drei Klinkerstufen vor der ocker gebeizten Rundbogentür machen läßt, steht auf gleicher Höhe mit dem Laubfrosch eine beinahe senkrechte, mannshohe Stange und trägt ein Vogelhäuschen nach Almhüttenart: Sperlinge, die beim Futter bleiben, während ich zwischen Zierbeet und Zierbeet sieben oder acht Schritte mache; man sollte glauben, die Siedlung riecht frisch reinlich sandig und der Jahreszeit entsprechend – es roch aber in der Osterzeile, in der Westerzeile, im Bärenweg, nein, überall in Langfuhr, Westspreußen; besser noch, in ganz Deutschland roch es in jenen Kriegsjahren nach Zwiebeln, in Margarine gedünsteten Zwiebeln, ich will mich nicht festlegen: nach mitgekochten, nach frischgeschnittenen Zwiebeln roch es, obgleich Zwiebeln knapp waren und kaum aufzutreiben, obgleich man über knappe Zwiebeln im Zusammenhang mit dem Reichsmarschall Göring, der irgend etwas über knappe Zwiebeln im Rundfunk gesagt hatte, Witze riß, die in Langfuhr, Westpreußen, in ganz Deutschland im Umlauf waren; deshalb sollte ich meine Schreibmaschine oberflächlich mit Zwiebelsaft einreihen und ihr wie mir eine Ahnung jenes Zwiebelgeruches vermitteln, der in jenen Jahren ganz Deutschland, Westpreußen, Langfuhr, die Osterzeile wie die Westerzeile verpestete und vorherrschenden Leichengeruch verbot.
Mit einem Schritt nahm ich die drei Klinkerstufen, wollte mit zum Griff geformter Hand den Türdrücker fassen, als die Tür von innen geöffnet wurde. Mahlke mit Schillerkragen machte in Filzschuhen auf. Er mochte seinen Mittelscheitel kurz zuvor frisch gerichtet haben. Starr und in Kammsträhnen liefen nicht helle, nicht dunkle Haare vom Scheitel schräg abwärts nach hinten, hielten noch; aber als ich nach einer Stunde ging, fielen sie schon und zitterten, sobald er sprach, über großen gutdurchgebluteten Ohren. Wir saßen nach hinten hinaus, im Wohnzimmer, das sein Licht durch die vorgebaute Glasveranda bekam. Es gab Kuchen nach irgendeinem Kriegsrezept: Kartoffelkuchen, denn Rosenwasser schmeckte vor und sollte an Marzipan erinnern. Hinterdrein eingeweckte Pflaumen, die einen normalen Geschmack hatten und in Mahlkes Garten - man konnte den Baum blätterlos und mit weißgestrichenem Stamm im linken verglasten Feld der Veranda sehen – während des Herbstes reif geworden waren. Der Stuhl wurde mir angewiesen: ich hatte den Blick nach draußen, saß Mahlke gegenüber, der die Veranda im Rücken hatte, an einer Schmalseite des Tisches. Links von mir im Seitenlicht, so daß graues Haar silbrig kräuselte, Mahlkes Tante; rechts, mit rechter belichteter Seite, doch weniger flimmernd, weil straffer gekämmt, Mahlkes Mutter. Auch seine Ohrenränder und den Haarflaum auf den Rändern, sowie die Spitzen der brüchig zitternden Haarsträhnen zeichnete kaltes Winterlicht nach, obgleich das Zimmer überheizt war. Mehr als weiß leuchtete der obere Teil des breitfallenden Schillerkragens, lief nach unten hin grau an: Mahlkes Hals lag flach im Schatten.
Die beiden Frauen, grobknochig, auf dem Lande geboren, aufgewachsen und mit den Händen verlegen, sprachen viel, nie gleichzeitig, doch immer in Richtung Joachim Mahlke, auch wenn sie mich anredeten und nach dem Befinden meiner Mutter befragten. Beide sprachen mir über ihn, der den Dolmetscher abgab, Beileid aus: »Nu is auch Ihr Bruder Klaus abjeblieben. Ech kannt ihn zwar nur vom Sahn – abä trotzdem, son forscher Mansch.«
Mahlke regierte milde und bestimmt. Allzu persönliche Fragen – meine Mutter unterhielt, während mein Vater aus Griechenland Feldpostbriefe schickte, intime Verhältnisse zumeist mit Militärdienstgraden – Fragen also, in diese Richtung, schirmte Mahlke ab: »Laß es gut sein, Tante. Wer will in diesen Zeiten, da alles mehr oder weniger aus den Fugen gerät, den Richter spielen. Zudem geht Dich das wirklich nichts an, Mama. Wenn Papa noch lebte, wäre es ihm peinlich und Du dürftest nicht so sprechen.«
Beide Frauen gehorchten ihm oder jenem verstorbenen Lokomotivführer, den er unaufdringlich beschwor und Stille gebieten ließ, sobald Tante wie Mutter schwatzhaft wurden. Auch Gespräche über die Frontlage – die beiden verwechselten Kriegsschauplätze in Rußland mit solchen in Nordafrika, sagten El Alamein, wenn sie das Asowsche Meer meinten - wußte Mahlke mit ruhigen, nie verärgerten Hinweisen in die richtigen geographischen Bahnen zu lenken:
»Nein, Tante, diese Seeschlacht fand bei
Guadalcanar statt und nicht in Karelien.«
Dennoch hatte die Tante das Stichwort gegeben, und wir verloren uns
in Mutmaßungen über alle bei Guadalcanal beteiligten, eventuell
versenkten japanischen und amerikanischen Flugzeugträger. Mahlke
war der Meinung, die erst neununddreißig auf Stapel gelegten Träger
»Hörnet« und »Wasp«, Einheiten, ähnlich dem Träger »Ranger«, wären
inzwischen in Dienst gestellt und bei dem Treffen dabeigewesen,
denn entweder die »Saratoga« oder die »Lexington«, womöglich alle
beide, könne man inzwischen von den Flottenlisten streichen. Noch
mehr Unklarheit herrschte über die beiden größten japanischen
Träger, die »Akagi« und die entschieden zu langsame »Kaga«. Mahlke
vertrat gewagte Ansichten, sagte, in Zukunft werde es nur noch
Trägerschlachten geben, es rentiere kaum noch, Schlachtschiffe zu
bauen, die Zukunft gehöre, wenn es überhaupt jemals wieder zu einem
Krieg kommen werde, den leichten schnellen Einheiten und den
Flugzeugträgern. Und er wartete mit Einzelheiten auf: Beide Frauen
staunten, und Mahlkes Tante klatschte, sobald er die Namen der
italienischen Exploratori heruntergerasselt hatte, laut und
nachhallend mit knochigen Händen, bekam etwas begeistert
Jungmädchenhaftes und nestelte, als es nach dem Klatschen im Zimmer
still wurde, verlegen im Haar.
In Richtung Horst-Wessel-Oberschule fiel kein Wort. Fast möchte ich
mich erinnern, Mahlke erwähnte lachend und während des Aufstehens,
seine, wie er es nannte, weit zurückliegenden Halsgeschichten,
brachte auch – und Mutter wie Tante lachten mit – das Katzenmärchen
zum Vortrag: diesmal setzte ihm Jürgen Kupka das Biest an die
Gurgel; wenn ich nur wüßte, wer die Mär erfunden hat, er oder ich
oder wer schreibt hier?
Jedenfalls – und das ist sicher – packte mir seine Mutter zwei
Stückchen Kartoffelkuchen in Packpapier, als ich mich von den
Frauen verabschieden wollte. Auf dem Korridor, neben der Treppe zum
Oberstock und seiner Mansarde, erklärte mir Mahlke ein neben dem
Bürstensäckchen hängendes Foto. Die ziemlich modern wirkende
Lokomotive mit Tender der ehemaligen polnischen Eisenbahn –
deutlich war das Zeichen P K P zweimal auszumachen – füllte das
Querformat. Vor der Maschine standen mit verschränkten Armen,
winzig und doch beherrschend, zwei Männer. Der Große Mahlke sagte:
»Mein Vater und der Heizer Labuda, kurz bevor sie vierunddreißig
nahe Dirschau verunglückten. Das heißt, mein Vater konnte das
Schlimmste verhüten und bekam nachträglich eine Medaille.«