VII

Das Auftreten des Kapitänleutnant zur See und hochdekorierten U-Boot-Kommandanten in der Aula unseres Real-Gymnasiums beendete die Konzerte im Inneren des ehemaligen polnischen Minensuchboots »Rybitwa«. Doch, wäre er nicht gekommen, hätten die Schallplatten, hätte das Grammophon allenfalls vier weitere Tage geräuschvoll getan; aber er kam, stellte, ohne unserem Kahn einen Besuch abstatten zu müssen, die Unterwassermusik ab und gab allen Gesprächen über Mahlke eine neue, wenn auch nicht grundsätzlich neue Richtung.

Der Kapitänleutnant mag etwa vierunddreißig sein Abitur gemacht haben. Man sagte ihm nach, er habe, bevor er freiwillig zur Marine ging, ein bißchen Theologie und Germanistik studiert. Ich kann nicht anders und muß seinen Blick feurig nennen. Dichtes, womöglich drahtiges Kraushaar, Richtung Römerkopf. Kein U-Boot-Bart aber dachartig vorstehende Augenbrauen. Ein Mittelding zwischen Denkerstirn und Grüblerstirn, daher keine Querfalten aber zwei steile von der Nasenwurzel aufstrebende, immerzu Gott suchende Linien. Lichtreflexe auf dem äußersten Punkt kühner Wölbung. Zierlich und scharf die Nase. Der Mund, den er für uns aufmachte, war ein weichgeschwungener Sprechmund. Die Aula überfüllt, auch mit Morgensonne. Wir hockten in den Fensternischen. Auf wessen Wunsch hatte man die beiden obersten Klassen der Gudrunschule zum Vortrag aus weichem Sprechmund geladen? Die Mädchen saßen in den vordersten Bankreihen, hätten Büstenhalter tragen müssen, trugen aber keinen. Zuerst wollte Mahlke nicht mit, als der Pedell den Vortrag ankündigte. Ich witterte für mich Oberwasser und nahm ihn am Ärmel. Neben mir, in der Nische – und hinter uns und den Scheiben unbeweglich die Kastanien des Pausenhofes – zitterte Mahlke, bevor der Kaleu seinen Sprechmund aufgemacht hatte. Mahlkes Kniekehlen klemmten Mahlkes Hände: aber das Zittern blieb. Das Lehrerkollegium, auch zwei Studienrätinnen der Gudrunschule, füllten einen Halbkreis aus Eichenstühlen mit hohen Lehnen und Lederpolstern, den der Pedell akkurat gestellt hatte. Das Händeklatschen des Studienrates Moeller bewirkte nach und nach Ruhe für Oberstudienrat Klohse. Hinter den Doppelzöpfen und Mozartzöpfen der Oberschülerinnen saßen Quartaner mit Taschenmessern: mehrere Mädchen nahmen die Zöpfe nach vorne. Nur die Mozartzöpfe blieben den Quartanern. Diesmal gab es eine Einführung. Klohse sprach von allen, die draußen stehn, von allen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, sprach lange und mit wenig Gefalle von sich und den Studenten bei Langemarck, und auf der Insel Ösel fiel Walter Flex, Zitat: Reifwerdenreinbleiben: Mannestugend. Sogleich Fichte oder Arndt, Zitat: Vondirunddeinemtunallein. Erinnerung an einen vorbildlichen Schulaufsatz, den der Kapitänleutnant als Obersekundaner über Arndt oder Fichte geschrieben hatte? »Einer von uns, aus unserer Mitte, aus dem Geist unseres Gymnasiums hervorgegangen, und in diesem Sinen wollen wir . . .«

Muß ich sagen, wie umständlich während Klohses Vorrede Zettelchen zwischen uns in den Fensternischen und den Obersekundanerinnen hin und her wanderten? Natürlich kritzelten die Quartaner ihre Ferkeleien dazwischen. Ich schickte einen Zettel mit weißnichtwasdrauf entweder an Vera Plötz oder an Hildchen Matull, bekam aber weder noch Anwort. Mahlkes Kniekehlen klemmten noch immer Mahlkes Hände. Das Zittern verausgabte sich. Der Kapitänleutnant auf dem Podest saß leicht beengt zwischen dem alten Studienrat Brunies, der wie immer ungeniert Bonbons lutschte, und Dr. Stachnitz, unserem Lateinlehrer. Während die Vorrede abnahm, während unsere Zettelchen wanderten, während die Quartaner mit Taschenmessern, während der Blick des Führerbildes sich mit dem Blick des ölgemalten Freiherrn von Conradi traf, während die Morgensonne aus der Aula rutschte, befeuchtete der Kapitänleutnant unentwegt den leichtgeschwungenen Sprechmund, starrte mürrisch ins Publikum und sparte die Oberschülerinnen angestrengt aus. Die Kaleu-Mütze korrekt auf parallel gehaltenen Knien. Handschuhe unter der Mütze. Ausgehuniform. Das Ding am Hals deutlich auf unerhört weißem Hemd. Unvermittelte Kopfbewegung mit halbwegs gehorchendem Orden zu den seitlichen Aulafenstern: Mahlke zuckte, fühlte sich wohl erkannt, war aber nicht. Durch jenes Fenster, in dessen Nische wir hockten, blickte der U-Boot-Komandant in staubige unbewegte Kastanienbäume; was mag er denken, was mag Mahlke denken, was Klohse, während er spricht, Studienrat Brunies, während er lutscht, was Vera Plötz, während dein Zettelchen, was Hildchen Matull, was mag er er er denken, Mahlke oder er mit dem Sprechmund, dachte ich damals oder denke ich jetzt; denn es wäre aufschlußreich zu wissen, was ein U-Boot-Kommandant denkt, während er zuhören muß und den Blick ohne Fadenkreuz und tanzenden Horizont abschweifen läßt, bis der Gymnasiast Mahlke sich betroffen fühlt; aber er starrte über Gymnasiastenköpfe hinweg durch Doppelfensterscheiben in das trockene Grün unverbindlicher Pausenhofbäume und befeuchtete mit hellroter Zunge noch einmal rundum den besagten Sprechmund, denn Klohse versuchte mit Worten auf Pfefferminzatem einen letzten Satz bis über die Mitte der Aula zu schicken: »Nun wollen wir in der Heimat aufmerksam lauschen, was Ihr, Söhne unseres Volkes, von der Front, von den Fronten zu berichten wißt.«

Der Sprechmund hatte getäuscht. Recht farblos gab der Kapitänleutnant zuerst eine Übersicht, wie sie jeder Flottenkalender bot: Aufgabe der U-Boote. Deutsche U-Boote während des ersten Weltkrieges: Weddigen, U 9, Unterseeboot entscheidet Dardanellenfeldzug, insgesamt dreizehn Millionen Bruttoregistertonnen, danach unsere ersten Zweihundertfünfzigtonnenboote, unter Wasser Elektromotoren, über Wasser Diesel, der Name Prien, dann kam Prien mit U 47, und Kapitänleutnant Prien bohrte die »Royal Oak« in den Grund – wußten wir alles, wußten wir alles – auch die »Repulse«, und der Schuhart hat die »Courageous« und so weiter und so weiter. Er aber verkündet den alten Stiefel: ». . . Mannschaft ist eine eingeschworene Gemeinschaft, denn fern der Heimat, Belastung der Nerven enorm, müßt Euch mal vorstellen, mitten im Atlantik oder im Eismeer unser Boot, eine Sardinenbüchse, eng feucht heiß, Leute müssen auf Reserveaalen schlafen, tagelang kommt nichts auf, leer die Kimm, dann endlich ein Geleitzug, stark gesichert, alles muß wie am Schnürchen, kein Wort zu viel; und als wir unseren Ersten Tanker, die »Arndale«, hatte siebzehntausendzweihundert Tonnen, erst siebenunddreißig fertiggestellt, mit zwei Aalen mittschiffs, da dachte ich, ob Sie es glauben oder nicht, an Sie, lieber Doktor Stachnitz, und begann laut, ohne die Sprechanlage abzuschalten: qui quae quod, cuius cuius cuius . . . bis mich unser LJ durch die Sprechanlage zurückrief: Sehr gut, Herr Kaleu, Sie haben schulfrei heute! Aber eine Feindfahrt besteht leider nicht nur aus Angriffen, und Rohr eins und Rohr zwei looos, tagelang die gleichmütige See, das Rollen und Stampfen des Bootes, darüber der Himmel, ein Himmel zum schwindlig werden, sag ich Euch, und Sonnenuntergänge gibt es . . .« Es füllte jener Kapitänleutnant mit dem hochgestochenen Ding am Hals seinen Vortrag, obgleich er zweihundertfünfzigtausend Bruttoregistertonnen einen leichten Kreuzer der Despatch-Klasse, einen großen Zerstörer der Tribal-Klasse angebohrt hatte, weniger mit detaillierten Erfolgsmeldungen als mit wortreichen Naturbeschreibungen, auch bemühte er kühne Vergleiche, sagte: ». . . blendend weiß schäumt auf die Hecksee, folgt, eine kostbar wallende Spitzenschleppe, dem Boot, das gleich einer festlich geschmückten Braut, übersprüht von Gischtschleiern, der totbringenden Hochzeit entgegenzieht.«

Es gab nicht nur bei den Mädchen mit Zöpfen Gekicher; aber ein nächster Vergleich wischte die Braut wieder aus: »Solch ein Unterseeboot ist wie ein Walfisch mit Buckel, dessen Bugsee dem vielfach gezwirbelten Bart eines Husaren gleicht.«

Zudem verstand es der Kaleu, nüchtern technische Ausdrücke wie dunkle Märchenworte zu betonen. Wahrscheinlich hielt er den Vortrag mehr ins Ohr seines ehemaligen Deutschlehrers Papa Brunies, der als Eichendorffschwärmer galt, denn in unsere Richtung; seine wortgewaltigen Schulaufsätze hatte Klohse ja mehrmals erwähnt. Und so hörten wir ihn »Lenzpumpe« raunen, »Rudergänger«. Meinte wohl, wenn er »Mutterkompaß« und »Kreiselkompaßtöchter« sagte, uns Neuigkeiten zu bringen. Dabei hatten wir den technischen Marinekram seit Jahren intus. Er aber machte auf Märchentante, sprach das Wörtchen Hundewache, das Wörtchen Kugelschott oder den allgemeinverständlichen Ausdruck »Kabbelige Kreuzsee« so aus, wie etwa der gute alte Andersen oder die Brüder Grimm geheimnisvoll von »Asdic-Impulsen« geflüstert hätten.

Peinlich wurde es, wenn er Sonnenuntergänge auszupinseln begann: »Und bevor die atlantische Nacht wie ein aus Raben gezaubertes Tuch über uns kommt, stufen sich Farben, wie wir sie nie zu Hause, eine Orange geht auf, fleischig und widernatürlich, dann duftig schwerelos, an den Rändern kostbar, wie auf den Bildern Alter Meister, dazwischen zartgefiedertes Gewölk; welch ein fremdartiges Geleucht über der blutvoll rollenden See!«

Er ließ also mit steifem Ding am Hals eine Farbenorgel dröhnen und säuseln, kam vom wäßrigen Blau über kaltglasiertes Zitronengelb zum bräunlichen Purpur. Mohn ging bei ihm am Himmel auf. Dazwischen Wölkchen, zuerst silbrig, dann liefen sie an: »So mögen Vögel und Engel verbluten!« sagte er wörtlich mit seinem Sprechmund, und ließ aus dem gewagt beschriebenen Naturereignis plötzlich und aus bukolischen Wölkchen ein Flugboot, Typ »Sunderland« mit Kurs auf das Boot brummen, eröffnete, nachdem das Flugboot nichts hatte ausrichten können, mit gleichem Sprechmund aber ohne Vergleiche, den zweiten Teil des Vertrages, knapp trocken nebensächlich: »Sitze auf Sehrohrsattel. Angriff gefahren. Kühlschiff wahrscheinlich, sinkt übers Heck. Boot in den Keller auf hundertzehn. Zerstörer kommt auf in hundertsiebzig Bootspeilung, Backbord zehn, neuer Kurs, hundert-zwanzig, hundertzwanzig Grad liegen an, Schraubengeräusch wandert aus, geht wieder an, hundertachtzig Grad gehen durch, Wabos: sechs sieben acht elf: Licht bleibt aus, endlich Notbeleuchtung und nacheinander Klarmeldung der Stationen. Zerstörer hat gestoppt. Letzte Peilung hundertsechzig, Backbord zehn. Neuer Kurs fünfundvierzig Grad . . .«

Leider folgten dieser wirklich spannenden Einlage sogleich weitere Naturbeschreibungen, wie »Der atlantische Winter«, oder: »Meeresleuchten auf dem Mittelmeer«, auch ein Stimmungsbild: »Weihnachten auf dem U-Boot« mit dem obligaten, zum Christbaum verwandelten Besen. Zum Schluß dichtete er die ins Mystische gehobene Rückkehr nach erfolgreicher Feindfahrt mit Odysseus und allem Drum und Dran: »Die ersten Möwen künden den Hafen an.« Ich weiß nicht, ob Oberstudienrat Klohse mit den uns geläufigen Schlußworten: »Und nun an die Arbeit!« den Vortrag beendete oder ob » Wirliebendiestürme« gesungen wurde. Eher erinnere ich mich an gedämpften aber respektvollen Beifall, an ein unregelmäßiges, bei den Mädchen und Zöpfen beginnendes Aufstehen. Als ich mich nach Mahlke umblickte, war er weg, und nur seinen Mittelscheitel sah ich vor dem rechten Ausgang mehrmals auftauchen, konnte aber, da eines meiner Beine während des Vortrages eingeschlafen war, nicht sofort aus der Fensternische und auf die gebohnerten Dielen. Erst im Umkleideraum neben der Turnhalle stieß ich wieder auf Mahlke, fand aber kein erstes Wort fürs Gespräch. Schon beim Umkleiden wurden Gerüchte laut, bestätigten sich: uns wurde die Ehre zuteil, denn der Kapitänleutnant hatte seinen ehemaligen Turnlehrer Studienrat Mallenbrandt gebeten, wieder einmal, obgleich er kaum im Training sei, in der guten alten Turnhalle mitturnen zu dürfen. Während der Doppelstunde, die wie immer am Sonnabend den Unterricht abschloß, zeigte er zuerst uns, dann den Primanern, die sich vom Beginn der zweiten Stunde an die Turnhalle mit uns teilten, was er konnte.

Untersetzt, schwarz lang behaart, gut gebaut. Er hatte sich bei Mallenbrandt die traditionellen roten Turnhosen, das weiße Turnhemd mit rotem Bruststreifen und dem im Bruststreifen eingelassenen schwarzen C geliehen. Während des Umkleidens hing eine Traube an ihm. Viele Fragen: ». . . . darf ich mal von nahe besehen? Wie lange dauert? Und wenn man nun? Aber ein Freund meines Bruders, der bei den Schnellbooten ist, sagt. . .« Seine Antworten kamen geduldig. Manchmal lachte er ohne Grund aber ansteckend. Der Umkleideraum wieherte; und nur deshalb fiel mir Mahlke auf: er lachte nicht mit, war mit dem Zusammenfalten und Aufhängen seiner Kleidungsstücke beschäftigt.

Mallenbrandts Trillerpfeife rief uns in die Turnhalle und unters Reck. Der Kaleu leitete, von Mallenbrandt behutsam unterstützt, die Turnstunde, das heißt, wir mußten uns nicht besonders anstrengen, weil er keinen Wert darauf legte, uns etwas vorzumachen, unter anderem die Riesenwelle am Reck mit gegrätschtem Abgang. Außer Hotten Sonntag hielt nur noch Mahlke mit, aber niemand mochte hingucken, so scheußlich und mit krummen Knien krampfte er Welle und Grätsche. Als der Kaleu mit uns ein lockeres und sorgfältig aufgebautes Bodenturnen begann, tanzte Mahlkes Adamsapfel immer noch toll und wie gestochen. Beim Hechtsprung über sieben Mann, der mit einer Rolle vorwärts aufgefangen werden sollte, landete er schief auf der Matte, vertrat sich wohl den Fuß, saß mit lebendigem Knorpel abseits auf einem Kletterbalken und muß sich verdrückt haben, als die Primaner zu Beginn der zweiten Stunde dazu kamen. Erst beim Korbballspiel gegen die Prima machte er wieder bei uns mit, warf auch drei oder vier Körbe; wir verloren trotzdem. Unsere neugotische Turnhalle wirkte im gleichen Maße feierlich, wie die Marienkapelle auf Neuschottland den nüchtern gymnastischen Charakter einer ehemaligen und modern entworfenen Turnhalle beibehielt, soviel bunten Gips und gespendeten Kirchenpomp Hochwürden Gusewski in jenes, durch breite Fensterfronten brechende Turnerlicht stellen mochte. Wenn dort über allen Geheimnissen Klarheit herrschte, turnten wir in geheimnisvollem Dämmern: unsere Turnhalle hatte Spitzbogenfenster, deren Backsteinornamente die Verglasung mit Rosetten und Fischblasen aufteilten. Während in der Marienkapelle Opfer, Wandlung und Kommunion vollausgeleuchtete zauberlose und umständliche Betriebsvorgänge blieben - es hätten an Stelle der Hostien auch Türbeschläge, Werkzeuge oder wie einst, Turngeräte, etwa Schlaghölzer und Stafettenstäbe verteilt werden können – wirkte im mystischen Licht unserer Turnhalle das simple Auslosen jener beiden Korbballmannschaften, die mit zügigem Zehnminutenspiel die Turnstunde beendeten, feierlich und ergreifend, ähnlich einer Priesterweihe oder Firmung; und das Wegtreten der Ausgelosten in den schummrigen Hintergrund geschah mit der Demut heiliger Handlung. Besonders wenn draußen die Sonne schien und einige morgendliche Sonnenstrahlen durchs Laub der Pausenhofkastanien und durch die Spitzbogenfenster fanden, kam es, sobald an den Ringen oder am Trapez geturnt wurde und dank des schräg einfallenden Seitenlichtes, zu stimmungsvollen Effekten. Wenn ich mir Mühe gebe, sehe ich heute noch den untersetzten Kapitänleutnant in den meßdienerroten Turnhosen unseres Gymnasiums am schwingenden Trapez leicht und flüssig turnen, sehe seine Füße – er turnte barfuß – makellos gestreckt in einen der schrägen und goldflimmernden Sonnenstrahlen tauchen, sehe seine Hände – denn auf einmal hing er im Kniehang am Trapez – nach solch einer goldstaubwimmelnden Lichtbahn greifen; so wunderbar altmodisch war unsere Turnhalle, und auch die Umkleideräume bekamen ihr Licht durch Spitzbogenfenster. Deshalb nannten wir den Umkleideraum: Die Sakristei.

Mallenbrandt pfiff, und Primaner wie Untersekundaner mußten nach dem Korbballspiel antreten, für den Kaleu »Imfrühtauzubergewirziehnfallera« singen und wurden in den Umkleideraum entlassen. Sofort hingen sie wieder an dem Kapitänleutnant. Nur die Primaner gaben sich weniger aufdringlich. Während sich der Kaleu nach sorgfältigem Waschen der Hände und Achselhöhlen über dem einzigen Waschbecken – Duschräume hatten wir keine – mit raschen Bewegungen seine Unterwäsche anzog, das geliehene Turnzeug, ohne daß wir etwas zu sehen bekamen, abstreifte, mußte er wieder Fragen der Schüler beantworten, tat das lachend, gutmütig, erträglich von oben herab; um dann zwischen zwei Fragen zu verstummen: unsicher tastende Hände, ein zuerst verstecktes, dann offensichtliches Suchen, auch unter der Bank – »Moment mal Jungs, bin gleich wieder auf Deck«, – und in marineblauer Hose, in weißem Hemd, ohne Schuhe aber in Strümpfen drängte sich der Kaleu durch Schüler und Bankreihen, durch den Zoogeruch: Kleines Raubtierhaus. Offen und hochgestellt stand sein Kragen, bereit für den Binder und das Band mit jenem, mir unaussprechlichen Orden. An Mallenbrandts Lehrerzimmertür hing der wöchentliche Turnhallenplan. Gleichzeitig klopfte er an und trat ein.

Wer tippte wie ich nicht auf Mahlke? Bin nicht sicher, daß ich sofort, hätte sofort, rief aber auf keinen Fall laut: »Wo steckt denn Mahlke?« Auch Schilling rief nicht, Hotten Sonntag, Winter Kupka Esch, keiner rief; vielmehr einigten wir uns alle auf den mickrigen Buschmann, ein Bengelchen, das selbst nach einem Dutzend Ohrfeigen ein ewiges, ihm angeborenes Grinsen nicht aufzugeben vermochte.

Als Mallenbrandt in flauschigem Bademantel mit dem halbangezogenen Kapitänleutnant zwischen uns stand und sein »Werwardas? Sollsichmelden!« brüllte, wurde ihm Buschmann zugeschoben. Auch ich rief Buschmann und war sogar in der Lage, bei mir und ungezwungen zu denken: Richtig, das kann nur Buschmann gewesen sein, wer sonst als Buschmann.

Nur ganz außen, im Hinterkopf begann es, während Buschmann von mehreren Seiten, auch vom Kaleu und dem Klassensprecher der Prima verhört wurde, zu kribbeln. Und das Kribbeln setzte sich fest, als Buschmann seine erste Ohrfeige bekam, weil das Grinsen selbst unterm Verhör nicht aus seinem Gesicht weichen wollte. Während ich mit den Augen wie mit dem Gehör auf ein klippklares Geständnis Buschmanns wartete, wuchs mir vom Nacken aufwärts die Gewißheit: Nana, ob das nicht ein gewisser Soundso gewesen ist! Schon verlor sich mein Lauern auf ein klärendes Wörtchen des grinsenden Buschmann, zumal die Menge der ihm verabfolgten Ohrfeigen Mallenbrandts Unsicherheit verriet. Auch sprach er nicht mehr von dem verschwundenen Gegenstand, sondern brüllte zwischen Schlag und Schlag: »Du sollst das Grinsen lassen, Grins nicht! Ich werde Dir das Grinsen noch austreiben!«

Nebenbei gesagt, Mallenbrandt schaffte es nicht. Ich weiß nicht, ob es Buschmann heute noch gibt; aber sollte es einen Zahnarzt, Tierarzt oder Assistenzarzt Buschmann geben – Heini Buschmann wollte Medizin studieren – so wird es ein grinsender Dr. Buschmann sein; denn das verliert sich nicht so schnell, ist dauerhaft, überlebt Kriege und Währungsreformen und war schon damals, als der Kapitänleutnant mit leerem Kragen auf den Erfolg eines Verhöres wartete, den Ohrfeigen des Studienrates Mallenbrandt überlegen. Verstohlen – obgleich Buschmann alle Augen auf sich zog – drehte ich mich nach Mahlke um, mußte ihn nicht suchen, denn vom Nacken her wußte ich, wo er Marienlieder im Kopf hatte. Fertig angezogen, nicht weit entfernt aber abseits allem Gedränge, knöpfte er sich den obersten Knopf eines Hemdes, das dem Schnitt und dem Streifen nach von seines Vaters Oberhemdennachlaß abgehoben sein mochte. Er hatte beim Zuknöpfen Mühe, sein Kennzeichen hinter dem Knopf einzusperren.

Mahlke machte, abgesehen von dem Gefummel am Hals und den mitarbeitenden Kaumuskeln, einen ruhigen Eindruck. Als er begriffen hatte, daß der Knopf nicht über dem Adamsapfel zu schließen war, langte er sich aus der Brusttasche seines noch hängenden Jacketts eine zerdrückte Krawatte. Niemand in unserer Klasse trug einen Schlips. In der Obersekunda und in der Prima trugen einige Fatzkes lächerliche Fliegen. Zwei Stunden zuvor, während der Kaleu vom Katheder weg seinen naturbegeisterten Vortrag gehalten hatte, hatte Mahlke seinen Hemdkragen noch offen getragen; aber in seiner Brusttasche knüllte schon der Schlips und lauerte auf die große Gelegenheit.

Mahlkes Krawattenpremiere! Vor dem einzigen, obendrein fleckigen Spiegel des Umkleideraumes würgte er sich, ohne nahe heranzutreten, eher auf Distanz und pro forma, den buntgetupften, wie ich heute meine, geschmacklosen Lappen um den hochgestellten Hemdkragen, schlug den Kragen um, zupfte noch einmal am viel zu großen Knoten und sprach dann nicht laut aber betont, daß sich sein Wort vom immer noch geführten Verhör, vom Geräusch jener Ohrfeigen, die Mallenbrandt, auch gegen den Einspruch des Kapitänleutnants, unermüdlich und trocken in Buschmanns Grinsen schlug, verständlich abhob: »Möchte zwar wetten, daß es Buschmann nicht gewesen ist. Aber hat denn schon jemand Buschmanns Klamotten durchsucht?«

Mahlke hatte sofort Zuhörer. Dabei hatte er zum Spiegel gesprochen; seine Krawatte, der neue Trick, fiel erst später aber nicht sonderlich auf. Eigenhändig durchsuchte Mallenbrandt Buschmanns Kleider und hatte sogleich Grund, abermals in das Grinsen hineinzuschlagen, weil er in beiden Jackentaschen mehrere angebrochene Packungen Präservative fand, mit denen Buschmann in den Klassen der Oberstufe Kleinhandel trieb; sein Vater war Drogist. Sonst fand Mallenbrandt nichts, und der Kapitänleutnant resignierte leichthin, knüpfte sich seinen Offiziersbinder, legte den Kragen um, tippte an die leere, zuvor hochdekorierte Stelle und schlug Mallenbrandt vor, die Geschichte nicht allzu ernst zu nehmen: »Das läßt sich ersetzen. Ist ja nicht die Welt, Herr Studienrat. Dummerjungenstreich!« Aber Mallenbrandt ließ Turnhalle und Umkleideraum abschließen und durchsuchte, unterstützt von zwei Primanern, unsere Taschen, sowie jeden Winkel des Raumes, der als Versteck in Frage gekommen wäre. Anfangs und belustigt half der Kapitänleutnant, wurde dann ungeduldig und tat etwas, das sonst niemand im Umkleideraum zu tun wagte: er rauchte Zigaretten nacheinander, trat die Kippen auf dem Linoleumfußboden aus und geriet offensichtlich in schlechte Stimmung, als ihm Mallenbrandt wortlos einen Spucknapf zuschob, der seit Jahren unbenutzt neben dem Waschbecken verstaubte und als Versteck des gestohlenen Gegenstandes bereits untersucht worden war.

Der Kapitänleutnant errötete schülerhaft, riß sich die knappangerauchte Zigarette vom leichtgeschwungenen Sprechmund, rauchte nicht mehr, sondern verschränkte die Arme, ging sodann zum nervösen Ablesen der Zeit über, indem er mit trockener Boxerbewegung seine Armbanduhr aus dem Ärmel fahren und seine Eile beweisen ließ.

Er verabschiedete sich mit Handschuhen über den Fingern nahe der Tür und gab zu verstehen, die Art und Weise der Untersuchung könne ihm nicht gefallen, er werde die ärgerliche Geschichte dem Direktor der Schule übergeben, denn er habe nicht vor, sich seinen Urlaub von schlechterzogenen Stinten vermiesen zu lassen. Mallenbrandt .warf einem Primaner den Schlüssel zu, und der Primaner war ungeschickt genug, beim Aufschließen der Umkleideraumtür eine peinliche Pause entstehen zu lassen.