Die alte Lehrerin

«In diesem Jahr», meldete der Smilzo, «scheint der Direktor wegen der Pflanzen einen großen Zirkus aufführen zu wollen.»

«Was für Pflanzen?» fragte Peppone, der in seinem Büro am Schreibtisch saß und Papiere unterschrieb.

«Die Pflanzen im Schulhof», brummte Smilzo. «Ich meine den Tag der Pflanze.»

«Die Pflanzen im Schulhof heißen Bäume», korrigierte ihn Peppone. «Der Tag der Pflanze heißt also Tag des Baumes!»

«Pflanzen oder Bäume, ist doch egal. Worum es geht, ist, daß morgen früh eine Reihe Nervensägen aus der Stadt zu uns kommen: Schulrat, Vizepräfekt und so weiter.»

Peppone hörte mit dem Unterschreiben auf: «Und wenn der Papst kommt, ich rühr’ mich nicht vom Fleck!» erklärte er entschlossen. «Ich hab’ für solchen Blödsinn keine Zeit.»

Smilzo hob die Schultern: «Chef, die Pflanzen sind kein Blödsinn, finde ich wenigstens.»

«Die Pflanzen nicht, aber die Bürokraten aus der Stadt», entschied Peppone. «Unsere Bäume können wir auch allein setzen, dazu brauchen wir nicht die von der Regierung. Die rühren sich nur von ihrem Sessel, wenn es darum geht, Schulkinder singen zu hören, oder wenn sie ein Band durchschneiden sollen zur Eröffnung von irgend etwas, das bereits fertig ist. Aber wenn es wo Schwierigkeiten gibt, rühren die sich bestimmt nicht. Von mir aus können sie alle zum Teufel gehen!»

Der Smilzo gab es noch nicht auf, Peppone zur Vernunft zu bringen: «Chef, ich bin ganz deiner Meinung: Alles Gauner, vom Präfekten bis zum Hausmeister. Trotzdem hast du als Bürgermeister die Pflicht ...»

«Als Bürgermeister habe ich die Pflicht, an Wichtigeres zu denken!» brüllte Peppone und ließ seine Pranke auf den Schreibtisch fallen.

Smilzo zog Leine und hütete sich, noch einmal auf das Thema zurückzukommen, so daß Peppone, als er an diesem Abend zu Bett ging, Festivitäten und Obrigkeiten bereits völlig vergessen hatte.

Die ganze Angelegenheit fiel ihm erst wieder ein, als am nächsten Morgen Bigio und Brusco hereinstürzten:

«Die von der Regierung kommen! Das ganze Dorf ist auf den Beinen, auf der Straße zur Schule drängen sich die Leute. Beeil dich! Wenn du zu spät kommst, verlierst du eine Menge Stimmen!»

Das bedeutete, daß Peppone sich seinem Amt entsprechend anziehen mußte, sich rasieren, jemanden zum Schuster schicken, um die neuen Schuhe abzuholen -und er geriet sofort in Panik. Er richtete ein höllisches Durcheinander an, begleitet von Salven von Flüchen und einem Gebrüll, daß sich die Dachziegel hoben, und wenn ihm Bigio und Brusco nicht geholfen hätten, wäre es ihm nie gelungen, sich in eine präsentable Form zu bringen.

Endlich konnte Peppone das Haus verlassen, aber die von der Regierung waren bereits alle da, und im Schulhof drängte sich eine solche Menschenmenge, daß Peppone sich vom Bürgermeister in einen Panzer verwandeln mußte, um überhaupt hineinzukommen.

Die Regierungsvertreter standen schon auf der weiß-rot-grün geschmückten Tribüne, und als Peppone sah, daß der Schuldirektor bereits ein dickes Bündel Blätter herausgezogen hatte und Anstalten machte, seine Rede zu beginnen, war er der Verzweiflung nahe: Wenn es ihm nicht gelang, sich auf die Tribüne zu hieven, ehe dieser Unglücksmensch zu reden anfing, war er ruiniert!

Er schaffte es nicht. Der Direktor drehte sofort den Hahn auf, und nachdem Peppone mit seinem Drängeln viel wütendes Gezisch hervorgerufen hatte, blieb er zornbebend stehen.

Der Direktor sprach hervorragend. Er war einer jener begnadeten Redner, denen es gelingt, eine halbe Million schöner Worte hervorzusprudeln, ohne etwas damit zu sagen. Diese Art Redner findet bei der Menge am meisten Anklang, denn die Leute lauschen ihnen wie Sängern und brauchen sich gar nicht erst Mühe zu geben, dem Sinn der Worte zu folgen.

Peppone hörte mit offenem Mund zu, als ihm von hinten jemand ins Ohr flüsterte: «Bravo, bravo, der erste Bürger kommt als letzter.»

Peppone drehte sich nicht einmal um: «Wenn schon, dann als vorletzter», gab er halblaut zurück. «Mir scheint, da ist jemand noch nach dem Bürgermeister gekommen.»

«Ich war vor allen anderen da», erklärte Don Camillo. «Ich hab’ mich nur hier hinten hingestellt, um nicht mit gewissen Individuen auf die Honoratiorentribüne zu müssen. Aber das kannst du dir merken: Du hast das Dorf ganz schön blamiert! Die höchsten Regierungsvertreter der Provinz beehren unser Dorf, um an diesem Fest teilzunehmen, und keine Spur von einem Bürgermeister oder Vizebürgermeister, der sie empfängt!»

Peppone lüftete seinen Hut und wischte sich den Schweiß ab.

«Kümmert Ihr Euch um Eure eigenen Angelegenheiten!» knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. «Um die meinen kümmere ich mich schon selbst.»

«Das sind meine Angelegenheiten, denn auch ich bin ein Teil der Bürgerschaft», erwiderte Don Camillo.

«Priester haben keine Heimat», antwortete Peppone.

Don Camillos erster Impuls war, seinem Vordermann einen Fußtritt in den Bürgermeisterhintern zu geben. Aber er entsagte diesem Gelüst aus einleuchtenden Gründen, vor allem jedoch aus Platzmangel. Tatsächlich stand er rechts und links von der Menge eingezwängt, unmittelbar vor sich hatte er Peppones Rücken und hinter sich den Gitterzaun des großen Schulhofs.

Mittlerweile hatte der Direktor seine Rede unverdrossen fort geführt, doch nun war er damit fast am Ende. Als er beim allerletzten Blatt angelangt war, richtete er seinen Blick auf die Seite, wo Don Camillo stand, und entdeckte dabei Peppone. Lächelnd fügte er noch zwei Sätze ein:

«Und nun möchte ich den Herren von der Regierung danken - im Namen des Lehrkörpers. Im Namen der Bürgerschaft wird dies der Herr Bürgermeister tun.»

Damit wies der Redner mit liebenswürdiger Geste auf Peppone, der sofort eine Milliarde Augen auf sich gerichtet fühlte. Dann hörte man die Schlußsalve des Direktors, den Applaus, der dem letzten Pistolenschuß des Redners folgte - und dann gar nichts mehr.

Tatsächlich hielten alle den Atem an, und jeder wartete darauf, daß der Bürgermeister das Wort ergriff.

Alle warteten, und mit Ausnahme der roten Anhängerschaft taten sie das mit diabolischer Freude auf Peppones übliche Stilblüten, über die man dann zwei bis drei Monate lang im Kaffeehaus oder daheim lachen konnte.

Peppone schwitzte vor Aufregung, aber er brachte kein Wort heraus.

«Bitte!» rief der Direktor lächelnd von der Tribüne, «kommen Sie hier herauf ans Mikrofon, Herr Bürgermeister. Darf ich bitten, Platz zu machen!»

Irgend etwas mußte jetzt geschehen.

«Danke, danke», stotterte Peppone. «Ich möchte lieber nicht von der Tribunale...»

Das Publikum jubelte. Die Sache ließ sich großartig an.

Es war ein kalter Novembermorgen, und der Nebel war zwar nicht allzu dicht, aber er drang wie flüssiges Eis in die Lungen. Don Camillo zog seinen Umhang bis an die Augen und drückte seine warme schwarze Kappe tief ins Gesicht.

«Ich möchte lieber nicht von der Tribüne, sondern von hier unten aus sprechen», flüsterte Don Camillos Umhang,

«Ich möchte lieber nicht von der Tribüne, sondern von hier unten aus sprechen», wiederholte Peppone.

Der Umhang: «Denn ich habe mich absichtlich hierhergestellt ...»

Peppone: «Denn ich habe mich absichtlich hierhergestellt ...»

Der Umhang: «... um mich wieder wie früher als

Schuljunge zu fühlen, wie eines von den Kindern, die hier zu Hunderten versammelt sind.»

Und Peppone: «...um mich wieder wie früher als Schuljunge zu fühlen, wie eines von den Kindern, die hier zu Hunderten versammelt sind.»

«In eben diesem Schulhof haben auch wir damals feierlich unsere Bäume gepflanzt. Der Himmel und das Dorf waren zwar wie alle Tage, und doch lag etwas Geheimnisvolles in der Luft.»

Peppone war großartig: Er wiederholte Wort für Wort der langen Tirade, und Don Camillos Umhang soufflierte weiter: «Und unsere alte Lehrerin war bei uns.»

Peppone zögerte einen Moment, dann nahm er seinen Hut ab und sagte mit veränderter Stimme: «Und unsere alte Lehrerin war bei uns.»

«Und heute, nach so vielen Jahren», sagte Don Camillos Umhang ein, «erneuert sich dieses Staunen ...»

Aber Peppone griff es diesmal nicht auf:

«Unsere alte Lehrerin war bei uns, damals, an jenem längst vergangenen Morgen. Die alte Signora Giuseppina, die keiner von uns jung gekannt hat, vielleicht, weil sie nie jung gewesen war. Die alte Signora Giuseppina ist tot, aber sie ist immer noch lebendig, denn sie kann gar nicht sterben, und jetzt ist sie hier, ich fühle, daß sie da ist, da hinten, hinter den Schulkindern, die klassenweise um ihre Lehrerinnen stehen.

Die Signora Giuseppina ist hier, in ihrem gewohnten schwarzen Kleid und mit ihrem gewohnten schwarzen Hütchen auf den weißen Haaren. Mit ihrer gewohnten finsteren Miene. Und hin und wieder fährt ihre kleine, dürre Hand durch die Luft und läßt irgendeinen kurzgeschorenen Kopf die harten Knochen fühlen.»

Die Leute lachten nicht, und Peppone fuhr fort:

«Ja, auch die Signora Giuseppina ist hier, und wie alle anderen Lehrerinnen hat sie ihre Schüler um sich versammelt, Alle sind sie da. Kein einziger fehlt: Diego Perini, der mit acht Jahren unter die Räder eines Karrens kam; Angiolino Tedai, mit sechs Jahren an Typhus gestorben; Tonio Delbosco, mit zweiundzwanzig im Krieg gefallen. Mario Clementi, Giorgino Scamocci, Dante Fretti, Girolamo Anselmi, Giuseppe Rolli, Alvaro Facini... Alle sind da, kein einziger fehlt, alle um die Signora Giuseppina geschart. Und alle, auch die, die mit vierzig oder fünfundvierzig gestorben sind, haben noch ihr Kindergesicht. Alle sind so, wie sie als Schüler gewesen waren. Die Signora Giuseppina hat sie zurückgeholt, einen nach dem anderen, und nach den Regeln der Grammatik bringt sie ihnen nun die Regeln der Ewigkeit bei.

Das ist für mich der Sinn dieser Feier heute morgen, und die kleinen Bäumchen, die ihr Kinder in die Erde pflanzen werdet, sind wie das Band zwischen Tod und Leben: zwischen dem Leben über der Erde und dem Tod unter der Erde. Wenn die Zukunft des Baumes auch über der Erde liegt, wenn er auch nach oben wächst, so hat er seine Wurzeln doch unter der Erde. Und das bedeutet, daß die Zukunft aus der Vergangenheit genährt wird. Wehe denen, die nicht die Erinnerung an die Vergangenheit pflegen: Das sind Menschen, die nicht in die Erde säen, sondern auf Beton ...»

Peppone wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann sagte er mit ruhigerer Stimme:

«Kinder, ich spreche zu euch, ihr jungen Bäume, die ihr den Wald des Lebens mit neuem Laub schmückt, und ich sage euch, nicht als heutiger Bürgermeister, sondern als ehemaliger Schüler: Ich weiß, daß meine alte Lehrerin jetzt da ist, zusammen mit ihrer ganzen Schülerschaft. Ich weiß es ganz sicher, und ich könnte sie sehen, wenn ich nur den Kopf in eine bestimmte Richtung drehen würde. Aber ich habe nicht den Mut dazu, weil ich der schlimmste Schüler von der ganzen Welt war. Ich habe nicht den Mut, meiner alten Lehrerin ins Gesicht zu sehen. Paßt auf, daß ihr euch nicht eines Tages in meiner traurigen Lage findet...

Ich werde die Frist leben, die mir vom Schicksal bestimmt ist, und nach meinem Tod werde ich mich bei meiner alten Lehrerin melden, wie sich die anderen gemeldet haben. Aber ich hab’ Angst, daß sie mich nicht mehr in der Klasse haben will. Ich hab’ Angst, daß sie wieder wie damals, als ich eine besonders große Frechheit begangen hatte, zu mir sagt: <Mach, daß du rauskommst, elender Spitzbube!>»

Peppone schloß seine Ansprache leise und mit gesenktem Kopf, den Hut in den Händen drehend, und die Leute waren ein paar Augenblicke ganz benommen. Dann brach ein rasendes Händeklatschen los.

Peppone hielt es nicht länger auf der Stelle. Er schlüpfte zwischen dem Zaun und den Leuten durch, und als er aus dem Schulhof war, schluckte ihn der Nebel.

Beim ersten Feldweg verließ er die Straße, ohne sich um die neuen Schuhe und den Bürgermeisteranzug zu kümmern.

Er ging langsam, mit gesenktem Kopf, um das Sträßchen am Damm zu erreichen und am Dorf vorbei nach Hause zu gelangen.

Da merkte er, wie Don Camillo ihn einholte, sich seinem Schritt anpaßte und an seiner Seite ging, aber er sagte kein Wort.

Auch Don Camillo redete nichts.

Sie erreichten den Damm und schienen noch weltentrückter, denn der Damm war völlig im Nebel ertrunken, und man sah nichts als das Band der Straße, fast als ob sie in der Luft schwebe.

Sie gingen langsam mit gesenkten Köpfen. Plötzlich hörte Don Camillo in der großen Stille eine leise Stimme hinter seinem Rücken:

«Camillo, ich hab’ es dir schon tausendmal gesagt, daß du nicht einsagen sollst, wenn einer abgefragt wird. Du bist ein Esel. Du bist ein Esel, auch wenn dieser Unglücksmensch von deinem Vater dich aufs Seminar schicken will. Aufs Seminar! Es wäre viel besser, er würde dich Stallknecht werden lassen!»

Don Camillo ging stur weiter, denn wenn er sich umgedreht und geantwortet hätte, hätte Peppone ihn bestimmt für verrückt gehalten.

Dann wandte sich die Stimme an Peppone:

«Spitzbube! Spitzbube! Hast du gesehen, was aus dir geworden ist? Der Oberspitzbube des Dorfes. Chef der Gottlosen, Chef der Anarchisten ...»

«Ich...» stammelte Peppone. Aber die Stimme versagte ihm.

«Schweig! Und paß auf, daß du dich anständig benimmst, wenn du nicht willst, daß ich dich wie damals rauswerfe, sobald du im Klassenzimmer erscheinst... Was deine Leistung von heut früh betrifft... Nun, dafür bekommst du ein Genügend: sagen wir eine Drei.»

«Das ist eine Ungerechtigkeit!» flüsterte Peppone.

«Drei minus! Und wenn du noch weiter maulst, bekommst du eine Vier. Und der Esel da, der dir falsch eingesagt hat, kriegt eine Fünf!»

Die Stimme schwieg, und die beiden Männer gingen weiter schweigend im Nebel nebeneinander her.

Doch plötzlich blieben sie stehen, sahen sich ins Gesicht, und drehten sich wie auf Kommando um.

Natürlich: Da stand die Signora Giuseppina, reglos mitten auf dem Damm, und um sie herum alle ihre toten Schüler.

Die Signora Giuseppina hob den Arm und bewegte den Zeigefinger drohend in der Luft.

Mit einem Ruck wandten sich Don Camillo und Peppone wieder ab und setzten ihren Weg fast im Laufschritt fort.

Don Camillo murmelte beim Gehen eilig ein paar Gebete, und Peppone sagte hin und wieder: «Amen».

O Land des wirren Widerspruchs ...