5
Die Marsh Street führte mir ihre übliche Kollektion an Straßenkünstlern vor. Ein Mann in einem Hauseingang, der seinen Rausch ausschlief, neben sich seine leere Flasche. Ein Kneipenwirt mit herabhängenden Hosenträgern und einer Zigarette zwischen den Lippen, der die verbrauchte Luft aus seinem Pub ließ. Zwei Kleinganoven, die mit nervösen Blicken Geld und Informationen austauschten. Und zwei übergewichtige Frauen in viel zu engen Partykleidchen und mit dem verschmierten Make-up der letzten Nacht, die sich taumelnd aneinanderklammerten, als kämpften sie gegen das Ertrinken an. Wenn eine fiel, würden beide fallen und wahrscheinlich auf dem Rücken liegend sterben, während ihre Gliedmaßen wie bei einer umgedrehten Schildkröte nutzlos in der Luft herumruderten.
Ich suchte nach Nummer 43. Das Haus war drei Stockwerke hoch und hatte sechs Klingeln, die bis auf eine Ausnahme mit Namen beschriftet waren. Dort war vermutlich noch vor Kurzem Janines Künstlername zu lesen gewesen. Ich ging hinein und stieg die Treppe hinauf. Keine Ahnung, was ich da oben wollte. Ich hatte noch nicht einmal eine Ahnung, warum ich überhaupt hergekommen war. Auf den ersten drei Treppenabschnitten lag grob gewebter Teppichboden, auf dem restlichen Weg begleiteten mich abgetretene Holzdielen. Sie quietschten und ächzten, als ich die letzten Stufen erklomm.
Es war vier Tage her, seit man sie gefunden hatte. Jasmine. Taufname vermutlich Jean. Die kleine Jeannie. Jeannie mit dem hellbraunen Haar. Die Tür zur Wohnung war erwartungsgemäß geschlossen. Ich klopfte und erhielt keine Antwort. Ich drehte den Knauf, der keinen Widerstand leistete, und ging hinein. Ich fand mich in einem kurzen Flur wieder. Links ein Bad, geradeaus Wohn- und Schlafzimmer. Alles war weggeschafft worden. Die Bettwäsche, der Teppich – ich konnte noch den hellen Fleck an der Stelle erkennen, wo er gelegen haben musste –, alle Schubladen standen offen. Leer. Eine ihrer Heimat beraubte Matratze lehnte an der Wand. Auf ihr zwei große braune Flecken: einer auf Höhe des Kopfkissens, der andere in der Mitte.
In Glasgow war ich bei einigen Mordfällen am Tatort gewesen. Auch wenn die Einzelheiten und Umstände sich jeweils stark unterschieden, hatte sich nach und nach eine grausame Vertrautheit eingestellt. So auch hier. Auf den ersten Blick befand ich mich lediglich in einem traurigen, leeren Zimmer mit schmutzigen Fenstern und schlichten roten Gardinen. Jasmine/Jean hatte keine Spuren in dieser Welt hinterlassen, sah man von ein paar blutigen Schlagzeilen in der Zeitung ab. Doch als ich so dastand und die Eindrücke in mich aufnahm, mir vorstellte, wo er gestanden und sie gelegen hatte, da spürte meine Fantasie etwas auf. Eine Art Echobild in der Luft. Eine fast greifbare Aura von Gewalt und Tod.
Sie teilen sich eine Zigarette, während sie ihm sagt, was es kostet. Er legt das Geld auf die Kommode, zieht erst seinen Mantel aus, dann seine Jacke. Es wird ein hartes Stück Arbeit werden; wie hart, ahnt sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie drückt die Zigarette aus, streift ihren geblümten Morgenrock, den Slip und den BH ab, legt sich aufs Bett und stellt ihren Körper zur Schau.
Er zieht den Reißverschluss seiner Hose herunter und befiehlt ihr, sich auf den Bauch zu legen. Sie lächelt und sagt ihm, dass er ein böser Junge ist. Vielleicht schlägt er sie ein bisschen auf den Hintern, um zu sehen, wie das Fleisch unter dem scharfen Schlag erbebt und sich rötet. Sie wird dafür bezahlt, dass man sie benutzt, deshalb gibt es zuerst keine Schreie, nur den Gedanken, dass dieser Kunde doch ein bisschen arg grob ist, wofür sie ihm einen satten Zuschlag berechnen wird.
Es gibt eine Pause, und sie hört ihn zu seinem Mantel gehen. Sie dreht den Kopf und sieht das Messer und weiß, dass das hier weit über jede Grobheit hinausgeht. Er presst ihr Gesicht in die Matratze hinein, um die Schreie zu ersticken. Er hockt auf ihrem Rücken, tastet nach ihrem Schädelansatz und treibt das Messer tief in ihr Gehirn hinein. Er besteigt sie, während ihr Körper sich verkrampft. Er ...
»Was zur Hölle treiben Sie hier, McRae?«
Ich wirbelte herum, fühlte, wie sich mein Magen verkrampfte. Seine wuchtige Gestalt füllte den Türrahmen aus. Ich hatte seine schweren Schritte nicht kommen gehört.
»Ich warte.«
Natürlich wartete Wilson. Ich stand am Neujahrstag mitten in der Wohnung einer ermordeten Prostituierten, und hier war ein Polizeiinspektor, der wissen wollte, was ich hier zu suchen hatte. Eine berechtigte Frage. Und ich konnte ihm keine passende Antwort liefern. Also versuchte ich es mit der Wahrheit. »Ich war nur neugierig, Inspector. Ich war spazieren, und da fragte ich mich, was sich hier wohl abgespielt haben mag. Der Expolizist in mir, schätze ich.« Ich versuchte, kumpelhaft zu lächeln. Er würde es schon verstehen, von Bulle zu Bulle.
»Ich habe Sie gewarnt. Ich habe Sie verdammt noch mal gewarnt, mir nicht in die Quere zu kommen. Und hier sind Sie nun und – tun – genau – das!« Sein Schnurrbart zitterte unter der Wucht, mit der er diese Worte ausstieß.
»Ich werde Ihnen aus dem Weg gehen. Jetzt sofort, wenn es Ihnen recht ist.« Ich wollte mich an seinem massigen Körper vorbeischieben, aber er blockierte den gesamten Türrahmen und einen großen Teil des Raums. Ich konnte Tabak und abgestandenen Alkohol an ihm riechen, ungewaschene Kleidung. Ich sah den Schlag nicht kommen. Er traf mich voll auf den Mund und schickte mich rückwärts zu Boden. Mein Hut rutschte mir vom Kopf und ich schmeckte Blut. Ich fragte mich, ob er jemals an einem Austauschprogramm in Glasgow teilgenommen hatte – dies war genau der Stil der dortigen Kollegen. Ich kam schwankend auf die Beine und ballte meine Fäuste, um diesen miesen Bastard fertigzumachen. Er grinste.
»Komm schon, Jock. Schlag zu. Das wird das Letzte sein, was du tust, bevor du auf dem Boden meines Kittchens aufschlägst. Angriff auf einen Polizeibeamten. Unerlaubtes Betreten eines Tatorts. Behinderung polizeilicher Ermittlungen. Mal sehen, was mir sonst noch einfällt. Na los doch. Hau drauf.« Er reckte mir sein feistes Kinn entgegen und deutete darauf.
Ich wischte mir das Blut vom Mund ab und versuchte, meine Wut zu unterdrücken. Ich wusste, er hatte mich genau da, wo er mich haben wollte. Ich hob meinen Hut vom Boden auf und klopfte mir den Staub aus der Kleidung.
»Mein Fehler, Inspector.« Ich spürte, wie meine Lippe anschwoll.
Das Lächeln fiel aus seinem Gesicht. »Schon der zweite. Der erste war, sich in meinem Revier niederzulassen. Und jetzt verpissen Sie sich, Jock. Bevor ich wirklich die Geduld mit Ihnen verliere. Anscheinend bin ich noch in gnädiger Neujahrsstimmung, sonst hätte ich Sie längst als Verdächtigen verhaftet.«
Ich sah ihn ausdruckslos an. Er fuhr fort. »Ich habe immer noch keine zufriedenstellende Antwort darauf bekommen, was Sie hier zu suchen haben. Das macht mich neugierig. Und wenn ich neugierig bin, fange ich an, herumzuschnüffeln. Wollen Sie, dass ich ein bisschen bei Ihnen herumschnüffle, Bürschchen?«
Es war eine rein rhetorische Frage. Was ich wollte, war für Wilson vollkommen irrelevant. »Kann ich jetzt gehen, Inspector?«
Er trat langsam zur Seite und ich schlängelte mich an ihm vorbei, spürte seinen üblen Atem im Nacken und wartete auf den zweiten Schlag. Er blieb aus, und ich entkam über die Treppen nach draußen an die Luft, wütend auf Wilson und noch wütender auf mich selbst. Was für ein beschissener Start ins neue Jahr. Erst verschwand das Mädchen, dann wurde ich auch noch von einem Cop verprügelt. Was kam wohl als Nächstes?
Als Nächstes begann mein Kopf zu schmerzen und es zeigten sich sämtliche Anfangssymptome für einen meiner Anfälle. Wilsons Schlag hatte etwas ausgelöst. Es wurde dunkel, als ich nach Hause kam. Mein Hals war steif von den Schmerzen, die von einer Stelle hinter meinen Augen über den ganzen Schädel bis zum Ansatz der Wirbelsäule ausstrahlten. Ich hatte mal Eisenringe mit Schrauben gesehen, die von den Inquisitoren eingesetzt wurden, um Häretiker zu Geständnissen zu motivieren. Einer dieser Ringe schien sich jetzt in meinem Kopf zu befinden, und ich fragte mich, was ich angestellt haben mochte und wer bei mir die Schrauben anzog.
Aus meinem Büro fiel Licht die Treppe hinunter, als ich sie langsam erklomm und mich dabei wie ein Blinder am Geländer festklammerte. Ein Besucher? Vielleicht spielten mir auch lediglich meine Augen einen Streich. Das zweite Symptom. Alles wurde strahlend hell und dann pechschwarz. Ich verlangsamte meine Schritte und versuchte, mich auf den Zehenspitzen fortzubewegen. Freund oder Feind oder vielleicht die alte Mrs. White von unten. Sie kümmerte sich um meine Wäsche, aber sie würde niemals das Licht anlassen. Sie hasste Verschwendung.
Ich stand schwankend im Türrahmen und sah, dass niemand in meinem Büro war, aber die Tür zum Schlafzimmer offen stand. Flammen warfen tanzende Schatten an die Wand. Ich schlich vorsichtig zur Tür und stieß sie auf.
Sie saß auf meinem Bett. Es gab nur wenig Auswahl: entweder das Bett oder den durchgesessenen alten Lehnstuhl, den der Vermieter längst hätte verbrennen sollen, um die Flöhe zu beseitigen. Sie hatte das Feuer angemacht. Das Zimmer wirkte warm und einladend.
»Hallo. Du bist wieder da?«, stellte ich das Offensichtliche fest und freute mich wie ein kleines Kind, sie zu sehen.
Val lächelte. »Bin ich willkommen?«
»Anscheinend hast du es dir ja schon gemütlich gemacht.« Ich nickte zum Feuer hinüber. Ein paar Briketts waren schon halb verglüht.
»Stört es dich?« Sie runzelte die Stirn.
Ich schüttelte den Kopf, dann umklammerte ich ihn, als der Schmerz durch meine Schädelbasis raste. Ich holte tief Luft. »Hängt davon ab, wie lange du bleibst und warum du hier bist.«
Ich wollte nicht so einfach den Versuchungen einer Frau erliegen. Doch es gab einige Details, die mir in der letzten Nacht nicht aufgefallen waren: Ihr Haar war nicht nur schwarz, sondern von einem tiefen Kastanienbraun; ihre Wimpern waren die längsten, die ich jemals gesehen hatte; und obwohl sie so mager wie ein Frettchen wirkte, hatte sie wunderschöne Beine. Ich wollte nicht, dass sie wieder verschwand.
»Ich bin hier. Jetzt. Ist das nicht genug?« Sie musste eigentlich wissen, dass es genug war. Frauen besaßen normalerweise ein Gespür dafür, was sie Männern bedeuteten. »Was ist los?«, fragte sie.
»Hab Kopfschmerzen.« Ich hörte, wie undeutlich meine Worte herauskamen.
»Hast du Aspirin da?«
»Hilft nicht. Nicht hierbei.«
Ich kämpfte mich aus meinem Mantel und versuchte, ihn hinter die Tür zu hängen. Er landete als Haufen auf dem Boden, genau wie es mir vermutlich gleich ergehen würde. Meine Worte klangen, als kämen sie aus weiter Ferne. »Willst du Tee? Hab nicht viel zu essen da. Paar Würstchen vielleicht. Hatte nicht mit Gesellschaft gerechnet.«
»Tee wäre großartig. Aber ich würde ungern deine ganzen Vorräte wegfuttern.«
Ich wühlte im kleinen Regal über meiner Kochstelle und fand das kleine Päckchen mit den Würsten. »Drei. Anderthalb für jeden. Wir könnten sie braten. Ein bisschen Brot ist auch noch da. Und dunkle Soße.«
Ich lächelte so aufmunternd, wie mein Kopf mich ließ, und sie stand auf. Ich zog meine Jacke und meinen Schlips aus und kämpfte mit dem Kragenknopf, bis ich ihn abriss und auf die Kommode kullern ließ. Wir fanden das Bratfett und legten die Würstchen in die Pfanne. Der betörende Geruch von gebratenem Fleisch breitete sich schnell in dem kleinen Zimmer aus. Es gab kaum ein schöneres Geräusch als das Brutzeln von Würstchen, fand ich. Ich zündete zwei Zigaretten an und reichte ihr eine.
»Oje. Was ist passiert?« Sie zeigte auf meine geschwollene Unterlippe.
»Bin mit einem fetten Polizisten kollidiert.«
Ich goss den Tee auf und schenkte uns zwei Tassen ein. »Milch? Zucker?«, fragte ich. Sie antwortete mit Churchills Salut.
Wir hockten nebeneinander auf dem Bett wie ein altes Ehepaar, redeten nicht, sondern erfreuten uns lediglich an unserer Gegenwart und den Geräuschen der Bratpfanne. Trotz meiner Kopfschmerzen spürte ich, wie zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Hoffnung in mir aufkeimte. Ich nahm wahr, dass das düstere Pochen hinter meinen Augen leicht nachließ, und fragte mich, ob sie vielleicht irgendein magischer Talisman gegen die Schmerzen war, die mich normalerweise längst lahmgelegt hätten.
Das Brot schien schon ein bisschen trocken, deshalb rösteten wir vier Scheiben. Das waren für jeden von uns zwei Scheiben Toast mit Bratwurst. Wir sauten uns mit der Margarine ein, und die dunkle Soße triefte uns über die Finger. Wir leckten sie ab. Mit Kate Graveney hätte ich so etwas nie machen können. Sie mit ihren weißen Handschuhen. Aber ich glaube, ich hätte es auch gar nicht gewollt. Die Schmerzen schwelten weiter in meinem Schädel, ließen sich aber ertragen. Das Essen half. Manchmal half es, manchmal wurde mir davon nur schlecht.
Zwischen zwei Happen sagte ich: »Du hättest bleiben sollen. Heute Morgen, meine ich.«
Sie legte den Kopf auf die Seite wie ein Wellensittich. »Ich hätte letzte Nacht nicht bleiben sollen. Dadurch hättest du einen falschen Eindruck von mir bekommen können. Ich bin nicht so eine. Mir war kalt und ich war ein bisschen deprimiert. Und ich bin keinen Whisky gewöhnt. Gott, hatte ich einen Brummschädel! Wahrscheinlich so schlimm wie deiner jetzt.«
Das bezweifelte ich stark.
Sie senkte den Blick. »Weißt du ... ich brauchte einen Kumpel. Können wir Kumpel sein? Mehr nicht – jedenfalls fürs Erste. Du weißt ja, wie es ist. Da war ein Mann. Es lief nicht gut. Du kennst solche Geschichten bestimmt.«
Auch ich brauchte einen Kumpel. Ich brauchte mehr als das, aber verglichen damit, was ich bis gestern hatte, war es bereits ein gewaltiger Schritt nach vorne. Trieb sich der andere Kerl immer noch irgendwo herum?
»Das ist schon in Ordnung.« War es das wirklich? Wenigstens hatte sie weitere Optionen nicht grundsätzlich ausgeschlossen.
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ich möchte kommen und gehen, wie es mir passt. Ist das okay für dich?«
Das weckte Erinnerungen an Sandra. Nun, ich hatte inzwischen dazugelernt. Diesmal würde ich nicht mit meiner Eifersucht alles kaputt machen. Ich würde Val so nehmen, wie sie war, und das genießen, was sie mir anbot. Freundschaft und Bratwurst.
»Du bist jederzeit hier willkommen, Val.« Dann fiel mir etwas ein. »Hör mal, wenn wir Kumpel sein wollen, solltest du etwas mehr hierüber wissen.« Ich zeigte auf meine Narbe.
»Tut es weh?« Sie streckte die Hand aus. Ich ließ sie. Ihr Finger war wie die Berührung einer Mutter.
»Die Narbe nicht. Aber darunter. Ich war in Frankreich und geriet dort in Kriegsgefangenschaft. Sie haben mir eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Die Ärzte hier in England haben später festgestellt, dass ein Stück von meiner Schädeldecke gegen mein Gehirn drückt. Ich kann mich seit Mai ’44 an kaum etwas erinnern und ich habe immer wieder Aussetzer. Ich fühle, dass gerade wieder einer im Anmarsch ist. Es beginnt mit Kopfschmerzen, dann lässt die Sehfähigkeit nach ... Es ist ein bisschen wie Migräne, nur schlimmer. Mach dir also keine Sorgen, wenn du hier reinschneist und ich völlig weggetreten im Bett liege ...«
Sie nickte voller Mitgefühl. Jedes Mal, wenn sie den Arm bewegte, konnte ich die Kontur ihrer Brust erspähen. Ich fühlte, wie etwas in mir aufwallte. Nicht Sex. Etwas Tieferes. Ich musste blinzeln und mir die Augen reiben. Der Finger einer Frau hatte mehr Kraft als Wilsons Faust.
»Das nächste Mal, wenn ich wiederkomme, kannst du mir alles darüber erzählen. Du bist müde und solltest jetzt besser schlafen.«
Ich legte mich hin wie befohlen. Ich hatte mich mit den Schmerzen getäuscht – sie ließen nicht nach. Ich spürte, wie das mittlerweile vertraute Entgleiten begann. Der Druck hinter meinen Augen baute sich auf wie Wasser, das in einem Schlauch gefangen ist. Ich wollte mich übergeben, wusste aber, dass ich es jetzt nicht konnte. Das würde erst klappen, wenn ich wieder aufwachte. Panik stieg in mir auf, als ich allmählich die Kontrolle verlor. Ich konnte nicht verhindern, dass ich über die Klippe fiel. Ich stürzte in den Strudel.
Ich erwachte sehr viel später, lag allein im Bett und fror, obwohl ich mich in die Steppdecke eingewickelt hatte. Es war hell. Ich trug meinen Schlafanzug. Der Kamin war ausgegangen und gesäubert worden. Neues Kleinholz und zusammengerollte Zeitungen lagen unter den Resten der halb verbrannten Briketts und konnten jederzeit angezündet werden. Genau so, wie ich es mochte. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand über meinen Schläfen auseinandergerissen. Ich schaffte es bis zum Waschbecken, bevor ich mich übergeben musste. Ich fühlte mich hilflos, wie eine Stoffpuppe, als ich über der Schüssel kauerte.
Langsam zog ich mich wieder aus dem tiefen Loch herauf. Ich sah mich um. Zwei Teller waren gespült und standen ordentlich auf dem Abtropfbrett neben zwei Tassen. Wie war ich in meinen Schlafanzug gekommen? Das musste für sie eine echte Herausforderung gewesen sein. Ich hatte einen Kumpel. Und das war alles an Beziehung, was ich momentan verkraften konnte.
Ich taperte zurück zum Bett und setzte mich, bevor meine Beine wegknickten. Ich stützte den Kopf in die Hände, während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte. Ich sah auf die Uhr über dem Kamin. Draußen war es taghell. Halb zwölf. Ich vermutete, dass wir den Morgen des 2. Januar schrieben, aber es war auch schon vorgekommen, dass ich komplette 24 Stunden durchgeschlafen hatte.
Auf dem Nachttisch lag das Notizbuch, das ich während meiner Anfälle immer griffbereit hielt. Manchmal schrieb ich etwas hinein, versuchte, meinem zukünftigen Ich etwas mitzuteilen, meinem »normalen« Ich, um Hinweise darauf zu erhalten, was ich während meiner Fugue – wie Dr. Thompson es nennen würde – tat, sagte und dachte. Es war immer ein schrecklicher Moment. Ich nahm das Notizbuch – ein einfaches Schulheft – und stellte fest, dass der Stift etwa in der Mitte zwischen den Seiten lag. Ein neuer Eintrag. Der Kessel pfiff und ich rappelte mich hoch, um den Tee aufzugießen. Ich wollte mir noch nicht anschauen, was mein Alter Ego zu Papier gebracht hatte.
Ich spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete mich ab und schlürfte einen Schluck Tee. Ich fühlte, wie das Leben langsam in meine Knochen zurückkroch. Ich setzte mich aufs Bett und schlug das Heft auf.