13
Meine Gedanken kreisten um all diese neu erlangten Informationen und versuchten, ihnen einen Sinn zu entlocken, ein erkennbares Muster. Aber das gelang mir nicht. Der einzige unumstößliche Fakt war, dass ich in einer schweinekalten Gefängniszelle auf einer tierisch unbequemen Pritsche lag. Ich wickelte mich in die raue Decke, aber der ersehnte Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich drehte und wälzte mich unruhig herum und wartete darauf, dass die Kopfschmerzen einsetzten. Schließlich waren sämtliche Voraussetzungen für einen meiner Anfälle gegeben. Gnädigerweise musste ich dann wohl doch eingenickt sein, denn ich schreckte aus wilden Träumen hoch, als die Metallklappe aufgeschoben wurde und eine mir nur allzu bekannte Stimme durch die Zelle dröhnte.
»Na, so was. Wen haben wir denn hier? Mister Privatdetektiv und Exbulle, der hochverehrte Daniel McRae, gibt uns die Ehre. Es gibt nichts Schlimmeres als einen gefallenen Polizisten. Einen Hüter des Gesetzes, der auf die schiefe Bahn geraten ist. Nun, Dannyboy, ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Sie hier bei uns im Kittchen landen, und zwar auf der falschen Seite des Gitters.«
Ich setzte mich auf. Furcht verkrampfte meinen Magen. Was zur Hölle hatte Wilson hier zu suchen? Diese Sache ging ihn nichts an. Er war Kriminalinspektor, ein Mann vom Yard. Die Luke wurde zugeschoben und ich hörte, wie jemand das Schloss entriegelte. Die Tür schwang auf. Detective Inspector Wilson zeichnete sich wie ein Riese gegen das Licht des Korridors ab. Er kam herein, hatte Mantel und Jacke ausgezogen. Seine Hosenträger wölbten sich stramm über Brust und Bauch. Er hielt etwas in der Hand. Ich verkroch mich in die hinterste Ecke der Pritsche, den Rücken gegen die Wand gepresst. Das war nicht gut, gar nicht gut. Ich fand eine Stimme. Sie klang nicht wie meine eigene.
»Bewegen Sie sich hier nicht deutlich außerhalb Ihrer Zuständigkeit, Inspector? Ich wurde beim Herumschnüffeln im Archiv erwischt, nicht bei einem Mord.« Ich bemühte mich, es beiläufig klingen zu lassen, um unserer Unterhaltung nicht zu viel Gewicht zu verleihen.
Wilson drehte sich um. Ein uniformierter Polizist hielt ihm die Tür auf. »Bringen Sie mir einen Stuhl und dann lassen Sie uns alleine.« Der jüngere Beamte kam schnell mit einem Metallstuhl zurück und stellte ihn direkt vor mir auf den Boden. Er musterte mich nervös und hob dabei seine Augenbrauen, wie um mir zu sagen, dass er nichts für mich tun könne. Aber er versuchte es wenigstens.
»Soll ich bleiben, Inspector?«
»Nein, Sie Idiot. Der Kerl ist keine Gefahr für mich. Schieben Sie ab.«
Die Tür fiel zu und Wilson und ich waren allein unter der nackten Glühbirne. Ich beschloss, nichts, wirklich gar nichts zu tun, was ihn verärgern könnte. Ihm keinen Vorwand zu liefern. Aber ich wusste aus Glasgow, dass manche dieser Jungs gar nicht erst auf einen Vorwand warteten.
Wilson ließ sich auf den Stuhl plumpsen und musterte mich von oben bis unten. Er legte etwas auf den Boden und ich sah, dass es mein selbst gebasteltes Einbruchswerkzeug war. Er verschränkte seine dicken Arme vor der Brust. Er war einer dieser Männer, deren Körper aus einer dicken Schicht Fett über harten Muskeln bestand. Man sieht so etwas häufig bei irischen Bauarbeitern; Bierbäuche und Doppelkinne, aber trotzdem in der Lage, einen Betonklotz mit bloßer Faust zu pulverisieren, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder den Kopf eines Menschen.
»Sie haben recht, Dannyboy. Das hier geht mich eigentlich überhaupt nichts an. Jedenfalls normalerweise. Aber ich habe Sie für mich zur Chefsache erklärt und die Jungs angewiesen, mich bei Ihrer Verhaftung, egal weswegen – öffentliches Urinieren, Überziehung der Büchereifrist, was auch immer –, sofort anzurufen. Und das haben sie brav getan.«
»Sehr tüchtig, Inspector.« Langsam, Danny, langsam. Reiß dein Maul bloß nicht zu weit auf.
Wilson hob das Bündel vom Boden auf. Er rollte den Stoff auseinander und legte jedes Teil sorgfältig auf dem Rand der Pritsche ab. Taschenlampe, Schraubenzieher, Taschenmesser, Zange und mehrere Dietriche lagen wie stumme Ankläger vor mir.
»Ein bisschen im Archiv geschnüffelt, hm? Sieht mir mehr nach professionellem Einbrecherwerkzeug aus, wenn Sie mich fragen. Ist es das, was Sie sind, McRae? Ein mieser, kleiner Dieb? Ein Bulle, der die Seiten gewechselt hat? Da dreht sich mir der Magen um.«
»Sie sehen das falsch, Inspector. Ich bin bei der SOE gezielt für Einbrüche ausgebildet worden. Ich wollte lediglich einen Blick in meine Personalakte werfen, um herauszufinden, was mit mir passiert ist. Wie ich das hier bekommen habe.« Ich zeigte auf meine Narbe, hoffte auf einen Funken Mitgefühl. Wie eine Kuh im Schlachthaus.
»Ich sehe es falsch, hm? Wollen Sie mich etwa einen Lügner nennen, oder was?«
Wilsons Gesicht hatte sich verfinstert. Verdammt. Was ich auch sagte, er würde es gegen mich verwenden. Ich konnte dieses Spiel nicht gewinnen.
»So habe ich das nicht gemeint, Inspector. Ich will es doch nur erklären. Das ist alles.« Ich versuchte es mit einem zaghaften Lächeln.
»Sie wollen mich verarschen, richtig? Sie wollen mich mit dieser Scheiße hier auch noch verarschen!« Er streckte hastig den Arm aus und wischte das Werkzeug mit einem lauten Scheppern von der Pritsche. Ich hörte, wie das Glas der Taschenlampe zersplitterte.
Blankes Entsetzen raste durch meine Eingeweide. Ich hatte das schon einmal erlebt. Eine nackte Betonzelle, kaltes, grelles Licht, allein gelassen mit einem gnadenlosen, brutalen Schläger, absolut hilflos. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein. Überhaupt nicht. Ich erzähle Ihnen die Wahrheit. Ich wollte nur wissen, was damals passiert ist. Das ist alles.« Ich hörte, wie meine Stimme schrill wurde und brach. Ich hasste meine Angst, meine Feigheit. Ich spürte das erste Aufkeimen der nur allzu vertrauten Schmerzen hinter meinen Augen. Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt.
»Aufstehen, McRae!« Wilson hatte seinen Stuhl nach hinten getreten und thronte jetzt mit geballten Fäusten über mir.
Ich kauerte mich in der Ecke zusammen, wartete auf die Stiefeltritte und die Eisenstange. »Ich bleibe lieber, wo ich bin, Inspector. Ich kenne meine Rechte. Sie dürfen das nicht. Ich habe mich doch nur in meiner alten Abteilung herumgetrieben und einen Blick in meine Akte geworfen. Ich bin noch nicht mal dort eingebrochen.«
»Nein? Und was ist das hier alles?« Er zeigte auf das armselige Häufchen Werkzeug auf dem Boden.
Ich hielt das Kissen vor meinen Körper. Ein jämmerlicher Schutzschild. Er packte meinen linken Arm und zerrte mich hoch, riss mir das Kissen aus der Hand und schleuderte es zur Seite. Ich stand steif wie ein Stock da. Ich wusste genau, was jetzt kam, und würde versuchen, es durchzustehen. Ich hielt dem Blick seiner kleinen, bösen Augen stand und ließ die Arme an den Seiten herunterhängen, damit er einen wehrlosen Mann verprügeln musste.
Sein mächtiger rechter Haken traf mich voll in den Magen und ich taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Pritsche zurück. Ich konnte noch nicht einmal schreien. Er zog mich wieder hoch. Ich würgte und hustete, rang nach Luft. Diesmal hielt ich die Hände vors Gesicht, die Ellenbogen zur Abwehr vor die Brust. Es half nicht viel. Er zielte hauptsächlich auf den Unterkörper. Wollte nicht zu viele Spuren hinterlassen. Ein echter Profi. Ich versuchte, meine Nieren und meinen Magen zu schützen. Seine Fäuste drangen trotzdem durch. Ab und an hämmerte auch ein Schlag mit voller Wucht gegen meinen Arm und verursachte ein zunehmendes Gefühl von Taubheit in meinen Handgelenken.
Ich fühlte, wie eine Rippe nachgab und im selben Moment brach noch etwas anderes in mir. Ich fand meine Stimme wieder und stieß einen Schrei aus, in dem sich Wut, Schmerz und Hass vereinten. Er zuckte zusammen. Wilson war der Schulhofschläger. Viel zu lange hatte ich mir damals alles gefallen lassen, was er mir antat. Ich traf ihn voll mit meiner Rechten, und das überraschte ihn so sehr, dass er unkontrolliert nach hinten taumelte. Ich stürzte mich auf ihn. Meine Fäuste bearbeiteten seinen Kopf und seine breite Brust, trieben ihn zurück, bis er gegen die Zellentür krachte.
Ich sah das Blut aus seinem Mund sickern. Dann stieß er ein animalisches Brüllen aus und legte richtig los. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Ich ging zu Boden und er fing an, mich zu treten. Verzweifelt versuchte ich, mein Gesicht vor dem Schlimmsten zu schützen, und rollte mich wie ein Embryo zusammen. Die Stiefel trommelten auf mich ein, auf meinen Kopf, meinen Rücken, meine Beine, meine Hoden. Ich schrie und schrie. Wie damals ... wie damals ...
Wie durch einen Schleier nahm ich das Aufreißen der Tür und laute Stimmen wahr. Es entbrannte ein hitziges Wortgefecht. Ich bekam davon nicht allzu viel mit. Meine Ohren waren voller Blut ...
»Gott sei Dank, er bewegt sich. Ich dachte schon, das Arschloch hätte ihn umgebracht.«
»Eines Tages wird er es bestimmt tun. Er ist ein gottverdammtes Tier. Diesmal ist er verdammt noch mal zu weit gegangen.«
»Ich glaube, der Kerl hat sich aber auch gewehrt. Hast du Wilsons Veilchen gesehen?«
Ich fühlte, wie Hände nach mir griffen und mich auf die Pritsche hievten. Mir tat alles weh. Dann spürte ich, wie die vertraute Übelkeit in mir aufstieg, wie die Schmerzen mir den Schädel zu spalten drohten und eine gnädige Bewusstlosigkeit über mich hinwegspülte ...
»Sind Sie wach?« Es war eine Frauenstimme mit irischem Akzent. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob sie mich meinte. Ob ich wach war oder träumte. Beim Versuch, mich zu bewegen, schienen meine Rippen und mein Kopf förmlich zu zerbersten. Auch der Rest meines Körpers wirkte völlig verkrampft. Dann wurde mir speiübel. Ich öffnete die Augen, konnte aber nicht sehen, wo ich mich befand, sah nur ein helles Licht. Viel zu hell.
»Kotzen ... ich muss kotzen«, brachte ich gerade noch heraus. Hände schoben sich unter meinen Kopf und meinen Rücken, hoben meinen Oberkörper an und drehten mich auf die Seite. Ich stöhnte, fühlte eine Metallschüssel an meiner Wange und übergab mich. Ein Gefühl, als würde mir ein Messer in die Brust gerammt und ein paarmal um die eigene Achse gedreht, ergriff von mir Besitz. Ich übergab mich noch einmal und ließ mich dann kraftlos zurück aufs Bett fallen, um den Schmerzen zu entkommen. Keine Chance.
»Tut mir leid, tut mir leid ...«
»Kein Problem. Sie werden auf jeden Fall wieder gesund. Sie haben drei gebrochene Rippen, deshalb tut es so weh.« Ein irischer Akzent besaß immer etwas Tröstendes, selbst wenn er schlechte Nachrichten verkündete.
Ich badete in Schweiß und fühlte, wie mir ein kalter Umschlag auf die Stirn gepresst wurde. Eine Wohltat. Ich öffnete die Augen. Ein rundes, sommersprossiges Gesicht, umrahmt von einer gestärkten weißen Haube, lächelte zu mir herab.
»Krankenhaus?«
»In Ihrem Zustand ist das der geeignetste Ort, finden Sie nicht auch?«
Mein Zustand? Ich fragte mich, wie schlimm ich aussehen mochte. Jeder Zentimeter vom Kopf bis zu den Zehen tat mir weh. Ich konnte meine Arme nicht bewegen, ohne dass es an einem Dutzend verschiedenster Stellen schmerzhaft ziepte und zerrte. Diese Nazibastarde hatten mich wirklich gründlich in die Mangel genommen. Und dann traf mich die Erinnerung. Ich brauchte keine Kritzeleien in meinem Notizbuch, um mir diese Szene ins Gedächtnis zurückzuholen.
»Raus! Raus, Engländer!«
Hemdsärmlige Kerle mit Hosenträgern, ihre glänzenden Stiefel reichten bis zur Mitte der Wade. Sie schlugen schon zu, als ich lediglich den Versuch unternahm, mich aufzusetzen. Sie zerrten mich auf den Boden und verpassten mir ein paar Tritte, um keine Zweifel zu lassen, wer hier der Boss war.
Ich versuchte, den Bluff durchzuziehen. Ich keuchte »Pourquoi?«, und versuchte, mit meinem überschaubaren französischen Vokabular die Tarnung aufrechtzuerhalten. Ich wusste, die Kerle kamen von der Gestapo. Aber weder konnte ich mich erinnern, woher ich das wusste, noch wie ich hierhergekommen war ... wo auch immer hier sein mochte. Mein Körper war bereits ein einziges Patchwork aus Blut und blauen Flecken. Aber ich fand bald heraus, dass sie noch gar nicht ihre erste Garde auf mich losgelassen hatten.
Ich erblickte Wilsons fleischiges Gesicht in einer grauen Uniform vor mir. Hörte, wie er mich auf Deutsch anbrüllte. Keine Ahnung, wie lange sie mich gefangen hielten oder wie oft sie mich aus meiner Zelle zerrten, um mich zusammenzuschlagen oder halb zu ertränken. Komisch, wie schnell man aufhörte, so zu tun, als wäre man ein harter Kerl. Sie brachten einen in Windeseile dazu, wie ein Kind zu winseln.
Doch eines Tages änderte sich das Prozedere. Ich glaube, es lag daran, dass sie weiter gegangen waren, als sogar sie es geplant hatten. Einer ihrer Schläger bearbeitete mich ein wenig zu enthusiastisch mit seinem Bleirohr. Wahrscheinlich hatte er mir dabei den Schädel eingeschlagen. Für eine Weile verlor ich immer wieder das Bewusstsein. Keine Ahnung, wie lange das so ging. Sie holten mich aus meiner Zelle und warfen mich auf die Ladefläche eines Lastwagens. Ich hoffte, sie würden mich irgendwohin bringen, um mich zu erschießen. Ich wollte es endlich hinter mir haben.
Doch das war erst der Anfang. Ich erkannte die großen Metallbögen eines Bahnhofs und eine imposante Uhr, grün gestrichen und verziert mit Engeln, die sich gegenseitig um das Ziffernblatt herumjagten. Ich roch den metallischen Dampf, bevor sie mich in einen Viehtransporter warfen. Es gab noch andere in dem miefigen Waggon. Viel zu viele. Die Türen wurden geschlossen und verriegelt. Das einzige Fenster hoch oben war von Stacheldraht umgeben. Wenn wir kacken mussten, gingen wir in eine Ecke. Es gab nichts zu essen, kein Wasser. Wir stanken erbärmlich und ich fühlte das Leben aus jeder Wunde und Prellung meines zerschundenen Körpers heraussickern. Obwohl es kaum Platz gab, rückten die Männer enger zusammen, damit ich eingerollt in einer Ecke liegen konnte. Sie waren freundlich, aber distanziert, so wie Menschen waren, die jemandem beim Sterben zusahen und wussten, dass sie nichts dagegen tun konnten.
Bis auf einen: Joseph, den Schneider. Er hatte ein paar Nadeln hinter seinem Jackenaufschlag stecken, zerriss den Saum meines Hemdes und zog ein paar Fäden heraus. Dann flickte er mich damit zusammen, so gut er konnte. Ich war überrascht, wie stark meine Kopfhaut schmerzte. Ich schätze, sie klaffte an einer tiefen Wunde auseinander und er musste kräftig zerren, um sie irgendwie wieder hinzukriegen. Joseph bearbeitete mich mit großer Liebe und Hingabe, als wäre ich ein Stück seines besten Stoffes. Auf seinem rundlichen Gesicht zeigten sich abwechselnd ein warmes Lächeln und ein Stirnrunzeln wegen der schrecklichen Dinge, die sie mir angetan hatten.
Er machte seine Arbeit gut genug, dass ich ein paar Tage später das Umsteigen in Paris überlebte. Die Männer hielten mich auf den Beinen, als wir über die Bahnsteige getrieben wurden. Ich bemerkte Menschen, gewöhnliche französische Bürger, die hinter einer Reihe von Deutschen standen und uns beobachteten, ohne etwas zu tun. Die Reise ging weiter. Der nächste Viehwaggon schien von den Abmessungen her noch kleiner zu sein. Wir stoppten und fuhren wieder an, ein Dutzend Mal. Sie bespritzten den Zug mit Schläuchen, bis wir durchnässt waren und froren, aber immer noch Durst hatten. Ich zog mich in mich selbst zurück. Ich glaube, den größten Teil der Fahrt verbrachte ich bewusstlos auf dem völlig verdreckten Boden.
Schließlich gelangten wir in die bewaldeten Randbezirke einer deutschen Kleinstadt. Wir konnten die hübschen Giebel der Wachtürme erkennen, als wir aus dem Zug getrieben wurden. Das Begrüßungskomitee hatte Gewehre und Hunde mitgebracht. Diejenigen von uns, die noch gehen konnten, mussten zum Exerzierplatz vor den langen Barackenreihen marschieren. Die Übrigen zog man aus der Menge heraus und erschoss sie an Ort und Stelle. Ein gewaltiger Ansporn, keine Schwäche zu zeigen. Ich kämpfte mich auf die Beine und die anderen trugen mich halb und schoben mich halb vorwärts. Ich schätze, Joseph hatte ihnen klargemacht, dass er einiges in mich investiert hatte. In den folgenden Tagen gab es endlich wieder etwas zu essen und ein wenig Ruhe. Ich begann, allmählich zu heilen.
Keiner der Wachmänner schenkte mir sonderliche Beachtung. Es bestand kein großes Interesse daran, mich fertigzumachen, nachdem die Profis sich schon so ausgiebig mit mir befasst hatten. Die Hälfte der Zeit – soweit ich es in meinem Delirium mitbekam – erfüllte ich die Aufgabe als Pausenclown. Es gab wöchentliche Fitnesstests, um einzelne Häftlinge auszusieben – die Strafe für Scheitern war eine Kugel durch den Kopf, und damit hatte man fast noch Glück. Wir mussten 25 Meter rennen. Um unser Leben. Jedes Mal zwang ich meinen Körper unter Todesangst zu einem panischen Sprint. Aber ich kann mich gut daran erinnern, wie die Wachmänner schallend lachten, wenn ich hinter der Ziellinie gegen die Wand der Hütte taumelte. Sie fanden es offenbar umwerfend komisch.
Ich überlebte außerdem deshalb, weil – wie ich erst später erfuhr – Dachau zu den ältesten Konzentrationslagern in Deutschland gehörte. Die Nazis hatten es vor dem Krieg errichtet und mit politischen Gefangenen vollgestopft. Dann holten sie Polen und Russen dazu. Es war noch keine dieser Todesfabriken zum Abschlachten von Juden und Zigeunern. Obwohl die Wachen sich mit ihren perversen Spielchen redlich Mühe gaben. Ich traf den kleinen, dicken, lächelnden Joseph irgendwann wieder, doch zu diesem Zeitpunkt war er schon nicht mehr dick und lächelte auch so gut wie gar nicht mehr. Ich weiß nicht, ob er es lebend aus dem Lager herausgeschafft hat.
Und jetzt hatte sich der Kreis geschlossen. Wieder lag ich in einem englischen Krankenhaus, nachdem mich ein Sadist in Uniform übel zugerichtet hatte. Doch diesmal war es ein guter, alter britischer Bobby gewesen. Waren wir alle, tief in unserem Inneren, niederträchtig und brutal? Ich begann langsam zu glauben, dass ich tatsächlich zu einem Mord fähig war. Dass wir es alle waren. Ich hörte Stimmen am Fußteil meines Betts. Eine davon klang vertraut.
»Ist er wach, Schwester? Wie geht es ihm?« War Cassells gekommen, um sich an meinem Elend zu weiden?
»Er darf nicht gestört werden. Das habe ich dem Polizisten auch gesagt«, erwiderte mein irischer Schutzengel.
»Die Beamten sind weg. Das ist schon in Ordnung. Ich werde ihn nicht stören. Wollte nur wissen, wie es ihm geht. Er war einer von meinen Jungs, müssen Sie wissen.«
»Na, vielleicht sollten Sie dann etwas besser auf ihn aufpassen.«
Ich öffnete die Augen und versuchte, den Kopf anzuheben. Es tat höllisch weh.
»Sie machen ja Sachen, Daniel, altes Haus! Wie geht es Ihnen?« Er trat neben mein Bett, sodass ich mit einer leichten Neigung meines Kopfes zu ihm aufblicken konnte.
Ich versuchte zu sprechen, schaffte es aber nur zu husten, was sich als großer Fehler herausstellte. Schweiß drängte aus sämtlichen Poren, als die Schmerzen durch meine Brust jagten.
»Super, Gerald. Einfach super«, brachte ich schließlich hervor.
Er besaß immerhin den Anstand, eine betretene Miene aufzusetzen. »Tut mir leid, dass das passiert ist, altes Haus.«
»Was haben sie Ihnen erzählt, Gerald? Dass ich die Treppe runtergefallen bin?«
Er wurde rot. »Sie sagten, Sie hätten sich der Verhaftung widersetzt.«
Ich lächelte, obwohl meine Lippen so aufgesprungen waren, dass man es wahrscheinlich kaum erkannte. »Glauben Sie das etwa, altes Haus?«, fragte ich.
Er machte ein beschämtes Gesicht. »Ich konnte das doch nicht wissen. Wäre mir bewusst gewesen, was passiert, hätte ich die Jungs in Blau auf keinen Fall alarmiert. Das können Sie mir glauben. Sie haben weiß Gott schon genug durchgemacht.«
Amen, dachte ich. »Also warten die jetzt darauf, dass es mir besser geht, bevor sie mich für die zweite Runde abholen?«
»Nein, nein! Das Büro hat die Anzeige zurückgezogen. Und ich habe darauf hingewiesen, dass sie möglicherweise selbst mit einer Untersuchung rechnen müssen, weil sie so – sagen wir mal – übereifrig waren. Wie auch immer, die Angelegenheit ist damit erledigt.«
»Könnten Sie mir bitte hochhelfen?« Die Schwester und Cassells setzten mich mit vereinten Kräften in einem 45-Grad-Winkel auf. Es war ein qualvoller Vorgang, aber eindeutig weniger schmerzhaft, als im Liegen zu reden.
Ich keuchte: »Was habe ich für Verletzungen, Schwester? Es ist etwas mit meinen Rippen, sagten Sie?«
Die Frau war etwa in meinem Alter und hatte ebenfalls rotes Haar, wobei der Farbton bei ihr mehr an das Fell eines Fuchses erinnerte. Eine fröhliche Lady, genau das, was man in einem Krankenhaus brauchte.
»Jetzt machen Sie sich keine Sorgen. Das wird alles wieder heilen.« Sie sah meinen Blick. »Schon gut, schon gut. Fangen wir oben an. Sie haben Blutergüsse und Platzwunden – alle längst nicht so schlimm wie die alte Verletzung, aber sauberer vernäht, und in ein paar Tagen können wir die Fäden ziehen. Arme und Hände sind geprellt, drei Rippen auf der linken Seite gebrochen, dazu kommen mehrfache Prellungen an Rücken und Bauch. Ihre Hoden dürften sich für ein, zwei Tage unangenehm anfühlen, bis die massive Schwellung zurückgegangen ist. Und Ihre Beine sind mit Blutergüssen übersät.«
Ich hob die Arme und betrachtete die geschwollenen Finger und die violetten und grünen Verfärbungen der Haut.
Cassells wirkte ausgesprochen bestürzt. »Das ist übel, verdammt übel! Passen Sie auf, Daniel, das kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Ich werde für Sie Anzeige erstatten, selbst wenn Sie ein bisschen Widerstand geleistet haben. Das ist keine Rechtfertigung für eine solche Behandlung. Verdammt.« Er schien ernsthaft wütend zu sein. Ich war fast gerührt.
»Das ist Zeitverschwendung, Gerald. Meine Aussage steht gegen ihre. Aber um es noch einmal klarzustellen: Ich habe keinen Widerstand geleistet. Ich bin zusammengeschlagen worden. Es gibt da einen gewissen Dreckskerl, der es auf mich abgesehen hat. Wahrscheinlich nicht nur auf mich. Er ist ein brutales Schwein.«
Er sah mich aufmerksam an. »Wilson? Detective Inspector Wilson? So ein bulliger Kerl?«
»Genau der.«
Cassells lächelte. »Ein übler Zeitgenosse. Wollte Einsicht in Ihre Akte nehmen. Ich sagte ihm, dass er dazu nicht befugt ist. Nationale Sicherheit und so. Aber wissen Sie was – Sie haben sich vielleicht nicht der Verhaftung widersetzt, aber irgendjemand hat ihm ein ausgewachsenes Veilchen und eine blutige Nase verpasst. Gut für Sie, mein Freund.«
Ich fragte mich, ob meine überschaubare Gegenwehr das Ganze wert gewesen war, ob ich vielleicht noch intakte Rippen besitzen würde, wenn ich nicht zugeschlagen hätte. Aber dann korrigierte ich mich: Ich war verdammt froh, dass ich nicht mehr hilflos alles mit mir anstellen ließ. Damals, in der anderen Zelle, hatte ich keine reelle Chance besessen. Das Gefühl, zu jemandem geworden zu sein, der alles mit sich machen ließ, frustrierte mich zutiefst. Daher verschaffte es mir ein klein wenig grimmige Befriedigung, dass ich Wilson eine verpasst hatte. Da ließ sich auch die vergleichsweise teure Quittung verschmerzen.
Nach zwei Tagen ließen sie mich nach Hause gehen. Meine Gelenke waren steif, mein Körper taub und wund, und ich sah wie ein Frühwerk von Frankenstein aus, aber ich konnte einigermaßen gut laufen und mich bewegen. Mich zu bücken oder etwas hochzuheben, fiel mir allerdings noch schwer und erwies sich trotz der strammen Bandagen um meine Rippen als äußerst schmerzhaft. Beim Aufstieg durch das Treppenhaus zu meiner Wohnung musste ich ein paarmal innehalten. Ich war auf dem letzten Absatz vor meiner Etage angelangt, als ich ihre Stimme von oben hörte.
»Gott sei Dank! Oh, Danny, wo hast du nur gesteckt? Was haben sie mit dir gemacht?« Val segelte die Stufen zu mir herunter und hätte ihre dünnen Arme um mich geschlungen und mich an sich gedrückt, wenn ich sie nicht im letzten Moment zurückgehalten und stumm auf meine Brust gedeutet hätte.
»Es geht mir gut. Bin nur ein bisschen angeschlagen um die Rippen herum. Also für eine Weile kein Jive mehr.« Ich grinste ihre erröteten Wangen und ihr widerspenstiges Haar an.
»Dein armes Gesicht! Sieh dir nur dein armes Gesicht an!«
»Du meinst, ich bin nicht mehr so hübsch wie vorher?«
Sie ging voran in mein Schlafzimmer, als würde sie ein Minenfeld räumen, öffnete mir die Türen, schob die Möbel aus dem Weg. Sie nötigte mich, in dem alten, klapprigen Sessel Platz zu nehmen, während sie herumwirbelte und Tee kochte und ein Feuer anzündete. Jetzt wusste ich, wie mein Vater sich nach einem langen Tag in der Zeche gefühlt haben musste. Val setzte sich auf den Teppich vor dem Kamin und zog die Beine in einer unmöglichen Verrenkung unter ihren Körper.
»Gut. Ich höre. Du wirst mir jetzt in sämtlichen Einzelheiten schildern, was passiert ist. Und komm mir nicht mit deinem machohaften Ich-fresse-alles-in-mich-hinein-Getue. Ich will jedes Detail wissen.«
Ich erzählte es ihr. Ich erzählte ihr fast alles. Aber ich konnte ihr einfach nichts von der Mordanschuldigung sagen, von der ich aus meiner Akte erfahren hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich vor mir fürchtete oder mich verachtete. Das schaffte ich schon ganz gut allein.
Zuerst stellte sie Fragen, wurde dann aber deutlich stiller, als ich ihr von Wilson berichtete und wie dadurch meine Erinnerungen an die Zeit bei der Gestapo hochgekommen waren. Sie zog die Knie unters Kinn und umklammerte sie mit den Armen. Nach und nach vergrub sie ihr Gesicht immer tiefer zwischen den Beinen, als könnte sie es nicht ertragen, noch mehr zu hören. Alles, was ich noch von ihr sah, war ihre üppige Haarpracht, die über ihre knochigen Knie fiel. Ich beendete meine Schilderung und ließ die Stille auf uns niedersinken. Draußen wurde es dunkel, und schon jetzt im Januar merkte man, dass das Licht jeden Tag ein wenig später verblasste, während das Jahr voranschritt. Aber zunächst lag noch ein langer Winter vor uns. Ich schwieg. Sie hob das Gesicht und schaute mich mit ernster Miene an.
»Was ist los, Danny? Was hast du in deiner Akte gefunden?«
Ihr Blick durchbohrte mich wie ein Messer. Wie in Gottes Namen sollte ich es ihr schonend beibringen? Aber ihr offener Blick hielt meinem stand und würde es so lange weiter tun, bis ich mich ihr anvertraut hatte.
»Ich brauche einen Scotch.« Ich holte die Flasche aus meinem Schreibtisch und goss mir ein paar Fingerbreit ein. Nach einem großen Schluck starrte ich ins Feuer und erzählte ihr den Rest. Sie ließ mich nicht aus den Augen, bis mir die Worte ausgingen. Ich versuchte nicht, es zu beschönigen oder meine Unschuld zu beteuern. Ich fühlte mich nicht unschuldig. Die Stille zog sich unangenehm in die Länge. Ich hatte Angst, sie anzusehen.
»Glaubst du, dass du es getan hast?«, fragte sie schließlich in sachlichem Ton.
Ich wandte ihr mein Gesicht zu. »Ich weiß es nicht, Val. Ich weiß es einfach nicht. Und das ist die reine Wahrheit.«
»Glaubst du, dass du dazu fähig bist?«
Das ließ mich innehalten. »Nein. Ich mag Frauen. Habe sie immer gemocht.« Ich lächelte reumütig. »Aber ich mag es nicht, wenn man mich verschaukelt ...«
»Schlägst du Frauen, die dich verschaukeln?«
»Nein! Einmal. Ich bin nicht stolz darauf. Aber eine Ohrfeige aus Wut ist etwas ganz anderes, als jemanden mit einem Messer abzuschlachten. Oder?«
Oder? Und immer wieder ist da diese nackte Leiche mit dem Loch im Hinterkopf und einer roten Pfütze um sie herum wie ein blutiger Heiligenschein. Und ich stehe da und halte ein blutiges Messer in der Hand ... Ich verdrängte das Bild, aus Angst davor, was ich vielleicht noch zu Gesicht bekommen würde.
»Fühlst du dich von mir verschaukelt?«
»Gott, nein! Das darfst du nicht einmal denken! Du bist anders. Nicht wie andere Frauen. Aber das stört mich nicht. Ich bin gerne mit dir zusammen. Ich freue mich, dass wir Kumpel sind. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir etwas ... mehr wären. Aber wir wissen, wo wir stehen, nicht wahr? Oder wo wir standen«, fügte ich in einem Anflug von Verzweiflung hinzu.
»Nichts hat sich geändert. Denn ich glaube es nicht«, verkündete sie trotzig.
Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich hinweg, doch schnell kehrte die ernüchternde Ebbe zurück. Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht beweisen. Nicht, nachdem Caldwell tot ist. Ich kann ja wohl kaum nach Frankreich zurückkehren und dort herumschnüffeln, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst, und vielleicht solltest du auch. Aber erst solltest du deinen Seelenklempner aufsuchen.«
»Meinen ...? Oh, richtig. In ein paar Tagen ist sowieso meine monatliche Sitzung fällig.« Ich zögerte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ich habe Angst, Val. Was, wenn ich ihm davon erzähle und er denkt, dass ich es vielleicht getan haben könnte?«
Sie war unerschütterlich. »Du hast es nicht getan. Ganz einfach. Also geh ruhig zu ihm. Und in der Zwischenzeit werde ich mich um dich kümmern, bis du wieder auf den Beinen bist. Und dann ...«
»Dann?«
»Dann, glaube ich, ist dir Miss Kate Seidenstrumpf noch eine Erklärung schuldig. Was Caldwell und sie im Schilde geführt haben, würde ich zu gerne wissen.«
»Ich auch, Valerie. Ich auch.«