17
Natürlich – so dachte ich, als ich am nächsten Nachmittag die vornehme Straße in Chelsea entlangging – konnte die Adresse genauso falsch sein wie die Ehe zwischen Tony Caldwell und Liza. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Onslow Square schien mir genau die richtige Wohngegend für eine Frau wie Kate Graveney zu sein. Ich konnte mir vorstellen, dass es vor allem im Sommer ein wunderschönes Fleckchen Erde sein musste. Mit uralten Bäumen, die das private Parkgelände im Zentrum beschatteten, und hohen georgianischen Häuserfronten, die hochnäsig auf Gesindel wie mich herabblickten. Die meisten Gebäude verfügten über eine Terrasse und ein einzelnes großes Erkerfenster nach vorne heraus, direkt neben dem Haupteingang. Aber gelegentlich wurde das Muster durchbrochen, und eine kleine Stadtvilla stand auf einem mindestens doppelt so großen Grundstück deutlich weiter entfernt vom nächsten Nachbarn.
Kates Haus – oder zumindest das, von dem ich vermutete, dass sie darin wohnte – war eines dieser frei stehenden Bauten. Ich ging daran vorbei, dann sah ich es mir im Schutz eines geparkten Wagens genauer an. Es standen ein oder zwei weitere Wagen in der Nähe, große, teure Limousinen, aber kein Riley. Dann entdeckte ich das Garagentor links von der Treppe, die zur Haustür führte. Das Anwesen hatte vier Stockwerke und wurde an der Front von hohen Säulen geziert. Es war weiß gestrichen und besaß die Ausmaße eines mittelgroßen Hotels. Mit unserer bescheidenen Zweizimmer-Mietwohnung in Kilpatrick hatte es in etwa so viel gemeinsam wie der Buckingham Palace.
Es wurde dunkel, die Straßenlaternen erwachten zum Leben und warfen ein bleiches Licht auf die Szenerie. Wenn ich noch länger hier herumstand, würde ich unweigerlich auffallen. Das Letzte, was ich brauchen konnte, war ein Streifenpolizist, der sich für mich zu interessieren begann. Im Haus gingen die Lichter an und enthüllten hohe Decken und gelegentliche Schatten, die durch die Räume wanderten. Ich beruhigte meine flatternden Nerven und meinen ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex und näherte mich dem vermeintlichen Haus von Kate.
Ich stand für einen langen Moment auf der oberen Treppenstufe und fixierte den schweren Messingtürklopfer mit einem Blick, von dem ich hoffte, dass er entschlossen wirkte. Obwohl ich meine Fragen gestern Abend gemeinsam mit Val und heute Morgen noch einmal allein dutzendfach durchgespielt hatte, war ich mir nicht sicher, ob ich in der Lage sein würde, sie tatsächlich zu stellen. Verdammt, vielleicht kam ich nicht einmal durch die Tür! Ich holte tief Luft und betätigte den Türklopfer einige Male. Meine Nerven tanzten Polka. Lange Zeit geschah nichts, dann blendete mich abrupt ein greller Lichtschein, der durch die entstandene Öffnung fiel.
»Ja, Sir, kann ich Ihnen helfen?« Es war die Stimme einer jungen Frau, vermutlich das Hausmädchen.
»Ich würde gern Miss Graveney sprechen. Ist sie anwesend?«
Ich konnte das Gesicht des Mädchens nicht erkennen. Sie trug eine kleine weiße Haube, dunkle Kleidung und weiße Handschuhe. Sie sah geschniegelt, sauber und adrett aus, genau die Art von Mädchen, mit der man sich gerne am Samstagabend auf einen Drink verabredete, bevor man sie zum Tanzen entführte. Man wusste einfach, dass sie eine großartige Tänzerin sein würde.
»Erwartet Miss Graveney Sie, Sir?«
Bingo! »Es würde mich nicht wundern.« Das Mädchen wirkte irritiert. »Könnten Sie ihr bitte sagen, dass Daniel McRae hier ist? Sie wird wissen, worum es geht.« Das würde sie, aber hatte sie ein Interesse daran, mit mir zu sprechen?
»Ich werde nachsehen, ob Miss Graveney Besuch empfängt, Sir. Es ist fast Abendbrotzeit. Vielleicht möchten Sie kurz hereinkommen und warten?«
»Ja, vielen Dank.«
Das Mädchen machte einen Knicks, etwas, was man in der Gegend von Castlemilk nicht oft zu sehen bekam. »Natürlich, Sir. Bitte folgen Sie mir.«
Ich trat in den Vorraum und das Mädchen schloss die Haustür. Sie schob die Innentüren auf, und ich folgte ihr in ein riesiges Foyer mit rautenförmig verlegten schwarzen und weißen Bodenfliesen. Zahlreiche Türen führten in angrenzende Räume. Ein geschwungenes Treppengeländer rankte sich an beiden Seiten des Saals nach oben und setzte sich hoch über uns als Geländer einer langen Galerie fort. Das Einzige, was noch fehlte, war eine Kanzel. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie dort Troubadoure beim Weihnachtsfest musizierten oder eine Horde von Chorknaben sang. Nett, wirklich sehr nett. Man hätte mein Büro und Schlafzimmer in einer Ecke dieser Kathedrale unterbringen können, und es wäre immer noch genügend Platz für einen größeren Gottesdienst geblieben.
Das Mädchen tänzelte anmutig durch den Ballsaal. Hatte ich’s doch gewusst, dass sie sich aufs Tanzen verstand! Ich eilte hinter ihr her. Sie hielt mir eine Tür auf und bat mich, einzutreten. Ich fand mich in einer Bibliothek wieder.
»Ich werde Miss Graveney Bescheid geben und sehen, ob sie Sie empfangen möchte. Nehmen Sie bitte so lange Platz, Sir.«
Es gab genügend Sitzgelegenheiten zur Auswahl. Ich kam mir vor wie in einem dieser exklusiven Clubs, in die ich mich nie hineingetraut hatte: ein großer Raum, der vom Boden bis zur Decke mit mehr Büchern – zudem in besserem Zustand – gefüllt war als die öffentliche Bibliothek von Kilpatrick. Ich fragte mich, ob sie auch so fleißig gelesen wurden.
Ein halbes Dutzend Ledersessel verteilte sich locker um drei niedrige Tische, auf einem davon waren Zeitungen ordentlich ausgebreitet. Ein Holzfeuer knisterte in einem Kamin, auf dem man einen Ochsen hätte braten können. Vielleicht grillten sie zu Weihnachten tatsächlich einen. Das Licht mutete sanft und warm an, wenn man von einigen Leselampen absah, die helle Lichtkegel warfen. Ein Ort, an dem man gemütlich sitzen, die Holzscheite im Kamin beobachten und selbstzufrieden über den eigenen Platz in der Welt sinnieren konnte.
»Soll ich Ihnen Hut und Mantel abnehmen, Sir?«
»Nicht nötig. Ich parke sie einfach neben mir.« Ich wusste nicht, wie lange ich bleiben würde, hielt es aber für besser, meine Sachen bei mir zu behalten, falls ich mich zu einem abrupten Aufbruch gezwungen sah.
»Sehr wohl, Sir.«
Ich faltete meinen Mantel sorgfältig und legte ihn zusammen mit dem Hut auf den Tisch, der dem Feuer am nächsten war. Ich versank in den riesigen Polstern eines Ohrensessels neben dem Kamin mit direktem Blick auf die Tür. Ich wartete. Ich wartete und fragte mich, wie jemand so unverschämt reich werden konnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach geerbter Reichtum, vermacht von einem vor langer Zeit in die Gesellschaft aufgestiegenen Gauner. Vielleicht einem Speichellecker des Königs oder einem Abenteurer, der mit der East India Company ganze Kontinente ausgebeutet hatte. Der Geld an Kaufleute verliehen, die Neue Welt ausgeplündert, Fabriken errichtet und die Armen geknechtet hatte. Niemand erlangte einen solchen Wohlstand, indem er nett zu anderen Menschen war. Neid? Ja, verdammt!
Ich weiß nicht, wie lange meine Tagträume andauerten, aber sie endeten abrupt, als das Hausmädchen die Tür öffnete und die Königin erschien. Ich stand auf. Es war das erste Mal, dass ich Kate Graveney ohne Straßenkleidung und Hut vor mir hatte. Sie trug ein dunkelblaues, halblanges Kleid, dessen sanfte Konturen meine fiebrigen Visionen von ihrer Figur bestätigten. Eine doppelreihige Perlenkette schlang sich locker um ihren Busen, traf sich zu einem Knoten und fiel von dort zu ihrer schlanken Taille herab. Sie war ganz Gelassenheit und Anmut und Trägheit. Völlig ungezwungen in ihrer natürlichen Umgebung wie eine Raubkatze in der afrikanischen Steppe.
»Danke, Millie. Bringen Sie mir bitte zwei Scotch, ja? Zwei große«, sagte sie.
Millie das Hausmädchen. Ich beobachtete sie, wie sie zu einem Bücherregal ging und auf eine Stelle in der Vertäfelung drückte. Ein Teil des Regals öffnete sich und gab den Blick auf einen Barschrank frei.
»Jede Wohnung sollte so etwas haben«, verkündete ich und meinte damit die versteckte Hausbar, vielleicht aber auch Millie.
»Ich bin mir sicher, Sie kommen ganz gut zurecht, Mr. McRae«, erwiderte Kate trocken.
Millie servierte uns die Drinks auf einem Silbertablett, das wahrscheinlich echt war. Zigaretten wurden aus einem edlen Holzkästchen angeboten. Nachdem sie Kate und mir Feuer gegeben hatte, durfte Millie gehen.
Kate bedeutete mir, mich wieder zu setzen, und ließ sich in den gegenüberliegenden Sessel sinken. Es sah aus, als wollte sie meine geplante Befragung in eine gemütliche Plauderstunde am Kamin verwandeln. Nicht, wenn ich es verhindern konnte.
»Zum Wohl, McRae.« Sie hob das Glas. Ich prostete ihr zu. Wir nippten vorsichtig. »Also, was kann ich für Sie tun? Schulde ich Ihnen noch Geld?« Sie mimte das Sinnbild von Unschuld und Arroganz wirklich perfekt.
Ich spürte, wie meine Entschlossenheit und meine sorgfältig vorbereiteten Fragen unter der Hitze ihres Blickes dahinschmolzen. Manche Frauen waren dazu geschaffen, im Feuerschein bewundert zu werden. Er verwandelte ihr blondes Haar in Silber und warf Schatten, die ihre elegante Nase und die kräftigen Wangenknochen akzentuierten. Ihre Haut erinnerte mich an gemeißelten Marmor. Ich nahm einen größeren Schluck und spürte, wie der Whisky in meine Kehle biss und in meinem Inneren die Entschlossenheit von Neuem entfachte.
»Ich wurde ausreichend bezahlt, Miss Graveney. Vielleicht sogar zu gut. Ich will wissen, weshalb Sie diese Farce inszeniert haben.«
Sie hob die blassen Bögen ihrer Augenbrauen. »Farce?« Ein tiefer Zug an ihrer Zigarette folgte.
»Den vorgetäuschten Tod von Major Philip Anthony Caldwell.«
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Oh, sie war gut. Sie wusste, dass ich es wusste, und hatte sich entsprechend vorbereitet. »Also wirklich, Mr. McRae, was Sie für eine blühende Fantasie besitzen. Aber selbst wenn es den Tatsachen entspräche, bin ich mir sicher, dass Sie ein so ausgezeichneter Detektiv sind, dass Sie es mir erklären könnten, nicht wahr?«
Sarkastisches Miststück. Meine Wut darauf, wie diese Leute mich zum Narren hielten, nahm von Sekunde zu Sekunde weiter zu.
»Okay, Miss Graveney. Ich glaube Folgendes. Ich glaube, dass Tony Caldwell am Leben ist und Sie versucht haben, mich über seinen Tod zu täuschen. Ich weiß nicht, wie Sie das mit der ausgebombten Wohnung hinbekommen haben. Das scheint mir einen Schritt zu weit zu gehen, nur um mich zu überzeugen, dass Tony nicht mehr am Leben ist. Ich weiß, dass Liza Caldwell und Tony nicht wirklich verheiratet sind. Oder falls doch, handelt es sich um eine weitere Farce, die Sie vermutlich schützen soll. Wie mache ich mich bisher?«
Sie stieß eine Rauchwolke aus. »Aber warum um alles in der Welt sollten wir so etwas tun wollen? Ich meine – warum diese Mühe?« Sie formulierte die Frage in einem Tonfall, als wollte sie in Wahrheit wissen, warum eine Frau wie sie auch nur einen Gedanken an einen Wurm wie mich verschwenden sollte.
»Weil ich herumgeschnüffelt habe. Weil ich versucht habe, die Löcher zu stopfen, die hierdurch verursacht werden.« Ich deutete auf meine Kopfverletzung. »Und Sie haben etwas zu verbergen, Catriona.«
Sie schnaufte und versuchte, beleidigt auszusehen. Eine leichte Übung für jemanden wie sie. Aber sie versuchte nicht, den Namen abzustreiten. »Was sollte ich denn vor Ihnen zu verbergen haben?«
»Dass Sie mit Caldwell verheiratet sind?«
Sie lachte. Es klang echt. »Seien Sie nicht albern.«
Allmählich wurde ich wirklich sauer. »Eine Affäre vielleicht?«, warf ich ihr verzweifelt vor.
Sie schüttelte den Kopf. »Mr. McRae, ich bin sicher, in Ihren ... Kreisen gelten Affären als etwas Skandalöses. Aber bei uns ...« Sie zuckte die Schultern, und der Blick, den sie durch den opulenten Raum schweifen ließ, konnte die Überlegenheit ihres Standes kaum deutlicher zum Ausdruck bringen. Sie senkte die Stimme zu einem sarkastischen Flüstern. »Und überhaupt, man kann keine richtige Affäre haben, wenn man selbst nicht verheiratet ist.«
Ich hätte sie am liebsten geschlagen. »Warum dann das Ganze, um Himmels willen, wenn das alles so weit unter Ihrer Würde ist?«
Ich erhielt eine kurze Vorwarnung. Das Quietschen einer Tür und ein Schritt auf dem Holzboden hinter mir.
»Ich sage Ihnen, warum, McRae. Oder darf ich Sie weiter Danny nennen?«
Diese kühle Stimme, diese geschmeidige, feste Stimme, die mich nach Frankreich geschickt hatte, brachte mich binnen eines Herzschlags auf die Beine. Er trat lächelnd in den Raum.
Tony Caldwell hatte sich kaum verändert. Er war nach wie vor schlank, etwa so groß wie ich, trug sein sandfarbenes Haar nach hinten gekämmt und hatte einen schmalen Schnurrbart. Die Veränderung steckte in seinen Augen – einst berechnend, sahen sie jetzt durchtriebener, älter und müder aus. Zu viele lange Nächte? Meine Augenringe stammten daher, dass ich im Morgengrauen stundenlang wach lag und an die Decke starrte. Was raubte ihm den Schlaf? Er lächelte auf seine charakteristische, spöttische Weise. Er hatte sich während der Ausbildung immer gern über mich oder die anderen Agenten lustig gemacht, wenn wir uns bei einer Aufgabe ungeschickt anstellten.
»Sie sehen gut aus für eine Leiche«, spottete ich.
»Und Sie erst, Danny. Viel besser als beim letzten Mal, als wir uns begegnet sind. Ich dachte, Sie würden es nicht schaffen. Die haben Sie ganz schön fertiggemacht.« Er glitt zum Barschrank und nahm den Scotch heraus. »Jemand noch einen Schluck?«
»Warum, Tony? Warum dieses ... Schmierentheater? Was haben Sie zu verbergen?«
Tony goss sich ein Glas ein, dann ging er hinüber und stellte sich hinter Kates Sessel, eine hübsche Pose fürs Familienalbum. Aber um wessen Familie ging es hier?
»Wir haben nichts zu verbergen, alter Freund. Sie sind es, vor dem wir uns versteckt haben.« Er lächelte auf eine Weise, die er wohl für mitfühlend hielt.
»Großer Gott, Tony, wieso hatten Sie denn vor mir Angst?«
Seine Stimme klang zuckersüß. »Es ging Ihnen nicht gut, alter Freund. Ich meine, wirklich nicht gut. Eine verdammte Schande. Es war nicht Ihre Schuld. Aber Sie kehrten in verdammt schlechtem Zustand zurück, und die Ärzte, die sich damit auskennen, meinten, Sie wären ein bisschen – wie soll ich sagen – meschugge.«
Ich hatte die Nase voll. »Das ist kompletter Blödsinn, Tony! Die Ärzte hätten mich nicht gehen lassen, wenn ich geistesgestört wäre. Ich habe mein Gedächtnis verloren, nicht meinen Verstand!«
Er versuchte, ernst dreinzusehen, aber heraus kam ein gönnerhafter Blick. »Danny, Sie haben meinen Bericht und den Bericht des Psychiaters gelesen. Er vertrat die Auffassung, dass Sie an Wahnvorstellungen und Paranoia leiden und irgendjemanden für all das verantwortlich machen wollten. Es stand zu befürchten, dass Sie mir die Schuld in die Schuhe schieben würden. Sie waren zu gefährlich. Ich wollte nicht, dass Sie in die Luft gehen, verstehen Sie?«
Verdammt sollte er sein! Er hatte recht, es konnte alles gegen mich verwendet werden. Dann kam mir ein Gedanke. »Woher wussten Sie, dass ich Ihre Berichte über mich gelesen habe?«
»Ich habe von Ihrem kleinen Einbruch gehört. Damit sind Sie etwas zu weit gegangen. Ich fürchte, das bestätigt ein bisschen das, was wir alle denken, alter Freund.«
Wer hatte es ihm gesagt? Cassells? Ich fühlte mich überrollt. Eine kleine Wahrheit konnte sich mit den richtigen Worten zu einer großen Lüge entwickeln. Ich versuchte, mich zu wehren.
»Aber das ist noch lange kein Grund, mich auf eine sinnlose Jagd zu schicken. Sie hätten sich nur mit mir treffen und mir erzählen müssen, was Sie wissen. Das ist alles. Ich wollte es nur wissen, Tony. Ich habe Ihnen keinerlei Schuld gegeben.«
»Aber jetzt sind Sie hier. Sie geben keine Ruhe, nicht wahr? Ich habe Sie immer als einen Terrier eingeschätzt. Wie den Rest Ihrer Sippe. Sie schlagen die Zähne irgendwo hinein und halten bis zum bitteren Ende verbissen daran fest. Eine großartige Einstellung. Im Krieg. Aber jetzt nicht mehr, verstehen Sie? Außerdem ...«
»Außerdem was?«
»Die Psychiater kannten ja nicht alle Fakten, oder?«
Ich wusste, was jetzt kam. Ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen.
»Sie wussten nichts von dem kleinen Problem in Frankreich. Von der kleinen Französin. Nicht wahr? Und wenn sie es gewusst hätten, hätten sie sich vielleicht dafür entschieden, Sie noch ein bisschen dazubehalten. Das Risiko konnte ich nicht eingehen.« Er trat hinter Kates Sessel hervor und machte einen Schritt auf mich zu. »Ich musste Sie von mir und den Meinen fernhalten, verstehen Sie? Sie haben es einmal getan und könnten es vielleicht wieder tun, stimmt’s?«
Sein bekümmerter Blick suchte meinen. Ich spürte, dass sich die Wucht seiner Argumente wie eine Steinlawine über mir auftürmte. Hätte ich an seiner Stelle nicht genau das Gleiche getan? Ich suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, mich zur Wehr zu setzen. Ich durchforstete mein trügerisches Gedächtnis nach der Liste von Fragen, die ich hatte stellen wollen. Ich fand eine. »Wollen Sie damit sagen, Sie waren so besorgt um Ihre eigene Sicherheit und die von Liza und Ihrer ... Frau oder Freundin hier ...« Ich winkte in Kates Richtung, die uns aufmerksam von ihrem Sessel aus beobachtete, »... dass Sie das Haus in die Luft jagten, das Sie benutzten? Und warum haben Sie überhaupt ein anderes Haus benutzt? Gibt es hier nicht genügend Möglichkeiten, sich zu verstecken?«
Für einen Moment glaubte ich, zu ihm durchgedrungen zu sein, doch dann erwachte sein Lächeln wieder zum Leben.
»Ein glücklicher Zufall, mein Freund. Das Haus gehörte einem alten Bekannten von uns. Er kam öfter mal auf einen Drink vorbei. Aber es stand leer, als es in die Luft flog. Unser Bekannter verbringt seine Winter in Südfrankreich. Kann man ihm kaum verdenken, was? Muss ein Gasleck oder irgendwas gewesen sein. Das gab uns die Gelegenheit, mich aus der Gleichung herauszunehmen, verstehen Sie? Äußerst praktisch.«
»Sehr.« Ich machte keinen Hehl aus meinem Sarkasmus. »Und die Schuhe, die wunderschönen blauen Schuhe?« Diese Frage war an sie gerichtet, die mit einem Lächeln im Gesicht dasaß, oder war es nicht doch eher ein Grinsen?
»Ich habe die Schuhe wirklich gemocht. Sie hätten gründlicher suchen sollen, McRae. Ich hätte sie gerne beide zurückbekommen.«
Ich wurde allmählich verzweifelt, wütend auf die beiden und auf mich, weil ich es nicht schaffte, hinter ihre selbstgefällige Fassade zu schauen. Meine Fragen klangen immer schriller. »Sie haben ein Spiel daraus gemacht, nicht wahr? Sie haben sich damit amüsiert! Was zur Hölle treiben Sie überhaupt in diesem Haus, Tony? Warum steht Kate als nächste Angehörige in Ihrer Akte? Was läuft hier eigentlich ab?«
Sein Gesicht verlor das gekünstelte Lächeln. »Nun, nichts, alter Freund. Überhaupt nichts. Ich bin hier nur zu Besuch, das ist alles.«
Sie sahen mich an und warteten, ob der Schimpanse für sie durch einen weiteren Reifen springen würde. Der überhebliche Ausdruck war aus Kates Gesicht verschwunden. Sie wirkte auf einmal verwirrt und besorgt. Warum?
»Ich glaube Ihnen nicht. Ich weiß nicht, was Sie versuchen, hier zu vertuschen. Aber es passt nicht zusammen. Ich werde keine Ruhe geben, bis ich die Wahrheit herausgefunden habe, Tony. Zunächst einmal muss ich wissen, was in Frankreich vorgefallen ist. Das sind Sie mir schuldig!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Ihnen gar nichts schuldig, mein Junge. Sie können mich doch nicht für die Taten eines Verrückten verantwortlich machen. Ich habe Sie gesehen, Danny. Ich habe Sie aus dem Haus kommen sehen, in dem die Frau ermordet wurde. Dann fand ich ihre Leiche. Ich wollte Sie in Ihrem Versteck zur Rede stellen, und Sie waren gerade dabei, sich zu waschen. Es klebte Blut an Ihrer Kleidung. Sie waren äußerst erregt. Ich fragte Sie, was passiert ist. Sie schrien mich an. Sagten, sie sei eine Hure gewesen und hätte sich nicht mit anderen Männern treffen sollen. Sie gehöre Ihnen, Ihnen ganz allein. Übles Zeug. Tut mir leid, alter Freund. Ich glaube, der Druck war zu viel für Sie. Sie sind durchgedreht.« Er zuckte die Schultern und hielt meinem Blick stand.
Jedes einzelne Wort durchbohrte mich wie ein Stilett. Ich spürte die Hitze des Feuers auf meinem Gesicht, fühlte, wie das Whiskyglas aus meiner schweißnassen Hand zu rutschen drohte. Ich konnte jetzt alles sehen. Alles bis auf ihr Gesicht. Ich sah nur das Blut an ihrem Schädel. Die Spannung hinter meinen Schläfen bewegte sich auf einen meiner Anfälle zu. Ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Ich musste hier raus. Aber ich hatte immer noch nicht genug erfahren, wollte nicht glauben, was ich gerade gehört hatte. Konnte man sich selbst eingestehen, dass man ein Monster ist?
»Ich glaube es nicht. Es muss einen anderen Grund geben. Ich lasse das nicht auf sich beruhen, Tony. Ich kann es nicht! Diese ganzen Spielchen, die Sie mit mir gespielt haben. Sie hätten sich nur mit mir treffen und mir alles erzählen müssen. Oder mich bei der Polizei verpfeifen. Ich werde nicht gehen, bis Sie mir verraten haben, was hier los ist!«
Kates Lippen waren zusammengekniffen, sie nahm einen schnellen Schluck von ihrem Drink. Tony seufzte und tat zwei Schritte auf den Kamin zu. Er stellte sein Glas vorsichtig auf das Sims und wandte mir den Rücken zu. Eine Sekunde lang konnte ich nicht sehen, was er tat. Er war lediglich eine dunkle Silhouette, die sich gegen den Feuerschein abzeichnete. Dann sah ich das Glänzen in seiner Hand. Das Glänzen eines großen Colt-Armeerevolvers. Eine Waffe, die ein Nashorn aufhalten konnte, wenn man nahe genug an das arme Tier herankam. Tony stand nahe genug.
»Ich hatte befürchtet, dass Sie so etwas sagen würden. Begreifen Sie denn nicht? Das ist genau das, wovor wir Angst hatten. Ich kenne Ihre Sorte, McRae. Sie machen weiter und weiter und weiter, geben keine Ruhe. Ja, wir hätten die Polizei alarmieren können. Aber was können wir schon beweisen? Es war Krieg drüben in Frankreich. Viele Dinge sind im Krieg geschehen, die man besser vergisst. Aber nicht Sie, McRae, nicht wahr? Sie geben keine Ruhe.«
»Was werden Sie jetzt tun, Tony? Mich erschießen?« Ich wich langsam zurück und zur Seite, sodass wir beide gleichermaßen im Feuerschein badeten. Ich konnte an ihm vorbei zu Kate schauen. Sie kauerte in ihrem Sessel, als würde sie frieren.
»Es wäre eine Gnade, McRae. Eine Gnade für uns alle. Sie von diesen Schmerzen zu erlösen. Wie einen tollwütigen Hund.«
»Mord, Tony? Sie wollen mich töten und glauben wirklich, dass Sie damit durchkommen? Wie würden Sie reagieren, wenn man zum Beispiel Millie verhört? Was würde sie aussagen?«
Er gluckste. »Sie würde das aussagen, was wir ihr befehlen. Es ist ganz simpel, alter Freund. Sie haben sich gewaltsam Zutritt zu unserem Haus verschafft, sind ausfällig geworden, haben Kate bedroht – reine Notwehr. Inspector Wilson dürfte nicht schwer davon zu überzeugen sein.«
»Sie Mistkerl! Was hat Wilson mit der Sache zu tun?«
Er lächelte und hielt die Waffe auf Höhe meiner Brust.
Ich blickte voller Verzweiflung an ihm vorbei. »Kate! Kate Graveney. Wollen Sie dasitzen und zusehen, wie ein Mensch kaltblütig ermordet wird?«
Kates Augen waren weit aufgerissen. Sie beugte sich in ihrem Sessel vor. Das Leder knarrte. Das reichte mir schon. Tony drehte sich kurz weg, um ihre Reaktion zu sehen, und ich warf im selben Moment mein Whiskyglas ins Feuer. Das Splittern des Glases und die kleine Stichflamme ließen ihn zurückschrecken. Der Revolver zuckte nach oben, und ich rammte Tony in einem verzweifelten Schulterstoß mit voller Wucht. Er taumelte rückwärts auf Kates Schoß. Die Waffe explodierte mit einem lauten Krachen und Kate schrie auf. Der Schuss ging in die Decke. Bevor sich Caldwell berappeln konnte, hatte ich sein Handgelenk gepackt und schlug es gegen die Fliesen des Kamins.
Er hieb mit der freien linken Hand nach meinem Gesicht, aber ich hämmerte unverdrossen weiter sein Handgelenk und seine Knöchel gegen die Steine, bis er den Revolver fallen ließ.
Ich nahm die Waffe und löste mich von ihm. Zitternd vor Aufregung stand ich auf. Caldwell befreite sich von Kates Beinen, und die beiden zogen sich gegenseitig in die Höhe. Zumindest hatte ich ihnen das Grinsen aus dem Gesicht vertrieben. Tony rieb sich die geprellte Hand. Ich spürte, wie Blut über mein Gesicht rann. Er hatte eine von Wilsons Platzwunden wieder aufgerissen. Aber ich hielt die Waffe in der Hand.
»Ich wollte Sie nicht erschießen, Danny. Ich wollte Sie nur in Schach halten, bis die Polizei kommt. Das wissen Sie doch.«
Sein Gesicht wirkte ruhig und beherrscht, aber ich bemerkte den flehenden Unterton in seiner Stimme. Das gefiel mir.
»Weiß ich das? Das Einzige, was man ganz sicher weiß, wenn man bei einem dieser Dinger in die Mündung starrt ...« Ich winkte mit der Waffe. »... ist, dass es ein ziemlich großes Loch fabriziert, wenn es losgeht. Warum sollte ich die Waffe nicht gegen Sie einsetzen, Tony? Sie sagen, ich hätte schon einmal getötet. Beim zweiten Mal ist es bestimmt deutlich einfacher, meinen Sie nicht auch?« Ich stützte die Waffe mit der linken Hand, um sie zu stabilisieren. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich es wirklich tun könnte. Es würde mir nicht schwerfallen, und was spielte es jetzt noch für eine Rolle?
Der Gedanke musste sich auf meinem Gesicht widergespiegelt haben. Panik trat in seine Augen. »Um Gottes willen, Mann! Die Polizei ist wahrscheinlich schon unterwegs. Sie würden keine 100 Meter weit kommen. Sie wären verrückt, wenn Sie es tun! Man würde Sie aufhängen!«
Ich lächelte. »Aber Tony, ich dachte, wir hätten bereits geklärt, dass ich verrückt bin. Sie zu erschießen, wäre die Tat eines Wahnsinnigen. Man würde mich in eine Klinik schicken, nicht an den Galgen.«
Kate brach ihr Schweigen. »Danny, tun Sie es nicht. Es war alles nur ein dummes Spiel. Das hier hilft ihnen nicht weiter. Es wird Ihre Probleme nicht lösen.« Ihr hübsches Gesicht war vor Angst völlig verzerrt. Vielleicht lag es daran, dass sie meinen Vornamen benutzt hatte – plötzlich machte es mir keinen Spaß mehr, Caldwell mit dem Revolver zu bedrohen. Sie nutzte die Gelegenheit. »Gehen Sie, Danny. Bevor sie Sie schnappen. Das Personal ruft wahrscheinlich gerade die Polizei an.«
Noch während sie es sagte, wurde die Tür zur Bibliothek aufgestoßen, und ein nervöses Gesicht lugte um die Ecke.
»Ist alles in Ordnung, Ma’am, Sir ...?«
Ich schnitt eine mögliche Antwort ab. »Es geht ihnen gut. Bis jetzt! Kommen Sie herein. Sofort!«
Der Diener schob sich mit bleichem Gesicht in den Raum und hob ungefragt die Hände. Er hatte eindeutig zu viele Gangsterfilme gesehen.
»Stellen Sie sich dorthin! Und Sie beide auch.« Ich bedeutete dem Trio mit dem Lauf der Waffe, dass sie sich auf die andere Seite des Tisches stellen sollten, weg von der Tür zum Foyer. Ich hielt sie mit dem Colt in Schach. Der feste Griff und der schwere Lauf fühlten sich gut und vertraut an. Sie gaben einem Mann lange vermisstes Selbstvertrauen. Ich ging zur Hintertür, durch die Tony hereingekommen war, schloss sie ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann ging ich langsam zur Vordertür, schnappte mir im Vorbeigehen Mantel und Hut, während ich die ganze Zeit mit der Waffe auf das Trio zielte.
Ich spürte, wie meine Wut zusammen mit meiner Energie verebbte. Die Kopfschmerzen setzten ein. Meine Sicht trübte sich bereits. Ich fummelte den Schlüssel aus dem Schloss und verließ den Raum. Ich zog die Tür hinter mir zu, rammte den Schlüssel ins Loch und sperrte die drei zusammen mit den Büchern ein. Ich hörte ihre Stimmen heraneilen. Kate und Tony waren wütend. Sehr gut.
»Ist alles in Ordnung, Sir?« Millies nervöses kleines Gesicht kam mir auf halbem Weg durch die Halle entgegen. Als sie die Waffe in meiner Hand sah, schrie sie auf und schlug die Hände vor den Mund. »Sie haben sie doch nicht erschossen, Sir, oder? Haben Sie ...?«
»Nein, Millie. Es geht ihnen gut. Seien Sie so gut und öffnen Sie mir die Haustür, bitte.«
Sie floh vor mir her, warf ein paarmal einen Blick nach hinten, für den Fall, dass ich vorhatte, sie in den Rücken zu schießen. Ihre Brust bebte und sie schluchzte vor Angst. Ich fragte mich, wie es wohl für die Französin gewesen war. Ich schüttelte meinen pochenden Schädel, zog den Mantel an und versenkte den Revolver in dessen linker Außentasche. Ich setzte den Hut auf und trat an Millies angsterfülltem Gesicht vorbei in die Nacht hinaus. Ich blieb stehen.
»Zeigen Sie mir Ihre Hände, Millie.«
Sie riss den Mund auf und schluckte, aber sie folgte meiner Aufforderung. Die weiße Baumwolle ihrer Handschuhe war makellos.
Ich nahm den Revolver aus der Tasche und legte ihn auf ihre steifen Finger. Sie hielt ihn fest wie einen toten Fisch.
»Drücken Sie nicht den Abzug, Millie. Braves Mädchen.«
Sie nickte nur, Tränen strömten über ihr rundes Gesicht, ihre wulstigen Lippen waren vor Angst gespitzt. Ich hätte sie in einem Anflug von Rührseligkeit beinahe geküsst.
Ich stolperte die Veranda hinunter in die Dunkelheit, während ich mich fragte, wohin ich gehen konnte und wie lange es dauern würde, bis sie mich schnappten. Denn ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass Caldwell seine Häscher auf mich ansetzen würde. Insbesondere Wilson würde sich mit wahrem Entzücken im niederträchtigen kleinen Herzen auf mich stürzen.